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Frisch geküsst, ist halb gewonnen

hier erhältlich:

Deutsche Ein klarer Fall von Stockholm-Syndrom! Anders kann Izzy sich nicht erklären, wieso der umwerfende Nick darauf besteht, sie zu lieben. Schließlich hat er sie entführt und ohne ihre Zustimmung auf seine Ranch verschleppt. Hier soll sie sich von der Explosion erholen, bei der sie beinahe komplett erblindet ist - und endlich zustimmen, sich der notwendigen Operation zu unterziehen, die ihr das Augenlicht wiedergeben kann. Doch Izzy hat zum ersten Mal in ihrem Leben Angst. Davor, dass die Operation schief geht und sie nie wieder sehen kann. Und davor, das größte Abenteuer ihres Lebens zu wagen … einen Mann aus ganzem Herzen zu lieben.


  • Erscheinungstag: 24.04.2019
  • Aus der Serie: Titan Serie
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750850
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Im Film gibt es immer eine Warnung, bevor etwas Schlimmes passiert. Die Musik schwillt an, der Held verspricht, dass jetzt alles gut wird, oder die Handlung läuft plötzlich in Zeitlupe.

Das Leben ist nicht so vorhersehbar.

Izzy saß am Fenster, wie jeden Tag im vergangenen Monat, starrte hinaus in eine verschwommene Welt und tat sich selber leid. Und auch wenn das sicher keine Karriere war, die jemand freiwillig anstreben würde, füllte es doch ihre Tage. Sie ignorierte die Bitten ihrer Schwestern, sie zum Lunch zu begleiten oder mit ihnen einkaufen zu gehen. Sie kam nicht einmal zum Abendessen nach unten wie ein normaler Mensch. Wenn sie sie zu sehr bedrängten, wies sie darauf hin, dass sie nicht mehr normal war – sie war behindert. Und wenn das auch nicht funktionierte, schmiss sie die Tür hinter sich zu und schloss ab, bis sie hörte, dass die anderen gegangen waren. Sie hatte ihr ganzes Leben lang alles gegeben, was sie hatte, und so war es jetzt nur ihr gutes Recht, die Königin des Selbstmitleids zu sein, wenn ihr danach war.

Irgendwann hörten ihre Schwestern auf, sie zu nerven. Was für sie schon ein Hinweis hätte sein müssen.

Es gab keine Warnung. In der einen Minute saß sie auf ihrem üblichen Platz, in der nächsten packte jemand sie um die Hüfte, zog sie auf die Füße und warf sie dann über seine sehr breite, sehr muskulöse Schulter.

„Was zum Teufel machen Sie da?“, schrie sie, als ihr das Blut in den Kopf schoss und sie schwindlig werden ließ.

„Meinen Job. Mach nur weiter, wehr dich ruhig. Du kannst mir nicht wehtun.“

Das war eine Herausforderung, die sie nicht auf sich sitzen lassen konnte. Aber als sie versuchte, ihren Angreifer zu treten, schlang er einfach einen Arm um ihre Beine und hielt sie fest. Zappeln half ihr auch nicht weiter. Der Mann hatte steinharte Muskeln, und der Monat, in dem sie sich unbewegt ihrem Selbstmitleid ergeben hatte, hatte sie mädchenhaft schwach gemacht.

„Ich schwöre …“, fing sie an, als der Kerl sich umdrehte und auf die Tür zuging. „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“

„Izzy Titan. Hey, Skye.“

Hey, Skye?

Izzy hob den Kopf und versuchte, den Raum scharf zu stellen, aber es war dunkel und verschwommen, und so konnte sie keine Details erkennen.

„Skye?“, rief sie. „Bist du da?“

„Oh, Izzy.“ Ihre Schwester klang besorgt, aber nicht beunruhigt. Nicht ängstlich. „Wir wussten uns nicht mehr anders zu helfen.“

„Wir?“

„Ich bin auch hier“, sagte Lexi, ihre andere Schwester. „Das ist nur zu deinem Besten.“

„Was, dass ich entführt werde?“

„Nick hat die besten Empfehlungen. Du hast uns erzählt, dass die Ärzte dich auf Antidepressiva setzen wollten, was du aber abgelehnt hast. Und du hattest recht, das hier ist viel besser.“

„Was?“

„Du hast dein Zimmer nicht verlassen und wolltest nicht mit uns reden. Es ist jetzt einen Monat her, Izzy.“

„Ihr lasst mich kidnappen, weil ich nicht mit euch einkaufen gehen wollte? Seid ihr verrückt geworden?“

Sie waren inzwischen im Flur angekommen. Das erkannte sie daran, dass es dunkler wurde und ihre Finger die Wände streiften. Dann stiegen sie immer weiter hinunter in eine immer dunklere Finsternis.

Jeder Schritt fuhr ihr durch den gesamten Körper. Wenn sie das Mittagessen gegessen hätte, worauf ihre Schwestern so scharf gewesen waren, würde sie sich jetzt hier auf der Stelle übergeben.

„Ich mache keine Witze“, rief sie. „Hört sofort damit auf. Alle. Nick, es ist mir egal, was meine Schwestern sagen. Ich hab dem hier nicht zugestimmt. Lassen Sie mich runter oder ich schwöre, dass ich Ihren Hintern so lange ins Gefängnis bringe, dass Sie irgendwann sogar Gefallen daran finden, Bubbas Lustsklave zu sein.“

„Du hast eine Zustimmungserklärung unterschrieben. Ich hab sie hier in der Hosentasche.“

Bei der Erinnerung daran, wie Skye sie gebeten hatte, ein paar Schecks zu unterschreiben, um damit Izzys Rechnungen zu bezahlen, hätte Izzy vor Frust am liebsten aufgeschrien. „Sie hat mich ausgetrickst. Ich bin blind! Ich habe nicht gesehen, was ich da unterschrieben habe.“

Sie gingen nach draußen. Undeutlich erkannte sie die Umrisse der Bäume und spürte das willkommene Licht und die Wärme der Sonne.

„Tja, man sollte halt nichts unterschreiben, was man nicht lesen kann“, erwiderte Nick.

Sie konnte die Belustigung in seiner Stimme hören, und das machte sie wirklich wütend. Sekunden später öffnete er eine Autotür und setzte sie auf einem weichen Ledersitz ab. Bevor er die Tür schließen konnte, drängte sie sich an ihm vorbei und rannte in Richtung Freiheit. Sie hatte genau drei Schritte gemacht, bevor er sie wieder um die Taille packte und an sich zog.

Es war, als würde man gegen eine Bergflanke gedrückt. Sie trat um sich und versuchte, ihren Arm freizubekommen. Ihre anfängliche Irritation wandelte sich in Wut und das Gefühl, betrogen worden zu sein. Sie wandte sich dem Haus zu – wenigstens konnte sie noch Objekte dieser Größe erkennen –, weil sie annahm, ihre Schwestern würden auf der vorderen Veranda stehen.

„Wie konntet ihr mir das antun?“, rief sie in die Richtung. „Ihr seid meine Familie!“

„Izzy, wir lieben dich.“ Sie hörte die Tränen in Skyes Stimme.

Gut, dachte Izzy wütend. Sie hoffte, dass Skye für den Rest ihres Lebens von Schuldgefühlen geplagt würde.

„Wir wussten nicht, was wir sonst noch hätten tun können“, rief Lexi mit ungewohnt unsicherer Stimme.

„Ich hätte euch so etwas nie angetan“, schrie Izzy. „Glaubt ja nicht, dass ich euch das jemals vergeben werde. Niemals!“

Das letzte Wort wurde ihr abgeschnitten, weil sie wieder auf den Rücksitz des Autos geschoben wurde. Die Tür fiel ins Schloss, bevor sie einen erneuten Fluchtversuch starten konnte. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus, aber da war keiner. Sie konnte auch die Fenster nicht öffnen.

Sekunden später ertastete sie ein eng geflochtenes Stoffgitter zwischen sich und dem Vordersitz und wusste, dass sie in der Falle saß.

Sie hörte, wie eine andere Tür geöffnet wurde, und sah schemenhaft, dass Nick sich hinter das Lenkrad setzte. Dann fuhren sie los.

