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Game of Souls

Als Buch hier erhältlich:

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Das mitreißende Finale der Hexentrilogie ist perfekt für Fans von Sarah J. Maas

Nach dem schmerzlichen Verlust ihres Freundes halten Lou, Reid, Beau und Coco umso stärker zusammen. Besonders Lou will Rache üben und fordert die finale Auseinandersetzung mit Morgane, ihrer Mutter, der gefährlichen Dame Blanche. Doch auch wenn es Zeit braucht, bis die anderen es merken: Sie folgen nicht mehr der Lou, die sie kennen und lieben gelernt haben. Eine dunkle Kraft hat sich ihrer bemächtigt. Ob Reid und die anderen Lou befreien können? Dieses Mal braucht es mehr als ein tapferes Herz und tiefe Liebe, jetzt ist Hilfe aus einer anderen Welt vonnöten …

»Ein brillantes Debüt, voll von allem, was ich liebe: eine schillernde und lebensechte Heldin, ein verwickeltes Magie-System und eine ins Mark gehende Liebesgeschichte, die mich die ganze Nacht lang gefesselt hat.Game of Gold ist ein wahres Juwel.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Sarah J. Maas

»In der atemlosen, atemberaubenden Fortsetzung der magischen von Mahurin kreierten Welt steht die Stärke der Liebe dem Wunsch gegenüber, um jeden Preis diejenigen zu schützen, die man liebt. Würdest du deine Seele einsetzen, um jemand anders zu retten? Game of Blood stellt nicht nur diese Frage, sondern schleudert den Leser in die Geschichte und in die existenzielle Frage; eine brillante, nicht enden wollende Achterbahnfahrt.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Jodi Picoult

»Dekadent und gefährlich! Game of Blood war für mich genau das richtige Buch zu genau der richtigen Zeit. Die vielfältigen Figuren haben mich gefesselt, und ich kann es kaum erwarten zu erfahren, wie es mit dieser fröhlichen Schurkenbande weitergeht.« Bestsellerautorin Reneé Ahdieh

»Mahurin hat eine furchtlose und fesselnde Fortsetzung vorgelegt, die mich gleich gepackt hat. Das ist ganz offiziell eine meiner Lieblingsserien ever.« Autorin Adalyn Grace

»Game of Blood hat mir den Atem geraubt. Glänzend von respektlosem Humor und brutalem Herzschmerz, ist jedes magische Wort so schön gemacht bei all den Twists und erschütternden Wenden. Mahurin liefert eine triumphale Rückkehr nach Belterra.« Autorin Isabel Ibañez


  • Erscheinungstag: 22.03.2022
  • Seitenanzahl: 512
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748801986

Leseprobe

Für Jordan – meine Freundin, meine Schwester

TEIL I

Quand le chat n’est pas là, les souris dansent.

Ist die Katze aus dem Haus,

tanzen die Mäuse auf dem Tisch.

Französisches Sprichwort

EIN NEST VOLLER MÄUSE

Nicholina

Lorbeer, Augentrost und Belladonna

Der Eulen Aug, der Kreuzotter Gift

Sprenkel von Flora, Strahl von Fauna

Für edlen Zweck und anrüchigen Plan.

Eiterblut von Freund und von Feind

Seele so schwarz wie Nacht ohne Stern

Dort im Finstern Geister fliehn

einer zum andern, in nahtlosem Flug.

Ein vertrauter Bann, oh ja, nur allzu vertraut! Unser Lieblingsbann. Immer wieder gibt sie ihn uns zu lesen. Der Grimoire. Die Seite. Der Zauberspruch. Mit verheißungsvollem Kribbeln zeichnen unsere Fingerspitzen die verblassten Buchstaben nach, jeden Federstrich. Wir werden nie allein sein, versprechen sie, und wir glauben ihnen. Glauben ihr. Denn wir sind nicht allein – nie! –, Mäuse leben zu vielen zusammen, mit Aberdutzend anderen. Sie buddeln sich Nester, in denen sie ihre Jungen aufziehen, ihre Kinder, dort gibt es warme, trockene Nischen mit reichlich Nahrung und Magie. Immer finden sie Ecken und Winkel frei von Krankheit, frei von Tod.

Unsere Finger schlängeln sich über das Pergament und treiben frische Spuren hinein.

Der Tod. Der Tod, Tod, Tod, unser Freund und Feind, so gewiss wie der Atem ereilt er uns alle.

Nur mich nicht.

Tote sollen sich nicht erinnern. Drum hüte dich vor der Nacht, wenn sie träumen.

Wir zerren am Papier, reißen es in Stücke. Wütende kleine Fitzel. Verstreut wie Asche im Schnee. Nur noch Erinnerung.

Mäuse graben gemeinsam, ja, sie geben sich Wärme und Schutz. Doch wenn eins der Jungen krank wird, dann fressen sie es auf, die Mäuse. Oh ja. Runter, runter, runter schlingen sie es, um die Mutter zu nähren, das Nest. Das zuletzt Geborene ist immer kränklich, immer klein. Die kranke kleine Maus, wir werden sie verschlingen, damit sie uns nährt.

Damit sie uns nährt.

Wir jagen ihre Freunde – beim Klang dieses Wortes, dieses leeren Versprechens, entwindet sich ein Knurren meiner Kehle – und füttern sie, bis sie fett sind vor Kummer und vor Schuld, vor Verzweiflung und Angst. Wohin wir gehen, werden sie uns folgen. Und dann verschlingen wir auch sie. Und wenn wir die kranke kleine Maus bei ihrer Mutter im Chateau le Blanc abliefern – wenn ihr Körper sich windet, wenn er blutet –, wird ihre Seele auf ewig unser sein.

Damit sie uns nährt.

Wir werden nie allein sein.

DIE VERZAUBERIN

Reid

Nebel kroch über den Friedhof. Vom Rand der Klippe sahen wir die uralten, zerbröckelnden Grabsteine in den Himmel stechen, die ihre Namen längst an die Elemente verloren hatten. Sogar das Meer unter uns verstummte. Still wie ein Grab. Im unheimlichen Licht vor der Morgendämmerung verstand ich endlich, was diese Wendung bedeutete.

Coco strich sich über die müden Augen und deutete auf die kleine Holzkirche, die sich jenseits des Nebels abzeichnete. Ein Teil des Dachs war eingestürzt, durch die Fenster des Pfarrhauses flackerte kein Licht. »Sieht verlassen aus.«

»Und wenn nicht?« Beau schüttelte den Kopf, dann gähnte er ausgiebig und fuhr fort: »Hallo? Das ist eine Kirche, und überall in Belterra hängen unsere Steckbriefe. Der letzte Landpfarrer würde uns erkennen!«

»Prima.« Coco klang müde, ihre Stimme hatte weniger Biss, als sie vermutlich gern hineingelegt hätte. »Dann schlaf doch draußen beim Hund.«

Wie auf Kommando drehten wir uns zu dem gespenstischen weißen Hund um, der uns folgte, seit wir Cesarine verlassen hatten. Gleich außerhalb der Stadt war er aufgetaucht, kurz bevor wir uns entschieden, die Straße zu meiden und stattdessen der Küste zu folgen. Von La Fôret des Yeux hatten wir erst einmal genug, was wir dort erlebt hatten, reichte fürs ganze Leben. Seitdem trottete uns der Köter hinterher, immer in sicherem Abstand.

Sein Erscheinen hatte die Matagots dermaßen verwirrt und argwöhnisch gemacht, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatten und nicht wiedergekommen waren. Möglich, dass diese Kreatur selbst ein ruheloser Geist war, eine andere Sorte Matagot. Genauso gut konnte er auch bloß ein böses Omen sein. Vielleicht hatte Lou ihm deshalb noch keinen Namen gegeben.

Der Hund beobachtete uns, sein Blick auf meinem Gesicht war wie die Berührung eines Gespensts. Ich fasste Lou fest bei der Hand. »Wir sind die ganze Nacht gelaufen. In einer Kirche wird keiner nach uns suchen. Es ist ein angemessenes Versteck, nicht besser, aber auch nicht schlechter als jedes andere. Und sollte sie wider Erwarten nicht verlassen sein«, schnitt ich Beau das Wort ab, der Anstalten machte, mich zu unterbrechen, »dann verkrümeln wir uns, bevor uns jemand sieht. Einverstanden?«

Lou warf Beau ein derart breites Grinsen zu, dass man ihre Zähne hätte zählen können. »Hast du etwa Angst?«

Er bedachte sie mit einem genervten Blick. »Nach dem, was wir in den Tunneln erlebt haben, finde ich das angemessen – für uns alle.«

Ihr Grinsen erstarb, und Coco schaute unübersehbar verkrampft zur Seite. Sogar mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

Lou jedoch erwiderte nichts, sie ließ meine Hand los, ging auf die Tür zu und drückte die Klinke herunter. »Nicht verschlossen.«

Coco und ich folgten ihr über die Schwelle. Einen Moment später stand auch Beau neben uns im Vorraum und beäugte misstrauisch das im Dunkeln liegende Gotteshaus. Eine dicke Staubschicht lag auf den Kandelabern, von denen Kerzenwachs auf den Holzboden getropft und zwischen trockenem Laub und Schutt getrocknet war. Den Altarraum durchströmte ein Luftzug, der nach Salz schmeckte. Und nach Verwesung.

»Scheiße, hier spukt’s«, flüsterte Beau.

»Beherrsch dich.« Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und trat in den Altarraum. Beim Anblick der baufälligen Kirchenbänke und der losen Gesangbuchseiten, die in einer Ecke verrotteten, wurde mir mulmig. »Das war einmal ein heiliger Ort.«

»Gar nichts spukt hier.« Lous Stimme hallte durch die Stille.

Sie blieb hinter mir stehen und blickte hinauf zu einem Buntglasfenster, von dem das jungfräuliche Gesicht der Heiligen Magdaleine auf uns heruntersah, der jüngsten Heiligen Belterras. Verehrt wurde sie dafür, dass sie einem Mann einen gesegneten Ring geschenkt hatte, dank dessen sich seine liederliche Frau erneut in ihn verliebte und ihm fortan nicht mehr von der Seite wich, selbst als er eine gefährliche Seereise antrat. Sie folgte ihm in die Wellen und ertrank. Magdaleines Tränen belebten sie wieder.

»Das hier ist geweihter Boden, da können keine Geister existieren.«

Beau sah Lou skeptisch an. »Woher willst du das wissen?«

»Wie kannst du das nicht wissen?«, konterte sie.

»Lasst uns ausruhen.« Ich legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie zu einer Kirchenbank. Lou sah blasser aus als sonst, sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr Haar war von der tagelangen Anstrengung der Reise wild und windzerzaust. Mehrfach hatte ich beobachtet, wie sich ihr Körper verkrampfte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte – als ob sie gegen Übelkeit ankämpfte. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, überraschte mich das nicht. Wir alle hatten viel durchgemacht. »Bald werden die Dorfbewohner aufwachen. Und wenn sie unbekannten Lärm hören, werden sie nachschauen gehen, woher er kommt.«

Auch Coco setzte sich auf eine Bank, schloss die Augen und zog die Kapuze ihres Umhangs über. Das war ihre Art, sich abzugrenzen. »Einer müsste Wache halten.«

Ich hatte bereits den Mund geöffnet, um mich freiwillig zu melden, als Lou mich unterbrach: »Ich mach das.«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal geschlafen hatte. Kalt spürte ich ihre Haut an meiner, feucht und klamm. Wenn ihr tatsächlich übel war, brauchte sie dringend Ruhe. »Du schläfst. Ich passe auf.«

Eine Art Gurren entrang sich ihrer Kehle, und sie legte eine Hand auf meine Wange und strich mit dem Daumen sanft über meine Lippen. Ihr Blick folgte der Bewegung. »Dabei würde ich viel lieber dich anschauen. Was werden deine Träume mir verraten, Ritterlein? Was werde ich hören, wenn …«

»Ich schau mal in der Kombüse nach, ob ich was zu essen finde«, brummelte Beau mit einem angewiderten Blick über die Schulter auf Lou und schob sich an uns vorbei.

Ich sah ihm nach, und auf einmal knurrte mein Magen. Ich schluckte und versuchte das Hungergefühl zu ignorieren, den plötzlichen, unwillkommenen Druck in meiner Brust. Vorsichtig nahm ich Lous Hand von meiner Wange, schälte mich aus meinem Mantel und reichte ihn ihr.

»Leg dich hin, Lou. Bei Sonnenuntergang wecke ich dich, dann können wir …« Die Worte brannten mir im Hals. »Dann können wir weiterziehen.«

Zum Chateau.

Zu Morgane.

In den sicheren Tod.

Ich verkniff es mir, meine Bedenken noch einmal vorzubringen.

Lou hatte unmissverständlich klargemacht, dass sie zum Chateau le Blanc gehen würde, ob wir nun mitkamen oder nicht. Ungeachtet meines Protests – und obwohl ich sie daran erinnerte, weshalb wir Verbündete gesucht, weshalb wir sie gebraucht hatten – behauptete Lou, sie werde allein mit Morgane fertig. Du hast doch gehört, was Claud gesagt hat. Behauptete, sie würde dieses Mal nicht zögern. Sie kann mir nichts mehr anhaben. Behauptete, sie werde das Haus ihrer Ahnen mitsamt ihrer Sippe niederbrennen. Und dann bauen wir neu.

Was denn neu bauen, hatte ich vorsichtig gefragt.

Alles.

Ich hatte sie noch nie so zielstrebig gesehen. Nein, so besessen. An den meisten Tagen erhellte ein wildes Funkeln ihre Augen – eine wilde Art Hunger –, an anderen berührte sie kein Licht. Diese Tage waren die schlimmsten. Abgestumpft betrachtete sie die Welt und weigerte sich, mich und meine schwachen Versuche, sie zu trösten, zur Kenntnis zu nehmen.

Nur einer hätte das vermocht.

Und diesen einen gab es nicht mehr.

Sie zog mich zu sich auf die Bank und streichelte beinahe abwesend meinen Hals. Bei der kalten Berührung lief mir ein Schauer über den Rücken, am liebsten hätte ich mich abgewendet. Ich gab diesem Verlangen nicht nach.

Erstickende Stille lag über dem Raum, dicht und schwer, unterbrochen nur vom Knurren meines Magens. Hunger war unser ständiger Begleiter. Ich erinnerte mich nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal satt gegessen hatte. Bei der Troupe de Fortune? In der Höhle? Im Turm?

Von der anderen Seite des Kirchenschiffs hörte ich, wie Cocos Atmung allmählich gleichmäßiger wurde. Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, auf die Dachbalken, auf alles, nur nicht auf Lous kalte Haut und den Schmerz in meiner Brust.

Einen Moment später ertönten Schreie aus der Spülküche, und ich sprang auf die Füße. Im nächsten Augenblick flog die Tür zum Altarraum auf, und Beau kam hereingerannt.

