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Game of Gold

Als Buch hier erhältlich:

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Für alle Fans der»Das Reich der sieben Höfe«-Serie

Actionreich, packend und dabei voll finsterer Romantik!

Niemand darf erfahren, dass Lou eine Hexe ist. Denn sie will weder auf dem Scheiterhaufen enden noch auf dem Opferaltar der mächtigen Weißen Hexe, die sie sucht. Um sich im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar machen zu können, stiehlt Lou einen magischen Ring. Leider wird sie dabei ausgerechnet vom Hexenjäger Reid entdeckt. Zwar gelingt es ihr, ihre wahre Identität vor ihm zu verbergen, aber entkommen kann sie ihm nicht. Denn der Erzbischof befiehlt den beiden, zu heiraten. Plötzlich findet sich Lou als Frau eines Hexenjägers wieder, dem sie zudem gegen ihren Willen immer näher kommt …

Hexen zaubern, Hexen rächen. Aber Lou liebt.

»Ein brillantes Debüt, voll von allem, was ich liebe: eine schillernde und lebensechte Heldin, ein verwickeltes Magie-System und eine ins Mark gehende Liebesgeschichte, die mich die ganze Nacht lang gefesselt hat.Game of Gold ist ein wahres Juwel.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Sarah J. Maas


  • Erscheinungstag: 31.01.2020
  • Seitenanzahl: 432
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800200

Leseprobe

Für meine Mutter, die Bücher liebt,

für meinen Vater, der mich darin bestärkte, eines zu schreiben,

und für R J, der dieses hier immer noch nicht gelesen hat.

TEIL 1

Un malheur ne vient jamais seul.

Ein Unglück kommt nie allein.

Französisches Sprichwort

IM BELLEROSE

Lou

Eine Leiche, die mit Hexenzauber in Berührung gekommen war, hatte etwas Schauriges an sich. Die meisten Menschen bemerkten zuerst den Geruch: keine Fäulnis, eher eine leise Süße in der Nase, ein scharfer Geschmack auf der Zunge. Einige wenige nahmen auch ein Kribbeln in der Luft wahr, eine Aura auf der Haut der Leiche, die nicht vergehen wollte. Als ob der Zauber selbst noch da wäre, beobachtend, lauernd.

Lebendig.

Wer aber so leichtsinnig war, darüber zu sprechen, der fand sich geradewegs auf dem Scheiterhaufen wieder.

Dreizehn Leichen hatte man in den vergangenen zwölf Monaten in Belterra gefunden – mehr als doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Die Kirche tat alles, um die mysteriösen Umstände jener Todesfälle zu verschleiern, und gestattete in diesen Fällen nur Beerdigungen mit geschlossener Aufbahrung.

»Da ist er.« Coco deutete auf einen Mann in der Ecke. Obwohl im Kerzenschein die Hälfte seines Gesichts im Schatten blieb, waren der Goldbrokat seines Mantels und die schweren Rangabzeichen um seinen Hals nicht zu übersehen. Steif und offensichtlich unbehaglich saß er auf seinem Stuhl, als sich ihm plötzlich eine spärlich bekleidete Frau an den prallen Bauch warf. Ich musste grinsen.

Nur Madame Labelle besaß die Stirn, einen Adeligen wie Pierre de Tremblay mitten in einem Bordell warten zu lassen.

»Komm.« Coco marschierte auf einen Tisch in der gegenüberliegenden Ecke zu. »Babette ist bestimmt gleich da.«

»Was ist das bloß für ein aufgeblasener Gockel, der in seiner Trauerzeit Brokat trägt?«, fragte ich.

Coco verzog das Gesicht. »Ein aufgeblasener Gockel mit Geld wie Heu.«

De Tremblays Tochter Filippa war die siebte Leiche gewesen, die man gefunden hatte.

Sie war mitten in der Nacht aus dem Haus ihres Vaters verschwunden, und als man sie mit aufgeschlitzter Kehle am Rand des Eau Mélancolique tot auffand, hatte das die Aristokratie zutiefst erschüttert. Als wäre ihr Tod nicht schon schlimm genug gewesen, gingen im Königreich bald Gerüchte über ihr silbergraues Haar und ihre runzlige Haut um, raunte man von trüben Augen und knotigen Fingern. Vierundzwanzig Jahre, aber wie eine alte Hexe habe sie ausgesehen. Für de Tremblays Standesgenossen war das alles unerklärlich. Soweit bekannt, hatte die Tote weder Feinde gehabt, noch war sie Anlass für blutige Fehden gewesen. Eine solche Gewalt war durch nichts gerechtfertigt.

Nun, Filippa mochte keine Feinde haben, dafür hatte ihr blasierter Vater davon mehr als genug, denn er betrieb einen blühenden Schwarzhandel mit magischen Gegenständen.

Der Tod seiner Tochter war eine Warnung: Niemand machte ungestraft Geschäfte auf Kosten der Hexen.

»Bonjour, Messieurs.« Eine Kurtisane mit honigfarbenem Haar trat zu uns und klimperte Coco so hoffnungsfroh und dreist mit ihren Wimpern an, dass ich kichern musste. Um in dieser Umgebung nicht erkannt zu werden, hatten Coco und ich uns als Männer verkleidet. Aber auch so war Coco eine Erscheinung. Zwar verunzierten zahlreiche Narben die sattbraune Haut ihrer Hände, die jetzt in Handschuhen steckten, doch ihre Gesichtshaut war makellos, und ihre schwarzen Augen funkelten selbst hier im Halbdunkel. »Na ihr Süßen, wie wär’s mit uns dreien?«

»Ach, das tut uns leid, Schätzchen«, versuchte ich, so schmierig wie möglich zu klingen, während ich der Kurtisane die Hand tätschelte, wie ich es bei den Männern abgeschaut hatte, »aber leider, leider sind wir heute schon vergeben. Mademoiselle Babette wird sich bald zu uns gesellen.«

Die Kurtisane schmollte nicht lange und versuchte ihr Glück am Nachbartisch, wo man ihre Einladung umso begeisterter aufnahm.

»Glaubst du, er hat ihn bei sich?« Coco musterte de Tremblay vom kahlen Kopf bis hinunter zu den polierten Schuhen, dann verweilte ihr Blick auf seinen ungeschmückten Fingern. »Vielleicht hat Babette uns angelogen und das ist eine Falle …«

»Babette ist vielleicht eine Lügnerin, aber sie ist nicht dumm. Sie wird uns nicht verraten, bevor wir sie bezahlt haben.« Fasziniert beobachtete ich die anderen Kurtisanen, die mit eingeschnürten Taillen und überquellenden Brüsten leichtfüßig vor den Gästen tanzten, als würde ihnen ihr Korsett nicht die Luft zum Atmen nehmen.

Wobei … viele der Mädchen trugen überhaupt kein Korsett. Oder sonst irgendwelche Kleidung.

»Du hast recht.« Coco zog den Beutel mit unserem Geld aus dem Mantel und warf ihn auf den Tisch. »Erst danach.«

»Aber, aber, mon amour, du beleidigst mich.« Wie aus dem Nichts stand Babette plötzlich neben uns. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen verbarg sie ihre blasse Haut so gut es ging unter roter Seide. Dicke, weiße Schminke bedeckte den Rest – und ihre Narben, die sich an ihren Armen hinauf bis über die Brust rankten, fast wie bei Coco. Sie zwinkerte uns zu und schnippte gegen den Rand meines Huts. »Aber für zehn Goldkronen mehr würde es mir nicht einmal im Traum einfallen, euch zu verraten.«

»Einen wunderschönen guten Morgen, Babette.« Ich stemmte einen Fuß gegen den Tisch und lehnte mich auf meinem Schemel nach hinten. »Ganz schön unheimlich, wie du immer sofort auftauchst, wenn die Rede von Geld ist. Kannst du es riechen, oder was?« Ich wandte mich an Coco. »Ist doch so, als ob sie’s riechen könnte.«

»Bonjour, Louise.« Babette küsste mich auf beide Wangen, beugte sich dann zu Coco und senkte ihre Stimme. »Du siehst hinreißend aus, Coco-Schätzchen, wie immer.«

Coco verdrehte die Augen. »Du bist zu spät.«

»Verzeih mir, bitte.« Babette legte den Kopf schief und lächelte zuckersüß. »Aber ich habe euch erst nicht erkannt. Ich werde nie begreifen, weshalb zwei solche Schönheiten sich partout als Männer verkleiden müssen.«

»Zwei Frauen allein erregen zu viel Aufmerksamkeit, das weißt du doch.« Ich trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und lächelte gequält. »Wir könnten ja Hexen sein.«

»Bah!« Sie zwinkerte uns komplizenhaft zu. »Nur Dummköpfe würden bei zwei so charmanten Dingern wie euch an diese bösartigen, grausamen Kreaturen denken.«

»Natürlich.« Ich nickte und zog mir den Hut tiefer ins Gesicht. Während ihre Narben Coco und Babette verrieten, konnten sich Dames Blanches wie ich unentdeckt unter die Leute mischen. Die Frau mit der rotbraunen Haut in de Tremblays Schoß konnte eine sein, genauso wie die Kurtisane mit dem honigfarbenen Haar, die soeben mit ihrem Kavalier im Schlepptau über die Treppe nach oben entschwunden war. »Nur dass die Kirche vorher nicht lange fragt und umso schneller einen Scheiterhaufen errichtet hat. Sind gefährliche Zeiten für Frauen.«

»Hier nicht.« Babette breitete die Arme aus. »Hier sind wir sicher. Hier schätzt man uns. Ihr wisst ja, das Angebot meiner Herrin steht noch …«

»Wenn deine Herrin die Wahrheit wüsste, würde sie uns ebenfalls, ohne mit der Wimper zu zucken, verbrennen – uns, und dich gleich mit … Jedenfalls sind wir nicht hier, weil wir Arbeit suchen, Babette.« Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder de Tremblay zu, dessen unverkennbarer Reichtum zwei weitere Kurtisanen angezogen hatte. Höflich wies er ihre Versuche zurück, seine Hose aufzuknöpfen. »Sondern seinetwegen.«

Coco ließ den Inhalt des Beutels auf den Tisch kullern. »Zehn Goldkronen, wie abgemacht.«

»Hm … hatten wir nicht zwanzig gesagt?«

»Was?« Mit einem dumpfen Knall ließ ich den Schemel zurück auf den Boden fallen. Die Gäste an den Nachbartischen lugten in unsere Richtung, doch ich scherte mich nicht darum. »Zehn hatten wir gesagt, zehn!«

»Das war, bevor du meine Gefühle verletzt hast.«

»Verdammt noch mal!« Coco sammelte die Münzen schnell wieder ein, bevor Babette sie sich nehmen konnte. »Weißt du, wie lange es dauert, bis wir so viel Geld zusammenhaben? Außerdem«, warf ich beiläufig ein, »wissen wir ja nicht mal, ob de Tremblay den Ring überhaupt hat.«

Babette zuckte nur mit den Achseln und streckte ihre Handfläche aus. »Es ist nicht meine Schuld, dass ihr unbedingt auf der Straße Beutel schneiden wollt wie gewöhnliche Diebe. Hier im Bellerose würdet ihr in einer einzigen Nacht das Dreifache verdienen, aber dafür seid ihr euch ja zu schade.«

Coco atmete tief durch und ballte ihre Hände zu Fäusten. »Hör zu, es tut uns echt leid, dass wir dein empfindsames Gemüt gekränkt haben, aber wir haben zehn gesagt. Wir können es uns nicht leisten …«

Babette unterbrach sie. »Ich kann die Münzen in deiner Tasche klimpern hören, Coco-Schatz«, säuselte sie.

Ich starrte sie ungläubig an. »Du bist ja der reinste Spürhund.«

Ihre Augen blitzten. »Nun kommt schon, ich führe euch auf eigenes Risiko hier ein, um die Geschäfte meiner Herrin mit Monsieur de Tremblay zu belauschen, und dann beleidigt ihr mich, als wäre ich …«

Sie brach ab, denn in diesem Moment kam eine hochgewachsene Frau mittleren Alters die Treppe heruntergeschwebt. Ihr dunkelgrünes Kleid betonte das flammend rote Haar und die Sanduhrfigur. Bei ihrem Anblick sprang de Tremblay auf, und die Kurtisanen um uns herum einschließlich Babette verbeugten sich in tiefer Ehrerbietung.