Ihre Schwestern hatten einen Fremden angeheuert, um sie aus ihrem Haus zu entführen und wer weiß was mit ihr anzustellen. Sie hatten sie im Stich gelassen. Nein, das hier war schlimmer – jemanden im Stich zu lassen hatte etwas Passives, aber das hier war auf ihre Veranlassung hin geschehen. Die beiden Menschen, auf die sie ihr gesamtes Leben gezählt hatte, hatten entschieden, dass sie zu viel Arbeit bedeutete, und sie wie Sperrmüll abholen lassen.

In den nächsten drei Stunden fuhr Nick Hollister zehn Meilen schneller als erlaubt. Er wäre gerne noch schneller gefahren, aber er wusste, dass er dem Unvermeidlichen nicht entfliehen konnte. Seine hübsche dunkelhaarige Passagierin starrte mit einer Entschlossenheit aus dem Fenster, die ihm sagte, dass sie kurz davor stand, die Fassung zu verlieren.

„Du kannst ruhig weinen, wenn du willst“, sagte er. „Das stört mich nicht.“ Er hatte schon viel Schlimmeres als Tränen gesehen.

Izzy rührte sich nicht. „Die Befriedigung werde ich dir nicht gönnen.“

„Du glaubst, ich hätte gewonnen, wenn du weinst?“

„Ich dachte, Leute, die andere schikanieren, ziehen ihre größte Befriedigung daraus, zu sehen, dass sie jemandem wehgetan haben. Du hast nicht gewonnen. Du kannst mich nicht brechen.“

Während sie sprach, hob sie ihr Kinn in unbewusster Abwehr. Gut, dachte er grimmig. Sie würde jedes bisschen Kraft brauchen, wenn sie den Weg zurück finden wollte. Und sein Job war es, sicherzustellen, dass sie dabei erfolgreich war.

„Dich brechen?“, fragte er und ignorierte, dass sie ihm vorgeworfen hatte, andere Menschen zu schikanieren. Er war in ihr Leben gestürmt und hatte sie allem entrissen, was sie kannte. Das war nicht gerade eine angenehme Situation. Er verstand ihre Angst vor dem Unbekannten, auch wenn ihr Unbekanntes ein ganzes Stück kontrollierter war als seines damals. „Ziemlich dramatisch, oder?“

„Hey, du bist derjenige, der mich auf den Rücksitz eines Autos geworfen hat.“

„Eines SUV.“

„Was auch immer. Das nennt man Entführung. Also kann ich mich benehmen, wie ich will.“

„Deine Schwestern wissen, wo du hinfährst und was dich dort erwartet.“

„Und aus welchem Grund genau sollte das beruhigend für mich sein?“ Sie schluckte. „Lass mich einfach in Ruhe.“

Er hörte die Angst in ihrer Stimme. Er sah sie in ihrer angespannten Haltung. Hinter der Angst lag die reine Panik, und auch wenn er ihre Aufmerksamkeit haben wollte, brauchte er sie nicht so dringend.

„Ich heiße Nick Hollister“, sagte er in dem gleichen ruhigen Ton, mit dem man ungezähmte Pferde beruhigte. „Ich leite eine Schule, die Überlebenstrainings für Firmen anbietet. Das bringt genug ein, um die Rechnungen zu bezahlen. Außerdem nehme ich Kinder auf, die traumatische Verluste erlitten haben oder Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Ich bringe ihnen bei, wie man in meiner Welt überlebt. Das hilft ihnen, sich wieder in ihrer eigenen Welt zurechtzufinden.“

Izzy starrte aus dem Fenster und schien ihn offensichtlich zu ignorieren. Er fragte sich, wie viel sie wirklich sehen konnte.

„Deine Schwestern haben mich gebeten, dich für ein paar Wochen bei mir aufzunehmen und dir zu helfen, dich an das Blindsein zu gewöhnen.“

„Ich bin nicht blind“, gab sie scharf zurück. „Ich habe noch dreißig Prozent Sehkraft.“

„Du benimmst dich aber so, als seist du blind“, sagte er. „Du hast dich einen Monat lang in deinem Zimmer versteckt.“

„Es ist ja nicht so, als hätte ich etwas anderes tun können.“

„Du meinst, dein Leben sei vorbei? Wegen einer kleinen Herausforderung? Das ist beeindruckend.“

„Halt den Mund“, schrie sie. „Du weißt ja nicht, wovon du da redest. Du kannst sehen.“

„Wäre es nicht interessant, wenn ich es nicht könnte?“ Er scherte ein wenig seitlich aus, das Auto schwankte leicht. Izzy schaute trotzdem nicht auf.

„Sehr lustig.“

„Fand ich auch“, gab er zurück. „Sieh mal. Sie machen sich Sorgen um dich. Deine Schwestern, meine ich“, fügte er hinzu, für den Fall, dass sie ihm nicht folgen konnte.

Dieses Mal schaute sie ihn an, aber nur, um die Augen zu verdrehen. Ihre haselnussfarbenen Iriden waren von ihrer Verletzung verschont geblieben. „Ich bin durchaus in der Lage, einer Unterhaltung zu folgen. Ich bin aller Wahrscheinlichkeit nach sogar klüger als du.“

„Das bezweifle ich.“

„Ach, bitte.“

„Wie klug ist es denn wohl, auf seinem Hintern zu sitzen und sich selbst zu bemitleiden?“

Sie straffte die Schultern und starrte ihn wütend an. „Ich habe eine Explosion überlebt“, sagte sie ganz langsam, wie um sicherzustellen, dass er sie verstand. „Ich hätte getötet werden können.“

„Bist du aber nicht.“

„Ich war ernsthaft verletzt und habe einen Großteil meiner Sehkraft eingebüßt.“

„Die du schon morgen zurückbekommen könntest, wenn du dich wegen der Operation nicht so mädchenhaft anstellen würdest.“

Er warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie sie die Augen verengte.

„Mädchenhaft?“, fragte sie leise.

„Ja. Du weißt schon. Angsthase. Bisschen zu kurz gekommen, als der Mut verteilt wurde.“

„Das reicht!“, schrie sie. „Lass mich raus. Lass mich sofort raus oder ich schwöre, ich werde dich eigenhändig umbringen. Ich reiße dich mit meinen bloßen Händen in Stücke und verfüttere deine Überreste an die Schlangen.“

„Schlangen essen kein menschliches Fleisch.“

„Halt den Mund.“

„Skye hat gar nicht erwähnt, dass du so hysterisch bist.“

„Lass mich raus.“

„Nein.“

Sie krallte ihre Finger in das Gitternetz und rüttelte daran, aber es hatte schon ganz anderen Sachen als einer dünnen Frau ohne Muskeln widerstanden.

„Sie hat mich allerdings gewarnt, dass du schwierig bist“, sagte er. „Dafür habe ich einen Aufschlag genommen.“

Izzy ließ sich in den Sitz zurücksinken und fuhr fort, wieder aus dem Fenster zu starren.

„Wenn du dich nicht operieren lassen willst, wirst du mit dem leben müssen, was du hast“, sagte er. „Und an der Stelle trete ich auf den Plan. Ich werde dir beibringen, wie das geht. Du bleibst bei mir, bis du wieder auf eigenen Füßen stehen kannst.“

„Und was, wenn ich gar nicht auf eigenen Füßen stehen will?“

„Du meinst, deine Schwestern haben Lust, sich den ganzen Tag um dich zu kümmern? Sie haben ihr eigenes Leben. Du bist was? Fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig? Und so schnell bereit aufzugeben?“

„Fahr zur Hölle.“

„Da war ich schon.“

Er bog auf die vertraute, asphaltierte Privatstraße ein und fuhr auf das zweistöckige Haupthaus zu. Er hatte die heruntergekommene Ranch vor knapp acht Jahren gekauft. Die Farmer der umliegenden Ranches mieteten seine Weiden für ihr Vieh, und er nutzte acht Hektar der Wildnis für seine Kurse. In dem großen Stall stand ein Dutzend Pferde, und auf dem Gelände verteilt fanden sich mehrere Gästehäuser, die er für seine Klienten gebaut hatte. Außerdem gab es einen Gemeinschaftsraum, eine Küche, die jedem Restaurant zur Ehre gereicht hätte und bis zu fünfzig Personen verköstigen konnte, und einen großen Medienraum, der es mit jedem Multiplexkino aufnehmen konnte.