»Himmel noch eins!«, rief er aufgeregt und gestikulierte wild in Richtung Ausgang. »Wir müssen los! Sofort, jetzt gleich, wir müssen!«

»Hiergeblieben!«

Ein knorriger Mann in einem Priestergewand kam in den Altarraum gestürmt. Er schwang einen Holzlöffel, von dem gelblicher Eintopf tropfte. Als hätte Beau ihn beim Morgenmahl unterbrochen. Die Gemüsetupfen in seinem ungepflegten und ungekämmten Bart, der den größten Teil seines Gesichts verdeckte, bestätigten meinen Verdacht.

»Komm sofort zurück, hab ich gesagt …«

Als er entdeckte, dass Beau in Gesellschaft war, blieb er abrupt stehen. Instinktiv wandte ich mein Gesicht ab, um es im Schatten zu verbergen. Lou warf die Kapuze über ihr weißes Haar, und Coco war aufgesprungen und bereit, jederzeit loszulaufen. Es war jedoch zu spät. Das Funkeln in seinem Blick verriet, dass er uns erkannt hatte.

»Reid Diggory.« Seine dunklen Augen maßen mich von Kopf bis Fuß, dann sah er hinter mich. »Louise le Blanc.« Beau stand im Vorraum und räusperte sich unüberhörbar, doch der Priester beachtete ihn kaum. »Dich, junger Mann, erkenne ich auch«, sagte er und schüttelte spöttisch den Kopf. »Und dich«, fügte er an Coco gerichtet hinzu, obwohl deren Kapuze ihr Gesicht noch immer in Dunkelheit hüllte.

Jean Luc hatte Wort gehalten und ihren Steckbrief neben unseren angebracht. Der Priester fixierte die Klinge, die Coco gezogen hatte.

»Steck das weg, bevor du dich damit verletzt.«

»Es tut uns leid, dass wir hier unbefugt eingedrungen sind«, sagte ich schnell, um die Gemüter zu beruhigen, und warf Coco einen warnenden Blick zu. Vorsichtig schob ich mich durch das Seitenschiff Richtung Ausgang, Lou direkt hinter mir. »Es geschah nicht in böser Absicht.«

Der Priester schnaubte und ließ den Löffel sinken. »Ihr seid in mein Haus eingebrochen.«

»Aber das ist doch eine Kirche«, sagte Coco apathisch und senkte die Hand, als könnte sie das Gewicht des Dolches plötzlich nicht mehr tragen, »und kein Privathaus. Außerdem war die Tür unverschlossen.«

»Vielleicht wollte er uns ja reinlocken«, warf Lou mit unerwartetem Vergnügen ein. Mit schief gelegtem Kopf musterte sie den Priester fasziniert. »Wie eine Spinne in ihr Netz.«

Der abrupte Wechsel im Ton der Unterhaltung schien den Priester genauso aus der Fassung zu bringen wie mich.

»Wie bitte?«, fragte Beau verdutzt.

»Im finstersten Teil des Waldes«, begann sie geheimnisvoll, »lebt eine Spinne, die andere Spinnen jagt. L’Enchanteresse ist ihr Name, die Verzauberin. Stimmt doch, Coco?« Coco antwortete nicht, und so fuhr sie unbeirrt fort: »L’Enchanteresse schleicht sich in die Netze ihrer Feindinnen, zupft an den Seidenfäden und gaukelt ihnen vor, sie hätten Beute gemacht. Wenn die Spinnen zum Festmahl kommen, greift sie an und injiziert ihnen ein einzigartiges Gift, das langsam tötet, während sie sich über Tage an ihren Opfern gütlich tut. Sie ist eine der seltenen Kreaturen im Tierreich, die es genießen, Schmerzen zuzufügen.«

Alle starrten sie an, selbst Coco.

»Sehr verstörend«, sagte Beau schließlich.

»Nein, schlau

»Von wegen«, erwiderte er und verzog das Gesicht. »Kannibalismus nennt man so was.«

»Wir brauchten einen Unterschlupf.« Ich versuchte, das Gespräch wieder in eine andere Bahn zu lenken. Der Priester, der dem Wortgeplänkel der beiden mit zunehmender Verwirrung gelauscht hatte, wandte sich zu mir. »Es war uns nicht klar, dass die Kirche noch genutzt wird. Wir ziehen sofort weiter.«

Schweigend, als würde er abwägen, musterte er uns. Vor mir begann es golden zu schimmern. Suchend, sondierend, beschützend. Ich ignorierte die lautlose Frage. Hier brauchte es keine Magie. Der Priester hatte ja nur einen Löffel zur Hand. Und selbst wenn er ein Schwert gehabt hätte, sein runzliges Gesicht verriet, dass er nicht mehr der Jüngste war. Trotz seiner großen Statur schien seine Muskulatur mit den Jahren verkümmert zu sein, übrig war nur noch ein klappriger, alter Mann. Ein Leichtes, ihm zu entkommen. Schon hatte ich Lous Hand ergriffen und warf Coco und Beau beredte Blicke zu. Beide nickten kurz, sie hatten verstanden.

Uns finster anstarrend, hob der Priester den Löffel, als wollte er uns damit aufhalten. In diesem Moment überfiel eine neue Woge des Hungers meinen Magen. Er kollerte so laut, dass es durch den Raum grollte wie ein Erdbeben. Unüberhörbar. Ein wenig besänftigt blickte der Priester zur Heiligen Magdaleine hinauf und schien ein stilles Stoßgebet zu sprechen.

»Wann hast du zum letzten Mal gegessen?«, fragte er widerwillig.

Ich antwortete nicht. Meine Wangen glühten vor Scham. »Wir ziehen sofort weiter«, wiederholte ich.

Er sah mir in die Augen. »Das beantwortet nicht meine Frage.«

»Ist schon ein paar Tage her.«

»Wie viele Tage?«

»Vier«, antwortete Beau für mich.

Erneut kollerte mein Magen laut und vernehmlich. Der Priester schüttelte den Kopf.

Mit einem Blick, der zu sagen schien, dass er lieber seinen Löffel verschluckt hätte, fragte er: »Und wann habt ihr das letzte Mal geschlafen?«

Wieder konnte Beau sich nicht zurückhalten. »Das letzte Mal haben wir vor zwei Nächten versucht, in Fischerbooten etwas Schlaf zu bekommen, doch leider wurden wir schon vor Sonnenaufgang von einem der Fischer entdeckt. Der Trottel wollte uns mit seinem Netz fangen.«

Der Blick des Priesters huschte zur Kirchentür. »Könnte er euch gefolgt sein?«

»Ich hab doch gesagt, er war ein Trottel. Reid hat den Spieß umgedreht und ihn in seinem eigenen Netz gefangen.«

Wieder sah mich der Priester an. »Du hast ihn nicht verletzt«, stellte er fest.

Da es keine Frage war, antwortete ich nicht, sondern packte Lous Hand fester und bereitete mich darauf vor, loszulaufen. Bald würde der Mann – gottesfürchtig, wie er war – Alarm schlagen. Wir mussten so viele Meilen wie möglich zwischen diesen Ort und uns bringen, bevor Jean Luc eintraf.

Lou schien meine Sorge nicht zu teilen.

»Wie heißt du, Geistlicher?«, fragte sie neugierig.

»Achille.« Er schaute wieder düster drein. »Achille Altier.«

Der Name kam mir bekannt vor, doch ich konnte ihn nicht zuordnen. Vielleicht hatte er früher die Cathédrale Saint-Cécile in Cesarine besucht. Womöglich war ich ihm mal als Chasseur begegnet. »Warum habt ihr nicht sofort die Chasseure gerufen, Pater Achille?«, fragte ich misstrauisch.

Pater Achille zog die Schultern hoch und starrte auf seinen Löffel. Die Frage schien ihm unangenehm zu sein.

»Ihr solltet etwas essen«, entgegnete er unwirsch. »Hinten steht Eintopf. Genug für alle, will ich meinen.«

Beau zögerte keine Sekunde. »Und was ist drin, in Eurem Eintopf?« Als ich ihm einen bösen Blick zuwarf, zuckte er die Achseln. »Er hätte doch längst die ganze Stadt aufwecken können, nachdem er uns erkannt hat …«

»Das könnte er immer noch«, sagte ich.

»… und wenn mein Magen nicht bald was zu essen kriegt, fängt er an, sich selbst zu verdauen«, beendete Beau den Satz. »Und deiner auch, wenn ich es recht deute. Wir brauchen dringend was zu futtern.« Er sog die Luft ein und wandte sich an Pater Achille: »Tut Ihr Kartoffeln in Euren Eintopf? Aus denen mache ich mir nämlich nicht besonders viel. Wegen der Konsistenz.«

Der Priester warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und deutete mit dem Löffel in Richtung Spülküche. »Geh mir bloß aus den Augen, Kerl, bevor ich’s mir anders überlege.«

Das ließ Beau sich nicht zweimal sagen und flitzte an uns vorbei. Lou, Coco und ich rührten uns keinen Zoll und wechselten argwöhnische Blicke, bis Pater Achille schließlich aufseufzte.

»Ihr könnt auch hier schlafen. Einen Tag«, sagte er und fügte gereizt hinzu: »Solange ihr mir nicht in die Quere kommt.«

»Heute ist Sonntag«, sagte Coco und schob ihre Kapuze nach hinten. Ihre Lippen zeigten Risse, ihr Gesicht wirkte fahl. »Da werden doch bald die Dorfbewohner zum Gottesdienst erscheinen, oder nicht?«

»Ich hab seit Jahren keinen Gottesdienst mehr abgehalten«, entgegnete der Priester sarkastisch.

Ein Einsiedler. Aber natürlich. Deshalb war die Kapelle in diesem verfallenen Zustand. Früher hätte ich den Mann für sein Versagen als religiöser Hirte verachtet. Für sein Versagen als Mensch. Hätte ihn getadelt, weil er sich von seiner Berufung abgewandt hatte. Von Gott.

Wie hatten die Zeiten sich doch geändert.

Beau kam mit einer irdenen Schüssel in den Händen aus der Spülküche und lehnte sich lässig an den Türrahmen. Der aufsteigende Eintopfdampf kräuselte sich vor ihm. Sofort knurrte mein Magen wieder, und Beau grinste. »Warum helft Ihr uns, Pater?«, fragte ich und biss die Zähne zusammen.

Der Priester ließ seinen Blick über mein blasses Gesicht, über Lous grausige Narbe am Hals, Cocos dumpfen Ausdruck gleiten. Über die dunklen Ringe unter unseren Augen und unsere eingefallenen Wangen. Dann riss er sich davon los und schaute starr in die Leere.

»Was tut das zur Sache? Ihr braucht etwas zu essen. Ich habe zu essen da. Ihr braucht einen Platz zum Schlafen. Ich habe leere Kirchenbänke.«

»Die meisten anderen Kirchenmänner würden uns nicht willkommen heißen.«

»Die meisten anderen Kirchenmänner würden nicht mal ihre eigene Mutter willkommen heißen, wenn sie sich versündigt hätte.«

»Nein. Aber verbrennen würden sie sie, wenn sie eine Hexe wäre.«

Er lächelte süffisant. »Bist du darauf aus, Junge? Auf den Scheiterhaufen? Soll ich der sein, der deine göttliche Strafe bemisst?«

»Also, ich glaube«, mischte Beau sich von der Tür her ein, »er will nur darauf hinweisen, dass Ihr aufseiten der Kirche steht – oder seid etwa Ihr hier der Sünder? Wäre es möglich, dass Ihr unter Euresgleichen unerwünscht seid, Pater Achille?« Demonstrativ betrachtete er die Verwahrlosung um uns herum. »Ich ziehe ja nur ungern voreilige Schlüsse, aber unsere geliebten Kirchenfürsten hätten sicherlich dafür gesorgt, dass eine solche Bruchbude instand gesetzt wird.«

Achilles Blick verfinsterte sich. »Gib acht, was du sagst.«

Bevor Beau ihn weiter provozieren konnte, schritt ich ein, indem ich meine Arme ausbreitete, ungläubig, frustriert … und überhaupt. Die unerwartete Freundlichkeit dieses Mannes schnürte mir die Kehle zu. Ich konnte sie mir nicht erklären. Das war einfach unmöglich. So grauenhaft Lous Bild von der kannibalischen Spinne, die uns in ihr Netz lockte, auch war, es schien immer noch wahrscheinlicher als die Vorstellung, dass ein Priester uns Zuflucht bot. »Ihr wisst, wer wir sind, Ihr wisst, was wir getan haben. Ihr wisst, was passieren wird, wenn man dahinterkommt, dass Ihr uns Unterschlupf gewährt habt.«

Einen Moment lang musterte er mich mit unergründlichem Blick. »Dann sollte niemand dahinterkommen.« Darauf machte er kehrt und stapfte mit einem Donnerbrummen Richtung Küchentür. Auf der Schwelle zögerte er und betrachtete die Schüssel, die Beau in Händen hielt. Im Nu hatte er sie an sich genommen und reichte sie ungerührt von Beaus Protesten mir. »Ihr seid doch noch Kinder«, murmelte er und gab mir die Schale, ohne mich anzuschauen. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er richtete seinen Umhang, rieb sich den Nacken und nickte Richtung Eintopf. »Kalt schmeckt er nicht.«

Dann drehte er sich um und stürmte aus der Kirche.

GELIEBTE FINSTERNIS

Lou

Finsternis.

Sie hüllt alles ein. Hüllt mich ein, schnürt mich ein, drückt mir Brust, Kehle, Zunge zusammen, bis wir eins sind und sie ich ist. In ihrem Zentrum gefangen, in ihren Tiefen ertrinkend, falle ich in mich zusammen, bis ich nicht länger existiere. Ich bin die Finsternis. Geliebte Finsternis.

Es schmerzt.

Dabei dürfte ich gar nichts empfinden, auch keinen Schmerz. Ohne Gestalt bin ich, noch nicht erschaffen, ein Fünkchen inmitten der Schöpfung. Ohne Form. Ohne Leben, Organe oder Gliedmaßen, die ich kontrollieren könnte. Ich sehe nichts, ich atme nicht – die Finsternis macht mich blind. Der Druck erhöht sich mit jeder Sekunde, die vergeht, würgt und erstickt mich, bis er mich zerreißt. Nicht mal schreien kann ich, nicht mal denken. Nur hören, nein, wahrnehmen kann ich – eine Stimme, die sich aus den Schatten entfaltet. Eine schöne Stimme ist es, schön und schrecklich. Sie schlängelt sich um mich, durch mich, flüstert mir süße Versprechen ein, verspricht Vergessen, verspricht Erlösung.

Gib nach, surrt sie, vergiss. Spür ihn nicht, den Schmerz.