Nackte Frauen, die einen Knicks machten – das hatte ich auch noch nicht gesehen.

Madame Labelle fasste de Tremblay breit lächelnd bei den Armen, küsste ihn auf beide Wangen und sagte etwas zu ihm, das ich nicht hören konnte. Dann hängte sie sich bei ihm ein und führte ihn zu der Treppe, die sie heruntergekommen war. Panik stieg in mir auf.

Babette beobachtete uns aus dem Augenwinkel und raunte: »Entscheidet euch schnell, mes amours. Meine Herrin ist eine vielbeschäftigte Frau. Ihr Geschäft mit Monsieur de Tremblay wird sie rasch abgeschlossen haben.«

Ich kämpfte gegen den Drang an, meine Hände um Babettes hübschen Hals zu legen und zuzudrücken. »Kannst du uns wenigstens sagen, was deine Herrin kaufen will? Sie hat dir doch bestimmt etwas darüber gesagt. Ist es der Ring? Hat de Tremblay ihn?«

Babette grinste selbstzufrieden. »Vielleicht … aber für diese Auskunft will ich noch mal zehn Kronen.«

Coco und ich tauschten einen finsteren Blick. Wenn Babette sich nicht in Acht nahm, würde sie noch erleben, wie grausam wir Hexen sein konnten.

Das Bellerose war berühmt für seine zwölf luxuriös ausgestatteten Salons, in denen die Kurtisanen ihre Kunden verwöhnten, doch Babette führte uns an den nummerierten Türen vorbei zu einer schmucklosen Tür am Ende des Korridors, öffnete sie und ließ uns eintreten.

»Willkommen in den Augen und Ohren des Bellerose, mes amours

Nachdem ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte ich einen weiteren, schmaleren Korridor. In regelmäßigen Abständen entlang einer Wand öffneten sich zwölf große, rechteckige Fenster, durch die mattes Licht schimmerte. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich nicht um Fenster handelte, sondern um Porträtgemälde.

Mit dem Finger fuhr ich die Nase der Dame, deren Bildnis mir am nächsten war, nach: eine Schönheit mit üppigen Kurven und einem verführerischen Lächeln. »Wer sind diese Frauen?«, fragte ich.

»Berühmte Kurtisanen von früher.« Babette hielt inne und bewunderte des Bildnis mit wehmütigem Blick. »Eines Tages wird mein Porträt an ihrer Stelle hängen.«

Ich beugte mich vor, um das Gesicht eingehender zu betrachten. Ein Leuchten ging von dem Bild aus, doch die Farben waren irgendwie gedämpft, als wäre dies nur seine Rückseite. Und … verdammt!

Zwei goldene Schieber bedeckten die Augen!

»Sind das Gucklöcher?«, fragte Coco ungläubig und trat näher. »Was ist das für ein makabrer Ort, Babette?«

»Pssst!« Hastig legte Babette einen Finger auf die Lippen. »Die Augen und Ohren, Coco. Ohren, schon vergessen? Hier darf man nur flüstern.«

Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, welchem Zweck dieses architektonische Element dienen mochte.

Doch ehe ich meinen Abscheu äußern konnte, sah ich aus den Augenwinkeln plötzlich zwei Schatten auf mich zukommen. Ich fuhr herum und griff nach dem Messer, das in meinem Stiefel steckte, doch da erkannte ich die beiden Gestalten und entspannte mich. Zwei schrecklich vertraute, schrecklich unangenehme Kerle glotzten mich an.

André und Grue.

Ich warf Babette einen wütenden Blick zu. »Was haben die hier zu suchen?«

Beim Klang meiner Stimme horchte André auf und versuchte, im Halbdunkel zu erkennen, wen er da vor sich hatte. »Das ist doch nicht etwa …?«

Grue musterte eingehend mein Gesicht, überging den Schnurrbart und verweilte umso länger auf meinen dunklen Brauen, den türkisfarbenen Augen, der sommersprossigen Nase und der sonnengebräunten Haut. Er lächelte böse und entblößte einen abgesplitterten, gelben Schneidezahn. »Hallo, Lou-Lou.«

Ich würdigte ihn keines Blickes. »Das war nicht abgemacht!«, fauchte ich Babette an.

»Reg dich nicht auf, Louise. Die arbeiten hier.« Sie ließ sich auf einen der Holzschemel fallen, auf denen eben noch die beiden Kerle gesessen hatten. »Meine geliebte Herrin hat sie als Wachleute angeheuert.«

»Als Wachleute?«, spöttelte Coco, die Hand im Mantel, wo ihr Messer steckte. André bleckte die Zähne. »Als Spanner, meinst du wohl?«

»Wenn uns mal bei einem Kunden mulmig wird, brauchen wir nur zweimal gegen die Wand zu klopfen, und schon eilen uns diese freundlichen Herren zu Hilfe.« Babette deutete mit dem Fuß auf die Porträts. »Eigentlich sind das da nämlich Türen, mon amour. Direkter Zugang, sozusagen.«

Madame Labelle musste vollkommen verblödet sein. Eine andere Erklärung gab es nicht für eine solche … tja, Blödheit.

André und Grue waren die dämlichsten Diebe, denen ich je begegnet war, ständig kamen sie uns in unserem Jagdgebiet in die Quere. Wohin wir auch gingen, sie folgten uns auf dem Fuß, hingen uns regelrecht am Rockzipfel – und wohin sie gingen, folgten ihnen die Gendarmen. Hoch aufgeschossen, hässlich und laut, wie sie waren, fehlte es den beiden an Raffinesse und Talent, die es brauchte, um im Ostend zu bestehen. Und an Köpfchen, natürlich.

Ich konnte mir durchaus vorstellen, zu welchen »Späßen« sie der direkte Zugang zu allem verleitete. Sex und Gewalttätigkeiten vermutlich. Wobei – wenn man bedachte, welcher Geschäfte wegen wir hier waren, waren Sex und Gewalt vielleicht noch die geringsten Laster, denen zwischen diesen Bordellwänden gefrönt wurde.

»Keine Sorge.« Als hätte sie meine Gedanken gelesen, schenkte Babette den Typen ein schmales Lächeln. »Meine Herrin bringt sie um, sollten sie auch nur das kleinste bisschen ausplaudern. Nicht wahr, Messieurs?«

Das Grinsen auf den Visagen der Kerle erlosch schlagartig, und da bemerkte ich auch die dunklen Flecke um ihre Augen. Blutergüsse. Ich ließ mein Messer lieber nicht los. »Und was könnte sie davon abhalten, deiner Herrin auszuplaudern, dass wir hier waren?«

»Nun ja …« Babette stand auf, trat vor ein anderes Porträt und legte den Finger auf einen kleinen goldenen Knopf daneben. »Ich nehme an, das hängt davon ab, wie viel dir ihr Schweigen wert ist.«

»Jetzt reicht’s mir aber langsam! Wie wär’s, wenn ich euch allen mal mein Messer in den Allerwertesten ramme?«, zischte ich und machte eine Bewegung auf sie zu.

»Na, na, na!«, machte Babette aber nur und drückte auf den Knopf. Die goldenen Schieber über den Augen der Kurtisane glitten zur Seite, und plötzlich hörten wir die gedämpften Stimmen von Madame Labelle und de Tremblay.

»Überleg’s dir gut, mon amour«, flüsterte Babette. »Womöglich ist der kostbare Ring, an dem dir so viel liegt, ja in diesem Salon. Komm, sieh selbst.« Den Finger auf dem Knopf, trat sie zur Seite und machte mir Platz.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und schaute durch die falschen Kurtisanenaugen in das Separee.

De Tremblay ging auf einem geblümten Plüschteppich auf und ab. In dem pastellfarbenen Raum, der von der Morgensonne in ein weiches, goldenes Licht getaucht wurde, wirkte er blasser, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Nervös mit der Zunge über seine Lippen fahrend, blickte er zu Madame Labelle, die sich auf einer Chaiselongue neben der Tür niedergelassen hatte und ihn beobachtete. Selbst im Sitzen strahlte sie eine königliche Anmut aus, das Haupt erhoben, die Hände ruhig.

»Seid unbesorgt, Monsieur de Tremblay. Ich versichere Euch, dass ich die geforderte Summe binnen einer Woche zusammenhabe. Zwei Wochen, höchstens.«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Das dauert zu lang.«

»Kaum lang genug bei dem Preis, den Ihr fordert. Höchstens der König könnte eine derart astronomische Summe augenblicklich herbeischaffen lassen … nur dass er keine Verwendung für magische Ringe hat.«

Mein Herz machte einen Satz, und ich blickte rasch zu Coco. Sie erwiderte den Blick finster und kramte leise in ihren Manteltaschen nach weiteren Münzen. Fröhlich grinsend steckten André und Grue sie ein.

Sobald ich den Ring habe, zieh ich denen bei lebendigem Leib die Haut ab, schwor ich mir.

»Und wenn ich Euch sagen würde, dass ich noch einen anderen Interessenten dafür habe?«, fragte de Tremblay.

»Dann würde ich Euch einen Lügner nennen, Monsieur de Tremblay. Wie hättet Ihr nach dem, was mit Eurer Tochter geschehen ist, weiter derartige Waren anbieten sollen?«

De Tremblay fuhr herum und sah sie wütend an. »Lasst meine Tochter aus dem Spiel!«

»Ehrlich gesagt«, fuhr Madame Labelle ungerührt fort, »war ich ziemlich überrascht zu erfahren, dass Ihr überhaupt noch auf dem Schwarzmarkt für Zauberware tätig seid. Ihr habt doch noch eine andere Tochter, nicht wahr?« Er antwortete nicht, und da wurde ihr Lächeln schmal und grausam. Triumphierend. »Die Hexen sind böse. Wenn sie erfahren, dass Ihr den Ring besitzt, wird ihr Zorn Eure verbliebene Familie treffen – und das dürfte reichlich unangenehm werden.«

Wutschnaubend machte er einen Schritt auf sie zu. »Spart Euch Eure Schlussfolgerungen.«

»Ach ja? Aber meine Warnung sollte Euch lieb sein, Monsieur. Verärgert mich nicht, oder es wäre das Letzte, das Ihr tätet.«

Ich unterdrückte ein Schnauben und blickte zu Coco, die sichtlich amüsiert zusah. Babette blitzte uns wütend an, aber magische Ringe hin oder her, diese Unterhaltung allein war vierzig Kronen wert. Ein herrliches Melodram, packender als im Theater.

»Und nun sagt mir«, säuselte Madame Labelle, »gibt es noch einen Käufer oder nicht?«

»Putain.« Er starrte sie einige Sekunden lang an, dann schüttelte er widerwillig den Kopf. »Nein, gibt es nicht. Die letzten Monate habe ich damit zugebracht, alle Verbindungen zu Kunden und Lieferanten zu kappen und meine Bestände abzustoßen … bis auf diesen Ring …« Er schluckte, die Röte war aus seinem Gesicht gewichen. »Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, weil ich Angst hatte, die Dämonen könnten Wind davon bekommen.«

»Es war nicht klug von Euch, etwas verkaufen zu wollen, das ihnen gehört.«

De Tremblay antwortete nicht. Sein Blick wirkte fern, gehetzt, als sähe er etwas, das uns verborgen blieb. Plötzlich fühlte sich meine Kehle an wie zugeschnürt. Ungeachtet seiner Qualen fuhr Madame Labelle einfach fort: »Hättet Ihr das nicht getan, wäre Filippa vielleicht noch unter uns …«

Beim Namen seiner Tochter fuhr de Tremblay hoch, und sein Blick funkelte nun vor wilder Entschlossenheit. »Ich will die Dämonen brennen sehen für das, was sie ihr angetan haben!«

»Wie dumm von Euch.«

»Pardon

»Ich pflege die Geschäfte meiner Feinde zu kennen, Monsieur«, sagte sie und erhob sich anmutig. De Tremblay wich einen halben Schritt zurück. »Da sie jetzt auch Eure Feinde sind, muss ich Euch einen Rat geben: Es ist gefährlich, sich in die Angelegenheiten von Hexen einzumischen. Vergesst Eure Rachegelüste. Vergesst alles, was Ihr über diese Welt der Schatten und Magie gelernt habt. Ihr seid diesen Frauen unterlegen und könnt ihnen nicht im Entferntesten das Wasser reichen. Der Tod ist die gütigste ihrer Qualen – ein Geschenk, das nur denen zuteilwird, die es verdient haben. Man sollte meinen, der Tod der lieben Filippa hätte Euch das gelehrt.«

Den Mund zu einer Grimasse verzerrt, richtete de Tremblay sich zu voller Größe auf, doch Madame Labelle überragte ihn immer noch um ein paar Zentimeter. »I-ihr geht zu weit«, stammelte er.