Izzy würde sich allerdings meistens mit dem Stall beschäftigen. Er hatte vor, sie so mit Arbeit in Beschlag zu nehmen, dass sie keine Zeit hatte, sich ihrem Selbstmitleid hinzugeben. Das wenige, was er über sie wusste, verriet ihm, dass sie sich auf jedem Schritt des Weges gegen ihn wehren würde, aber das machte ihm nichts aus. Er würde am Ende gewinnen, wie sie es ausgedrückt hatte, weil er es einfach musste.

Er parkte vor dem Haus und stellte den Motor ab.

„Wir sind da“, sagte er in die plötzliche Stille.

Izzy verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster.

„Wenn ich dich jetzt rauslasse, kannst du meinetwegen weglaufen. Wir sind ungefähr eine Meile von unserem nächsten Nachbarn entfernt und zehn Meilen von der nächsten Stadt. Die Temperatur beträgt knapp achtunddreißig Grad. Ohne Wasser kannst du vielleicht drei Tage überleben. Natürlich nur, wenn du nicht von einer Klapperschlange gebissen wirst und früher stirbst.“

„Ohhh“, sagte Izzy und sah ihn immer noch nicht an. „Ich mach mir vor Angst gleich in die Hose. Willst du mir als Nächstes mit Peitschen und Ketten drohen?“

„Normalerweise arbeite ich nicht mit Erwachsenen, aber für dich habe ich eine Ausnahme gemacht. Glaub nicht, dass es einfach wird. Du wirst für Unterkunft und Verpflegung arbeiten. Keine Arbeit, kein Essen.“

Ihr Kopf schoss herum, und sie schaute ihm direkt ins Gesicht. „Meine Schwestern bezahlen dich. Du kannst mich nicht verhungern lassen.“

Er grinste. „Ich kann alles machen, was ich will. Ich bin nicht derjenige, der blind ist.“

„Leck mich.“

„Danke, aber du bist nicht mein Typ.“

Wenn nicht das Netz zwischen ihnen gewesen wäre, wäre Izzy über den Sitz geklettert und hätte Nick gezeigt, was für ein Typ sie war. Er war so selbstgefällig und gemein und respektlos. Wusste er denn nicht, was sie durchgemacht hatte? Sie hatte fast ihr ganzes Augenlicht verloren. Es war einfach, so selbstbewusst zu sein, wenn man nicht selber gelitten hatte. Sie wettete, dass Nick nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie es war, Angst zu haben.

Sie hasste ihn, und in diesem Augenblick hasste sie auch ihre Schwestern. Es war schwer zu sagen, wen sie mehr verabscheute. Die Wut brannte in ihr, weckte in ihr den Wunsch, um sich zu schlagen. Das Problem war, es gab hier niemanden, mit dem sie es hätte aufnehmen können. Zumindest noch nicht.

Nick stieg aus und kam zu ihrer Seite herum. Die Tür öffnete sich. Sie spürte die Hitze der Nachmittagssonne auf ihrer Haut.

Sie wollte wieder in Lexis Haus sein, in dem kühlen Zimmer mit dem Fenstersitz. Im letzten Monat waren die vier Wände ihr Refugium gewesen. Aber ihre Schwestern hatten sie fortgeschickt. Sie war nun ganz auf sich allein gestellt.

Sie rutschte vom Sitz und folgte Nick in das große Haus. In der Sekunde, in der sie es betrat, verdunkelte sich das Licht und somit auch ihre Fähigkeit, zu sehen. Die Welt versank in Dunkelheit, bis sie kaum mehr als verschwommene Schatten sehen konnte.

„Das hier ist das Haupthaus“, erklärte er. „Du wirst oben schlafen, erste Tür auf der linken Seite. Direkt angrenzend ist dein Badezimmer. Dein Gepäck ist schon oben. Du kannst später auspacken. Das hier ist das Wohnzimmer. Wir benutzen es nicht oft. Und hier durch geht es in die Küche.“

An seiner Stimme merkte sie, dass er sich von ihr fortbewegte, aber sie konnte ihn nicht sehen. Sie schaffte es trotzdem, ihm zu folgen, zumindest, bis sie gegen einen Tisch stieß und dann über einen Absatz stolperte, den er vergessen hatte zu erwähnen. Sie versuchte, nicht zu fallen, aber zu spät. Der Boden raste auf sie zu.

Ein inzwischen vertrauter starker Arm packte sie um die Taille und zog sie auf die Füße.

„Vielleicht solltest du einen Stock benutzen“, schlug er vor.

„Vielleicht solltest du mich vor Stufen warnen“, gab sie zurück.

„Du wirst dich schon dran gewöhnen.“

„Das ist alles?“, fragte sie. „Lass uns einen Moment innehalten, denn deine unglaubliche Sorge um mich treibt mir die Tränen in die Augen. Ich bin gefallen.

„Ich weiß. Na und? Du wirst noch öfter hinfallen. Dann stehst du wieder auf und machst weiter. Oder bist du der Typ, der liegen bleibt und sich bemitleidet? Ach, egal, ich kenne die Antwort schon.“

Sie wollte ihm sagen, dass sie nicht so war. Sie war diejenige, die auf Berge kletterte und aus Flugzeugen sprang und mit Haien schwamm. Sie glaubte nicht an Selbstmitleid oder Aufgeben. Zumindest hatte sie das bis zu der Explosion nicht getan.

„Du verstehst das nicht“, sagte sie ihm.

„Bist du sicher?“

Sie hörte Schritte, konnte aber nicht sagen, aus welcher Richtung. Wer war noch hier, und was würde er oder sie von ihr wollen?

„Oh, du bist wieder da. Gut. Ich habe einige Papiere, die du unterschreiben musst, Nick. Und du musst Izzy sein. Ich habe so viel Gutes über dich gehört.“

Der Mann griff nach ihrer Hand und schüttelte sie. Seine Finger waren beinahe so weich wie die von Skye oder Lexi.

„Wir werden viel Spaß zusammen haben. Du weißt, dass du gleich hier im Haus wohnst, oder? Oben, im ersten Stock. Ich habe höchstpersönlich das Zimmer für dich ausgesucht. Es hat ein großartiges Licht. Macht Nick gerade die große Führung mit dir? Ist die Küche nicht einfach fantastisch? Ich schwöre, Norma, unsere Köchin-Schrägstrich-Haushälterin, wird mich mit ihren Biskuits noch mal umbringen. Ich kann ihnen einfach nicht widerstehen, aber ich weigere mich, meine Jeans noch enger werden zu lassen. Ich liebe deine Haare. Sind das Naturlocken? Sie sind wunderschön. Findest du nicht auch, Nick?“

„Umwerfend.“ Nick klang eher resigniert als ungeduldig, als er sprach.

Izzy wandte sich dem enthusiastischen neuen Typen zu. „Wer bist du?“

Der Mann lachte. „Ich Dummerchen. Dabei sind Vorstellungen doch so wichtig. Ich bin Aaron. Aaron Levine. Mit zwei A. Ich arbeite für Nick.“ Er hakte sie unter und führte sie in die Küche.