Einen Moment lang oder Tausende zögere ich und denke darüber nach … Nachgeben, vergessen scheint so viel verlockender zu sein, als zu widerstehen und sich zu erinnern. Meine Kräfte schwinden, ich bin die Schmerzen leid. Die Stimme ist so schön, so verlockend, so überzeugend, dass sie mich beinahe verzehrt. Und doch … ich kann nicht. Wenn ich loslasse, verliere ich etwas, das sehr wichtig ist. Einen Menschen, der sehr wichtig ist. Wen, daran erinnere ich mich nicht.

Ich erinnere mich nicht, wer ich bin.

Du bist die Finsternis. Die Schatten drängen näher heran, und ich ziehe mich fester in mich zusammen. Wie ein Sandkorn unter endlosen schwarzen Wellen. Diese Finsternis ist dein.

Und doch gebe ich nicht auf.

COCOS FEUER

Reid

Coco lehnte am Grabstein neben mir. Eine verwitterte Statue der Heiligen Magdaleine ragte über uns auf, ihr bronzenes Gesicht lag schemenhaft im grauen Zwielicht. Coco hatte die Augen geschlossen, aber sie schlief nicht. Sie sagte auch nichts. Sie rieb nur mit dem Daumen über eine Narbe auf ihrer Handfläche, immer und immer wieder, bis die Haut wund gescheuert war, doch sie schien es nicht zu bemerken. Sie schien überhaupt nichts zu bemerken.

Sie war mir auf den Friedhof gefolgt, nachdem Lou die Spülküche nach rotem Fleisch durchsucht hatte, weil der Fisch, den Pater Achille zum Abendessen zubereitet hatte, ihr nicht genügte. Die Art und Weise, wie sie sich auf das noch halb rohe Rindfleisch gestürzt hatte, war im Grunde nicht verwunderlich, schließlich hatten wir tagelang nichts gegessen, und der Eintopf zum Frühstück und das harte Brot mit Käse zum Mittagessen hatten unseren Hunger nicht stillen können. Und dennoch …

Mein Magen zog sich aus unerfindlichen Gründen zusammen.

»Ist sie schwanger?«, fragte Coco irgendwann und sah mich an. Matt fuhr sie fort: »Sag mir, dass ihr aufgepasst habt. Sag mir, dass wir nicht noch ein Problem haben.«

»Ihre letzte Blutung hatte sie vor zwei Wochen, und seitdem haben wir nicht …« Ich räusperte mich verlegen.

Coco nickte, reckte das Gesicht gen Himmel und schloss die Augen. »Gut«, sagte sie erleichtert.

Ich musterte sie verstohlen. Nicht ein Mal hatte sie seit La Mascarade des Crânes geweint, doch ihre Lider waren geschwollen. Reste von Kajal befleckten noch immer ihre Wangen. Tränenspuren. »Bist du …« Die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich hüstelte und setzte noch einmal an. »Drinnen habe ich eine Wanne gesehen, falls du ein Bad nehmen willst.«

Sie umklammerte nur mit den Fingern ihren Daumen, als würde sie immer noch Ansels Blut an ihren Händen spüren. In jener Nacht hatte sie ihre Hände im Doleur geschrubbt, bis sie wund waren, hatte im Léviathan, dem Gasthaus, in dem so viel schiefgegangen war, ihre Kleider verbrannt.

»Ich bin zu müde«, murmelte sie endlich.

Ich spürte nur zu vertrauten Kummer, vertraut und schmerzlich. »Wenn du darüber reden willst …«

Sie öffnete die Augen nicht. »Wir sind keine Freunde.«

»Doch, sind wir.«

Da sie nichts darauf erwiderte, wandte ich mich ab und versuchte, es ihr nicht übel zu nehmen. Auch gut. Wenn sie dieses Gespräch nicht führen wollte, mir ging’s ähnlich. Ich verschränkte die Arme gegen die Kälte und hatte mich gerade auf eine lange, schweigsame Nacht eingestellt, als plötzlich Ansels wild entschlossener Gesichtsausdruck vor meinem inneren Auge erschien. Seine unerschütterliche Überzeugung. Lou ist meine Freundin, hatte er einmal zu mir gesagt. Noch vor mir war er bereit gewesen, ihr nach Chateau le Blanc zu folgen. Er hatte ihre Geheimnisse für sich behalten und ihre Bürden getragen.

Ich fühlte mich schuldig.

Mochte Coco es auch anders sehen – sie und ich waren Freunde.

Ich kam mir vor wie ein Tölpel, doch ich zwang mich zu sprechen: »Ich meine halt nur, dass es mir nach dem Tod des Erzbischofs sehr geholfen hat, darüber zu reden. Über ihn, meine ich. Also …« Unbeholfen zuckte ich die Schultern. Meine Augen brannten. »Falls du … das Bedürfnis hast, darüber zu reden … ich bin hier.«

Nun öffnete sie doch die Augen. »Der Erzbischof war ein krankes Schwein, Reid. Es ist abscheulich, ihn mit Ansel zu vergleichen.«

»Tja«, entgegnete ich und sah sie bedeutungsvoll an, »man kann sich halt nicht aussuchen, wen man liebt.«

Da senkte sie rasch den Blick. Zu meiner Schande bemerkte ich, dass ihre Lippen zitterten.

»Ich weiß.«

»Tatsächlich?«

»Ja, tatsächlich«, entgegnete sie mit einem Hauch ihrer alten Bissigkeit. Ihre Züge fingen Feuer. »Ich weiß, dass es nicht meine Schuld war. Ansel hat mich geliebt, und … und nur weil ich ihn nicht auf die gleiche Art wiedergeliebt habe, heißt das nicht, ich hätte ihn weniger geliebt. Auf jeden Fall habe ich ihn mehr geliebt als du«, sagte sie hitzig, beim letzten Wort überschlug sich ihre Stimme. »Und deshalb kannst du dir deine herablassenden Ratschläge und vor allem dein Mitleid sonst wohin schieben.«

Ich ließ mir nichts anmerken und blieb einfach hocken. Sollte sie doch um sich schlagen, das hielt ich aus.

Sie sprang auf und zeigte mit dem Finger auf mich. »Und ich werde bestimmt nicht hier sitzen und zulassen, dass du mich verurteilst für etwas, das ich … das ich …« Sie schnappte nach Luft, eine einzelne Träne lief ihr die Wange hinunter, und als sie zwischen uns in den Schnee fiel und versank, sackte Coco in sich zusammen. »Für etwas, das ich nicht verhindern konnte«, beendete sie den Satz so leise, dass ich es fast überhört hätte.

Langsam stand ich auf und stellte mich ungelenk neben sie. »Ich verurteile dich nicht, Coco. Und ich bemitleide dich auch nicht.« Auf ihren zweifelnden Blick hin schüttelte ich energisch den Kopf und bekräftigte: »Wirklich nicht. Ansel war auch mein Freund. Und dass er sterben musste, ist nicht deine Schuld.«

»Ansel ist nicht der Einzige, der in dieser Nacht gestorben ist.«

Gemeinsam blickten wir auf den dünnen Dampffaden, der von der Stelle aufstieg, an der ihre Träne gelandet war.

Dann blickten wir hinauf zum Himmel.

Dunkler, unheilvoller Rauch verschleierte die untergehende Sonne. Das sollte eigentlich nicht möglich sein. Wir waren seit Tagen unterwegs. In Cesarine quoll noch immer Rauch aus den Tunneleingängen, aus der Kathedrale, den Katakomben, dem Schloss, den Friedhöfen, Gasthäusern und Gassen und verdunkelte den Himmel – aber hier, viele Meilen weit entfernt, hätte es klar sein müssen. Was da unter der Hauptstadt loderte, war jedoch nicht irgendein Feuer. Ein schwarzes Feuer war es, unnatürlich und endlos, als käme es aus den Eingeweiden der Hölle.

Cocos Feuer.

Ein Feuer, dessen Rauch das ganze Königreich einhüllte.

Heißer als gewöhnliche Flammen brannte es und vernichtete sowohl die Tunnel als auch die armen Seelen, die darin gefangen waren. Schlimmer noch. Wenn es stimmte, was der Fischer sagte, der uns angesprochen hatte und dessen Bruder zufällig Novize bei den Chasseuren war, vermochte niemand die Flammen zu löschen. König Auguste war nichts anderes übrig geblieben, als an jedem Tunnelzugang einen Chasseur zu postieren, damit dessen Balisarda ein Übergreifen des Brands auf die Stadt verhinderte.

Offenbar hatte La Voisin die Wahrheit gesprochen, als ich sie im Léviathan zur Rede stellte. Bevor sie mit den überlebenden Bluthexen in den Wald geflohen war, sprach sie eine unmissverständliche Warnung aus: Es ist ihr Kummer, von dem sich das Feuer nährt. Und es wird nicht erlöschen, ehe sie ihren Kummer verwunden hat.

Toulouse, Thierry, Liana und Terrance waren in diesen Tunneln gefangen.

»Es ist trotzdem nicht deine Schuld, Coco.«

Sie verzog das Gesicht und sah zur Statue der Heiligen Magdaleine auf. »Es waren meine Tränen, die das Feuer entfacht haben.« In sich zusammengesunken saß sie da, die Knie vor die Brust gezogen, die Arme um ihre Schienbeine geschlungen. »Alle sind tot, nur meinetwegen.«

»Es sind nicht alle tot.« Madame Labelle fiel mir ein. Ihre Schierlingsfesseln, ihre feuchte Kerkerzelle. Die knöchernen Finger des Königs auf ihrem Kinn. Auf ihren Lippen. Ich spürte, wie Zorn in mir aufstieg, und – so schändlich es sein mochte – auch so etwas wie Erleichterung. Cocos Feuer war es zu verdanken, dass König Auguste – mein Vater – sich um wichtigere Dinge zu kümmern hatte als um meine Mutter.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte Coco: »Noch nicht.«

Mist.

»Wir müssen zurück«, sagte ich ernst, als der Wind um uns auffrischte. Ich bildete mir ein, im Qualm den Gestank der verkohlten Leichen zu riechen und Ansels Blut auf dem Boden. Selbst mit den Bluthexen und dem Werwolf als Verbündete hatten wir verloren, selbst mit dem Wilden Mann. Wieder wurde mir die unglaubliche Torheit unseres Plans bewusst. Wenn wir allein zum Schloss marschierten, würde Morgane uns einfach niedermetzeln. »Auf mich wird Lou nicht hören, aber vielleicht hört sie ja auf dich. Deveraux und Blaise sind in Cesarine geblieben, um nach den anderen zu suchen. Wir könnten ihnen helfen, und wenn wir das geschafft haben, können wir immer no…«

»Sie werden sie nicht finden, Reid. Glaub mir doch endlich. Keiner von denen, die in den Tunneln zurückgeblieben sind, hat überlebt.«

»Die Tunnel haben sich schon mal verschoben«, bemerkte ich nicht zum ersten Mal und kramte in meinem Hirn nach Argumenten, die ich bei unseren vorherigen Auseinandersetzungen noch nicht vorgebracht hatte. Wenn ich Coco überzeugte, würde sie alles daransetzen, Lou zu überzeugen, dessen war ich mir sicher. »Vielleicht haben sie sich ja noch einmal verändert. Könnte doch sein, dass Toulouse und Thierry sich in einen sicheren Gang gerettet haben, wo sie nun unversehrt auf ihre Rettung warten.«

»Und Liana und Terrance verwandeln sich beim nächsten Vollmond in Hauskatzen.« Sie machte sich nicht die Mühe, aufzuschauen, ihr Tonfall verriet gefährliche Resignation. »Vergiss es, Reid. Lou hat recht. Das muss endlich ein Ende haben. Ihr Weg ist ebenso gut wie jeder andere – wenn nicht sogar besser. Zumindest kommen wir voran.«

»Und welchen Sinn hatte es dann, uns mit Verbündeten zusammenzutun?« Ich konnte meinen Frust kaum verbergen. »Allein werden wir es nie schaffen, Morgane zu töten.«

»Mit Verbündeten haben wir es eindeutig auch nicht geschafft.«

»Dann lass uns neue finden! Wir kehren nach Cesarine zurück, besprechen die Strategie mit Deveraux und …«

»Und was erwartest du, dass er tut? Wer sollen diese mysteriösen Verbündeten sein, die noch keiner kennt? Soll Claud sie auf Bäumen wachsen lassen, oder was?« Sie warf mir einen wilden Blick zu. »Auf der Mascarade des Crânes hat er Ansel nicht vor dem Tod bewahren können. Nicht einmal seine eigene Familie konnte er retten, wie, um Himmels willen, soll er dann uns retten? Auch er kann Morgane nicht bezwingen, sieh es endlich ein, Reid. Dies ist unser Weg. In Cesarine nach Geistern suchen bringt uns nicht weiter.«

Ich bewegte meinen verkrampften Unterkiefer. Feuer kroch meine Kehle hoch, ich wusste nicht, was ich tun sollte. »Meine Mutter ist kein Geist.«

»Deine Mutter kann auf sich selbst aufpassen.«

»Aber ihr Leben …«

»Ihr Leben hängt einzig und allein davon ab, wie geschickt sie lügen kann«, mischte sich da Beau ein, der zu uns geschlendert kam, und deutete lässig auf den rauchverhangenen Himmel. »Unser Vater würde alles dafür tun, diesen Brand zu löschen, selbst wenn er die Hilfe einer Hexe in Anspruch nehmen müsste. Solange diese Wolken über unseren Köpfen hängen, ist deine Mutter in Sicherheit. Verzeiht übrigens, dass ich euch belauscht habe«, fügte er hinzu. »Ich wollte nur wissen, ob einer von euch meinen neuen Bart bemerkt hat.« Er hielt inne. »Außerdem hat Lou seit einer halben Stunde nicht ein einziges Mal geblinzelt.«

»Wie bitte?« Ich konnte es nicht glauben.

»Sie hat nicht geblinzelt«, wiederholte er, ließ sich neben Coco auf den Boden fallen und begann, ihr mit einer Hand sanft den Nacken zu kneten. »Kein einziges Mal. Die letzten dreißig Minuten hat sie damit verbracht, ohne einen Mucks und ohne einmal die Lider zu schließen auf das Buntglas zu starren. Es ist beängstigend. Selbst den Priester hat sie damit verjagt.«

Mir wurde unbehaglich. »Du hast mitgezählt, wie oft sie geblinzelt hat?«

»Ist dir das nicht aufgefallen?«, fragte Beau ungläubig. »Immerhin ist sie deine Frau – oder deine Freundin, deine Geliebte, was dir lieber ist. Jedenfalls – da ist offensichtlich etwas nicht in Ordnung mit ihr, Bruderherz.«

Der Wind frischte auf, und plötzlich war der weiße Hund wieder da und schaute an der Kirche um die Ecke. Blass, gespenstisch und stumm beobachtete er uns. Ich zwang mich, ihn nicht zu beachten und mich auf meinen Bruder und seine albernen Beobachtungen zu konzentrieren. »Wenn wir schon von offensichtlich sprechen«, sagte ich gereizt und deutete auf sein kahles Kinn, »einen Bart kann ich bei dir nicht erkennen.« Und mit Blick auf Coco, deren Kopf immer noch auf ihren Knien lag, fügte ich hinzu: »Jeder geht halt anders um mit seiner Trauer.«

»Das versuche ich dir ja zu sagen, das ist mehr als anders

»Worauf willst du eigentlich hinaus?« Ich funkelte ihn an. »Wir alle wissen, dass sie sich in letzter Zeit … verändert hat. Trotzdem ist sie immer noch Lou.« Unwillkürlich blickte ich wieder zu dem Hund. Die Reglosigkeit, mit der er mich anstarrte, hatte etwas Widernatürliches. Nicht mal sein Fell flatterte im Wind. Ich stand auf, streckte eine Hand nach ihm aus und pfiff ihm leise zu. »Hierher, Bursche.« Ich ging näher. Der Hund rührte sich nicht. »Hat sie ihm mittlerweile eigentlich einen Namen gegeben?«, fragte ich die anderen leise.