Sie wich nicht zurück. Gänzlich unbeeindruckt von seinem Gebahren fuhr sie mit der Hand an ihrem Mieder entlang und zog einen Fächer aus den Falten ihres Rocks. In seinem Schaft steckte ein Messer.

»Ich sehe, wir haben genug Höflichkeiten ausgetauscht. Meinetwegen, kommen wir zur Sache.« Mit einer eleganten Geste öffnete sie den Fächer und hielt ihn wie eine Trennwand zwischen sich und de Tremblay. Dieser machte einen Schritt zurück und ließ die Messerspitze nicht aus den Augen. »Wenn Ihr möchtet, dass ich Euch von dem Ring befreie, so werde ich das augenblicklich tun – allerdings für fünftausend Goldkronen weniger, als Ihr verlangt.«

Ein eigenartiges, ersticktes Geräusch entwich seinem Hals. »Ihr seid verrückt …«

»Andernfalls«, fuhr sie entschlossen fort, »werdet Ihr, wenn Ihr diesen Ort verlasst, Eurer Tochter eine Schlinge um den Hals gelegt haben. Célie heißt sie, nicht wahr? Die Dame des Sorcières, die Magierfürstin, wird ihr mit Freuden die Jugend aussaugen, den Glanz ihrer Haut trinken, den Schimmer ihres Haars. Und wenn die Hexen mit ihr fertig sind, wird Eure Tochter nicht mehr wiederzuerkennen sein. Leer, gebrochen. So wie Filippa.«

»Du … du …« De Tremblays Augen quollen hervor, und auf seiner glänzenden Stirn zeichnete sich eine Zornesader ab. »Hurenbalg! Das kannst du mir nicht antun. Du …«

»Entscheidet Euch, Monsieur, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Der Prinz kehrt aus Amandine zurück, ich möchte die Feierlichkeiten zu seiner Rückkehr nicht verpassen.«

Trotzig reckte er das Kinn vor. »Ich … ich habe ihn nicht bei mir.«

Verdammt! Bittere Enttäuschung stieg in mir auf.

»Ich glaube Euch nicht.« Madame Labelle ging durch den Raum zum Fenster und schaute nach unten. »Also wirklich, Monsieur de Tremblay! Wie kann ein Gentleman, wie Ihr es seid, seine Tochter allein vor einem Bordell warten lassen? Welch leichte Beute sie dort abgibt.«

Hastig zog de Tremblay, dem jetzt der Angstschweiß auf der Stirn stand, seine Taschen heraus und zeigte sie vor. »Ich schwöre, ich habe ihn nicht bei mir! Seht her, seht!« Ich drückte mein Auge näher an das Guckloch, um genau mitzubekommen, wie er den Inhalt seiner Taschen vor ihr ausbreitete: ein besticktes Taschentuch, eine silberne Taschenuhr und eine Handvoll Kupfermünzen. Ein Ring war nicht dabei. »Lasst bitte meine Tochter in Frieden! Sie hat nichts damit zu tun!«

Er gab einen so erbärmlichen Anblick ab, dass er mir fast leidgetan hätte – hätte er nicht soeben all meine Pläne durchkreuzt. So erfüllte mich der Anblick seiner zitternden Glieder und seines aschgrauen Gesichts mit rachsüchtigem Vergnügen.

Madame Labelle schien ähnlich zu empfinden. Plötzlich aber stieß sie einen theatralischen Seufzer aus, ließ die Hand sinken, drehte sich um und sah ohne Vorwarnung direkt dem Porträt in die Augen, hinter dem ich stand. Erschrocken fuhr ich zurück und landete geradewegs auf meinem Allerwertesten.

»Was ist?«, flüsterte Coco und hockte sich neben mich. Babette warf uns einen bösen Blick zu und ließ sofort den Knopf los, die Gucklöcher schlossen sich augenblicklich.

»Pssst! Ich glaube, sie hat mich gesehen«, flüsterte ich und deutete auf das Porträt.

Wir alle erstarrten, während Madame Labelles Stimme näher kam, durch die dünne Wand gedämpft, aber gut verständlich. »Dann sagt mir bitte, Monsieur: Wo ist er dann?«

Verdammt! Coco und ich sahen uns ungläubig an. Zu den Gucklöchern zurückzukehren, wagte ich nicht, doch ich drückte mich ganz eng an die Wand, um zu lauschen. Antworte ihr, bat ich still. Verrate es uns.

Und oh Wunder, de Tremblay tat ihr den Gefallen, und seine widerwillige Antwort klang in meinen Ohren wie liebliche Musik. »Er befindet sich in meinem Stadtpalais, du ignorante Schlam…«

»Das reicht, Monsieur de Tremblay«, schnitt sie ihm das Wort ab und öffnete die Tür des Separees. Ich konnte ihr Lächeln fast vor mir sehen, und auch mein Mund verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen. »Um Eurer Tochter willen hoffe ich, dass Ihr mich nicht angelogen habt. Bei Tagesanbruch werde ich Euch mit der vereinbarten Summe in Eurem Stadtpalais aufsuchen, und ich rate Euch: Lasst mich nicht warten.«

DER CHASSEUR

Lou

»Ich höre.«

Bas saß mir gegenüber in der gut besuchten Patisserie und führte einen Löffel heißer Schokolade zum Mund, wobei er peinlichst darauf achtete, keinen Tropfen auf seine Spitzenkrawatte zu verschütten. Am liebsten hätte ich etwas von meiner Schokolade genau dorthin gespritzt, doch ich widerstand der Versuchung. Wir brauchten ihn für unseren Plan, daher mussten wir ihn bei Laune halten.

Niemand war besser darin, einen Adeligen zu bestehlen, als Bas.

»Also«, sagte ich und richtete – ganz vorsichtig – meinen Löffel auf ihn, »alles, was du in de Tremblays Tresor findest, darfst du als Beute einstecken – bis auf den Ring, der gehört uns.«

Er beugte sich vor und richtete den Blick seiner dunklen Augen demonstrativ auf meine Lippen. Gereizt wischte ich die Schokolade von meinem Schnurrbart, worauf er grinste. »Ach, ja. Der Zauberring. Ehrlich gesagt überrascht es mich ein wenig, dass du dich noch für so was interessierst. Ich dachte, du wolltest mit Magie nichts mehr zu tun haben?«

»Der Ring ist etwas anderes.«

Er richtete seinen Blick wieder auf meine Lippen. »Natürlich.«

»Ba-as.« Ich hielt meine Hand vor sein Gesicht und schnippte mit den Fingern. »Jetzt bleib mal bei der Sache. Es ist wichtig.«

Damals, als ich gerade nach Cesarine gekommen war, fand ich Bas ziemlich hübsch. Hübsch genug, um mir von ihm den Hof machen zu lassen. Und ganz bestimmt hübsch genug, um ihn zu küssen. Über den schmalen Tisch hinweg betrachtete ich die markante Kontur seines Kinns. Und dort war noch die kleine Narbe – direkt unter seinem Ohr, versteckt im Schatten der Bartstoppeln –, wo ich ihn in einer leidenschaftlichen Nacht gebissen hatte.

Bei der Erinnerung entfuhr mir ein sehnsüchtiger Seufzer. Diese Bernsteinhaut. Dieser feste, kleine Arsch.

Er grinste, als könnte er meine Gedanken lesen. »In Ordnung, Louey, ich werde versuchen, bei der Sache zu bleiben – du aber auch, ja?« Er rührte in seiner Schokolade und lehnte sich zurück. »Also … du willst einen Adeligen ausrauben, und natürlich wendest du dich an den Meister, damit er dir sagt, wie du’s anstellen sollst.«

Am liebsten hätte ich laut losgeprustet, aber das konnte ich mir gerade noch verkneifen. Als Großcousin dritten Grades irgendeines Barons nahm Bas die besondere Stellung ein, dem Adel anzugehören und zugleich auch nicht. Dank des Reichtums dieses Verwandten konnte er sich immer nach der neuesten Mode kleiden und an den noblen Festen bei Hofe teilnehmen, doch sein Name sagte keinem der Adeligen etwas. Eine lässliche Kränkung, die für ihn durchaus vorteilhaft war, besuchte er diese Feste doch nur aus einem einzigen Grund: um seine Standesgenossen um ihre Wertgegenstände zu erleichtern.

»Eine weise Entscheidung«, fuhr er fort, »Trottel wie de Tremblay treffen nämlich doppelt und dreifache Sicherheitsvorkehrungen: Tore, Schlösser, Wachen, Hunde – um nur einige zu nennen. Und nach dem, was mit seiner Tochter passiert ist, vermutlich noch mehr. Die Hexen haben sie doch mitten in der Nacht entführt, oder? Dann hat er garantiert die Schutzmaßnahmen erhöht.«

Langsam nervte diese Filippa.

Missmutig blickte ich zum Schaufenster der Patisserie. Alle Arten von Gebäck in einer herrlichen Auslage: Glasierte und gezuckerte Kuchen neben Schokoladentorte, Makronen und Fruchttörtchen in allen Farben. Himbeer-Eclairs und eine Tarte Tatin – einfach herrlich!

In all dieser Dekadenz waren es aber die klebrigen Zimtschnecken, die mir das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen.

Wie aufs Stichwort ließ Coco sich auf den leeren Stuhl an unserem Tisch fallen und schob mir einen Teller mit Zimtschnecken hin. »Ta-taa!«

Ich hätte sie umarmen können. »Du bist eine Göttin, weißt du das?«

»Sicher … Aber erwarte bloß nicht, dass ich dir nachher die Haare zurückhalte, wenn du dich übergeben musst – und außerdem schuldest du mir eine Silberkrone.«

»Was? Das ist auch mein Geld!«

»Ja, aber wenn du zu Maître Pan gehst, bekommst du deine Zimtschnecken jederzeit umsonst. Die Krone ist fürs Bringen.«

Ich schaute zu dem kleinen, feisten Männlein hinter der Theke: Johannes Pan, seines Zeichens Createur außergewöhnlicher Gebäcke und ein Volltrottel. Und darüber hinaus enger Freund und Vertrauter von Mademoiselle Lucida Bretton.

Mademoiselle Lucida Bretton, das war ich – eine süße Kleine mit blonder Perücke.

Manchmal verspürte ich wenig Lust auf diesen Aufzug, doch ich hatte schnell gemerkt, dass Pan eine Schwäche für das zarte Geschlecht hatte, und mir das zunutze gemacht. Meistens reichte es, mit den Wimpern zu klimpern. Manchmal aber musste ich etwas … kreativer sein. Ich warf Bas einen verstohlenen Blick zu. Er hatte keinen Schimmer, dass er in den vergangenen zwei Jahren dafür herhalten musste, alle möglichen abscheulichen Taten an der armen Mademoiselle Bretton begangen zu haben. Und wenn Pan eine Frau weinen sah, konnte er nicht anders, er versuchte ihre Tränen mit Hilfe von Zimtschnecken zum Versiegen zu bringen.