„Ich bin sein Manager. Ich kümmere mich um die Buchungen für die Firmen und habe von A bis Z ein Auge auf die Durchführung der Veranstaltungen. Ich stelle sicher, dass hier am Hollister Institute alles wie am Schnürchen klappt. Um die Kinder kümmert Nick sich alleine. Der Mann ist fanatisch, wenn es darum geht, den armen Kindern zu helfen. Er ist wirklich sehr süß.“

Aaron tätschelte ihre Hand. „Okay – zu deiner Rechten befindet sich der Kühlschrank, aber ich würde da an deiner Stelle nicht rangehen. Norma ist ein wenig eigen, wenn es um ihre Vorräte geht. In der Stiefelkammer gibt es noch einen zweiten Kühlschrank mit Getränken und Snacks. Den zeige ich dir nachher auch noch. In der Ecke steht ein Tisch. Kannst du ihn sehen? Da gibt es ausreichend Licht. Norma klingelt mit einer Glocke, wenn es Zeit fürs Essen ist, und wir alle kommen angerannt wie hungrige Hunde.“ Er kicherte. „Ist Texas nicht einfach großartig? Wo sonst kommt man als Mann damit durch, Schlangenlederstiefel und riesige Gürtelschnallen zu tragen? Und du weißt ja, was man über die Größe der Gürtelschnalle eines Mannes sagt.“

Izzy war mehr als verwirrt. Sie fühlte sich verloren und unsicher. In dem Licht, das durch die Fenster fiel, konnte sie tatsächlich die Umrisse eines Tisches und der vermutlich darum herumstehenden Stühle sehen. Aber wer war Aaron? Wie war der Macho Nick an einen so charmanten, lustigen und offensichtlich schwulen Manager geraten? Außer, Nick war auch …

Sie warf einen Blick in die Richtung, wo er zuletzt gestanden hatte.

„Nein“, hörte sie eine leise Stimme an ihrem Ohr.

„Nein was?“, fragte sie.

„Ich weiß, was du denkst, und die Antwort ist nein.“

Aaron stieß sie mit der Schulter an. „Du willst wissen, ob Nick schwul ist? So viel Glück habe ich leider nicht. Er hat Freundinnen, die er in der Stadt besucht. Alles sehr John-Wayne-ig. Er reitet in die Stadt, verführt die Lehrerin und reitet wieder fort, um sich einem neuen Tag zu stellen.“

Izzy fuhr sich über die Stirn. „An den Film kann ich mich nicht erinnern.“

„Du weißt, was ich meine. Hier ist übrigens die Stiefelkammer.“ Aaron drückte ihre Hand gegen etwas, das sich wie ein Kühlschrank anfühlte. „Er ist voll mit Wasser, Cola und so weiter. Bring bloß keinen Schmutz ins Haus oder Norma wird dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen. Und ich mache keine Witze. Ich glaube, sie sammelt heimlich Messer.“

„Aaron?“

„Ja, Nick?“

„Ich werde den Rest der Führung für Izzy übernehmen.“

Aaron versteifte sich merklich. „Ich mache das gerne.“

„Ich weiß, aber trotzdem.“

„Izzy ist neu. Sie ist nervös.“

„Und sie steht direkt neben euch“, grummelte Izzy, die es zu schätzen wusste, dass Aaron ihr helfen wollte, aber es hasste, dass sie über sie sprachen, als wäre sie eine Zimmerpflanze.

Nick sagte nichts. Vielleicht gab er Aaron irgendwelche Handzeichen oder starrte ihn einfach nur an. Sie würde es nie erfahren. Sekunden später ließ Aaron jedoch ihren Arm los und trat einen Schritt beiseite.

„Na gut“, sagte er mit einem Seufzen. „Izzy, was auch immer Nick sagt, eigentlich meint er, dass er froh ist, dich hier zu haben und dich sehr hübsch findet.“ Er beugte sich zu ihr und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Wir sprechen uns später.“

Dann war er weg.

„Komm mit“, sagte Nick und ging voraus.

Izzy wollte erneut darauf hinweisen, dass sie blind war, aber dann fiel ihr auf, dass sie seine Stiefel auf dem Holzfußboden hören konnte. Sie eilte ihm hinterher, stieß sich dabei die Hüfte an einer Ecke der Arbeitsplatte und stolperte über die Schwelle einer Tür.

Sie gingen nach draußen. Sie bemerkte das hellere Licht und die intensive Hitze.

„Du wirst im Stall arbeiten“, teilte Nick ihr mit. Sein dunkler Schatten bewegte sich vor ihr. „Der ist Ritas Reich. Tu einfach, was sie dir sagt. Wir haben zwölf Pferde, um die sich gekümmert werden muss. Ställe ausmisten, füttern, striegeln. Das sollte dich ausreichend beschäftigt halten. Wenn du dich ein wenig an deine neue Umgebung gewöhnt hast, kannst du anfangen, sie im Korral zu trainieren. In ein paar Wochen haben wir hier eine Firmenveranstaltung. Wenn so was ist, helfen wir alle mit, inklusive dir.“

Sie wartete, bis sie im Schatten waren, dann blieb sie stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß nicht, was du glaubst, wer du bist, aber du wirst mir nicht sagen, was ich zu tun habe. Das Einzige, was du tun wirst, ist, mich zu meinen Schwestern zurückzufahren, und zwar sofort.“

„Zu dumm, dass du blind bist, denn wenn du es nicht wärst, könnte dir ein einziger Blick in mein Gesicht verraten, dass das nicht passieren wird. Ich muss dich also offensichtlich mit meinen Worten überzeugen.“ Er trat einen Schritt auf sie zu. „Nein. War das klar genug?“

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und fing an, auf den dunklen Schatten vor sich einzuschlagen. „Das ist nicht klar. Gar nichts ist klar“, rief sie. „Verstehst du das nicht? Nichts ist richtig. Ich kann es nicht wegmachen. Es reicht mir. Mein Leben ist ruiniert, und du willst mit mir über Pferde sprechen? Über deine dumme Ranch? Ich will nach Hause. Ich will, dass ihr mich alle in Ruhe lasst.“

Sie schlug und schlug, bis ihre Arme müde wurden. Nick machte sich nicht die Mühe, sich zu verteidigen. Sehr wahrscheinlich, weil sie ihm nicht wehtat. Schließlich ließ sie ihre Arme sinken.

„Bist du fertig?“, fragte er. „Oder kommt noch mehr? Willst du jetzt vielleicht weinen?“

In diesem Moment hasste sie ihn. Hasste ihn mehr, als sie jemals irgendein menschliches Wesen gehasst hatte.

„Ich werde einen Weg finden, dich fertigzumachen“, schwor sie.

„Dazu musst du mich erst mal finden. Aber das ist ja der Trick, nicht wahr? Du kannst gar nichts finden. Zumindest nicht so lange, wie du die Operation nicht machen lässt.“

„Hör endlich mit dieser verdammten OP auf“, rief sie. „Haben sie dir gesagt, dass es keine todsichere Sache ist? Dass ich vielleicht komplett erblinden könnte?“

„Ja, aber die Chancen stehen gut, dass das nicht passiert. Es würde sich lohnen, das Risiko einzugehen.“

„Ja, du hast leicht reden. Du hast ja nichts zu verlieren.“

„Wie du meinst. Der Stall ist übrigens hier entlang.“

Er ging einfach los. Als wenn er erwartete, dass sie ihm folgen würde. Als wenn ihre Schmerzen und ihr Leid vollkommen egal wären.

„Ich bin für dich noch nicht einmal ein Mensch, oder?“, fragte sie erschöpft und besiegt.

„Du bist ein Mensch. Wenn auch im Moment ein etwas schwieriger. Rita wird dir morgen früh alles zeigen. Für heute kannst du einfach eines der Pferde putzen. Skye sagte, dass du dein ganzes Leben mit Pferden verbracht hast, also weißt du, was du tust.“

Sie waren in der Nähe des Stalls. Izzy sah die gähnende Dunkelheit und wollte nicht hineingehen. Es war zu schwarz darin. Zu beängstigend.

„Ich will das nicht“, murmelte sie.

„Zu dumm.“

Vielleicht war das alles nur ein Trick, um sie zu brechen, damit er sie ganz neu wieder aufbauen konnte. Vielleicht gab es einen Masterplan. Oder vielleicht war Nick einfach nur ein kranker Bastard, der gerne Leute quälte. Egal wie, es kümmerte sie nicht.

Sie drehte sich langsam um, bis sie die Sonne auf ihrem Gesicht spürte. Es musste inzwischen spät am Nachmittag sein, sodass die Sonne im Westen stand. Sie dachte an die Fahrt in dem SUV, und wie das Sonnenlicht über ihren Schoß gewandert war und ihre Hände und Oberschenkel gewärmt hatte. Dann schloss sie ihre Augen und stellte sich eine Landkarte vor.