»Nein«, sagte Beau, als wäre das der letzte Beweis. »Sie hat ihn überhaupt noch keines Blickes gewürdigt.«

»Das ist ja eine fixe Idee von dir.«

»Lenk nicht ab.«

»Du hast immer noch keinen Bart.«

Rasch legte er eine Hand an sein bartloses Kinn. »Und du hast immer noch …«

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, weil der Hund unvermittelt kehrtmachte und zwischen den Bäumen verschwand. Im selben Augenblick frischte der Wind auf, und ein Alarmschrei gellte durch die Luft: »Passt auf!«

Die Stimme wirkte zugleich vertraut und inmitten all des Rauchs und der Schatten völlig fehl am Platz. Gleich darauf folgte das ohrenbetäubende Kreischen von berstendem Metall. Entsetzt blickten wir auf. Zu spät.

Die Statue der Heiligen Magdaleine riss an der Taille auf, und der Oberkörper neigte sich im Wind auf Beau und Coco zu. Sie schrie auf und versuchte, ihn wegzuziehen … doch ihre Beine …

Ich stürzte vor, um die herabfallende Statue im Flug abzufangen, sodass Coco und Beau gerade noch ihre Füße in Sicherheit brachten. Kurz schien die Zeit stillzustehen. Beau untersuchte Coco, die die Augen schloss und aufschluchzte, auf Verletzungen. Der Schmerz in meiner Seite ließ mich zusammenzucken, ich rang nach Atem, versuchte mich aufzusetzen … versuchte …

Nein.

Aller Schmerz war vergessen, ich wirbelte herum und sprang auf, um mich dem Neuankömmling zu stellen.

»Hallo, Reid«, flüsterte Célie.

Blass und zitternd stand sie da, einen Lederbeutel gegen ihre Brust gedrückt. Ihre Porzellanhaut war mit kleinen Schnitten und Kratzern übersät, und der Saum ihres schwarzseidenen Kleids hing in Fetzen um ihre Füße. Es war das Kleid, das sie auf Filippas Beerdigung getragen hatte.

»Célie!«, rief ich ungläubig. Wie kam sie hierher? Sie konnte unmöglich allein, nur in Seide und Pantoffeln bekleidet, die Wildnis durchquert haben. Aber wie sonst war ihre Anwesenheit zu erklären? Sie konnte ja schlecht einfach so aufgetaucht sein. Also war sie uns gefolgt. Ausgerechnet Célie.

Im Versuch, diese neue Wendung zu verarbeiten, packte ich sie bei den Schultern, ließ mich aber nicht dazu hinreißen, sie zu schütteln, sie zu umarmen oder gar mit ihr zu schimpfen. Mein Puls pochte in meinen Ohren. »Wie zur Hölle kommst du hierher?« Pikiert zuckte sie zusammen, da ließ ich sie los und trat zurück. »Tut mir leid. Ich wollte dir nicht …«

»Schon gut. Du hast mir nicht wehgetan.«

Plötzlich riss sie die Augen auf und fixierte mein Hemd, und da erst bemerkte ich die dunkle, metallisch riechende Flüssigkeit, die den Stoff an meine Haut klebte.

»Es ist nur … da ist alles voller Blut.«

Verwirrt drehte ich mich weg und hob mein Hemd, um meinen Brustkorb zu untersuchen. Der dumpfe Schmerz in meiner Seite fühlte sich eher nach einer Prellung an als nach einer offenen Wunde.

»Reid«, sagte Beau unvermittelt.

Der Klang seiner Stimme ließ mich innehalten. Langsam folgte mein Blick seinem Finger, mit dem er auf die Stelle zeigte, wo die Heilige Magdaleine im Schnee lag.

Tränen aus Blut rannen ihr über die Wangen.

LA PETITE LARME

Reid

Wir berieten uns kurz im Flüsterton – als ob die Statue uns hören könnte – und zogen uns dann in die Sicherheit der Kirche zurück.

»Dieser verflixte Köter war schuld«, sagte Beau und ließ sich neben Coco auf eine der Kirchenbänke plumpsen.

Lou, die die ganze Zeit unter der Kanzel gesessen hatte, stand auf. Das Kerzenlicht beleuchtete nur eine ihrer Gesichtshälften, die andere lag im Schatten, wie in zwei Teile geschnitten. Mich schauderte. Ein Teil Lou, der andere … etwas Unheilvolles. Etwas Finsteres.

Grimmig schaute sie zwischen Célie und mir hin und her. »Was ist denn das?«

»Das«, sagte ich rauer als beabsichtigt und warf Célie einen mürrischen Blick zu, »hat nichts zu bedeuten. Morgen früh kehrt sie nach Hause zurück.«

Célie, die mit zitternden Händen die Riemen ihres Lederbeutels umklammerte, reckte das Kinn. »Das werde ich nicht tun.«

»Célie«, sagte ich ärgerlich. Ich nahm sie am Arm und trat mit ihr zu Lou, die keinerlei Anstalten machte, sie zu begrüßen. Seltsam. Ich hatte gedacht, das, was die beiden gemeinsam bei La Mascarade des Crânes durchlebt hatten, hätte sie irgendwie zusammengeschweißt. »Du hast doch eben gerade miterlebt, wie gefährlich es hier ist. Das ganze Königreich will unseren Tod.«

»Ich nicht, ich will unseren Tod keineswegs.« Beau pflanzte seine Füße lässig auf die nächste Kirchenbank und legte einen Arm um Cocos Schultern. Als er Célie ansah, errötete die. »Ehe ich’s vergesse, Mademoiselle Célie de Tremblay, herzlichen Dank für die Warnung. Offenbar haben hier alle ihre guten Manieren vergessen. Schockierend, wirklich. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte diese Statue uns unter sich begraben.«

»Welche Statue?«, fragte Lou.

»Die Statue auf dem Friedhof … sie ist umgestürzt«, murmelte ich. Von den blutigen Tränen erwähnte ich nichts.

Mit geröteten Wangen machte Célie einen tiefen Knicks, ohne Lou und mich eines Blickes zu würdigen. »Ho… Hoheit. Nicht nur sie haben ihre guten Manieren vergessen. Bitte vergebt mir.«

Beau sah über ihren gesenkten Kopf hinweg zu uns herüber und grinste. »Ich mag sie.«

Coco zog ihre Kapuze hoch, um ihr Gesicht zu verbergen. Sie schmiegte sich zwar nicht gerade in Beaus Arm, entfernte sich jedoch auch nicht von ihm. »Es ist nicht gut, dass sie hier ist.«

»Dieser verflixte Köter ist schuld«, wiederholte Beau mit Nachdruck. »Kaum taucht er auf, kommt es zur Katastrophe. Als der Fischer versucht hat, uns zu ertränken, war er auch da.«

Célie stutzte. »Aber der Fischer hat doch gar nicht …« Alle wandten sich ihr zu, da hielt sie abrupt inne und errötete noch mehr. Entschuldigend hob sie eine ihrer zarten Schultern. »Die hohen Wellen haben das Boot zum Kentern gebracht. Erinnert ihr euch nicht?«

»Bist du uns etwa gefolgt?«, fragte Lou.

Célie schaute zu Boden.

Ich ließ mich schwerfällig auf eine Bank fallen, die Unterarme auf den Knien. »Was willst du hier, Célie?«

»Ich …« Mit offenem, verletzlichem Blick sah sie von einem zum anderen, ehe sie schließlich mich fixierte. »Ich möchte gern helfen.«

»Helfen«, echote Lou spöttisch.

Célie schien all ihren Mut zusammenzunehmen, als sie sagte: »Ich … ich glaube, ich … ich glaube, ich habe etwas, das euch bei der Verfolgung von M… M…« Sie drückte ihren Lederbeutel noch fester an sich und richtete sich auf. »Ich habe etwas, das euch bei der Verfolgung der Dame des Sorcières nützlich sein könnte.«

»Du kannst nicht mal ihren Namen aussprechen«, grummelte ich und rieb mir die Schläfen.

»Ich brauche ihren Namen nicht auszusprechen, um sie zu töten.«

Sie zu töten.

Großer Gott.

Lou gackerte los und hob breit grinsend die Hände, um Beifall zu klatschen. Einmal, zweimal, dreimal. Sie hatte wieder dieses seltsame Funkeln in den Augen. Ihr Gegacker ging mir durch Mark und Bein.

»Sieh an, unser Kätzchen hat endlich seine Krallen entdeckt. Ich bin beeindruckt«, sagte sie. »Nur, dass meine Mutter leider keine Maus ist. Und wie willst du sie töten? Mit einem Knicks? Indem du sie zum Tee einlädst?«

Offenbar hatte ich die Beziehung der beiden völlig falsch eingeschätzt.

»Lass sie in Ruhe, Lou«, fuhr Beau sie an.

Dankbar, dass er ihr beisprang, fuhr Célie mit festerer Stimme fort: »Nun, wie ich sie töten werde, das weiß ich noch nicht genau – noch nicht –, doch mir liegen gewisse Informationen vor. Ihr hattet recht vorhin, Hoheit.« Aus ihrem Beutel zog sie einen makellosen Leinenumschlag hervor, auf dessen Vorderseite deutlich erkennbar Jean Lucs Handschrift prangte. »Der König hat die Hinrichtung Eurer Mutter auf unbestimmte Zeit verschoben. Er gedenkt, mithilfe ihrer Magie das Feuer zu löschen.«

»Hab ich’s doch gesagt«, meinte Beau zu mir und nickte bekräftigend.

Célie reichte mir das Schreiben, ich überflog es und gab es ihr zurück. »Célie, ich bin dir dafür wirklich sehr dankbar. Aber ich kann nicht zulassen, dass du bei uns bleibst. Was, wenn dir etwas zustößt? Das würde ich mir niemals verzeihen.« Ich dachte kurz nach. »Was sagen eigentlich deine Eltern zu alldem?«

Sie schniefte tadelnd. »Nichts.«

Ich sah sie fragend an.

»Sie wissen gar nicht, dass du hier bist, stimmt’s?« Beau schien beeindruckt. »Cleveres kleines Luder. Ist wohl unkomplizierter, hinterher um Vergebung zu bitten als vorher um Erlaubnis.«

Ich stöhnte auf und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. »Célie

»Ja, was?« Ihre gemessene Fassade zerbrach.

Erschrocken richtete ich mich auf. In all den Jahren, in denen ich sie kannte, war Célie nie der Geduldsfaden gerissen.

»Du kannst ganz beruhigt sein, Reid, niemand wird das halbe Königreich nach mir schicken. Als ich das letzte Mal verschwunden bin, hat es eine gute Weile gedauert, ehe jemand sich bequemte, mir zu Hilfe zu eilen, vielleicht erinnerst du dich. Gott bewahre, dass irgendjemand erfährt, mein Vater hätte sein eigenes Haus nicht unter Kontrolle.«

Ich konnte es nicht glauben. Mir war durchaus bewusst, dass Monsieur de Tremblay als Vater eine Null war, aber so sehr, das hätte ich nicht gedacht. »Jean Luc wird dich holen kommen. Mitsamt seinen Chasseuren.«

Sie wedelte mit dem Schreiben vor meiner Nase. »Aber Jean Luc weiß doch, dass ich hier bin. Er war dabei, als ich die Kutsche meines Vaters gestohlen habe, Herrgott noch eins, und hat mir die ganze Zeit Vorhaltungen gemacht.«

Ich war fassungslos. Dass sie zur Diebin werden würde, hätte ich nie im Leben gedacht. Und dass sie den Namen des Herrn so in den Schmutz ziehen könnte, schon gar nicht.

Sie schnaubte und stopfte das Schreiben in ihre Manteltasche. »Sei’s drum, eigentlich bin ich davon ausgegangen, wenigstens du wüsstest meinen Einsatz zu schätzen. Es ist nämlich so, solange ich mit einer Bande berüchtigter Hexen und Verbrecher – verzeiht meine Wortwahl, Hoheit – unterwegs bin, kann Jean Luc keinen von euch verhaften, ohne auch mich zu verhaften. Und da das niemals passieren wird, wird er euch nicht länger verfolgen.«

»Oh, wie gern hätte ich seinen Gesichtsausdruck gesehen.« Beau verzog das Gesicht, als litte er unendliche Schmerzen. »Ein Beweis mehr, dass es einen Gott gibt und dass er mich hasst.«

»Und wenn schon.« Begierig, dieses Gespräch zu beenden, erhob ich mich. Ich wollte zu Pater Achille, um ihn über die veränderte Lage aufzuklären und um eine zusätzliche Decke für die Nacht zu erbitten. »Du kannst nicht mit uns kommen.«

Vor Wut schäumend, aufrecht und kerzengerade, betrachtete Célie mich, als ich an ihr vorbeiging. Noch immer umklammerten ihre Finger den Lederbeutel.

»Was ich sicher nicht kann«, zischte sie zwischen ihren Zähnen hindurch, »ist, meinen Eltern in die Augen zu sehen, die so tun, als ob nichts geschehen wäre. Die einfach so weiterleben wollen wie bisher. Aber mich können sie nicht dazu zwingen.« Ihre Stimme bekam einen gefährlich tiefen Tonfall. »Und du kannst das genauso wenig. Der Gedanke, zu Hause zu sitzen, vor Edelleuten artig Knickse zu machen und Tee zu mir zu nehmen, während Morgane frei herumläuft, macht mich krank.« Da ich nicht stehen blieb, rief sie mir verzweifelt nach: »Über Wochen hat sie mich zusammen mit Filippas Leichnam in diesem Sarg gefangen gehalten, Reid. Über Wochen. Sie … sie hat mich gefoltert, und sie hat all diese Kinder verstümmelt. Ich kann nur eins nicht, herumsitzen und nichts tun!«

Von Grauen gepackt, blieb ich wie angewurzelt stehen. Bestimmt hatte ich mich verhört. Ohne mich umzudrehen, fragte ich: »Sie hat was?«

»Zwing mich nicht, es zu wiederholen«, sagte sie und schluchzte auf.