»Ja, aber heute bin ich doch als Mann verkleidet.« Ich nahm den ersten Zimtwecken und schob ihn mir umstandslos in den Mund. »Afgesehen davon, fevorzugt er Flondinen.«

Ich war so mit Kauen und Schlucken beschäftigt, dass mir Tränen in die Augen traten. Bas sah mir mit einem anzüglichen Grinsen dabei zu. »Da hat der Herr aber einen furchtbar schlechten Geschmack.«

»Iiiih!« Coco tat, als müsste sie würgen. »Hör bloß auf, ja? Süßholzraspeln steht dir nicht.«

»Und euch steht dieser Aufzug nicht.«

Ich überließ sie ihrem Gezänk und widmete mich der zweiten Hälfte der Zimtschnecke. Obwohl Coco genug mitgebracht hatte, um fünf Riesen sattzubekommen, nahm ich die Herausforderung an. Nach drei Zimtwecken verdarb mir die Streiterei der beiden aber doch den Appetit. Ich stieß den Teller von mir.

»Wir haben keine Zeit mehr zu verschwenden, Bas«, unterbrach ich sie und hielt Coco gerade noch davon ab, über den Tisch zu springen und sich auf ihn zu stürzen. »Morgen früh wird der Ring nicht mehr da sein, deswegen müssen wir noch heute Abend handeln. Also was ist, Bas – hilfst du uns jetzt oder nicht?«

Offenbar gefiel ihm mein Tonfall nicht. »Ich weiß gar nicht, was die ganze Aufregung soll. Wozu brauchst du einen Ring, der unsichtbar macht? Ich kann dich doch beschützen.«

Pfft. Leere Versprechungen. Vielleicht war das ja auch der Grund, warum sich meine Gefühle für ihn abgekühlt hatten.

Bas war alles Mögliche – charmant, gerissen, rücksichtslos –, aber er war bestimmt kein Beschützer. Nein, er musste sich um wichtigere Dinge kümmern, wie beim ersten Anzeichen von Ärger die eigene Haut zu retten, zum Beispiel. Ich nahm es ihm nicht übel. Immerhin war er ein Kerl, und seine Küsse entschädigten reichlich für seine Schwächen.

Coco starrte ihn zornig an. »Wie wir dir schon ein paarmal erklärt haben, hat der Ring mehr Kräfte, als nur den Benutzer unsichtbar zu machen.«

»Ach, mon amie, da habe ich wohl nicht zugehört«, sagte er grinsend und warf ihr eine Kusshand zu.

Sie ballte die Fäuste. »Verdammt! Eines Tages, das schwöre ich, werde ich dich …«

Bevor sie ihm die Adern aufschlitzen konnte, ging ich dazwischen. »Er schützt den Träger vor jeglicher Zauberei. So ähnlich wie die Balisardas der Chasseure.« Ich sah Bas an. »Bestimmt verstehst du, wie nützlich das für mich sein könnte.«

Sein Grinsen verschwand. Langsam hob er die Hand und strich über die Stelle, wo ein Tuch die Narbe an meinem Hals verbarg. Mir lief es eiskalt über den Rücken. »Bisher hat sie dich nicht gefunden. Du bist in Sicherheit.«

»Noch.«

Er musterte mich einen Moment lang. Schließlich seufzte er und fragte: »Und du bist zu allem bereit, um diesen Ring zu bekommen?«

»Ja.«

»Auch zu … Magie?«

Ich zögerte, dann flocht ich meine Finger in seine und nickte. Er ließ unsere ineinander verstrickten Hände auf den Tisch sinken. »Also meinetwegen. Ich werde dir helfen.« Er sah aus dem Fenster, und ich folgte seinem Blick. Eine stetig anwachsende Menschenmenge hatte sich versammelt, um dem festlichen Umzug zu Ehren des Prinzen beizuwohnen. Alles lachte und plapperte aufgeregt durcheinander, doch es wirkte irgendwie aufgesetzt, als schwelte unter der Oberfläche ein großes Unbehagen. »Heute Abend«, fuhr Bas fort, »gibt der König anlässlich der Rückkehr seines Sohnes aus Amandine einen Ball. Der gesamte Adel ist eingeladen – einschließlich Monsieur de Tremblay.«

»Wie praktisch«, murmelte Coco.

Plötzlich entstand auf der Straße ein Tumult, wir zuckten zusammen und sahen gebannt auf die Männer, die sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Gekleidet in königsblaue Mäntel marschierten sie in Dreierreihen im Gleichschritt: Rums, rums, rums. Sie wurden auf beiden Seiten von gewöhnlichen Gendarmen flankiert, die unter Gebrüll die Fußgänger von der Straße scheuchten.

Chasseure.

Sie hatten der Kirche einen heiligen Eid geschworen, das Königreich Belterra vor allem Okkulten zu schützen, insbesondere vor den Dames Blanches, vor deren ach so schändlichen Taten die Kleingeister von Belterra eine Heidenangst hatten. Voll ohnmächtiger Wut sah ich zu, wie die Chasseure näher kamen. Als ob wir die Eindringlinge wären! Als ob dieses Land nicht einst uns gehört hätte!

Ich schüttelte mich und atmete tief durch. Das alles geht dich nichts mehr an. Die alte Fehde zwischen der Kirche und den Hexen tangierte mich nicht mehr. Ich hatte die Welt der Magie hinter mir gelassen.

»Besser, du machst dich vom Acker, Lou«, raunte Coco mir zu, ohne die Chasseure aus den Augen zu lassen, die sich nun entlang der Straße aufstellten, damit niemand auf die Idee käme, sich der königlichen Familie zu nähern, die bald hier vorbeifahren musste. »Wir treffen uns im Theater wieder. Diese großen Menschenmengen sind gefährlich. Das riecht nach Ärger.«

»Ich bin doch verkleidet. Mich erkennt keiner.«

»André und Grue im Bellerose schon.«

»Aber nur an meiner Stimme …«

»Solange der Festzug läuft, treffe ich mich bestimmt nicht mit irgendwem.« Bas ließ meine Hand fallen, stand auf und streichelte mit anzüglichem Grinsen seine Weste. »Eine solche Menschenansammlung ist eine fantastische Mistgrube voll Geld, und ich habe vor, darin zu versinken. Wenn ihr mich jetzt entschuldigt.«

Er grüßte wortlos und schlängelte sich zwischen den Tischchen hindurch nach draußen. Coco stand auf. »Wenn du mich fragst, sobald dieser Bastard außer Sichtweite ist, wird er uns bei den Gendarmen verpfeifen – oder noch schlimmer, bei den Chasseuren. Wieso vertraust du ihm immer wieder?«

Es war ein beharrlich wiederkehrender Streitpunkt zwischen uns, dass ich Bas meine wahre Identität offenbart hatte. Meinen wahren Namen. In einer Nacht mit zu viel Pastis und zu vielen Küssen zwar, aber das machte es nicht besser. Während ich den letzten Zimtwecken auseinanderrupfte und es dabei vermied, Coco in die Augen zu sehen, versuchte ich, meine Entscheidung vor mir selbst zu rechtfertigen. Reue hätte jetzt auch nichts mehr genutzt, denn ich hatte keine andere Wahl. Ich musste ihm vertrauen. Wir waren unwiderruflich miteinander verbunden.

Coco seufzte resigniert. »Ich hefte mich lieber an seine Fersen. Und du mach, dass du hier wegkommst. Wir treffen uns im Theater. In einer Stunde?«

»Abgemacht.«

Kurz nach Bas und Coco brach auch ich auf. Vor der Patisserie drängten sich zwar etliche hysterische Mädchen, die es kaum erwarten konnten, den Prinzen zu erspähen, versperrt aber wurde der Weg von einem Mann, einem wahren Riesen.

Er überragte mich um mindestens einen Kopf, die braune Wolle seines Mantels spannte über seinem breiten Rücken und den kräftigen Armen. Auch er blickte auf die Straße, erweckte dabei aber kaum den Anschein, wegen des Festzugs hier zu sein. In Habachthaltung, die Füße breitbeinig in den Boden gestemmt, stand er dort, als wäre er jederzeit zum Kampf bereit.

Ich räusperte mich und stieß den Mann mit dem Ellbogen an. Er rührte sich nicht. Als ich ihn wieder anstieß, rückte er ein winziges Stückchen zur Seite, aber es reichte nicht, um mich an ihm vorbeizudrücken.

Kann er haben, dachte ich bei mir. Dann rammte ich ihm mit voller Kraft meine Schulter in die Seite und versuchte, mich zwischen seiner Körpermasse und dem Türpfosten hindurchzuquetschen. Jetzt schien er endlich etwas gespürt zu haben, denn er drehte sich um – und stieß mir seinen Ellenbogen ins Gesicht.

»Verdammt!«, jaulte ich auf und griff mir an die Nase. Ich stolperte zurück und landete auf dem Hosenboden – zum zweiten Mal an diesem Morgen. Verräterische Tränen stiegen mir in die Augen. »Hast du sie noch alle?«

Er streckte mir die Hand hin. »Verzeiht mir, Monsieur. Ich habe Euch nicht bemerkt.«

»So kann man das auch nennen …« Ich ignorierte die Hand, die er mir hinhielt, rappelte mich aus eigener Kraft auf und klopfte meine Hose aus. Als ich mich endlich an ihm vorbeischieben wollte, verstellte er mir wieder den Weg. Dabei öffnete sich sein abgetragener Mantel ein wenig, und ich konnte einen Schulterriemen über seiner Brust erkennen, aus dem mich Messer in allen Formen und Größen anblinkten. Aber es war das Messer genau über seinem Herzen, bei dessen Anblick mir das Herz in die Hose rutschte. Silbern glänzend, mit einem großen Saphir am Knauf, funkelte es mich unheilverkündend an.

Ein Chasseur.

Ich zog den Kopf ein. Mist.

Nach Luft ringend zwang ich mich, ruhig zu bleiben. Da ich verkleidet war, bedeutete er für mich keine unmittelbare Gefahr. Ich hatte ja nichts Falsches getan. Ich roch nach Zimt, nicht nach Magie. Und abgesehen davon – gab es nicht zwischen Männern eine Art unausgesprochene Kameradschaft? Eine stillschweigende Anerkennung gemeinsamer Bedeutsamkeit?

»Seid Ihr verletzt, Monsieur?«

Genau. Heute war ich ein Mann. Das würde ich hinkriegen.

Ich zwang mich, aufzuschauen.

Abgesehen von seiner fast schon obszönen Größe fielen mir als Erstes die Messingknöpfe an seinem Mantel auf – sie harmonierten mit seinem Haar, das in der Sonne in allen Kupfer- und Goldtönen erstrahlte wie ein Leuchtfeuer. Zusammen mit der geraden Nase und den vollen Lippen sah er erstaunlich gut aus für einen Chasseur. Irritierend gut. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn einfach anstarren. Dicke Wimpern umrahmten die Augen, die exakt die Farbe des Meers hatten.

Und diese Augen starrten mich nun unverhohlen schockiert an.

Ach du Schreck. Blitzschnell griff ich mir an den falschen Schnurrbart. Er musste sich bei dem Sturz gelöst haben, denn er klebte nur noch an einem Ende – das andere baumelte lose herunter.

Na ja, den Versuch war’s wert gewesen. Männer neigten vielleicht zur Kumpanei, dafür wussten Frauen, wann eine heikle Situation einen verdammt schnellen Abgang erforderte.

»Nichts passiert«, sagte ich leichthin, zog den Kopf ein und versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen und rasch so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bringen. Zwar hatte ich immer noch nichts falsch gemacht, doch schien es mir besser, das Schicksal nicht herauszufordern. Manchmal schlug es nämlich zurück. »Pass nächstes Mal einfach besser auf, wo du hinlangst.«

Er rührte sich nicht von der Stelle. »Ihr seid eine Frau.«

»Gut erkannt.« Wieder versuchte ich, ihn wegzuschieben – diesmal mit deutlich mehr Kraft –, doch er packte mich am Ellbogen und hielt mich zurück.