Sie waren eine ganze Weile Richtung Norden gefahren, bevor sie in Richtung Sonne abgebogen waren. Also müsste sie sich in östlicher Richtung halten, um den Weg zurück zu finden. Wenn sie einfach losginge, würde sie vielleicht den Heimweg finden. Oder einfach sterben. Im Moment schien ihr das auch sehr verlockend.

Sie drehte sich auf den Fersen um und machte einen ersten Schritt. Beinahe erwartete sie, dass Nick etwas sagen würde, aber er tat es nicht. Sie ging weiter, versuchte zu erkennen, wo ein Hindernis im Weg war, etwa ein Zaun oder ein Baum.

„Wo gehst du hin?“, rief er ihr nach ein paar Minuten hinterher.

„Nach Hause.“

„Viel Glück.“

Sie hob die Hand und zeigte ihm den Mittelfinger. Die Sonne brannte heiß auf ihren Rücken, aber das war ein beruhigendes Gefühl. Es bestätigte sie darin, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Dass sie es schaffen konnte, wenn sie nicht aufgab.

2. KAPITEL

Frauen sind eine geborene Plage, dachte Nick, als er vier Flaschen Wasser aus dem Kühlschrank in der Stiefelkammer nahm. Aaron folgte ihm nach draußen.

„Was machst du? Wo ist Izzy? Du hast sie doch nicht schon verloren, oder?“

Nick zeigte mit dem Kinn nach rechts und ging ungerührt weiter. „Sie wollte nach Hause.“

„Was?“ Aaron schloss mit einem großen Hüpfer zu ihm auf. „Sie ist blind. Sie kann nicht einfach nach Hause gehen.“

„Hat sie aber gemacht.“

„Was hast du zu ihr gesagt? Ich weiß, dass es deine Schuld ist. Du hast was Gemeines gesagt, oder?“

„Nein.“

„Warum hast du sie dann nicht aufgehalten? Sie könnte sich verlaufen.“

Ja, die Wahrscheinlichkeit war gering, aber sie bestand. Doch Nick bezweifelte, dass es so weit kommen würde. Er hatte ihr einen Vorsprung von dreißig Minuten gegeben, sodass sie sich ein wenig von ihrer Wut ablaufen konnte. Er wollte sie mindestens eine Stunde lang nicht finden, vielleicht sogar mehr. Sie brauchte Zeit, um ihre Optionen zu überdenken.

„Sie ist in dem trockenen Flussbett. Sie wird ihm weiter folgen, weil das Gehen darin am einfachsten ist.“

Aaron folgte ihm bis zum Stall. „Und was, wenn es eine Springflut gibt?“

Nick reichte ihm die Wasserflaschen und ging hinein, um sein Pferd zu holen. „Siehst du irgendwelche Wolken am Himmel?“

„Okay, aber was ist mit Schlangen? Oder wenn sie hinfällt?“

„Das Risiko gehe ich ein.“

„Sie auch?“

„Offensichtlich schon. Sie ist diejenige, die losgegangen ist.“ Er führte sein Pferd aus der Box.

„Sie hat Angst, Nick. Verdammt noch mal, das Mädchen ist gerade mal ein paar Tage blind. Lass ihr doch etwas Zeit.“

„Die muss sie sich verdienen.“

Aaron stellte die Flaschen auf einem abgenutzten, wackeligen Tisch ab und stützte dann die Hände in die Hüften. „Manchmal bist du wirklich eine schreckliche Nervensäge.“

„Findest du?“

Aaron presste die Lippen zusammen. Nicks Assistent war knapp eins achtzig groß, hatte sorgfältig frisierte dunkle Haare und eine aufgeregte Art, die Nick mittlerweile akzeptierte. Egal, welche Jeans er trug, er wirkte nie, als gehöre er da wirklich hinein. Er würde immer der Junge aus der Stadt bleiben, der im ländlichen Texas gestrandet war.

Aber auch das akzeptierte Nick. Aaron war verdammt gut in seinem Job, und er war loyal. Aber er hatte eine Art, sich an einem Thema festzubeißen wie eine Zecke in der Regenzeit.

„Sie ist ein nettes Mädchen“, sagte Aaron. „Sie weiß nicht, wie ihr geschieht. Soweit es sie betrifft, hat ihre Familie sie aus heiterem Himmel zurückgewiesen. Hast du denn gar kein Verständnis für sie?“

Nick zog den Sattelgurt seines Pferdes fest. Dann schnappte er sich die Wasserflaschen und steckte sie in die Satteltaschen. „Sie ist hier, damit wir ihr helfen können. Das ist alles, was zählt. Sie ist traurig. Sie wird sich diese Gefühle aus dem Leib rennen, und dann wird es einfacher sein, mit ihr umzugehen.“

„Sie ist kein verstörtes Rind. Sie ist ein Mensch.“

„Du nimmst dir das zu sehr zu Herzen.“

„Irgendjemand muss es ja tun. Sei doch etwas nachsichtig mit ihr.“

„Ich werde jetzt zu ihrer Rettung eilen. Reicht das nicht?“

„Nein. Sie ist nett. Und du brauchst etwas Nettes in deinem Leben.“

Nick führte sein Pferd nach draußen. Bevor er aufstieg, warf er Aaron einen finsteren Blick zu. „Was auch immer du dir da gerade ausmalst, hör besser sofort damit auf. Hast du mich verstanden?“

Aaron grinste. „Sie ist auch sehr hübsch. Ich weiß, dass du es bemerkt hast. Ich meine, ich interessiere mich nicht mal für Frauen, und selbst mir ist es aufgefallen.“

„Sie ist eine Klientin, mehr nicht.“

Aaron verdrehte die Augen. „Oh, bitte. Meinst du wirklich, irgendjemand würde das glauben?“

„Es ist mir egal, was du glaubst.“ Izzy war hier, weil er ihr helfen wollte. Und aus keinem anderen Grund. Er wollte sich auf nichts einlassen, schon gar nicht mit jemandem auf seiner Ranch. Das Letzte, was er brauchte, war, für die Gefühle eines anderen Menschen verantwortlich zu sein.

„Hast du ihren Hintern bemerkt?“, fragte Aaron, als Nick sich in den Sattel schwang. „Er ist einfach perfekt. Meinst du, dass sie regelmäßig Kniebeugen macht? Mein Hintern ist so fürchterlich flach.“

Nick wollte einfach nur ein nettes, ruhiges Leben, und stattdessen hatte er das hier.

„Ich mach mich auf den Weg“, sagte er.

„Okay, aber sei vorsichtig, wenn du sie findest. Sie wird traurig sein und vielleicht einen kleinen Hitzschlag haben. Vielleicht musst du ihr auch eine Mund-zu-Mund-Beatmung geben.“

Nick wandte sein Pferd in Richtung Flussbett. „Hast du nichts zu tun?“

„Doch, aber dies macht mehr Spaß.“

„Sag ‘Tschüs’, Aaron.“

„Tschüs, Aaron.“

Nick rückte seinen Hut zurecht. Es waren bestimmt über vierzig Grad. Er warf einen Blick auf seine Uhr und überschlug, wie lange Izzy schon fort war. Er würde nah genug heranreiten, um sie sehen zu können, aber nicht so nah, dass sie das Pferd hören würde. Dann würde er sie beobachten, um zu sehen, wie sie sich machte.

Er brauchte zwanzig Minuten, um zu ihr aufzuschließen, was ihn überraschte. Sie war weiter gekommen, als er gedacht hatte. Obwohl sie sich einen Monat in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, war sie immer noch gut in Form.

Er zügelte sein Pferd und beobachtete, wie sie weiterging. Unbeabsichtigt fiel sein Blick auf ihre Kehrseite, und er sah, dass Aaron recht hatte – sie hatte einen großartigen Hintern. Zusammen mit ihren wilden Haselnussaugen und den langen, dunklen Locken konnte sie einen schon ins Träumen bringen. Aber er hatte nicht vor, dem nachzugeben.

Er würde sein Bestes geben, um sie wieder hinzubekommen. Nicht nur, weil sein Freund Garth ihn ausdrücklich darum gebeten hatte, sondern weil es einfach das war, was er tat. Das Kaputte wieder heil machen und weiterziehen. Und wenn er das oft genug täte – wenn er genügend Gutes in der Welt verrichtete –, könnte er vielleicht irgendwann seine Vergangenheit loslassen.