»Célie …« Als ich mich, Übelkeit verspürend, umdrehte und zu ihr gehen wollte, hob sie die Hand und wies mich zurück. Tränen liefen ihr ungehindert über die Wangen. Sie versuchte nicht, sie zu verbergen, wischte sie nicht weg. Stattdessen streifte sie den Lederbeutel von der Schulter und kippte den Inhalt auf den staubigen Boden: Schmuck, Münzen, Edelsteine, sogar ein Kelch. Die anderen starrten wie gebannt auf den kleinen Schatz, aber ich konnte Célies Worte nicht ausblenden. Konnte die Bilder nicht aufhalten, die sie auslösten.

Filippa war ein paar Jahre älter gewesen als wir. Sie hatte sich mir gegenüber immer wie eine Schwester verhalten. Eine sittsame, missbilligende Schwester. Bei dem Gedanken, dass Célie Monate nach Filippas Beerdigung in einem Sarg mit ihrer Leiche gefangen war, drehte sich mir der Magen um. Ich würgte die aufsteigende Galle hinunter.

»Ich habe nicht nur Vaters Kutsche gestohlen«, flüsterte Célie in die Stille hinein und deutete auf den glitzernden Haufen, »ich habe auch seinen Tresor geplündert. Ein bisschen Geld, dachte ich, könnten wir auf unserer Reise bestimmt gut gebrauchen.«

Beau und Coco kamen heran, um den Schatz zu inspizieren. »Wie hast du das alles mit dir geschleppt?«, fragte Beau und warf einen skeptischen Blick auf Célies magere Arme.

Nun kam auch Lou näher.

Coco stieß mit den Zehen gegen die Münzen. »Und wo ist deine Kutsche?«, fragte sie wenig beeindruckt.

Célie ließ den leeren Beutel fallen. Ihre Finger waren von der Anspannung gekrümmt. »Die habe ich in der Obhut des Stallburschen im Gasthaus gelassen.«

»Und dein Diener?«, fragte Beau.

Er hatte sich hingehockt und betastete den Beutel vorsichtig, als wäre er aus Menschenhaut. Vielleicht war er das tatsächlich. Monsieur de Tremblay betrieb einst einen florierenden Schwarzhandel mit gefährlichen magischen Gegenständen, das war auch der Grund gewesen, weshalb die Hexen Filippa umgebracht hatten.

»Der Kutscher?«, hakte Beau nach.

»Ich selbst habe die Pferde gelenkt.«

»Wie bitte?«, rief ich, und Beau drehte sich wie von der Tarantel gestochen um. »Hast du den Verstand verloren?«

Lou, die sich über die ganze Situation prächtig zu amüsieren schien, ließ wieder dieses boshafte Gegacker vernehmen.

Ich warf ihr einen bösen Blick zu, konnte mich aber selbst kaum beherrschen. Ich atmete tief ein, einmal, zweimal. »Genug jetzt. Schluss damit. Ich werde Pater Achille bitten, eine Eskorte zusammenzustellen, die dich zurück nach Cesarine bringt, sobald der Tag anbricht.« Mit diesen Worten begann ich grob, den Schmuck in den Beutel zu schaufeln. Doch obwohl er sich rasch mit all den schweren Juwelen füllte, fühlte er sich schwerelos in meiner Hand an. Menschenhaut oder nicht – verhext musste er sein. Verdammter de Tremblay. Verdammte Célie. Wäre sie mit diesem Beutel von einer Hexe erwischt worden, hätte sie das gleiche Schicksal ereilt wie Filippa. Oder war es gerade das, was sie wollte? Gut möglich, dass sie nach den Erlebnissen bei der Mascarade des Crânes den Tod herbeisehnte.

Das würde ich aber ganz bestimmt nicht zulassen.

Da fiel Coco mir in den Arm. »Warte mal«, sagte sie alarmiert, ihre Finger zitterten.

Sie schob ihre Kapuze zurück, riss mir ein Medaillon aus der Hand und hielt es in den Kerzenschein. Ihr Gesicht, das jetzt noch blasser war, beinahe aschfahl, wurde von der goldenen Oberfläche des länglichen Anhängers reflektiert. Filigrane Linien schlängelten sich um einen Diamanten, der in der Mitte saß, und bildeten ein Wellenmuster.

Kalt und leise fragte sie: »Woher hast du das?«

Lou trat zu ihr und spähte ihr über die Schulter. Der Diamant spiegelte sich in ihren Augen und ließ sie fast silbern wirken.

Célie wich instinktiv einen Schritt zurück. »Das habe ich doch schon gesagt. Ich habe das Medaillon zusammen mit den anderen Sachen aus dem Tresor meines Vaters entwendet.«

Wie um sich rückzuversichern, sah sie mich an, ich schwieg jedoch. Noch nie hatte ich eine solche Intensität in Cocos oder Lous Blick gesehen – regelrechte Besessenheit. Ihre Reaktion beunruhigte mich. Welche Reliquie auch immer Célie uns da gebracht haben mochte, sie musste bedeutend sein.

»Als Kind war das mein Lieblingsstück gewesen. Leider lässt es sich nicht öffnen, deshalb hat Vater es nicht weiterverkaufen können.«

Coco erbebte, als wäre sie tief gekränkt, und zog ein Messer aus ihrem Mantel. Sofort stellte ich mich schützend vor Célie.

»Also, bitte«, knurrte Coco nur und stach sich in die Spitze ihres Zeigefingers.

Ein Blutstropfen fiel auf den Diamanten und bildete einen perfekten Kreis. Dann geschah Unglaubliches. Der Tropfen sickerte unter die Oberfläche, wo er helles Karmesinrot aufwirbelte. Als sich die Farbe auflöste, klickte das Medaillon auf.

Gebannt beugten wir uns vor und starrten auf eine kristallklare Oberfläche.

Lou wich zurück.

»La Petite Larme«, sagte Coco sanft, die ihre Wut für den Moment vergessen hatte.

»Die kleine Träne«, echote Beau.

»Ein Spiegel, gegossen aus einem Tropfen von L’Eau Mélancolique.« Mit undurchdringlichem Blick betrachtete Coco ihr Spiegelbild, dann richtete sie ihn auf Célie. Wieder verzog sie die Lippen vor Abscheu. »Es hat sich nicht öffnen lassen, weil es nicht dir gehört. Es gehörte meiner Mutter.«

Im Altarraum war es mucksmäuschenstill. Selbst Pater Achille in seiner Schürze, der, eine tropfende Schüssel umklammernd, durch die Küchentür hereingestürmt war, um sich über das Gelärme zu beschweren, merkte, dass er einen ungünstigen Moment erwischt hatte, und hielt inne. Überrascht sah er zu Célie, auf das Gold zu ihren Füßen.

»Célie de Tremblay«, sagte er barsch. »Ganz schön weit weg von daheim.«

Sie schenkte ihm ein höfliches und zugleich kühles, nervöses Lächeln. »Verzeiht mir, Monsieur, aber ich kann mich nicht entsinnen, bereits das Vergnügen Eurer Bekanntschaft gemacht zu haben.«

»Achille«, sagte er und schürzte die Lippen. »Pater Achille Altier.«

Wortlos klappte Coco das Medaillon zu und stülpte sich wieder die Kapuze über.

»Schönes Muster«, witzelte Beau und deutete auf Pater Achilles Schürze, auf die jemand – vermutlich ein Kind – mit großen, ungleichmäßigen Pinselstrichen in Blau, Rot und Grün Rosen gemalt hatte.

»Hab ich von meinen Nichten geschenkt bekommen«, brummte Pater Achille.

»Bringt Eure Augenfarbe gut zur Geltung.«

Pater Achille wurde es zu bunt. Er warf die Schale nach Beau, der es zwar gerade noch schaffte, das glitschige Ding vor seiner Brust abzufangen, aber nicht verhindern konnte, dass ihm beim Aufprall Wasser ins Gesicht spritzte – zu Pater Achilles sichtlicher Genugtuung.

»Das war der letzte Teller von dir, den ich abgewaschen habe, Junge«, sagte der Pater und nickte ihm zu. »Ab jetzt darfst du sie selbst schrubben – und die Küche gleich dazu. Dafür kannst du dich bei der da bedanken«, gereizt zeigte er mit dem Daumen auf Lou, »Eimer und Mopp warten schon auf dich.«

Beau wollte entrüstet protestieren, doch Célie unterbrach ihn: »Pater Achille.« Wieder knickste sie, diesmal allerdings nicht ganz so tief, mit weniger Grandeur. Mit unverhohlener Missbilligung musterte sie seine Blumenschürze, das zerzauste Gewand, den heruntergekommenen Kirchenraum. »Es ist mir ein Vergnügen, Euch kennenzulernen.«

Verlegen ob der ungewohnten Höflichkeit trat Pater Achille von einem Fuß auf den andern. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich angenommen, ihre prüfenden Blicke seien ihm unangenehm, ja peinlich.

»Ich habe Eure Mutter gekannt«, brachte er schließlich hervor, »damals, als ich noch in Cesarine lebte.«

»Selbstverständlich werde ich ihr Eure Grüße ausrichten.«

Er schnaubte. »Lieber nicht. Dass ich sie gekannt habe, bedeutet nicht, dass ich sie sonderlich gemocht habe.« Als Célie empört auffuhr, fügte er hinzu: »Was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte, das kann ich Euch versichern. Nun …« So würdevoll es ihm möglich war, richtete er sich auf. »Es geht mich nichts an, was Ihr in Fée Tombe verloren habt, Mademoiselle de Tremblay. Es ist auch nicht meine Sache, Euch zu sagen, wie töricht Ihr handelt, dass Ihr Euch mit diesem Haufen einlassen wollt. Weil es mich nicht interessiert. Achtet bitte nur darauf, keine Schwierigkeiten zu machen, bevor Ihr hier aufbrecht.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und wollte gehen, doch ich stellte mich ihm in den Weg. »Sie braucht eine Eskorte, die sie zurück nach Cesarine bringt.«

»Reid!«, sagte Célie wütend und stampfte tatsächlich mit dem Fuß auf. »Hör endlich auf, so … so …«

»Dickschädelig zu sein?«, schlug Beau vor.

Pater Achille warf uns einen mürrischen Blick über seine Schulter zu. »Ich bin keine Gouvernante.«

»Ha!« Célie strahlte triumphierend und stach einen Finger in die Luft. »Er will mich nicht begleiten, und um die Reise allein zu machen, ist sie viel zu gefährlich. Also muss ich hierbleiben, bei euch.«

Ich presste die Zähne zusammen. »Bisher hat dir die Gefahr doch nichts ausgemacht.«

»Schon, aber …« Ein Anflug von Nervosität zeigte sich in ihren Augen, ihr Lächeln verschwand. »Vielleicht habe ich vorhin … ein wenig geflunkert. Nichts von Belang«, fügte sie hastig hinzu, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »Ich habe gesagt, ich hätte meine Kutsche im Stall gelassen, aber eigentlich, äh, war es vielleicht eher so, dass ich … hm … falsch abgebogen bin.«

»Falsch abgebogen?«, fragte ich fordernd. »Wohin?«

»Zum Leuchtturm.«

Pater Achille drehte sich langsam um.

»Es war kurz vor Morgengrauen, da habe ich eure Fährte verloren.« Célie knetete ihre Hände auf Höhe der Taille. »An einer Weggabelung habe ich den Weg gewählt, der vom Dorf wegführte. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ihr in einer Kirche Schutz suchen würdet. Es war in der Tat außerordentliches Glück, dass ich euch überhaupt gefunden habe …«

»Célie, Liebes«, unterbrach Beau. »Erzähl bitte weiter.«

Sie errötete wieder und senkte den Kopf. »A…aber ja doch, Hoheit, bitte verzeiht. Als ich mich dem Leuchtturm näherte, bewegte sich etwas in der Dunkelheit, und das erschreckte Cabot derart, dass er durchging und uns in seiner Raserei fast über die Klippe gezogen hätte. Dabei hat sich ein Rad am Steilhang verhakt, im letzten Moment habe ich es gerade noch geschafft, Cabot loszuschnallen, bevor die Kutsche ins Meer stürzte … also, zumindest wäre sie das, hätte diese Kreatur sie nicht freibekommen.« Sie schauderte. »Ein solches Monster habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Langes, verfilztes Haar und in Schatten gehüllte Haut. Seine scharfen weißen Zähne rochen nach Fäulnis und verwesendem Fleisch. Wäre ich nicht auf Cabots Rücken entkommen, hätte es uns beide gefressen, da bin ich gewiss.« Sie seufzte und sah zu mir hoch. »Ich habe also Cabot im Stall gelassen, nicht meine Kutsche. Und solange diese Kreatur sie in ihrem Besitz hat, kann ich nicht einfach zurück, um sie zu holen, aber ich kann auch nicht riskieren, ohne sie zu reisen. Daher muss ich bei dir bleiben, Reid, oder ich werde nie mehr nach Hause zurückkehren.«

»Cauchemar«, murmelte Lou.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich.

Sie lächelte dünn und verschränkte ihre Finger mit meinen. Ihre waren wie aus Eis.

»Habe ich was gesagt?«

»Aber ja doch.«

»Tatsächlich hat sich in unserem Leuchtturm ein Cauchemar eingenistet«, sagte Pater Achille widerwillig. Auf unsere fragenden Blicke hin fuhr er fort: »Ein Albtraum. Wenigstens sagen das die Dorfbewohner. Seit drei Tagen sucht die Kreatur uns hier in Fée Tombe heim und versetzt alle in Angst und Schrecken.« Mürrisch schüttelte er den Kopf. »Morgen früh wollen diese Narren den Leuchtturm dem Erdboden gleichmachen.«

Etwas in seinem finsteren Gesichtsausdruck ließ mich innehalten. »Hat dieser Cauchemar denn Menschen Schaden zugefügt?«

»Ja, hast du mir nicht zugehört?«, fragte Célie. »Er hätte mich und Cabot beinah zu Tode erschreckt!«

»Oh, welch Tragödie«, spottete Coco unter ihrer Kapuze.