»Warum tragt Ihr Männerkleidung?«

»Hast du schon mal ein Korsett anprobiert?«, fragte ich zurück, während ich so würdevoll wie möglich versuchte, meinen Schnurrbart wieder anzukleben. »Vermutlich nicht, sonst würdest du nicht so dämliche Fragen stellen. In Hosen lebt es sich einfach viel freier.«

Er starrte mich an, als wäre mir ein Arm aus der Stirn gewachsen. Ich starrte erwartungsvoll zurück, bis er schließlich den Kopf leicht schüttelte, wie um ihn zu klären. »Ich … bitte um Verzeihung, Mademoiselle.«

Die Leute waren auf uns aufmerksam geworden. Ich versuchte vergeblich, meinen Arm zu befreien, während Panik in mir aufstieg. »Lass mich …«

Sein Griff wurde nur noch fester. »Habe ich Euch vielleicht beleidigt?«

Da verlor ich endgültig die Geduld und riss mich mit aller Kraft los. »Wegen dir hab ich mir mein verdammtes Steißbein gebrochen!«

Er wich zurück, als hätte ich ihn gebissen, und sah mich angeekelt an. »Noch niemals in meinem ganzen Leben habe ich eine Dame so sprechen hören.«

Ach so, Chasseure waren ja Heilige. Wahrscheinlich hielt er mich jetzt für den Teufel persönlich.

Ganz falsch hätte er damit nicht gelegen.

Ich schenkte ihm ein katzenhaftes Lächeln, setzte mich in Bewegung und klimperte, wie ich es bei Babette abgeschaut hatte, mit den Wimpern. Als er keine Anstalten machte, mich aufzuhalten, ließ die Beklemmung in meiner Brust nach. »Du verkehrst mit den falschen Damen, Ritterlein.«

»Bist du etwa eine Kurtisane?«

Hätte ich nicht mehrere durchaus respektable Kurtisanen gekannt, ich wäre zutiefst empört gewesen – wobei ich Babette eher nicht dazuzählte, die miese Erpresserin. So seufzte ich nur dramatisch. »Zu meinem Bedauern nein, auch wenn die Herzen von ganz Cesarine darob brechen.«

Er presste die Kiefer aufeinander. »Wie lautet dein Name?«

Lautstark aufbrandender Jubel ersparte mir eine Antwort. Soeben bog die Kutsche mit der königlichen Familie um die Ecke und kam nun die Straße entlanggefahren. Einen Augenblick lang war der Chasseur abgelenkt, doch das genügte mir – ehe er sich wieder umwandte, war ich in einer Gruppe begeisterter junger Mädchen untergetaucht, die den Namen des Prinzen in allen Tonhöhen kreischten.

Ellbogen bohrten sich von allen Seiten in meinen Körper, und bald musste ich einsehen, dass es unmöglich war, sich durch die Menge zu kämpfen – zumindest, wenn ich nicht mein Messer benutzen wollte. So gut ich konnte, teilte ich ebenfalls mit den Ellbogen aus, auf der Suche nach einer hochgelegenen Stelle, um dort das Ende des Festzugs abzuwarten.

Da.

Mit einem Satz war ich auf der Fensterbank eines alten Sandsteingebäudes, kletterte an der Regenrinne hinauf und zog mich aufs Dach. Dort stützte ich die Ellbogen auf die Brüstung und blickte hinunter auf die Straße. Goldene Fahnen mit dem Wappen der königlichen Familie hingen aus vielen Fenstern, und an den Straßenecken wurden Speisen feilgeboten. Doch trotz des köstlichen Dufts von Pommes frites, Würstchen und Käsehörnchen stank die Stadt noch immer hauptsächlich nach Fisch. Fisch und Rauch – es war immer wieder eine Freude, auf dieser tristen, grauen Halbinsel zu leben. Ich verzog die Nase.

Cesarine war der Inbegriff von grau. Schäbige graue Häuser standen eng aneinandergedrängt entlang unbefestigter Straßen, die vorbei an schmutzigen, grauen Marktplätzen und noch schmutzigeren, graueren Hafenanlagen führten. Und alles wurde von einer allgegenwärtigen Wolke aus Qualm eingenebelt, der aus den Schornsteinen der Häuser quoll.

Das Grau war erstickend. Leblos, dumpf.

Wobei es natürlich Schlimmeres im Leben gab als Dumpfheit. Und schlimmeren Qualm als den aus Schornsteinen.

Als die königliche Familie jetzt vorbeifuhr, kannte der Jubel keine Grenzen mehr.

König Auguste saß winkend in seiner vergoldeten Kutsche, die goldenen Locken im spätherbstlichen Wind flatternd, neben ihm Beauregard, sein Sohn. Die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können. Während der Vater helle Augen und einen hellen Teint besaß, hatte der Sohn die dunklen Augen, die braune Haut und das schwarze Haar der Mutter geerbt. Nur ihr Lächeln war gleichermaßen charmant.

Zu charmant, wenn’s nach mir ging. Die Arroganz strömte ihnen aus jeder Pore.

Hinter ihnen saß mit mürrischem Gesicht Augustes Gattin. Man konnte es ihr nicht verübeln. Ich hätte auch so geschaut, bei einem Ehemann, der mehr Geliebte als Finger und Zehen zusammen hatte. Nicht, dass ich vorgehabt hätte, mir jemals einen Mann zuzulegen. Lieber wollte ich in der Hölle schmoren, als mich durch Heirat an einen Kerl zu ketten.

Ich wollte mich schon gelangweilt abwenden, als ich auf der Straße eine Veränderung wahrnahm. Ganz subtil, fast als hätte der Wind unmerklich die Richtung geändert. Ein kaum hörbares Summen hallte von den Pflastersteinen wider, und der Lärm der Menge, all die Gerüche und Düfte, entschwanden in den Äther. Die Welt stand still. Plötzlich fröstelnd, wich ich zurück, fort vom Rand des Dachs. Ich wusste, was nun kommen würde. Ich erkannte das sanfte Streichen der Energie über meine Haut, das vertraute Pochen in meinen Ohren.

Magie.

Dann hörte ich die ersten Schreie.

SÜNDHAFT SIND DIE WEGE DER FRAUEN

Reid

Den Geruch wurden die Hexen nie los, er folgte ihnen überallhin. Süßlich, ätherisch und doch scharf – zu scharf. Wie der Weihrauch, den der Erzbischof in der Messe abbrannte, nur beißender. Obwohl ich meine heiligen Gelübde schon vor vielen Jahren abgelegt hatte – daran hatte ich mich nie gewöhnt. Selbst jetzt, da der Wind nur eine leise Ahnung davon herbeitrug, brannte mir der Geruch in der Nase, brachte mich zum Würgen und schien mich zu verhöhnen.

Ich hasste den Geruch der Magie.

Wachsam griff ich nach dem Balisarda-Messer über meinem Herzen und suchte mit den Augen die Menge der Schaulustigen ab. Jean-Luc warf mir einen wachsamen Blick zu. »Ärger?«

»Riechst du es nicht?«, antwortete ich leise. »Ganz schwach, aber er ist da. Sie haben sich schon ans Werk gemacht.«

Nun zog auch Jean-Luc sein Balisarda aus dem Bandolier über seiner Brust. Seine Nasenflügel bebten. »Ich sage den anderen Bescheid.«

Ohne ein weiteres Wort verschwand er in der Menge. Obwohl auch er keine Uniform trug, teilte sich die Menge vor ihm wie das Rote Meer vor Moses. Vermutlich lag es an dem Saphir an seinem Messer. Hinter ihm raunten die Leute, und die Helleren sahen zu mir. Als sie begriffen, rissen sie ängstlich die Augen auf.

Chasseure.

Wir hatten diesen Angriff erwartet. Mit jedem Tag waren die Hexen unruhiger geworden. Und so säumte ein Teil meiner Brüder die Straßen in Uniform, während die anderen, die wie ich in Zivil gekleidet waren, sich auffällig unauffällig unter die Menschen mischten, abwarteten und beobachteten.

Wir waren auf der Jagd.

Ein Mann mittleren Alters trat auf mich zu, an der Hand hielt er ein kleines Mädchen. Die gleiche Augenfarbe, ähnliche Gesichtszüge. Seine Tochter.

»Sind wir in Gefahr, Sire?« Seine Frage bewirkte, dass noch mehr Leute auf uns aufmerksam wurden. Sorgenvolle Blicke huschten hin und her. Plötzlich zuckte das Mädchen zusammen, rümpfte die Nase und ließ sein Fähnchen sinken. Eine Sekunde lang hing es in der Luft, dann flatterte es zu Boden.

»Papa, mein Kopf tut weh«, flüsterte die Kleine.

»Pssst, Kind.« Er blickte auf das Messer in meiner Hand, und sein Blick entspannte sich. »Der Herr hier ist ein Chasseur. Er wird uns beschützen. Nicht wahr, Sire?«

Im Gegensatz zu seiner Tochter hatte er den Geruch der Magie noch nicht wahrgenommen. Bald würde er es. Sehr bald.

»Geht nach Hause, auf der Stelle!« Meine Stimme klang schärfer, als ich beabsichtigt hatte. Wieder zuckte das kleine Mädchen zusammen, ihr Vater legte ihr einen Arm um die Schultern. Die Worte des Erzbischofs klangen in meinen Ohren. Beruhige sie, Reid. Flöße ihnen Ruhe und Selbstvertrauen ein, beschütze sie. Ich schüttelte den Kopf. »Bitte, Monsieur«, versuchte ich es erneut. »Geht nach Hause. Streut Salz vor Eure Türen und Fenster und verlasst das Haus nicht eher, als Ihr …«

Ein gellender Schrei übertönte die letzten Worte.

Alle erstarrten.

»REIN HIER!«, brüllte ich und stieß den Mann mitsamt seiner Tochter durch die Tür der Patisserie. Kaum war er hineingestolpert, stürmten ihm andere hinterher, ohne darauf zu achten, ob jemand in ihrem Weg stand. Von überallher kamen die Leute und rannten vor der Tür ineinander. Immer schrecklichere Schreie waren jetzt zu hören, und aus allen Richtungen hallte unnatürliches Gelächter wider. Ich steckte mein Messer weg und versuchte den Menschenmassen auszuweichen, wobei ich eine ältere Frau fast zu Fall gebracht hätte.

»Vorsicht!« Ich fing sie bei den schmächtigen Schultern auf und rettete sie vermutlich davor, totgetrampelt zu werden. Sie blinzelte mich aus milchigen Augen an, und ein eigenartiges Lächeln trat auf ihre welken Lippen.

»Gott segne Euch, junger Mann«, krächzte sie. Dann wandte sie sich mit unerwarteter Anmut um und verschwand zwischen den vorüberhastenden Menschen. Es dauerte eine Weile, bis ich den widerlichen, versengten Geruch registrierte, den sie hinterließ. Mir stockte der Atem.

»Reid!« Jean-Luc stand jetzt in der Kutsche der königlichen Familie. Zwei, drei Dutzend meiner Brüder hatten sich schützend um sie aufgebaut. Die Saphire ihrer Messer blitzten auf, während sie die rasenden Bürger zurückdrängten. Ich lief los, und in der hin und her wogenden Menge sah ich sie schließlich.

Hexen.

Die Haare in einem Wind flatternd, den niemand sonst bemerkte, kamen sie die Straße entlanggeschwebt. Es waren drei. Sie schnippten nur leicht mit den Fingern, und als um sie herum die Menschen leblos zu Boden fielen, lachten sie.

Ich betete, dass ihre Opfer den Angriff überlebten, auch wenn ich mich schon oft gefragt hatte, ob der Tod nicht das gnädigere Schicksal sei. Wenn die, die weniger Glück hatten, erwachten, konnten sie sich nicht mehr an ihre Kinder erinnern, andere verspürten einen unstillbaren Appetit auf Menschenfleisch. Vor einem Monat hatte man ein Kind gefunden, dass keine Augen mehr hatte. Einem Mann gelang es nicht mehr einzuschlafen. Ein anderer verbrachte seine Tage damit, eine Frau anzuschmachten, die außer ihm niemand sehen konnte.

Jeder Fall war anders. Jeder verstörender als der Vorherige.