Izzy setzte einen Fuß vor den anderen. Die Sonne brannte unbarmherzig auf sie herab und versengte ihre Haut. Schweiß rann über ihr Gesicht und ließ ihre Kleidung an ihr kleben. Ihr Mund war trocken, sie hatte Kopfschmerzen, und wenn es noch einen einzigen Tropfen Flüssigkeit in ihrem Körper gegeben hätte, hätte sie ihn gerne dazu verwendet, zu weinen.

Aber so, wie die Dinge jetzt standen, konnte sie nur wüst mit sich selber diskutieren. Zurückzugehen wäre das Sinnvollste. Sie könnte einfach umdrehen und in die Sonne laufen. Das würde sie zurück zum Stall bringen. Aber es fühlte sich auch zu sehr nach Aufgabe an.

Nick würde sie bestimmt suchen kommen. Oder jemanden von der Ranch schicken. Sie wusste tief im Inneren, dass er sie nicht hier draußen sterben lassen würde. Außer wenn sie sich so sehr verlief, dass niemand sie finden würde. Was dann? Wollte sie das wirklich riskieren?

„Ich will das nicht“, sagte sie laut. „Nichts hiervon.“

Sie wollte in diesem Moment nicht draußen sein, nicht auf der Ranch und auch nicht blind.

„Warum musste das ausgerechnet mir passieren?“

Sie wollte schreien ob dieser Ungerechtigkeit. Nur war das viel zu anstrengend.

Sie stolperte über etwas, das sie nicht gesehen hatte, konnte sich aber in letzter Sekunde fangen. Als sie sich aufrichtete, hörte sie hinter sich ein Geräusch. Angst presste ihr die Brust zusammen. Dann erkannte sie den steten Schritt von Pferdehufen. Sie atmete tief ein und blieb stehen.

„Du musst dir doch allmählich ziemlich blöd vorkommen“, sagte Nick beiläufig.

Sie hob ihr Kinn. „Ganz und gar nicht.“

„Dann hat die Explosion mehr als nur dein Augenlicht beschädigt. Bist du jetzt fertig damit, mir deinen Standpunkt klarzumachen, oder willst du weitergehen? Noch weitere zwanzig Minuten, und dein Sonnenbrand wird anfangen, Bläschen zu werfen. Das wird wehtun.“

„Ist das deine Art, mich davon zu überzeugen, deine Hilfe anzunehmen?“

„Du musst nicht überzeugt werden. Eins muss ich dir zugutehalten, du bist die erste Blinde, die ich kenne, die alleine losmarschiert, ohne eine Ahnung zu haben, wohin sie gehen muss. Ich bin mir nicht sicher, ob das mutig oder dumm ist. Aber wenn ich es herausgefunden habe, sage ich dir Bescheid.“

„Mach dir keine Umstände. Mir geht es gut.“

„Du hattest Glück. Du hättest fallen und dir den Kopf aufschlagen können oder von einer Schlange gebissen werden.“

„Eine Schlange wäre mir immer noch lieber als du.“

Sie hörte ihn vom Pferd steigen.

„Jetzt schmeichelst du mir aber absichtlich, damit ich anfange, dich zu mögen“, gab Nick zurück. „Hier.“

Er reichte ihr eine Flasche Wasser. Sie nahm sie und drehte den Deckel ab. Die Flüssigkeit rann kühl und süß durch ihre ausgedörrte Kehle.

„Ich würde nicht so viel auf einmal trinken“, merkte er an.

Sie ignorierte ihn und trank weiter. Dann setzte sie die Flasche ab, beugte sich vor und spuckte alles wieder aus. Ihre Innereien zogen sich zusammen und zwangen sie zu würgen und zu spucken. Sie hustete und versuchte, wieder Luft zu bekommen.

„Nicht die hellste Glühlampe im Haus“, murmelte er leise.

„Halt den Mund“, sagte sie, nach Luft schnappend.

„Trink langsam, dann bleibt auch alles drin.“

Demütigung ließ ihr vom Sonnenbrand erhitztes Gesicht noch heißer werden. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck.

„Siehst du.“

Er klang so selbstgefällig, dass sie ihn am liebsten geschlagen hätte. Aber das hatte sie schon mal versucht, und es hatte überhaupt nicht funktioniert.

„Komm“, sagte er. „Bringen wir dich zurück.“ Er nahm ihre freie Hand und führte sie zu seinem Pferd. „Ich steige auf und ziehe dich dann hinter mich auf den Sattel.“

„Oder du gehst zu Fuß und ich reite.“

„Glaubst du ernsthaft, dass das passieren wird?“

Sie sah eine verschwommene Bewegung, dann hörte sie, wie er sich im Sattel zurechtsetzte.

„Gib mir die Wasserflasche“, sagte er.

Sie reichte sie ihm herauf, dann fand sie den Steigbügel mit ihren Händen und stellte ihren linken Fuß hinein. Er packte ihren Arm.

„Eins, zwei, drei.“

Bei drei zog er, während sie sich vom Boden abdrückte. Einen Moment lang hatte sie das unangenehme Gefühl, durchs Nichts zu fliegen, dann saß sie hinter dem Sattel auf dem Rücken des Pferdes. Er drückte ihr die Wasserflasche wieder in die Hand.

„Halt dich fest“, sagte er.

„Geht schon.“

„Musst du denn immer widersprechen?“

„Ja. Das ist eine meiner hervorstechendsten Eigenschaften.“ Während sie sprach, schlang sie einen Arm um seine Taille und hielt sich fest. Wenn sie es nicht getan hätte, wäre sie heruntergerutscht, und es war ein verdammt weiter Weg bis zum Boden.

Das Pferd setzte sich in Bewegung.

Auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen war etwas ganz anderes, als im Sattel zu sitzen. Instinktiv hielt Izzy sich mit ihren Oberschenkeln fest und verstärkte den Griff um Nicks Taille. Sie bewegte sich im Rhythmus des Pferdes und fand sich bald mit der Nase gegen Nicks Rücken gedrückt wieder.

Er war warm, und sein Hemd roch immer noch nach Waschmittel und Weichspüler. Darunter schwebte ein Geruch nach männlicher Haut. In seiner Bauchregion berührten ihre Finger nichts als Muskeln. Sie mochte ja nicht viel über diesen Mann wissen, aber nach der Art zu urteilen, wie er sie über seine Schulter geworfen hatte und auf dem Pferd ritt, würde sie schätzen, dass er regelmäßig Krafttraining machte.

Unter anderen Umständen – und vorausgesetzt, sie könnte sehen – würde sie ihn vielleicht sogar attraktiv finden. Nicht, dass das noch irgendeine Bedeutung hatte. Bekommt das blinde Mädchen jemals den Helden? Machte das einen Unterschied? Sie war hungrig und müde, und ihre Haut brannte von der Sonne. Sie wollte einfach nur nach Hause.

Nur hatte sie, rein technisch gesehen, kein Zuhause mehr. Ihr Zimmer auf der Bohrinsel hatte sich bei der Explosion im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst. Wenn sie nicht arbeitete, hatte sie bei ihrer Schwester Skye auf Glory’s Gate gewohnt, aber Skye lebte da nicht mehr. Sie war zu ihrem Verlobten gezogen. Und Izzy war nicht wohl dabei, in dem großen Haus alleine mit ihrem Vater zu wohnen. Was nicht so sehr an ihrem Vater lag, sondern mehr daran, dass sie das Gefühl hatte, dort nicht hinzugehören.

Das sind Gedanken für einen anderen Tag, sagte sie sich.

Sie machte vor sich eine große, verschwommene Form aus. Sie kniff die Augen zusammen, aber das half nicht.

„Sind wir schon da?“, fragte sie.

„Ja. Ich helfe dir beim Absteigen.“

„Geht schon.“

Sie hielt ihm die Wasserflasche hin, die er nahm, stemmte dann ihre Hände zwischen ihren Oberschenkeln auf den Pferderücken, schwang ihr rechtes Bein herum und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Der war ein paar Zentimeter weiter unten, als sie gedacht hatte, aber sie schaffte es, nicht zu stolpern.