»Coco!«, tadelte Beau. »Das ist unter deiner Würde. Wenn schon boshaft, dann wenigstens mit Witz.«

»Boshaft, wieso?«, fragte sie zuckersüß. »Das Pferd hätte ich durchaus betrauert.«

»Wie bitte?« Ungläubig drehte Célie sich zu ihr um. »Es tut mir furchtbar leid wegen des Medaillons deiner Mutter, Cosette, aber ich wusste doch nicht …«

Ich unterbrach sie und wiederholte meine Frage: »Hat dieser Cauchemar Menschen Schaden zugefügt?«

Pater Achille zuckte die Achseln. »Wen interessiert das schon?«

»Mich interessiert’s.«

»Die Meute hat sich längst auf den Weg gemacht, Junge. Die würden dich umbringen.«

»Würde dir das etwas ausmachen?«

»Nein.« Seine Nasenlöcher blähten sich. »Überhaupt nicht. Cauchemars sind grausam, das weiß man, allerdings hat diese Kreatur noch niemanden angegriffen. Letzte Nacht ist es in die Boucherie eingebrochen und hat ein paar Fleischreste gestohlen, darüber hinaus ist mir nichts bekannt.«

Als ich erst mit Lou, dann mit Beau einvernehmliche Blicke tauschte, sagte er in einem Ton, als bereiteten ihm die Worte körperliche Schmerzen: »Ihr solltet euch da raushalten. Das geht euch nichts an.«

Eine Meute, die eine unschuldige Kreatur bei lebendigem Leib verbrennt – das ging mich sehr wohl etwas an, und wie! Dasselbe hätten sie mit Lou gemacht, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten. Mit Coco. Mit meiner Mutter. Mit mir. Vertraute Wut, dick und zähflüssig, kochte in meinen Eingeweiden hoch. Selbst wenn sie diese unschuldige Kreatur abschlachteten, es wäre nicht allein die Schuld dieser Dorfbewohner. Morgane hatte meine Geschwister gefoltert und verstümmelt, sie waren zufällige Opfer in einem Krieg, den sie sich nicht ausgesucht hatten – genauso wenig wie dieser Cauchemar.

Schluss damit, ein für alle Mal.

Was schadete es, einen kurzen Umweg am Leuchtturm vorbei zu nehmen? So konnten wir den Cauchemar warnen, ehe die Meute zuschlug – oder ihn befreien –, und trotzdem noch vor Sonnenaufgang aufbrechen. Eine edle Tat. Lou hatte vielleicht den falschen Weg für uns gewählt, doch dies schien ein Schritt in die richtige Richtung zu sein, der uns womöglich auf einen neuen, besseren Kurs leitete.

In jedem Fall würde unsere Ankunft am Chateau le Blanc dadurch verzögert. Und vielleicht …

»Ich sage Nein«, sagte Coco entschieden aus ihrer Kapuze heraus. »Cauchemars sind nicht ohne, außerdem können wir uns keine Abstecher leisten. Wir sollten auf direktem Weg zum Chateau marschieren.«

Lou grinste und nickte.

»Wenn wir diesem Cauchemar helfen«, sagte ich leise, »dann hilft er uns vielleicht auch. Dann hättest du einen geheimnisvollen Verbündeten, Cosette, ganz ohne Bäume.«

Ihr Gesicht sah ich nicht, doch ich spürte ihren Blick.

Kopfschüttelnd reichte ich Célie meine Decke und kehrte zu unserer Kirchenbank zurück. Lou griff nach meiner Hand und strich mit dem Daumen über die Adern an meinem Handgelenk. »Ob sie nun nach Hause zurückkehrt oder nicht, wir brauchen Célies Wagen«, sagte ich. »So oder so.«

Célie stimmte sofort ein. »Eine Kutsche würde unsere Reise erheblich beschleunigen.«

»Ja«, gab ich zu und musterte sie, während ich überdachte, was sie gesagt hatte. Ich sah ihren hoffnungsvollen Gesichtsausdruck, ihre entschlossene Haltung. In meiner Wange zuckte nervös ein Muskel. Das war nicht die Célie, die ich kannte. »Das würde es.«

Pater Achille warf die Hände in die Luft und kehrte zurück in seine Küche, um uns nicht länger ertragen zu müssen. »Dummköpfe, alle miteinander«, schimpfte er grimmig über die Schulter. »Nachts sind Cauchemars am stärksten. Schlagt beim ersten Licht zu, bevor die Menge angreift. Was immer ihr tut, man darf euch nicht sehen. Zu viel Angst macht die Menschen dumm.« Ein letztes Mal schaute er von mir zu Célie, dann schüttelte er den Kopf. »Zu viel Mut aber auch.«

EINE HEIMTÜCKISCHE PRÄSENZ

Lou

Aus der Dunkelheit erhebt sich eine Stimme.

Nicht jene Stimme. Nicht diese schreckliche, die balzt und lockt. Diese Stimme ist anders, stechend, beißend, schneidend – und vertraut. Sie will mich nicht verführen. Sie schimpft mich aus.

Wach auf, blafft sie, noch bist du nicht tot.

Aber dieses Wort ist mir unbekannt. Ich weiß nicht, was Tod bedeutet.

Niemand tut das. Darum geht’s auch nicht – oder doch. Vielleicht geht es genau darum. Du bist drauf und dran, zu entschwinden.

Entschwinden. Die Dunkelheit bietet Vergessen, süße Erleichterung.

Verdammt. Du hast zu lange und zu hart gekämpft, um jetzt aufzugeben. Los! Du willst mehr als vergessen. Du willst leben.

Geisterhaftes Glucksen hallt durch die unendliche Schwärze. Es umspielt mich, streichelt die zerklüfteten Ränder meines Bewusstseins, besänftigt die Bruchstücke in meinem Innern. Ergib dich, kleine Maus. Lass dich von mir verschlingen.

Ich leide. Mit jedem Pulsschlag der Finsternis wird der Schmerz stärker, bis ich ihn nicht länger ertragen kann.

Das ist dein Herz. Wieder diese stechende Stimme. Lauter jetzt, lauter noch als das rhythmische Trommeln. Bu-bumm. Bu-bumm. Bu-bumm. Instinktiv weiche ich zurück, aber ich kann mich vor dem Geräusch nicht verstecken. Vor dem Schmerz. Wo immer ich mich hinwende, höre ich seinen Hall. Es schlägt noch.

Ich versuche, diese Erkenntnis zu verarbeiten, versuche, durch die Dunkelheit hindurchzuschauen, dahin, wo ein Herz tatsächlich schlagen mag. Doch ich kann nichts erkennen.

Unterdrück ihn nicht, Lou. Stell dich deinem Schmerz. Nutze ihn.

Lou. Ein Wort so vertraut wie das Ausatmen bei einem Lachen. Das Atemholen vor dem Sprung, die Atemlosigkeit im Flug. Ein Seufzer der Erleichterung, Verärgerung, Enttäuschung. Ein Schrei der Wut oder der Leidenschaft. Das bin … ich. Ich bin nicht die Finsternis, ich bin etwas völlig anderes. Und diese Stimme … ist meine.

Da bist du ja, sagt sie … sage ich. Unendliche Erleichterung. Wurde auch Zeit.

Leider folgt auf den Flügeln der einen Erkenntnis sogleich die nächste, abrupt spanne ich die Muskeln an, wehre mich gegen die erdrückende Schwärze. Sie zahlt es mir mit gleicher Münze zurück, ist nicht länger nur pure Finsternis, sondern eine empfindende Präsenz. Und heimtückisch ist sie, fühlt sich irgendwie falsch an, fremd. Sie gehört nicht hierher – wo auch immer hier sein mag –, denn auch dieser Ort … bin ich. So wie mein Herzschlag, mein Name. Doch sosehr ich die Muskeln anspanne, mit all meiner Kraft dagegen ankämpfe, ich stoße nur auf eisernen Widerstand.

Die Finsternis ist unnachgiebig wie Stein.

DAS FRAGESPIEL

Reid

Lous Fingerspitzen glitten im Takt der rhythmischen Atemzüge der anderen über mein Bein. Bei jedem Einatmen bewegte sie die Finger nach oben, bei jedem Ausatmen drehte sie ihr Handgelenk und strich mit dem Handrücken mein Bein entlang nach unten. Der Wind, der durch die Ritzen des Altarraums pfiff, machte mir Gänsehaut auf den Armen. Ich saß starr da und ließ es geschehen, mein Herz pochte wild unter Lous zarter Berührung. Gespannt wartete ich ab. Und wirklich krochen ihre Finger verführerisch meinen Oberschenkel hinauf, immer weiter, bis … bis ich ihr Handgelenk packte, meine Hand über ihre schob und sie festhielt.

Und wie ich so unsere Hände auf meinem Bein betrachtete, ließ plötzlich eine fremdartige Empfindung mein Blut erstarren. Dabei hätte ich brennen, diesen vertrauten Hunger spüren müssen, diese Hitze, die mich fiebern machte, sobald wir uns berührten. Aber der Knoten in meinem Magen … das war kein Verlangen. Es war etwas, das falsch war. Vor einer halben Stunde, als die anderen sich schlafen gelegt hatten, hatte mich ein unbestimmtes Gefühl der Furcht erfasst. Und dieses Gefühl hatte sich noch verstärkt, als endlich als Letzter auch Beau eingeschlafen war und nur Lou und ich wach blieben.

Ich räusperte mich, drückte ihre Hand, zwang mir ein Lächeln ab und hauchte ihr einen Kuss auf die Handfläche. »Wir müssen früh raus morgen. Sobald wir den Cauchemar befreit haben, müssen wir aus Fée Tombe verschwinden. Wir haben noch ein paar lange Tage auf der Straße vor uns.«

Klang wie eine Ausrede.

War auch eine.

Ein leises Geräusch kam aus ihrer Kehle. Seit wir Cesarine verlassen hatten, trug sie ihr Halsband nicht mehr. Ich betrachtete ihre Narbe, die zwar heilte, aber noch nicht völlig geschlossen war.

Lou strich daran entlang. »Und wie macht man das, einen Cauchemar befreien?«

»Vielleicht lässt er ja mit sich reden, und wir können ihn davon überzeugen, in den Wald zurückzukehren.«

»Und wenn nicht?«

Ich seufzte. »Dann bleibt uns nur, ihn vor der Meute zu warnen. Zwingen können wir ihn zu gar nichts.«

»Und wenn er sich, weil wir ihn gewarnt haben, dazu entschließt, die Meute zu fressen

»Das wird er nicht tun«, sagte ich entschieden.

Sie betrachtete mich mit einem schiefen Lächeln. »Du hast uns ganz schön liebgewonnen, was?« Sie grinste breit. »Uns Monster, meine ich.«

Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf jetzt, Lou«, sagte ich und ignorierte den ungewohnten Duft ihrer Haut.

»Ich bin aber gar nicht müde.« Sie schnurrte fast. Im Dunkel leuchteten ihre Augen strahlend hell und blass. »Wir haben doch den ganzen Tag über geschlafen.«

Ich fing ihre Hand ein, die an meinem Brustkorb hinaufzukriechen begann, und verschränkte meine Finger mit ihren, was sie vollkommen missverstand, nämlich als Einladung. Ehe ich mich’s versah, hatte sie sich auf meinen Schoß geschwungen und hielt unsere Hände unbeholfen hoch über unsere Köpfe. Als sie mir ihr Becken entgegendrängte und ihre Brust an meine drückte, war ich verloren. Verflucht.

Ich gab mir alle Mühe, teilnahmslos dreinzuschauen. Natürlich wollte sie mich berühren. Warum denn nicht? Es war kaum einen Monat her, da war ich selbst noch regelrecht süchtig nach ihr gewesen. Die raffinierte Linie ihrer Hüfte, ihr volles, welliges Haar, das schelmische Glitzern in ihren Augen. Ständig hatte ich an ihr herumfummeln müssen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und nicht mal die Anwesenheit meiner Mutter hatte mich davon abgehalten. Nur dass es damals weit über das rein Körperliche hinausgegangen war.

Ich war Lou von Anfang an verfallen gewesen. Sie machte süchtig. Egal, wie wütend oder verärgert ich ihretwegen war, ich wollte immer in ihrer Nähe sein.

Hilfe suchend schaute ich hinüber zu Beau, zu Coco, zu Célie, in der Hoffnung, einer von ihnen würde sich rühren, die Augen öffnen und uns unterbrechen. Aber sie schliefen seelenruhig weiter und ahnten nichts vom Kampf, den ich in meinem Innern focht.

Ich liebte Lou, das wusste ich und spürte es ganz tief in mir.

Und doch konnte ich ihren Anblick nicht mehr ertragen.

Was war nur mit mir los?

Als sie ihre Lippen an mein Ohr legte und an meinem Ohrläppchen herumzuknabbern begann, überkam mich Wut. Zu viele Zähne. Zu viel Zunge. Wieder schwappte eine Welle des Abscheus über mich. Doch warum nur? War es, weil sie noch immer trauerte? Oder weil ich trauerte? Weil sie sich wie ein tollwütiges Tier auf ihr Abendessen gestürzt hatte, weil sie binnen einer Stunde nur zweimal geblinzelt hatte? Ich schüttelte mich. Dieser verdammte Beau. Oder war ich etwa sauer auf mich selbst? Lou verhielt sich seltsam, ja, anders als sonst – aber rechtfertigte das, dass mir bei ihrer Berührung übel wurde?

Hinzu kam, dass sich diese Gedanken – die Furcht, die beunruhigende Abneigung – anfühlten wie Verrat. Das hatte Lou nicht verdient.

Ich riss mich zusammen und bot ihr meine Lippen dar. Sofort küsste sie mich enthusiastisch, und meine Schuldgefühle wurden nur noch größer. Sie schien meinen Widerwillen nicht zu spüren und drückte sich fester an mich, wiegte ihre Hüften gegen meine. Plump und begierig. Als ihr Mund erneut meine Kehle fand und sie an der Haut über meiner heftig pulsierenden Schlagader zu saugen begann, hielt ich es nicht länger aus. Es hatte keinen Zweck. Ich ließ meine Hände auf ihre Schultern fallen.

»Wir müssen reden.«

Sie blickte mich erstaunt an, in ihren blassen Augen flackerte etwas auf, das wirkte wie … Unsicherheit. Ich hätte mich umbringen können. Seit wir zusammen waren, hatte ich Lou vielleicht zweimal verunsichert gesehen, und beide Male war es ein schlechtes Vorzeichen gewesen. Doch die Unsicherheit verschwand so schnell, wie sie gekommen war, und wich einem bösen Funkeln.

»Unsere Zungen werden aber anderweitig gebraucht, oder?«

Sanft, jedoch bestimmt, schob ich sie von meinem Schoß. »Nein, werden sie nicht.«

»Bist du sicher?« Schmachtend und verführerisch schmiegte sie sich an mich.

Zumindest schien sie das zu beabsichtigen, doch die Bewegung ließ ihre sonstige Finesse vermissen. Ich lehnte mich zurück und musterte ihre allzu strahlenden Augen. Ihre geröteten Wangen.

»Stimmt was nicht?«, fragte sie.

Sag mir, was es ist. Ich mache es wieder gut.

»Sag du es mir.« Mit mühsam gezügeltem Frust packte ich ihre eisigen Finger, die nach meiner Brust suchten, und drückte sie warnend zusammen. »Rede mit mir, Lou.«

»Und worüber möchte sich mein geliebter Ehemann unterhalten?«

Ich holte tief Luft und sagte, wobei ich sie nicht aus den Augen ließ: »Über Ansel.«

Sein Name fiel zwischen uns wie ein Kadaver. Schwer und mausetot.