»REID!« Jean-Luc winkte mir, doch ich achtete nicht auf ihn. Denn die Hexen steuerten nun auf die königliche Familie zu, ganz langsam, ohne Hast und ohne auf den Trupp Chasseure zu achten, der ihnen entgegenstürmte. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Plötzlich erhoben sich die eben noch leblosen Körper wie Marionetten und bildeten einen menschlichen Wall um die Hexen. Entsetzt sah ich, wie ein Mann nach vorn stürzte und von einem Balisarda aufgespießt wurde. Die Hexen gackerten nur und verrenkten ihre Finger auf groteske Weise. Mit jedem Zucken ihrer Finger erhob sich ein hilfloser Körper. Sie waren wie Puppenspieler.

Das konnte nicht sein. Hexen operierten eigentlich im Geheimen, sie attackierten aus dem Dunkel. Dass sie sich derart unverhohlen zeigten, dieses Theater, war geradezu töricht. Es sei denn …

Es sei denn, das Ganze war nur ein Ablenkungsmanöver.

Ich musste mir einen Überblick verschaffen und rannte zum nächstbesten Haus. Mit zitternden Händen zwang ich mich, die Wand hinaufzuklettern. Jeder Stein schien höher aufzuragen als der vorherige. Ich schaute nach oben, doch die Steine verschwammen vor meinen Augen, alles begann sich zu drehen. Mein Brustkorb war wie zugeschnürt, das Blut pochte in meinen Ohren. Nach oben sehen, immer nach oben, nur nicht nach unten …

Als ich das Dach fast erreicht hatte, erschien über der Regenrinne plötzlich ein bekanntes Gesicht: blaugrüne Augen, Sommersprossen auf der Nase, Schnurrbart … das Mädchen aus der Patisserie.

»Oh merde«, zischte sie – und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Wild entschlossen zog ich mich über die Dachkante und konzentrierte mich auf die Stelle, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie aber stand schon auf dem benachbarten Hausdach, wo sie ihren Hut lüftete und mit der freien Hand eine obszöne Geste in meine Richtung machte. Ich gab die Verfolgung auf. Das freche Gör war jetzt nicht meine größte Sorge.

Rasch wandte ich mich um und sah nach unten. Wieder begann die Welt sich zu drehen, und ich musste mich an der Dachkante festklammern.

Im verzweifelten Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, drängten die Menschen in die Geschäfte, doch es waren zu viele, viel zu viele. Die Ladenbesitzer bemühten sich, den Zustrom irgendwie zu ordnen, während diejenigen, die den Türen am nächsten waren, Gefahr liefen, zu Tode getrampelt zu werden. Dem Besitzer der Patisserie war es gelungen, seine Tür zu verbarrikadieren. Alle, die draußen geblieben waren, schrien in Panik und schlugen mit den Fäusten gegen die Fenster, denn die Hexen kamen immer näher.

In all dem Chaos suchte ich die Menge ab. Was hatten wir nur übersehen? Über zwanzig Körper tanzten in der Luft um die Hexen herum – manche bewusstlos, mit baumelnden Köpfen, andere bei schmerzlichem Bewusstsein. Ein Mann hatte die Arme ausgestreckt, als wäre er ans Kreuz genagelt. Rauch waberte aus seinem Mund, der sich in stummen Entsetzensschreien öffnete und schloss. Kleidung und Haar wehten um eine Frau herum, als triebe sie unter Wasser, ihr Gesicht war blau angelaufen. Hilflos kratzten ihre Finger durch die Luft – eine Ertrinkende.

Immer weitere Chasseure stürmten herbei.

Selbst aus der Ferne sah ich die Entschlossenheit in ihren Gesichtern, mit der sie die Menschen zu beschützen suchten. Doch im Bemühen, den Hilflosen zur Seite zu stehen, vernachlässigten sie unsere wahre Mission: die königliche Familie. Nur noch vier Mann standen jetzt um die Kutsche. Zwei Chasseure und zwei Leibgardisten. Jean-Luc hielt die Hand der Königin, während der König Befehle brüllte – an uns, an seine Wachen, an jeden, der auf ihn hören wollte, doch der tumultartige Lärm verschlang jedes Wort.

In ihrem Rücken, von ihnen ungesehen, schlich sich die Hexe heran.

Mir stockte der Atem. Die Hexen, die Verzauberungen – alles nur Theater, ein Ablenkungsmanöver.

Der Erdboden war erschreckend weit weg, doch ich überlegte nicht lange, sondern griff nach dem Regenrohr und sprang über die Dachkante. Das Blech kreischte und bog sich unter meinem Gewicht, bis es auf halber Strecke aus seiner Verankerung brach. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich sprang. Greller Schmerz fuhr durch meine Beine, als ich aufkam, doch ich achtete nicht darauf.

»Jean-Luc! Hinter dir!«

Sofort drehte er sich um und entdeckte die Hexe. Schlagartig begriff er. »Runter!«, herrschte er den König an und stieß ihn auf den Boden der Kutsche. Die verbliebenen Chasseure hatten verstanden und rannten auf die andere Seite der Kutsche.

Die Hexe sah mich an, und auf ihrem Gesicht zeigte sich ein Grinsen. Sie verdrehte ihr Handgelenk, und der widerwärtige Geruch verstärkte sich. Ein Luftstoß schoss aus ihren Fingerspitzen, doch ihr Zauber konnte mir nichts anhaben. Nicht, solange mein Balisarda mich schützte. Jedes Balisarda war mit einem geschmolzenen Tropfen von der Reliquie des heiligen Konstantin geschmiedet worden, und das machte uns immun gegen die Zauberkraft der Hexen. Ich roch den faulig-süßen Geruch wohl, doch er schreckte mich nicht. Genauso wenig wie meine Brüder.

Die Wachen und Bürger in unserer Nähe hatten weniger Glück. Sie wurden von dem Luftstoß gepackt, als wären sie welkes Laub, und gegen die Kutsche und die umliegenden Läden geschleudert. Triumph flackerte in den Augen der Hexe auf, als einer meiner Brüder seinen Posten verließ, um ihnen zu helfen. Mit einer Geschwindigkeit, die viel zu schnell war, um natürlich zu sein, huschte sie auf den Kutschenschlag zu, hinter dem Prinz Beauregard saß und voller Entsetzen den Tumult verfolgte. Mit verzerrtem Gesicht knurrte sie ihn an, doch bevor sie ihre Hände heben konnte, war ich bei ihr und riss sie zu Boden.

Sie kämpfte mit der Kraft einer jungen Frau – nein, mit der eines jungen Mannes! Sie trat und biss und schlug mich, wie sie eben konnte. Doch ich war zu schwer. Ich begrub sie unter meinem Körper, riss ihr die Arme so weit nach oben, dass die Schultern fast ausgekugelt wurden, und drückte ihr mein Messer an die Kehle, woraufhin sie augenblicklich stillhielt.

»Gott sei deiner Seele gnädig«, flüsterte ich ihr ins Ohr, doch da lachte sie plötzlich auf – ein lautes Gackern, das ihren ganzen Körper schüttelte –, und ich ließ entsetzt von ihr ab. Die Frau unter mir war keine alte Hexe mehr. Die Runzeln in ihrem Gesicht verschmolzen zu glatter, porzellanfarbener Haut, und ihr eben noch schütteres Haar floss ihr nun wallend und rabenschwarz bis über die Schultern.

Unter schweren Lidern schaute sie mich an, ihre Lippen öffneten sich, und sie hob ihr Gesicht zu meinem. Ich war wie gelähmt, doch irgendwie schaffte ich es, mich loszureißen, bevor unsere Lippen sich berührten.

Und da spürte ich es.

Ich spürte, wie sie ihren festen, runden Bauch an meinen presste.

O Gott.

Mein Kopf war plötzlich völlig leer. Ich stieß mich ab, weg von ihr, weg von diesem Ding, und rappelte mich auf. Die Schreie in der Ferne wurden leiser. Die toten Körper auf dem Boden bewegten sich. Langsam erhob sich die Frau.

Nun in tiefes Blutrot gekleidet, legte sie eine Hand auf ihren geschwängerten Schoß und lächelte.

Aus smaragdgrünen Augen betrachtete sie die königliche Familie, die sich so tief wie möglich in ihre Kutsche verkrochen hatte und mit leichenblassen Gesichtern der Szene beiwohnte, den schieren Schrecken in den Augen. »Wir werden unsere Heimat zurückerobern, Majestät«, säuselte die Hexe. »Wir haben Euch gewarnt, immer wieder. Aber Ihr habt nicht auf unsere Worte gehört. Bald werden wir auf Eurer Asche tanzen, so wie Ihr auf der Asche unserer Ahninnen getanzt habt.«

Dann wandte sie sich an mich, und plötzlich wurde die Porzellanhaut wieder welk, die rabenschwarze Mähne verdorrte zu schütteren Silbersträhnen. Keine Spur mehr von der schönen Schwangeren. Sie war wieder die alte Hexe geworden, und sie zwinkerte mir zu, ein gruseliger Gruß aus diesem hageren Gesicht. »Das müssen wir bald mal wieder machen, mein Hübscher.«

Ich war unfähig, etwas zu erwidern. Nie zuvor war ich Zeuge solcher schwarzen Kunst geworden – einer solchen Schändung des menschlichen Körpers. Aber Hexen waren keine Menschen. Sie waren Nattern, fleischgewordene Dämonen. Und ich hätte sie fast …

Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, verzog sich ihr zahnloser Mund zu einem breiten Grinsen. Ehe ich mich rühren konnte, um meine Klinge aus dem Mantel zu ziehen und sie zurück in die Hölle zu schicken, wo sie hingehörte, machte sie kehrt und verschwand in einer Rauchwolke.

Aber nicht, ohne mir vorher noch eine Kusshand zuzuwerfen.

Ein dicker, grüner Teppich dämpfte meine Schritte, als ich Stunden später das Arbeitszimmer des Erzbischofs im Turm neben der Kathedrale betrat. Geschnitzte Holzverkleidungen bedeckten die fensterlosen Wände des Raums, ein Kaminfeuer warf flackerndes Licht auf die Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. Dahinter saß der Erzbischof und bedeutete mir, mich ihm gegenüber auf einen der Holzstühle zu setzen.

Ich gehorchte und zwang mich, seinem Blick standzuhalten. Die Scham über die Demütigung, die mir wie Feuer in den Eingeweiden brannte, versuchte ich so gut es ging zu ignorieren.

Der König und seine Familie hatten die schreckliche Kutschfahrt zwar unversehrt überstanden, doch viele der Zuschauer nicht. Zwei Mädchen waren gestorben, viele andere trugen zwar keine sichtbaren Verletzungen, lagen nun aber zwei Stockwerke weiter oben, wo man sie ans Bett gefesselt hatte. Sie schrien sich die Seele aus dem Leib, sprachen in fremden Zungen oder starrten leeren Blickes an die Decke. Die Geistlichen, die im Siechenlager als Pfleger arbeiteten, taten, was sie konnten, doch die meisten Leidenden würden binnen zwei Wochen ins Irrenhaus gebracht und dort für den Rest ihrer Tage weggesperrt werden. Mehr vermochte die menschliche Heilkunst nicht für die Verhexten zu tun.

Der Erzbischof hatte die Hände vor sich gefaltet und sah mich prüfend an. Stählerner Blick, harter Mund, silberne Streifen an den Schläfen. »Du hast dich gut geschlagen heute, Reid.«

Ich runzelte die Stirn und rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. »Was sagt Ihr da?«, fragte ich ungläubig.

Der Erzbischof lächelte grimmig und beugte sich vor. »Ohne dich wären die Verluste noch höher gewesen. König Auguste steht in deiner Schuld, er lobt dich in den höchsten Tönen.« Er deutete auf einen weißen Umschlag, der auf dem Schreibtisch lag. »Er plant, dir zu Ehren einen Ball zu geben.«

Die unerwartete Neuigkeit beschämte mich nur noch mehr. Ich verdiente niemandes Lob – nicht das des Königs, schon gar nicht das meines Herrn, des Erzbischofs. Beide hatte ich heute im Stich gelassen. Ich hatte die erste Regel meiner Brüder nicht befolgt: Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen.