Nick stieg ebenfalls ab und reichte die Zügel jemandem, den sie nicht sehen konnte. Sie versuchte, etwas zu erkennen, doch vergeblich.

„Hier entlang“, sagte er.

Abendessen, dachte sie sehnsüchtig. Sie würde töten für ein Essen. Oder zur Abwechslung mal freundlich sein. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so hungrig gewesen war.

Aber das Gebäude, dem sie sich näherten, sah nicht aus wie das Haupthaus. Sie konnte keine Einzelheiten erkennen, aber die Form war irgendwie falsch. Er öffnete eine Tür und wartete, vielleicht darauf, dass sie zuerst ging? Aber auf gar keinen Fall würde sie einen Fuß in dieses dunkle Loch setzen.

Sekunden später griff er an ihr vorbei und machte das Licht an. Sie sah einen hellen Raum, konnte aber wiederum keine Details ausmachen. Vorsichtig trat sie ein.

Die Decke war sehr hoch – sie konnte nicht sagen, wie viele Meter. Der Boden war aus Holz. Sie sah Schemen, die sie nicht einordnen konnte. Der Raum kam ihr vertraut vor, wenn sie auch nicht sagen konnte, wieso.

„Wo sind wir?“, fragte sie.

„Im Fitnessraum. Ich habe gehört, dass du kletterst, also dachte ich, dass wir vor dem Abendessen noch eine kleine Übungseinheit einschieben können.“

Sie wirbelte in die Richtung, aus der seine Stimme kam. „Bist du verrückt?“

„Hier und da gibt es zwar Gerüchte in die Richtung, aber nein.“

„Was stimmt dann nicht mit dir? Ich habe Durst, Sonnenbrand, bin müde und hungrig. Ich werde keine Wand hinaufklettern, nur um dich zu unterhalten.“

„Wirst du doch. Außerdem, gibt es nicht irgendwo in dir einen kleinen Teil, der sich fragt, ob du es noch kannst?“

Sie konnte eine Menge ertragen, aber nicht, dass er sich auf ihre Kosten lustig machte. Der Bastard. Sie hatte recht gehabt – Nick war ein Schikaneur.

„Ich bin blind!“, schrie sie. „Ich kann nichts sehen!“

„Du kletterst ja auch nicht mit deinen Augen, sondern mit deinen Händen und Füßen. Komm schon, Izzy. Einmal nach oben. Stell dir nur mal vor, was für ein Gefühl das sein wird.“

Furcht einflößend, dachte sie. Sie war wütend und verängstigt und hasste ihr Leben. Es würde sich schrecklich anfühlen, ganz da oben zu sein in völliger Dunkelheit, oder beinahe völliger Dunkelheit.

„Ich kann nicht.“

Er schüttelte etwas, das sich anhörte wie ein Geschirr.

„Du kannst, und du wirst dich besser fühlen, wenn du es getan hast. Du wirst spüren, dass es Hoffnung gibt.“

„Hallo? Bist du noch dran? Ich kann dich nicht hören, die Verbindung ist ganz schlecht.“

„Ignorier mich nur, so viel du willst, aber ich habe recht. Komm schon. Einmal schnell nach oben, dann gibt es Abendessen.“

Sie war müde. Die Erschöpfung hing an ihr und zog sie nach unten. Sie wollte sich einfach nur auf dem Boden zusammenrollen und wimmern.

„Darf ich dir in die Eier treten, wenn ich es nach oben schaffe?“, fragte sie.

„Nein, aber du kannst was zu essen haben.“

Ich kann nicht glauben, dass meine Schwestern mir das antun, dachte sie bitter. Dass sie sie in die Hände von diesem Fremden gegeben hatten, dessen Vergnügen darin bestand, andere Leute herumzukommandieren. Ärger stieg in ihr auf. Er brannte heiß und hell, bis sie nur noch daran denken konnte, Nick in den Boden zu stampfen. Ihm Angst einzujagen und ihn wimmern zu lassen.

Aber das würde nicht passieren. Zumindest nicht in naher Zukunft. Sie war gefangen, und es schien nur einen Weg hinaus zu geben.

Sie nahm sich das Geschirr. Es fühlte sich vertraut in ihren Händen an, und sie schlüpfte problemlos hinein.

„Die Schuhe sind hier drüben.“

Sie zog ihre Sandalen aus. Es kümmerte sie nicht, dass ihre Füße sehr wahrscheinlich schmutzig waren. Sie schlüpfte in die Kletterschuhe und erlaubte Nick, sie zur Wand zu führen. Er bot ihr Kreide für ihre Hände an.

Sie rieb ihre Finger aneinander. In dem Raum war es kühl und still. Ihre Haut brannte immer noch, ihr gesamter Körper schmerzte, und vor Hunger hatte sie ein riesiges Loch im Magen. Aber nichts davon interessierte sie jetzt. Sie wusste nicht, woher der Drang kam, aber mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass sie unbedingt diese Wand erklettern musste.

Sie schloss die Augen, weil sich das anfühlte, als wäre es ihre eigene Wahl, nichts sehen zu können. Sie legte eine Hand an die glatte Fläche vor sich, tastete sich dann vorwärts, bis sie den ersten Halt für ihre Finger gefunden hatte. Dann nahm sie ihren rechten Fuß nach vorne und oben, bis auch er einen Stand gefunden hatte. Nick trat hinter sie und klinkte die Sicherheitsleine in ihr Geschirr ein.

Sie beachtete ihn nicht. Es gab nur die Wand vor ihr und die Suche nach dem nächsten Platz für ihre Hände und Füße.

Langsam kletterte sie nach oben. Sie fand zu ihrem Rhythmus. Nick hatte recht gehabt – um klettern zu können, musste sie nicht sehen, und mit jedem Schritt erlangte sie mehr Selbstsicherheit.

Ungefähr zwanzig Minuten, nachdem sie den Aufstieg begonnen hatte, hob sie ihren Fuß an, fand den Halt und verlagerte ihr Gewicht. Ihr Fuß rutschte ab. Plötzlich hing sie in der Luft, ohne zu wissen, wo sie war oder was als Nächstes kam. Panik machte sich in ihr breit, aber sie ignorierte sie. Sie hielt sich mit den Händen am Sicherungsseil fest und strampelte mit den Füßen, bis sie einen weiteren Halt gefunden hatte. Vorsichtig stützte sie sich darauf ab, suchte und fand ihr Gleichgewicht und atmete tief durch.

Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust. Sie war schweißgebadet. Immer noch mit geschlossenen Augen nahm sie ein paar tiefe Atemzüge und setzte ihren Weg dann fort.

Nick beobachtete Izzys vorsichtigen Fortschritt. Er hatte gedacht, dass sie sich weigern würde zu klettern, aber sie hatte ihn überrascht. Jetzt kletterte sie stetig weiter hoch, ihr Körper bewegte sich mit immer größerer Leichtigkeit, als er sich daran erinnerte, was beim Klettern zu tun war.

Sein Blick glitt über ihre nackten Arme. Irgendetwas in ihm zog sich zusammen, als er die Rundung ihrer Brust erblickte. Sie war wild genug, um anziehend zu wirken, aber nicht so verrückt, dass er auf der Hut sein musste. Unter anderen Umständen, bevor alles anders geworden war, wäre er an ihr interessiert gewesen. Aber wie die Dinge jetzt lagen, konnte er zwar gucken, aber auf gar keinen Fall anfassen.

Sie überwand die letzten paar Meter mit Leichtigkeit und klopfte mit der flachen Hand oben auf die Mauer.

„Ich hab’s geschafft“, rief sie.

Er nahm die Sicherheitsleine und seilte sie damit langsam ab.

„Nächstes Mal kannst du dann versuchen, nicht ganz so zu schleichen“, sagte er.