»Über Ansel, aha.«

Missmutig entwand sie sich meinem Griff. Ihr Blick wurde distanziert, verschlossen. Sie fixierte einen Punkt direkt über meiner Schulter, ihre Pupillen weiteten und verengten sich in winzigen, fast unmerklichen Bewegungen.

»Du willst über Ansel reden.«

»Ja.«

»Und ich will über dich reden.«

»Ich aber nicht«, sagte ich abweisend.

Sie antwortete nicht gleich, sondern schaute mich weiter aufmerksam an, als suchte sie nach … was? Den richtigen Worten? Kaum, Lou hatte sich noch nie um die richtige Wortwahl geschert, im Gegenteil, sie genoss es, die falschen zu sagen. Und ich hatte es ehrlich gesagt auch immer genossen.

»Dann lass uns doch so ein Fragespiel spielen«, sagte sie unvermittelt.

»Wie bitte?«

»Wie damals in der pâtisserie.« Sie nickte schnell, wie zu sich selbst, ehe sie sich mir zuwandte und mich schief anschaute. »Du hast deine Zimtwecke nicht gegessen.«

Ich blinzelte sie an. »Wie bitte?«

»Na, die Zimtwecke. Du hast sie nicht gegessen.«

»Ich habe dich schon verstanden. Nur …« Konfus schüttelte ich den Kopf und setzte noch einmal an: »Ich bin nicht so fürs Süße.«

»Mmmh.«

Lüstern leckte sie sich die Lippen. Als ihr Arm sich hinter mir die Kirchenbank entlangzuschlängeln begann, widerstand ich dem Drang, mich vorzubeugen. Doch als ihre Finger durch mein Haar strichen, hielt ich es nicht länger aus. Sie verfolgte mich wie eine Plage.

»Wild ist auch lecker. Salzig und zart. Zumindest«, fügte sie mit einem wissenden Lächeln hinzu, »wenn man es sofort isst.«

Erst verwirrt, dann voller Entsetzen, starrte ich sie an. Roh, meinte sie, wenn man es roh isst.

»Sonst setzt die Totenstarre ein, und das Fleisch wird zäh. Dann muss man das Tier zwei Wochen lang abhängen, damit das Bindegewebe wieder weich wird. Blöd wegen der Fliegen.«

»Zur Hölle, wann hast du schon mal rohes Reh gegessen?«, fragte ich fassungslos.

Ihre Augen leuchteten regelrecht auf, als sie das Schimpfwort hörte, aufgeregt beugte sie sich zu mir. »Musst du unbedingt mal probieren. Magst du bestimmt – aber ein Chasseur in seinem Elfenbeinturm hat es sicher nicht nötig, ein Reh zu häuten. Sag, hast du jemals Hunger gelitten?«

»Ja.«

»Wirklichen Hunger, meine ich. Hast du jemals Kälte gespürt? Eine, die dein Inneres gefrieren, dich zum Eiszapfen werden lässt?«

So feindselig ihre Worte klangen, in ihrer Stimme schwang keine Verachtung mit, eher Neugier. Aufrichtige Neugier. Ganz wibbelig wiegte sie sich hin und her, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Das weißt du doch«, entgegnete ich und starrte wütend zurück.

»Ach ja?«, fragte sie und überlegte. Dann nickte sie. »Stimmt. Genau, damals in der Höhle. Bitterkalt war’s da, was?« Mit Zeige- und Mittelfinger strich sie mein Bein hinauf. »Und hungrig bist du immer noch, hm?«

Sie kicherte, als ich ihre Hand auf ihren Schoß zurücklegte.

»Wie …« Ich räusperte mich. »Wie lautet deine nächste Frage?«

So konnte ich sie bei Laune halten, indem ich dieses Spiel mit ihr spielte. Wenn es das brauchte, um zu ihr durchzudringen, zu enträtseln, was sich bei ihr … verändert hatte, dann würde ich die ganze Nacht hier mit ihr sitzen und spielen. Um ihr zu helfen. Denn wenn das wirklich ihre Art zu trauern war, musste sie darüber reden. Mit mir. Als ich auf ihre Hände hinunterblickte, die sie fest zusammenpresste, fühlte ich mich erneut schuldig.

Ich hätte diese Hände nehmen und halten sollen, doch ich brachte es nicht über mich.

»Ach, Fragen über Fragen.« Nachdenklich legte sie eine Faust an ihre Lippen, dann grinste sie. »Wenn du jemand anders sein könntest, wer wärest du gern? In wessen Haut würdest du stecken wollen?«

»Ich …« Unwillkürlich fiel mein Blick auf Beau, was ihr nicht entging. »Niemand.«

»Das glaube ich dir nicht.«

Um abzulenken, fragte ich: »Und wer wärst du gern?«

Sie verschränkte ihre Finger und legte die Hände an ihre Brust, als würde sie beten. Nur dass der berechnende Glanz in ihren Augen, ihr teuflisches Lächeln, ganz und gar nicht dazu passte.

»Ich kann sein, wer immer ich will.«

Ich räusperte mich und versuchte, den Schauder zu ignorieren, der meine Nackenhaare aufstellte. »Woher weißt du von den Cauchemars? Ich habe mein ganzes Leben lang den Okkultismus studiert, aber von einer solchen Kreatur habe ich noch nie gehört.«

»Kein Wunder! Du und deinesgleichen, ihr habt den Okkultismus ja ausgelöscht! Ich habe mit dem Okkulten gelebt.«

Wieder legte sie den Kopf schief, und es jagte mir erneut einen Schauer über den Rücken.

»Ich bin es. Im Schatten lernt man mehr, als man im Sonnenlicht je könnte.« Da ich nicht reagierte, fragte sie abrupt ohne Umschweife: »Wie würdest du sterben wollen?«

Aha. Ich sah sie vielsagend an. Jetzt kommen wir zur Sache. »Also, wenn ich wählen könnte … ich glaube, ich würde am liebsten an Altersschwäche sterben wollen. Glücklich und fett im Kreise meiner Liebsten.«

»Du würdest nicht lieber im Kampf sterben?«

Ein Atemzug voll Schrecken, ein Aufprall voller Entsetzen, ein scharlachrotes Licht. Ich verdrängte meine letzte Erinnerung an Ansel und schaute ihr direkt in die Augen. »Einen solchen Tod wünsche ich niemandem, nicht einmal mir selbst. Nicht mehr.«

»Er hat ihn gewählt.«

Obwohl mein Herz sich zusammenzog und allein die Erwähnung seines Namens unangenehmen Druck hinter meinen Augen verursachte, senkte ich den Kopf. »Ja, das hat er. Und solange ich lebe, werde ich ihn dafür ehren – dafür, dass er sich entschieden hat, an deiner Seite zu kämpfen, gemeinsam mit dir. Dass er sich entschieden hat, gemeinsam mit dir gegen Morgane anzutreten. Er war unser Bester.« Endlich entglitt ihr das Lächeln, und ich ergriff ihre Hand und ließ sie nicht los, obwohl sie kalt war wie Eis. »Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen. Ansel hat diese Entscheidung aus freien Stücken getroffen – nicht für dich oder für mich, sondern für sich. Und jetzt«, fügte ich rasch hinzu, ehe sie mich unterbrechen konnte, »bist du dran. Jetzt beantworte du die Frage.«

Ihr Ausdruck blieb unergründlich, leer. »Ich will nicht sterben.«

Ich rieb ihre kalte Hand zwischen meinen und versuchte, sie zu wärmen. »Ich weiß. Aber wenn du wählen müsstest …«

»Ich würde wählen, nicht zu sterben.«

»Jeder muss einmal sterben, Lou«, sagte ich sanft.

Darauf kam sie näher, strich über meine Brust und flüsterte mir ins Ohr: »Sagt wer, Reid?«

Sie umfasste mein Gesicht mit ihren Händen, einen Moment lang schloss ich die Augen und ließ mich von ihrer Stimme verführen. Ich stellte mir vor, es wäre eine andere Lou, die mich auf diese Weise hielt, stellte mir vor, diese eisige Berührung stammte von einer anderen – einer vulgären Diebin, einer Heidin, einer Hexe. Ich stellte mir vor, wie ihr langes dunkles Haar sich über ihre Schultern wellte, spürte den Zimtduft in ihrem Atem. Ich stellte mir vor, alles wäre nur ein durchtriebener schlechter Scherz und wie sie plötzlich lachend meine Nase stupst und sagt, ich solle mich mal locker machen. Stattdessen schwebten ihre Lippen über meinen.

»Wo steht geschrieben, dass wir sterben müssen?«

Ich kam zu mir und öffnete die Augen. Der Bann war gebrochen.

MEIN NAME IST LEGION

Lou

Es hat nur wenige Vorteile, wenn man die Macht über seinen Körper verliert, genauer gesagt, das Bewusstsein vom eigenen Körper. Ohne Augen, die sehen, ohne Ohren, die hören, ohne Beine, die laufen, ohne Zähne, die beißen, verbringe ich meine Zeit damit, in der Finsternis zu schweben. Nur … geht das überhaupt, ohne Körper schweben? Oder bin ich einfach nur, und diese Finsternis ist gar keine richtige Finsternis? Aber das würde bedeuten …

Um Himmels willen. Ich existiere jetzt in Nicholina le Clair.

Nein, sie existiert in mir, diese Körper verschlingende Schlampe.

Hoffentlich habe ich wenigstens bald meine Tage. Geschähe ihr recht.

So ungeduldig ich ihre Reaktion erwarte, kein geisterhaftes Glucksen antwortet auf meine Provokation. Ich versuche es erneut, diesmal lauter. Ich schreie meine Gedanken hinaus in den Abgrund – geht das überhaupt, kann man ohne Gehirn denken? Hallo, hörst du mich? Ich wünsche dir, dass meine Gebärmutter sich gegen dich auflehnt.

Die Finsternis scheint sich zu bewegen, antwortet aber nicht.

Mit aller Kraft versuche ich mich zu fokussieren und stemme mich gegen ihre niederdrückende Präsenz. Sie rührt sich nicht. Ich versuche es erneut und fester – immer noch nichts. Ich weiß nicht, wie lange ich mich dagegen auflehne. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit ich das Bewusstsein wiedererlangt habe. Zeit ist hier bedeutungslos. In diesem Zeitlupentempo werde ich meinen Körper vielleicht in dreihundert Jahren oder so zurückgewinnen und in einem Grab erwachen, als zu Staub verfallenes Skelett. Was insofern von Vorteil wäre, als meine Mutter ein Skelett nicht mehr töten könnte. Und eine Gebärmutter hat so was auch nicht.

Ich glaube, ich dreh hier bald durch.

Ich nehme alle Kraft zusammen und unterdrücke meine Wut. Gefühle erscheinen hier … anders. Ohne den Körper, der ihnen Grenzen setzt, kommen sie wild und unkontrolliert heraus, und manchmal, so wie jetzt, fühle ich, wie ich – in welcher Form auch immer – in sie hineinschlüpfe, ganz unverfälscht. Als wäre ich das Gefühl.

Reid würde es hier nicht aushalten.

Der Gedanke an ihn schießt durch mein Bewusstsein, und ein neues Gefühl droht mich zu verschlingen. Wehmut.

Hat er gemerkt, dass ich nicht ich selbst bin? Oder einer der anderen? Wissen sie, was mir geschehen ist?

Bevor Wehmut mich gänzlich verzehrt, konzentriere ich mich wieder auf Nicholina, auf die Finsternis. Es bringt nichts, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen, und doch lässt ein weiterer unwillkommener Gedanke lähmende Kälte durch den Nebel heraufkriechen: Wie hätten sie es denn merken sollen? Ich war ja nicht mehr ich selbst, schon bevor La Voisin und Nicholina uns verraten haben. Noch immer spüre ich diese abgestoßenen Kanten, die ich mir selbst zugefügt habe und die wie Risse in meinem Geist sind.

Einer von ihnen schmerzt mehr als die anderen. Eine offene Wunde.

Instinktiv weiche ich davor zurück, obwohl das, was da aufscheint und erlischt, whiskeybraune Augen hat, sanft geschwungene Wimpern und ein weiches, gefühlvolles Lachen. Sein schlaksiger Arm um meine Schultern, seine warme Hand in meiner löst brennenden Schmerz aus. Im Pochen erkenne ich Mitgefühl, einen spielerischen Tonfall und eine gestohlene Flasche Wein, schüchternes Erröten und noch nicht erreichte Geburtstage. Loyalität, die nicht länger von dieser Welt ist.

Nicht mal siebzehn Jahre alt ist er geworden.

Ansel hat alles geopfert, hat meine Verteidigungslinien eingerissen, und mit diesem Riss habe ich es Nicholina ermöglicht, sich in mich hineinzuwinden. So hab ich’s ihm vergolten, indem ich mich aufgegeben habe. Schwarz und giftig lodert Selbsthass in der Grube meines Bewusstseins. Er hätte wirklich etwas anderes, Besseres verdient.

Und ich würde es ihm so gern geben. Gott sei mein Zeuge oder Göttin oder meinetwegen auch nur die Finsternis meiner verdammten Seele – ich würde es ihm geben, würde dafür sorgen, dass er nicht umsonst gestorben ist. Wie als Antwort darauf raunt eine unbekannte Stimme: Ganz toll.

Ich erschrecke, und sofort zieht sich der tintenschwarze Nebel weiter zusammen, doch ich halte dagegen, immer auf der Suche nach der unbekannten Präsenz. Nicholina ist es nicht, und ich ganz sicher auch nicht. Und das kann ja dann nur eins bedeuten: Da ist noch jemand anders.

Wer bist du, frage ich mit geheuchelter Tapferkeit. Heilige Mutterbrust, wie viele Menschen – Geister, Wesenheiten oder was auch immer – passen eigentlich in so einen Körper rein, hm? Was willst du?

Fürchte dich nicht. Das ist jetzt eine andere Stimme. Genauso fremd wie die letzte. Wir können dir nichts tun.

Wir sind du.

Besser gesagt, vernehme ich eine dritte Stimme, wir sind sie.

Was soll der Quatsch, schnauze ich sie an, wer seid ihr?

Einen Moment lang herrscht Stille.

Dann erklingt eine vierte Stimme: Wir erinnern uns nicht.

Und eine fünfte: Bald wirst auch du dich nicht mehr erinnern.

Ich erschrecke zu Tode. Wie … viele seid ihr denn, frage ich zaghaft, erinnert sich keiner von euch an seinen Namen?

Legion ist unser Name, antworten die Stimmen wie aus einem Mund, denn wir sind viele.

Große Göttin. Eindeutig mehr als fünf Stimmen. Eher fünfzig. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ganz vage kommt mir ein Vers aus der Bibel des Erzbischofs in den Sinn, die er mir im Keller des Turms von Saint-Cécile geliehen hatte. Darin ging es um einen Mann, der von vielen Dämonen besessen war. Sind das hier etwa … Dämonen? Ist Nicholina von Dämonen besessen?