Ich hatte gleich vier davonkommen lassen.

Und mit einer von ihnen wollte ich sogar …

Mich schauderte, ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. »Das kann ich nicht annehmen, Sire.«

»Warum nicht?« Er runzelte die Stirn und lehnte sich wieder zurück. Ich schrumpfte unter seinem Blick zusammen. »Du allein hast dich an deine Mission erinnert. Du allein hast die Hexe als das erkannt, was sie war.«

»Aber Jean-Luc …«

Ungeduldig winkte er ab. »Wir haben deine Demut zur Kenntnis genommen, Reid, aber heute ist gewiss nicht der Tag für falsche Bescheidenheit. Du hast viele Leben gerettet.«

»Ich … Sire, ich …« Mehr bekam ich nicht heraus, und so senkte ich den Blick wieder und starrte auf die Hände in meinem Schoß, die sich zu Fäusten geballt hatten.

Wie immer verstand der Erzbischof auch ohne Erklärung. »Ach so«, sagte er leise, und ich sah auf. Er musterte mich mit unergründlicher Miene. »Jean-Luc hat mir von deiner unglückseligen Begegnung erzählt.«

Seine Worte klangen milde, doch ich spürte die Enttäuschung dahinter. Erneut wallte die Scham in mir auf, und Röte stieg mir ins Gesicht. Ich senkte den Kopf. »Es tut mir so leid, Sire. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.«

Er seufzte schwer. »Sorge dich nicht, Sohn. Sündhaft sind die Wege der Frauen – und die der Hexen allemal. Ihre Arglist kennt keine Grenzen.«

»Verzeiht mir, Sire, aber ein derartiges Ausmaß an Magie habe ich noch nie erlebt. Die Hexe … erst war sie eine alte Frau, aber dann … sie hat sich … verwandelt.« Fest entschlossen, die Wahrheit auszusprechen, starrte ich wieder auf meine Fäuste. »Sie hat sich in eine wunderschöne Frau verwandelt.« Ich atmete tief durch und blickte auf, mit zusammengebissenen Zähnen. »Eine wunderschöne, schwangere Frau.«

Seine Lippen verzogen sich. »Die Mutter.«

»Sire?«

Er stand auf, faltete seine Hände hinter dem Rücken und begann auf und ab zu gehen. »Hast du etwa die frevlerischen Lehren der Hexen vergessen, Reid?«

Ich schüttelte vorsichtig den Kopf und erinnerte mich mit brennenden Ohren an die strengen Diakone meiner Kindheit, das karge Unterrichtszimmer neben dem Altarraum, die vergilbte Bibel in meinen Händen.

Hexen verehren nicht unseren Herrn und Erlöser, noch erkennen sie die Heilige Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist an. Sie beten ihre eigene Dreieinigkeit aus Götzen an – die dreifache Göttin.

Wie jeder angehende Chasseur hatte ich die böse Ideologie der Hexen studiert, ehe ich die Gelübde ablegte.

»Jungfrau, Mutter und Greisin«, murmelte ich.

Der Erzbischof nickte zufrieden, und seine Anerkennung tat mir gut. »Die Verkörperung des Weiblichen im Kreislauf von Geburt, Leben und Tod … unter anderem … Reine Blasphemie, natürlich«, höhnte er und schüttelte den Kopf. »Als ob Gott eine Frau sein könnte.«

Ich wich seinem Blick aus. »Natürlich, Sire.«

»Die Hexen glauben, ihre Königin, die Dame des Sorcières, wie sie sie nennen, sei von der Göttin gesegnet worden und könne sich nun nach Belieben in eine der Verkörperungen ihrer Dreieinigkeit verwandeln.« Er hielt inne, verzog den Mund und sah mich an. »Wenn du mich fragst – ich glaube, du bist heute der Dame des Sorcières, höchstselbst begegnet.«

Ich starrte ihn an. »Morgane le Blanc?«

»Genauso ist es.«

»Aber Sire …«

»Es erklärt deine Versuchung. Deine Unfähigkeit, die niederste Natur zu kontrollieren. Die Dame des Sorcières ist unglaublich mächtig, Reid, besonders in dieser Verkörperung. Die Mutter, sagen die Hexen, steht für Fruchtbarkeit, Erfüllung und … Sexualität.« Sein Gesicht verzog sich vor Ekel, als hätte das Wort einen bitteren Geschmack in seinem Mund hinterlassen. »Ein Geringerer als du wäre ihren Reizen erlegen.«

Aber ich war doch dazu bereit, dachte ich und senkte den Kopf. In der eintretenden Stille brannte mein Gesicht so heiß, dass es schmerzte. Ich hörte seine Schritte, dann spürte ich die Hand des Erzbischofs auf meiner Schulter. »Verbanne all das aus deinem Kopf, sonst vergiftet diese Kreatur deine Gedanken und deinen Geist.«

Ich schluckte schwer und zwang mich, ihn anzusehen. »Ich werde Euch nicht noch einmal enttäuschen, Sire.«

»Ich weiß.« Seine Antwort kam ohne Zögern, ohne einen Hauch von Unsicherheit. Erleichterung machte sich in meiner Brust breit. »Das Leben, das wir gewählt haben, ein Leben der Selbstbeherrschung und Mäßigung, ist nicht leicht.« Er drückte meine Schulter. »Auch wir sind nur Menschen. Seit Anbeginn der Zeiten war es die Not des Mannes, den Verlockungen des Weibes zu widerstehen. Selbst in der Vollkommenheit des Gartens Eden hat Eva Adam zur Sünde verführt.«

Als ich nichts erwiderte, ließ er meine Schulter los und seufzte, müde jetzt. »Geh mit dieser Sache zum Herrn, Reid. Bekenne, und Er wird dich freisprechen. Und falls du dieses Leiden nicht überwinden kannst … in angemessener Zeit, meine ich … dann sollten wir dir vielleicht eine Ehefrau besorgen.«

Seine Worte trafen mich – meinen Stolz, meine Ehre – wie ein Schlag in die Magengrube. Ich spürte, wie ich wütend wurde. Seitdem der König unseren Orden gestiftet hatte, war nur eine Handvoll meiner Brüder in den Stand der Ehe getreten, und die meisten hatten danach ihre Stellung aufgegeben und die Kirche verlassen.

Und doch … es gab eine Zeit, da hatte ich darüber nachgedacht. Mich sogar danach gesehnt. Aber das war lange her und vorbei.

»Das wird nicht nötig sein, Sire.«

Behutsam, als ahnte er meine Gedanken, fuhr der Erzbischof fort: »Ich muss dich nicht an deine früheren Verfehlungen erinnern, Reid. Du weißt sehr wohl, dass die Kirche niemanden zur Keuschheit zwingen kann – nicht einmal einen Chasseur. Wie Petrus sagte: Wenn sie sich nicht beherrschen können, sollen sie heiraten; denn es ist besser zu heiraten, als vor Leidenschaft zu brennen. Solltest du den Entschluss fassen zu heiraten, werden weder ich noch deine Brüder dich aufhalten.« Er hielt inne und sah mich eindringlich an. »Vielleicht will die junge Mademoiselle de Tremblay dich ja noch haben?«

Célies Gesicht flackerte kurz vor mir auf, zart und wunderschön, die grünen Augen voller Tränen, die den schwarzen Stoff ihres Trauerkleids benetzen.

Du darfst mir dein Herz nicht schenken, Reid. Die Last wäre zu schwer auf meinem Gewissen.

Célie, bitte …

Die Ungeheuer, die Filippa ermordet haben, sind immer noch da draußen. Sie müssen bestraft werden. Ich werde dich nicht von deiner Bestimmung abbringen. Wenn du dein Herz verschenken willst, dann schenke es deiner Bruderschaft. Bitte, bitte, vergiss mich.

Ich könnte dich nie vergessen.

Du musst.

Ich schob die Erinnerung beiseite, ehe sie mich verzehren konnte.

Nein. Ich würde niemals heiraten. Célie hatte mir das nach dem gewaltsamen Tod ihrer Schwester unmissverständlich klargemacht.

»›Den Ledigen und Witwen sage ich‹«, sprach ich mit leiser, ruhiger Stimme das Zitat weiter, »›es ist gut für sie, wenn sie bleiben wie ich.‹« Ich starrte auf meine Fäuste, die noch immer fest geballt in meinem Schoß lagen, und trauerte um die Zukunft, die Familie, die ich nie haben würde. »Bitte, Sire … glaubt nicht, dass ich je durch eine Eheschließung meine Zukunft bei den Chasseuren aufs Spiel setzen würde. Mein ganzes Streben gilt dem Wunsch, Gott zufriedenzustellen … und Euch.«

Als ich zu ihm aufsah, bedachte er mich mit einem strengen Lächeln. »Deine Hingabe an den Herrn gefällt mir. Und nun lass meine Kutsche vorfahren, ich muss aufs Schloss, zum Empfang für den Prinzen. Eine Torheit, wenn du mich fragst, aber Auguste verwöhnt seinen Sohn nun mal von vorn bis hinten …«

Ein zaghaftes Klopfen unterbrach ihn. Sein Lächeln verschwand, er nickte mir einmal zu, und damit war ich entlassen. Sofort stand ich auf. »Herein«, sagte er und ging um seinen Schreibtisch herum.

Ein junger, schlaksiger Novize trat ein. Ansel, sechzehn Jahre alt und schon als kleines Kind zur Waise geworden, wie ich. Obwohl er von der Kirche aufgezogen wurde, hatte ich bisher nicht viel mit ihm zu schaffen gehabt. Er war zu jung, um mit mir und Jean-Luc zu verkehren.

Ansel verbeugte sich, die rechte Faust auf dem Herzen. »Verzeiht die Störung, Eure Eminenz«, begann er schüchtern und hielt dem Erzbischof einen Umschlag hin. »Dieser Brief ist soeben für Euch abgegeben worden, von einer Frau an der Tür. Sie behauptet, heute Abend könntet Ihr eine Hexe im Westend erwischen, Sire, in der Nähe des Brindelle-Parks.«

Ich erstarrte. Am Brindelle-Park stand das Haus, in dem Célie lebte.

»Eine Frau?« Mit finsterer Miene nahm der Erzbischof den Brief entgegen. Das Siegel hatte die Form einer Rose. Er holte ein dünnes Messer aus seinem Gewand und öffnete den Brief. »Wer war diese Frau?«

»Ich weiß es nicht, Eure Eminenz.« Ansels Wangen färbten sich rötlich. »Sie hatte hellrote Haare und war sehr … äh …«, er hustete und starrte auf seine Stiefel, »… schön.«

Die Furchen auf der Stirn des Erzbischofs vertieften sich, während er den Umschlag auseinanderfaltete. »Irdische Schönheit allein ist nicht genug, Ansel«, tadelte er. »Ich erwarte dich morgen zur Beichte.« Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Brief, und während er las, weiteten sich seine Augen.

Ich trat näher heran. »Sire?«

Er beachtete mich nicht und hielt den Blick weiter auf den Brief gesenkt. Ich machte noch einen Schritt auf ihn zu, da richtete er sich auf und blinzelte. »Ich …« Er schüttelte den Kopf, räusperte sich und sah dann wieder auf den Brief.

»Sire?«, wiederholte ich.

Jetzt erst schien er mich zu bemerken. Er trat schwankend zum Kamin und warf den Brief in die Flammen. »Es geht mir gut«, sagte er gereizt und versuchte, seine zitternden Hände hinter seinem Rücken zu verbergen. »Kein Grund zur Sorge.«

Doch ich sorgte mich sehr. Ich kannte den Erzbischof besser als jeder andere und wusste, dass er nie zitterte. Ich starrte in den Kamin, wo der Brief zu Asche zerfiel, und ballte die Fäuste. Falls eine Hexe mit Célie dasselbe vorhatte wie mit Filippa, würde ich sie in tausend Stücke reißen, und wenn ich mit ihr fertig wäre, würde sie um den Scheiterhaufen betteln.