Ihre Füße berührten den Boden. Sie machte sich los und grinste ihn an. „Nächstes Mal klettern wir um die Wette, und ich werde dir so was von den Arsch aufreißen.“

„Davon träumst du.“

Sie lachte. „Nein, Nick. Du tust das.“

Als sie zum Haupthaus zurückkehrten, war Izzy so hungrig, dass sie einen Wasserbüffel hätte essen können. Oder zumindest fast alles, was zum Abendessen aufgefahren würde. Sie ließe sich sogar hinreißen, eines dieser übergesunden Sandwiches ihrer Schwester Lexi zu essen, die aus Gemüse auf Presspappe ähnelndem Brot bestanden. Aber als sie in die Stiefelkammer kamen, wehten ihnen aus der Küche schon reichhaltige und vielversprechende Gerüche entgegen.

„Hier herüber“, sagte Nick und führte sie an das Waschbecken.

Sie fand den Wasserhahn und die Seife. Nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, spritzte sie sich Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einem Handtuch ab. Dann hörte sie Schritte und drehte sich in die Richtung um.

„Du bist wieder da!“, sagte Aaron froh. „Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich weiß, ich weiß, das sollte ich nicht, das gibt nur Falten. Es gibt heute Schmorbraten zum Abendessen. Und Liebes, was Norma mit einem Schmorbraten machen kann, wird dich zum Weinen bringen.“

Aaron hakte sie unter und führte sie in die Küche. „Norma, das ist Izzy. Izzy, Norma, die uns alle wohlgenährt und glücklich erhält.“

„Hi“, sagte Izzy und fühlte sich ein wenig unbehaglich, als sie auf die verschwommene Gestalt schaute, die vermutlich Norma war. Sollte sie ihre Hand ausstrecken? Winken?

„Du bist zu dünn“, sagte Norma anstelle einer Begrüßung. „Wer an meinem Tisch Platz nimmt, muss ordentlich essen.“

„Ja, Ma’am“, murmelte Izzy. „Ich bin eigentlich ein guter Esser.“

„Das werden wir ja sehen. Jetzt setzt euch hin. Ich habe keine Zeit zum Quatschen. Husch, husch.“

Aaron führte Izzy zum Tisch. Sie streckte die Hände aus, bis sie den Stuhl fühlte. Sie konnte die grobe Form des Tisches erkennen und wusste, wo die Sachen darauf standen, aber sie konnte nicht genau sagen, was es alles war. Aaron setzte sich auf den Stuhl zu ihrer Rechten, und als ein Mann an ihr vorbeiging und sich ihr gegenüber setzte, nahm sie an, dass es sich um Nick handelte.

Gemütlich, dachte sie, fühlte sich aber immer noch unbehaglich. Sie war nicht daran gewöhnt, vor Fremden zu essen. Sie wünschte, sie könnte ihr Tablett mit aufs Zimmer nehmen, aber sie konnte sich die Reaktion auf eine entsprechende Frage zu lebhaft vorstellen, als dass sie es riskieren würde.

Norma stellte Servierschüsseln auf den Tisch. „Schön aufessen“, sagte sie ernst. „Ich will nichts hören außer dem schmatzenden Geräusch eurer Lippen.“

„Wir dürfen nicht reden?“, fragte Izzy flüsternd.

„Natürlich können wir reden“, beruhigte Aaron sie. „Sie tut nur so streng. Soll ich dir auffüllen?“

„Oh ja, gerne.“

„Es gibt Schmorbraten mit Kartoffeln und Karotten. Außerdem Biskuits. Norma, du bringst mich mit deinen Biskuits noch mal um. Sie sind einfach köstlich.“

„Ich mache sie, weil du sie magst.“ Ihre Stimme kam von hinter ihnen aus der Küche.

Aaron füllte Izzy auf, während er ihr erklärte, wie der Tisch gedeckt war. „Das Weinglas steht rechts. Heute Abend gibt es einen frechen kleinen Washington Syrah aus Walla Walla. Ich bin für die Weinauswahl zuständig. Ist ein Hobby von mir.“

Izzy ließ ihren Blick über den Tisch wandern. Sie konnte die grobe Form von Nick sehen, aber nicht erkennen, was er gerade machte. Essen? Gucken? Zeitung lesen? Er war still, was sie irgendwie nervös machte.

„Soll ich dir sagen, wo auf deinem Teller welches Essen ist?“, fragte Aaron.

„Nein danke, ich finde mich schon zurecht.“

Izzy nahm ihre Gabel. Noch bevor sie den ersten Bissen nahm, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Als ihre Geschmacksknospen dann das erste Mal auf Normas Braten trafen, wäre sie vor Glückseligkeit beinahe in Ohnmacht gefallen. Ihr Magen knurrte, allerdings dieses Mal vor Vorfreude.

„Morgen wirst du Rita kennenlernen“, sagte Aaron. „Sie ist für die Pferde zuständig. Sie und ihr Mann wohnen ein paar Meilen entfernt. Sie sind schon seit Ewigkeiten verheiratet.“ Er seufzte. „Es ist so romantisch. Ich will auch so jemanden finden. Nick, du stellst mich nie deinen Freunden vor. Warum nicht?“

„Die sind nicht dein Typ.“

„Das weißt du doch gar nicht.“

„Doch, glaub mir.“

Irgendetwas in seinem Ton ließ sie aufschauen. Aber egal, wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn nicht klar erkennen. Auch nicht den Raum oder ihren Teller. Ihr Appetit verschwand, und ihr wurde übel.

„Izzy?“, flüsterte Aaron besorgt.

„Alles gut“, flüsterte sie zurück.

„Iss ein Biskuit. Danach fühlst du dich gleich besser.“

Sie wusste, dass er ihr nur helfen wollte, aber in diesem Moment gab es nichts, wodurch sie sich besser fühlen würde. Nick schwieg. Bei dem Gedanken daran, dass alle anderen sehen konnten, nur sie nicht, hätte sie am liebsten wieder um sich geschlagen.

„Du bist still“, sagte sie stattdessen in scharfem Ton zu Nick. „Bildest du dir gerade ein kritisches Urteil über mich?“

„Ich habe überhaupt nicht an dich gedacht.“

Sie verspannte sich.

„Ist das normal für dich?“, fragte er. „Glaubst du, dass sich immer alles um dich dreht? Bist du nur glücklich, wenn du im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stehst? Kein Wunder, dass es dir so gut gefallen hat, einfach nur rumzusitzen und dich umsorgen zu lassen. Minimaler Einsatz, maximaler Gewinn. Blind zu sein ist wahrscheinlich das Beste, was dir passieren konnte.“

3. KAPITEL

Die Demütigung ließ Izzy erstarren. Sie wollte aus dem Raum stürmen, wusste aber nicht, in welche Richtung sie hätte gehen müssen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war zu stolpern oder irgendwo gegenzulaufen.

Die Ungerechtigkeit von Nicks Worten bohrte sich tief in ihren Magen. Wenn sie sich ihres Zieles sicherer gewesen wäre, hätte sie den Teller nach ihm geworfen.

„Ich habe nicht um meinen Zustand gebeten“, sagte sie ruhig. „Weder um die Explosion noch um die Konsequenzen. Aber es ist ja leicht, mich zu kritisieren – denn mit dir ist ja alles in Ordnung, oder nicht?“

Anstelle einer weiteren sarkastischen Erwiderung hörte sie nur das deutliche Geräusch eines Klapses.

„Hey“, murrte Nick.

„Norma hat ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben“, flüsterte Aaron.

„Weiter so, Norma“, murmelte Izzy.

„Sei nicht so unhöflich“, sagte die andere Frau.

„Treib es nicht zu weit“, mahnte Nick.

„Als wenn ich Angst vor dir hätte.“

Izzy hörte Schritte, die sich in Richtung Küche entfernten.

Aaron räusperte sich. „Nick ist eigentlich gar kein so schlimmer Mensch.“

„Tatsächlich?“, fragte Izzy. „Ich wäre fast auf seine Vorstellung hereingefallen.“

„Du musst mich nicht verteidigen“, sagte Nick gleichzeitig.

„Muss ich doch“, gab Aaron scharf zurück. „Sieh mal, Izzy, er muss deine Grenzen testen. Herausfinden, was für ein Mensch du bist. Er will dir wirklich helfen.“

Sie schaute zu dem verschwommenen Schatten auf der anderen Seite des Tisches. „Was macht er mit den Leuten, denen er nicht helfen will? Wirft er sie vom Dach eines Hochhauses?“

Niemand sagte etwas.

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