Ach, woher sollen wir das wissen, sagt die erste Stimme freundlich. Wir sind hier seit ungezählten Jahren. Wir könnten Dämonen oder Mäuse sein – was macht das schon? Wir sehen nur, was unsere Herrin sieht, wir hören nur, was unsere Herrin hört.

Mäuse.

Manchmal spricht sie mit uns, fügt eine andere hinzu.

Irgendwie spüre ich die schelmische Absicht dahinter. Ich weiß es einfach, als ob sich ihr Bewusstseinsstrom mit meinem vermischt hätte.

Das war übrigens ein Scherz. Unser Name ist gar nicht Legion. Dämlicher Name, wenn du mich fragst.

Jedem Neuankömmling stellen wir uns so vor.

Erregt jedes Mal Aufsehen.

Diesmal haben wir den Vers allerdings direkt aus deinem Gedächtnis gepflückt. Bist du fromm?

Es ist unhöflich, jemanden zu fragen, ob er fromm ist.

Aber sie ist doch nicht mehr irgendwer. Sie ist eine von uns. Wir kennen die Antwort sowieso schon. Wir wollen nur höflich sein.

Im Gegenteil, es ist ziemlich ungezogen, in ihren Erinnerungen zu stöbern.

Heb dir die Predigt für später auf, wenn ihr keine Erinnerungen mehr geblieben sind. Schau doch, sie sind noch ganz frisch.

Ein unangenehmes Kribbeln erfasst mich beim Klang der sich zankenden Stimmen, und wieder weiß ich instinktiv, dass sie in meinem Bewusstsein wühlen – in mir. Bilder aus meiner Vergangenheit flackern schneller durch den Nebel, als ich ihnen folgen kann, und die Stimmen drängen immer näher, sie wollen mehr. Ich sehe, wie ich mit Estelle um den Maibaum tanze, wie ich den Erzbischof beinah im Doleur ertränke, wie ich auf dem Altar unter meiner Mutter zappele …

Aufhören. Meine eigene Stimme. Scharf schneidet sie durch die Erinnerungen, und die anderen Stimmen ziehen sich zurück, überrascht, jedoch gebändigt. Recht so. Als wäre mein Unterbewusstsein von Flöhen befallen. Ich heiße Louise le Blanc, und ich bin ganz sicher immer noch jemand. Raus aus meinem Kopf, würde ich euch befehlen, doch da ich nicht mit Gewissheit weiß, ob das überhaupt mein Kopf ist, nehme ich an, derzeit ist eine Trennung unmöglich. Gut, wer von euch ist der letzte Neuankömmling? Erinnert sich jemand?

Einen wonnigen Moment lang herrscht Stille, dann schnattern alle auf einmal drauflos und streiten darüber, wer am längsten da ist. Zu spät erkenne ich, dass es sich bei diesen Stimmen um keine Individuen mehr handelt, sondern um eine Art Kollektiv, ein unheimliches Miteinander, ein Bienenstock. Meine Verärgerung schlägt in Wut um. Ich sehne mich nach Händen, mit denen ich sie erdrosseln könnte, will etwas sagen, doch eine neue Stimme unterbricht mich.

Ich bin zuletzt gekommen.

Auf einen Schlag verstummen alle anderen, ich spüre förmlich ihre Neugier. Auch ich bin sehr gespannt. Diese Stimme ist anders, tief und klingend, sie ist männlich. Außerdem hat sie von sich als ich gesprochen, nicht als wir.

Und wer bist du, frage ich.

Ich … glaube, ich hieß einmal Etienne. Er sagt das, als könnte er sich nur mühsam erinnern.

Etienne, echoen die anderen.

Ihr Geflüster surrt wie Insektenflügel. Ein beunruhigendes Geräusch. Und genau in dem Moment spüre ich, wie sie seinen vollständigen Namen aus seinen Erinnerungen manifestieren. Aus meinen Erinnerungen. Etienne Gilly.

Du bist Gabys Bruder. Es dämmert mir mit Entsetzen und mit mir den anderen. Morgane hat dich ermordet.

Die Stimmen beben förmlich vor Erwartung, als unsere Erinnerungen sich synchronisieren und die Fragmente zu einem Gesamtbild zusammensetzen: Nicholina, wie sie von ihm Besitz ergriff und ihn unter dem Vorwand, jagen zu gehen, in den Wald führte, wo Morgane ihm auflauerte, ihn entführte und ihn – nur wenige Meilen vom Blutlager entfernt – in einer feuchten, dunklen Höhle folterte. Und dass La Voisin es die ganze Zeit wusste, ja, dass sie Morgane die Köpfe von Etienne und Gabrielle praktisch auf dem Silbertablett serviert hat.

Ich mag es immer noch nicht wahrhaben, ich komme einfach nicht über den Schock ihres Verrats hinweg. Welch eine Demütigung. Josephine und Nicholina haben sich mit meiner Mutter verbündet. Gemocht habe ich sie nie sonderlich, aber derartige Bösartigkeit hätte ich ihnen nicht zugetraut. Mitglieder ihres eigenen Hexenzirkels zu opfern, nur um … was? Wieder ins Chateau zu dürfen?

Ja, flüstert Etienne.

Er weiß alles, weil er es durch Nicholinas Augen gesehen hat, auch noch, nachdem der leibhaftige Etienne längst tot war. Er war dabei, wie sein geschundener Körper an mein Zelt gelehnt wurde. Hat hilflos mit ansehen müssen, wie Gabrielle das gleiche Schicksal ereilte, wie meine Mutter seine kleine Schwester entführte und quälte und wie Gaby schließlich während La Mascarade des Crânes entkam.

Obwohl …

Ich stutze. Da sind aber ganz schöne Lücken in seinem Gedächtnis. Kleinere und größere. Meine persönliche Rolle beim Totenkopfball, zum Beispiel. Oder die Farbe von Gabrielles Haar. Mit jeder neuen Erinnerung, die ich zu seinen hinzufüge, füllen sich die Lücken, und irgendwann sind die Abläufe fast vollständig wieder da.

Obwohl er, nun ja, tot war, hat er alles miterlebt, als wäre er dabei gewesen.

Wie kann das sein, frage ich behutsam, Etienne, du … du bist doch tot. Warum bist du nicht entschlafen?

Als Nicholina von mir Besitz ergriff, bin ich irgendwie in ihr Bewusstsein geschlüpft. Und da bin ich, glaub ich, noch immer.

Heilige Scheiße. Aus Schrecken wird blankes Entsetzen. Hat Nicholina etwa von euch allen Besitz ergriffen?

Ich spüre, wie sie erneut unsere Erinnerungen durchforsten und unser kollektives Wissen über Nicholina, La Voisin, Blutmagie zusammensetzen. Die Finsternis scheint zu vibrieren, so aufgeregt sinnieren sie über diese Schlussfolgerung, die ebenso fantastisch wie unmöglich erscheint. Und doch … hat Nicholina nicht ständig von Mäusen gesprochen? Hatte Gabrielle nicht behauptet, sie und La Voisin verzehrten Herzen, um ewig jung zu bleiben? Andere tuschelten von noch viel schwärzeren Künsten. Das Verständnis der Stimmen in mir löst sich auf, meins ebenso.

Irgendwie muss Nicholina ihre Seelen zusammen mit ihr in dieser Finsternis eingesperrt haben, für immer.

Deine übrigens auch. Die Mustergültige schnieft. Du bist jetzt eine von uns.

Nein. Die Finsternis scheint sich enger um mich zu schlingen, einen Moment lang erscheinen die Worte der Mustergültigen wahr, machen mich sprachlos. Nein, ich lebe noch. Ich bin in einer Kirche, und Reid …

Wer behauptet, dass wir alle tot sind, fragt die Schelmische. Vielleicht leben einige von uns noch irgendwo. Vielleicht existieren unsere Seelen nur noch in Bruchstücken. Ein paar Teile hier, andere dort, wieder andere überall. Auch deine wird bald in tausend Stücke zerbrochen sein.

Die Finsternis bedrängt mich so heftig, dass sie mich fast unter ihrem Gewicht erdrückt. Die Stimmen spüren meine aufkeimende Hysterie, sie sind jetzt weniger freundlich, weniger mustergültig, weniger schelmisch.

Tut uns leid, Louise le Blanc. Es ist zu spät für dich. Für uns alle.

NEIN. Mit aller Macht schlage ich aus nach der Finsternis und halte Ausschau nach goldenen Mustern, nach irgendwas, an das ich mich klammern kann, wobei ich immer und immer wieder dieses eine Wort hinausschreie: NEIN, nein, nein, nein, als wäre es ein Talisman. Doch da ist nur Finsternis.

Nur Nicholinas schauriges Gelächter antwortet mir.

DER LEUCHTTURM

Reid

Pater Achille stand in der Tür zum Altarraum und wartete geduldig, während ich die anderen weckte. Im Licht der Morgendämmerung sah es aus, als hätte er einen Heiligenschein. Keiner hatte sonderlich gut geschlafen. Célie zwickte sich in die Wangen, um etwas Farbe zu bekommen, aber die angeschwollenen Tränensäcke unter ihren Augen gingen davon nicht weg. Coco gähnte, wohingegen Beau sich unter lautem Ächzen den Nacken einrenkte. Auch meiner schmerzte, obwohl Lou den verknoteten Muskel dort mit ihren Fingern knetete. Mit einem bedauernden Lächeln entwand ich mich ihrer Berührung und deutete auf die Tür.

»Die Dorfbewohner werden erst in einer Stunde auf den Beinen sein«, sagte Achille und reichte jedem von uns einen Apfel, als wir an ihm vorbeigingen. »Vergesst nicht, was ich gesagt habe – sie dürfen euch nicht sehen. Nicht weit von hier haben die Chasseure einen Außenposten. Und ihr wollt bestimmt nicht, dass euch jemand folgt … was immer euer Ziel sein mag.«

»Danke, Pater.« Ich verstaute meinen Apfel in meiner Jackentasche. Ein schrumpeliger, kleiner Apfel – und doch mehr, als er uns schuldig war. Mehr als andere uns gegeben hätten. »Für alles.«

Er sah mir in die Augen. »Nicht der Rede wert.«

Ich nickte und wollte den anderen auf den Kirchhof folgen, aber er hielt mich am Arm zurück und sagte: »Seid vorsichtig. Cauchemars gelten als Vorboten des Unheils.« Als ich ihn ungläubig ansah, fügte er hinzu: »Sie erscheinen nur vor katastrophalen Ereignissen.«

»Eine Horde Dorfbewohner lässt sich kaum als katastrophales Ereignis bezeichnen.«

»Nie die Macht der einfachen Leute unterschätzen«, mischte Beau sich ein, der mit Coco an einem Baum lehnte und seinen Arm lässig um ihre Schultern gelegt hatte. Nebel hatte sich an die Ränder ihrer Kapuzen geheftet. »In der Masse sind die Menschen zu den schändlichsten Taten fähig. Habe ich selbst schon erlebt.«

»Ich ebenso.« Pater Achille ließ meinen Arm los und trat zurück. »Also passt auf euch auf.«

Ohne ein weiteres Wort verschwand er in den Vorraum der Kirche und verriegelte die Tür hinter sich.

Sein Abgang versetzte mir einen Stich ins Herz. »Ich frage mich, ob wir ihn je wiedersehen werden.«

»Kaum«, sagte Lou, deren schmächtige Gestalt vom Nebel fast verschluckt wurde.

Besorgt bemerkte ich, wie hinter ihr ein weißer Vierbeiner durch eine Lücke im Schleier schlüpfte und bernsteingelbe Augen mich anblitzten. Meine Laune verschlechterte sich schlagartig. Der Hund war zurückgekehrt.

Lou, die es noch nicht mitbekommen hatte, streckte einen Arm aus und deutete bergab. »Sollen wir?«

Das Dorf Fée Tombe war nach seinen Felsnadeln aus Hämatit benannt worden. Schwarz glänzend ragten sie über Meilen in unzusammenhängenden Formen wie Feenflügel aus dem Meer, einige hoch und dünn mit einem spinnwebartigen Geflecht aus Silber, andere kurz und gedrungen und von roten Adern durchzogen. Noch die kleinsten Säulen strebten wie riesenhafte, unsterbliche Wesen aus dem Meer. An ihrer Basis klatschten die Wellen gegen die Wracks unzähliger gescheiterter Schiffe. Von unserem Standort oben auf den Klippen sahen die zerborstenen Masten und Schiffsbäume aus wie Zähne.

Plötzlich schrie Célie auf. Sie bibberte sowieso schon in der eisigen Brise, und nun war sie auch noch zwischen zwei Steinen hängen geblieben und hatte sich den Fuß verdreht.

»Noch ist Zeit umzukehren«, sagte Beau mitfühlend.

»Nein«, erwiderte sie stur und zerrte ihren Fuß aus der Felsspalte. Steine lösten sich und purzelten hinab ins Meer. »Wir müssen meine Kutsche zurückbekommen.«

»Die Kutsche deines Vaters, meinst du wohl«, murmelte Coco. Eine Hand auf dem nackten Fels zu ihrer Linken, die andere fest um La Petite Larme geschlossen, schob sie sich an Célie vorbei und folgte dem schmalen, gewundenen Pfad durch das unebene Gelände bergan, Beau im Schlepptau.

Lou und ich bildeten die Nachhut, wobei ich sie die ganze Zeit fest am Mantel gepackt hielt, damit sie nicht fiel. Ich hätte es mir sparen können. Sie bewegte sich mit der Anmut einer Katze über die Steine, rutschte nicht ein Mal aus, stolperte nicht, jeder ihrer Schritte war leicht und flink.

Schwer atmend und mit geröteten Wangen versuchte Célie, Schritt zu halten. Als sie wieder stolperte, beugte ich mich an Lou vorbei und kommentierte mürrisch: »Beau hat recht, Célie. Warum gehst du nicht zurück zur Kapelle und wartest dort, während wir uns um den Cauchemar kümmern? Wir holen dich dann ab, bevor wir aufbrechen.«

»Nie und nimmer werde ich da warten.« Sie schäumte geradezu, und der Wind zerrte ihr wild an Rock und Haaren.

Im Vorbeigehen tätschelte Lou ihr den Kopf. »Aber natürlich nicht, Kätzchen.« Sie warf einen Blick über die Schulter in die Tiefe, wo unter uns das Meer tobte, dann strahlte sie Célie mit falscher Freundlichkeit an. »Du kannst ja auch ganz beruhigt sein. Katzen haben neun Leben.«

Ich hielt sie an ihrem Mantel zurück. »Lass das«, zischte ich ihr ins Ohr.

»Was denn, Liebster?« Sie reckte den Hals, ließ ihre Wimpern flattern und sah mich mit großen Augen unschuldig an. »Ich ermutige sie doch nur.«

»Du jagst ihr Angst ein.«

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