Als würde er meinen Blick spüren, drehte sich der Erzbischof um und sah mich an. »Stellt einen Trupp zusammen, Hauptmann Diggory.« Seine Stimme war wieder ruhig und fest. Er warf einen letzten Blick zum Kamin, und sein Gesicht verhärtete sich. »Ich schenke der Behauptung dieser Frau zwar keinen Glauben, aber dennoch sind wir an unser Gelübde gebunden. Seht Euch in dem Viertel um, und wenn Ihr zurück seid, meldet Euch umgehend bei mir.«

Ich legte die Faust auf mein Herz, verbeugte mich und war schon auf dem Weg zur Tür, da hielt er mich noch einmal am Arm zurück. Jetzt zitterte er nicht mehr. »Sollte im Westend tatsächlich eine Hexe ihr Unwesen treiben, so will ich sie lebend haben.«

Ich nickte und verbeugte mich noch einmal, voll grimmiger Entschlossenheit. Um weiterzuleben, brauchte eine Hexe ja nicht alle ihre Gliedmaßen, ja, nicht einmal ihren Kopf. Hexen konnten immer wiederbelebt werden – bis sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Ich würde die Vorgaben des Erzbischofs peinlich genau befolgen. Und um die Pein des Erzbischofs zu lindern, würde ich ihm nicht nur eine Hexe lebend bringen, sondern drei: Eine für ihn. Eine für Célie. Und eine für mich.

»Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«

DER DIEBSTAHL

Lou

Im Soleil et Lune schlüpften wir eilig in unsere Kostüme. Der Dachboden des Theaters, unser sicherer Hafen und Lieblingsplatz, bot einen unerschöpflichen Fundus an Verkleidungen – Mäntel, Perücken, Schuhe und sogar Unterwäsche jeder Größe, Form und Farbe. An diesem Abend schlenderten Bas und ich, gekleidet in prächtige Gewänder, wie sie nur Adelige trugen, wie ein Liebespaar durch den Mondschein, gefolgt von Coco, die sozusagen die Nachhut bildete.

Ich schmiegte mich an ihn und warf ihm einen bewundernden Blick zu. »Ich bin dir so dankbar, dass du uns hilfst.«

»Ach, Louey, du weißt doch, dass ich dieses Wort nicht mag. Hilfe, das hieße ja, ich wollte euch einen Gefallen tun.«

Ich verdrehte die Augen. »Gott bewahre, dass du mal was aus Herzensgüte tätest.«

»Güte? In meinem Herzen ist kein Platz für Güte.« Bas zwinkerte mir zu und zog mich näher an sich. Dann beugte er sich hinunter, und ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut, als er mir ins Ohr flüsterte: »Nur für Gold.«

Ach ja, richtig. Ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Seite und rückte von ihm ab. Nach den albtraumhaften Ereignissen während der Parade hatten wir den größten Teil des Nachmittags damit verbracht, einen Plan auszutüfteln, wie wir de Tremblays Sicherheitsmaßnahmen überwinden konnten. Wir hatten sie während eines kurzen Ausflugs zu seinem Stadtpalais ausgekundschaftet. Einer von Bas’ Cousins wohnte ganz in der Nähe, weshalb wir hoffen durften, dass unsere Anwesenheit keinen Verdacht erregt hatte.

Es war genauso, wie Bas es beschrieben hatte: ein umzäunter Rasenplatz, um den alle fünf Minuten eine Wache ihre Runde drehte. Weitere Wachen sowie eine Meute Bluthunde seien im Innern des Hauses postiert, erklärte er mir. De Tremblays Dienerschaft würde zu der Stunde, um die wir uns hineinschleichen wollten, zwar vermutlich schlafen, trotzdem waren sie eine zusätzliche Variable, die für unangenehme Überraschungen sorgen konnte. Schließlich mussten wir noch den Tresorraum selbst finden – was allein schon Tage dauern konnte. Und dabei hatten wir nur die wenigen Stunden, die de Tremblay auf dem Ball sein würde.

Ich schluckte, rückte nervös meine blonde, mit Pomade hochfrisierte Perücke zurecht und versuchte, das Samtband um meinen Hals etwas zu lockern. Coco spürte meine Angst und strich mir sanft über den Rücken. »Keine Panik, Lou. Alles wird gut. Die Bäume des Brindelle-Parks werden die Magie überdecken.«

Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln. »Stimmt. Ich weiß.«

Als wir in die Straße einbogen, an der de Tremblays Stadtpalais lag, und die spindelförmigen, durchscheinenden Bäume des Brindelle-Parks mit ihrem sanften Leuchten sahen, verstummten wir. Vor vielen Hundert Jahren hatten die Bäume meinen Vorfahrinnen als heiliger Hain gedient. Nachdem die Kirche ganz Belterra unter ihre Kontrolle gebracht hatte, hatte man versucht, den Hain niederzubrennen, war jedoch spektakulär gescheitert. Wie aus Rache waren die Bäume erneut gewachsen. Schon nach wenigen Tagen hatten sie das Land wieder überragt, und die Siedler waren gezwungen gewesen, ihre Häuser um sie herum zu errichten. Die Magie dieser Bäume vibrierte noch immer in dem Boden unter meinen Füßen – uralt, wie eh und je.

Coco seufzte und strich mir wieder über den Rücken. »Aber sei bitte ganz, ganz vorsichtig.«

Bas fuhr herum und blitzte sie an. »Wie bitte?«

Sie beachtete ihn nicht. »In de Tremblays Palais ist etwas … das wartet auf dich … was immer es sein mag. Der Ring vielleicht, vielleicht aber auch etwas anderes. Ich kann es nicht richtig sehen.«

»Was?« Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. »Was meinst du damit?«

»Ich sag doch, ich kann es nicht richtig sehen«, antwortete sie gequält. »Es ist alles so verschwommen und unklar, aber irgendetwas ist da, so viel ist sicher.« Sie hielt inne, legte den Kopf schief und betrachtete mich – oder eher etwas, das ich nicht sehen konnte. »Möglich, dass es bösartig ist, aber was immer es ist, ich glaube nicht, dass es dir schaden wird. Jedenfalls ist es ungeheuer mächtig.«

»Warum hast du mir das nicht eher gesagt?«

»Weil ich es nicht eher gesehen habe.«

»Mensch, Coco, den ganzen Tag haben wir uns wegen dieser Sache den Kopf zerbrochen, und jetzt kommst du und …«

»Ich mache die Regeln nicht, Lou«, fuhr sie auf. »Ich sehe nur, was dein Blut mir zeigt.«

Bevor wir aufgebrochen waren, hatte Coco darauf bestanden, uns beiden in den Finger zu stechen. Mir war es recht gewesen. Cocos Medium war nicht das Land wie bei mir und den anderen Dames Blanches. Ihre Zauberkraft kam von innen.

Aus dem Blut, um genau zu sein.

Bas fuhr sich nervös durchs Haar. »Vielleicht hätten wir heute lieber eine andere Bluthexe mitnehmen sollen. Babette zum Beispiel, die wäre wohl besser …«

»O ja, ganz bestimmt«, knurrte Coco.

»Babette kann man nicht über den Weg trauen«, fügte ich hinzu.

Er schien verwundert. »Aber ihr habt ihr doch in dieser gefährlichen Sache vertraut …«

»Nur, weil wir sie bezahlt haben«, schnaubte ich.

»Außerdem schuldet sie mir etwas.« Genervt raffte Coco ihren Umhang fester, um sich gegen die frische Herbstbrise zu schützen. »Ich habe ihr damals, als sie den Zirkel der Bluthexen verlassen hat, geholfen, sich in Cesarine einzuleben. Aber das ist über ein Jahr her. Ich würde ihre Loyalität lieber nicht auf die Probe stellen.«

Bas setzte ein Lächeln auf und nickte einem Paar, das uns auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegenkam, freundlich zu. Zu uns gewandt knurrte er: »Ich schlage vor, wir vertagen dieses Gespräch auf später. Ich ziehe es vor, heute Nacht nicht am Spieß geröstet zu werden.«

»Du würdest nicht geröstet«, murmelte ich, während wir weitergingen. »Du bist ja keine Hexe.«

»Nein«, musste er zugeben, »obwohl es nützlich wäre. Ich fand es schon immer unfair, dass ihr Frauen den ganzen Spaß allein haben sollt.«

Coco kickte gegen einen Kieselstein in seine Richtung. »Verfolgt zu werden macht wirklich einen Heidenspaß«, brummte sie.

Bas wandte sich zu ihr um und nuckelte an der Spitze seines Zeigefingers, wo sie ihre Nadel angesetzt hatte. »Immer schön das Opfer sein, nicht wahr, mein Schatz?«

Ich stieß ihn wieder mit dem Ellbogen an. »Sei still, Bas.«

Als er seinen Mund öffnete, um sich zu beschweren, schenkte Coco ihm ein katzenhaftes Lächeln. »Pass auf. Ich hab immer noch dein Blut in meinem Körper.«

Er sah sie empört an. »Weil du mich dazu gezwungen hast!«

Coco zuckte mit den Achseln. »Na ja«, sagte sie ungerührt, »ich musste doch wissen, ob dir heute Abend etwas Interessantes passiert.«

»Und?« Bas starrte sie erwartungsvoll an. »Wird es das?«

»Willst du das wirklich wissen?«

»Ich fasse es nicht! Warum hätte ich dir sonst erlauben sollen, mein Blut zu saugen, wenn du mir jetzt nicht sa…«

»Das hab ich dir doch schon erklärt.« Sie verdrehte die Augen und untersuchte betont gelangweilt eine Narbe an ihrem Handgelenk. »Ich sehe nur Ausschnitte, und die Zukunft verändert sich ständig. Wahrsagen ist eigentlich nicht meine Stärke. Meine Tante, ja, die kann mit einmal Schmecken zigtausend Möglichkeiten sehen …«

»Faszinierend. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dieses nette kleine Gespräch genieße, aber ehrlich gesagt kann ich darauf verzichten, im Detail zu erfahren, wie man aus Blut die Zukunft voraussagt. Das dürfte dir doch einleuchten, oder?«

»Eben hast du noch behauptet, es wäre nützlich, eine Hexe zu sein«, betonte ich.

»Weil ich ein Kavalier bin!«

»Also bitte«, schnaubte Coco. Sie kickte einen weiteren Kieselstein in seine Richtung und grinste zufrieden, als der ihn voll gegen die Brust traf. »Du magst alles Mögliche sein, aber ein Kavalier bist du wirklich nicht.«

Als wir lachten, sah er uns mit finsterer Miene an. »Das ist also der Lohn dafür, dass ich hier mitmache. Vielleicht wär’s besser, wenn ich ins Haus meines Cousins zurückkehre.«

»Ach, halt die Klappe, Bas.« Ich zwickte ihn in den Arm, woraufhin er mich mit einem bösen Blick bedachte. Ich streckte ihm nur die Zunge raus. »Du hast versprochen, uns zu helfen, und für dich lohnt es sich ja auch. Außerdem hat sie doch nur einen Tropfen von deinem Blut. Der ist bald aus ihrem Körper raus.«

»Das will ich auch schwer hoffen, sonst …«

Als Reaktion auf diese pampige Antwort schnippte Coco mit dem Finger, woraufhin Bas anfing, sich zu schütteln, als hätte seine Hose Feuer gefangen. »Coco! Das ist nicht lustig!«, fluchte er.

Mich brachte es dennoch zum Lachen.

Zum Glück hatten wir de Tremblays Stadtpalais erreicht. Erbaut aus hellem, hübsch anzusehendem Stein, übertraf es in all seiner Opulenz selbst die prachtvollen Nachbargebäude, obwohl es insgesamt einen eher vernachlässigten Eindruck machte. Kletterpflanzen wucherten über den Sockel, und der Wind trieb totes Laub über die eingezäunte Rasenfläche. Vertrocknete Hortensien und Rosen stachen aus den Blumenbeeten hervor, die von einem exotischen Orangenbaum gekrönt wurden.

Ob Filippa Orangen gemocht hat?

»Hast du das Beruhigungsmittel?«, fragte Bas leise. Coco nickte und zog ein Tütchen aus ihrem Umhang hervor. »Gut. Bist du bereit, Lou?«

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