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Friesenmeermagie

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Winterzauber in der kleinen Fischerkate am Meer

Als die junge Malin bei einer Auktion einen alten Koffer ersteht, rechnet sie nicht damit, dass dessen Inhalt ihrem Leben eine völlig neue Richtung geben wird. Ein Schlüssel und der berührende Brief einer alten Dame führen sie zur kleinen Fischerkate in St. Peter-Ording. Malin weiß nur, dass die Tochter der alten Dame an eine Hotelkette verkaufen will und es der Frau das Herz brechen würde. Einen Absender hat der Brief nicht. Deshalb begibt Malin sich auf Spurensuche. Vor Weihnachten muss sie die Eigentümerin aufspüren, und um diese zu überzeugen, will sie die Fischerkate zu einem gemütlichen Heim machen. Dabei hilft ihr der attraktive Carl vom Strandkorbverleih, und bald schon spürt Malin, dass sie die wohltuende Nordseemagie nicht mehr aufgeben mag ...


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907328
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Das Weihnachtsfest

Vom Himmel bis in die tiefsten Klüfte

ein milder Stern herniederlacht;

vom Tannenwalde steigen Düfte

und kerzenhelle wird die Nacht.

Mir ist das Herz so froh erschrocken,

das ist die liebe Weihnachtszeit!

Ich höre fernher Kirchenglocken,

in märchenstiller Herrlichkeit.

Ein frommer Zauber hält mich nieder,

anbetend, staunend muß ich stehn,

es sinkt auf meine Augenlider,

ich fühl’s, ein Wunder ist geschehn.

Theodor Storm

Prolog

Ein halbes Jahr zuvor

Irma Witt blickte von dem Mathematikbuch auf, das vor ihr aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Mit beiden Händen schob sie ihre Brille ein Stück höher auf den Nasenrücken, dann ließ sie den Blick über die Schönheit der Natur gleiten, die sie umgab. Der Sommer hatte bereits Einzug gehalten und ein wahres Farbenmeer blühender Pflanzen entfaltet. Die Luft war erfüllt von einer betörenden Duftmischung aus frischer Blütenpracht und einer salzigen Nuance. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhob sich majestätisch der Deich.

Dahinter erstreckte sich eine malerische Dünenlandschaft, die nach einem kurzen Fußmarsch in einen schier endlosen Strand überging, der wiederum in der Brandung der Nordsee endete. Über den üppigen Blumenbeeten ihres Gartens tanzten Bienen und Schmetterlinge in einem harmonischen Ballett, während die Sonne ihre warmen Strahlen auf die zarten Blütenblätter warf. Hortensien leuchteten in strahlendem Blau, Weiß und Pink, Rosen verströmten ihr süßliches Aroma, und lila Lavendel wiegte sich sanft im Wind. Zwischen heimischen Stauden, Totholz und dem Kräuterbeet badete eine Meise in einer Vogeltränke.

Ihr Garten war eine Oase der Ruhe und Schönheit, wo die Natur ihre volle Pracht entfaltete und stets die Sinne des Betrachters verzauberte. »Du hast den schönsten Garten von ganz Ording«, hatte mal ihre gute Freundin Lilo zu ihr gesagt. Dieses Kompliment hatte Irma gerne angenommen, wenngleich sie sich in den letzten Jahren nicht mehr so intensiv wie früher mit Gartenarbeiten befasst hatte. Dazu fehlte ihr die nötige Kraft, und ihre Knochen spielten auch immer weniger mit. So war es gekommen, dass ihr Garten sich Stück für Stück in ein wildes Natur­paradies verwandelt hatte, in dem es nur so summte und brummte und das sie noch mehr liebte, als sie jemals gedacht hatte.

Gedankenverloren betrachtete sie die alte Gaslaterne, an der längst der Zahn der Zeit nagte und Efeu emporwuchs. Ihr Ehemann Rudi hatte das gute Stück Ende der Siebziger­jahre vor der Verschrottung gerettet, als immer mehr Städte ihre Gaslampen durch moderne Beleuchtung ersetzt hatten.

Rudi war ein Nostalgiker gewesen, der den Wert von Althergebrachtem zu schätzen gewusst hatte. Seinen silbergrauen Mercedes hatte er stolz mit einem H-Kennzeichen gefahren. Alle Reparaturen hatte er höchstpersönlich durchgeführt – bis zum Schluss. Es hatte zwei Jahre gedauert, bis sie sich nach seinem Tod dazu durchgerungen hatte, das Gefährt an einen Oldtimer-Liebhaber zu verkaufen. Um das Geld war es ihr dabei nicht gegangen. Leider verfügte sie nur nicht über die Kenntnisse ihres Mannes, um den Pkw in Schuss zu halten. Bevor sie dem Käufer den Autoschlüssel ausgehändigt hatte, hatte er ihr hoch und heilig versprechen müssen, den Wagen in Ehren zu halten, ihn zu hegen und zu pflegen, so wie es Rudi auch getan hätte. Als er schließlich mit dem Mercedes losgefahren war, hatte sie ihm lange nachgesehen. Eine Weile hatte sie so vor ihrer Fischerkate gestanden, auch als der neue Besitzer längst aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie hatte nicht fassen können, dass Rudis Auto tatsächlich den Besitzer gewechselt hatte.

Es war fast, als hätte der Käufer nicht nur den Mercedes mitgenommen, sondern auch einen Teil von ihrem Mann und viele Erinnerungen an ein Leben, das nicht wiederkommen würde. Doch das war vergleichsweise harmlos verglichen mit dem, was ihr nun bevorstand. Im nächsten Schritt würde sie einen noch viel größeren Teil ihres Herzens hergeben müssen. Ein schwerer Seufzer entfuhr ihr.

»Ist das so richtig?«

Irma blickte zu ihrer Rechten. Ihr zehnjähriger Schüler saß neben ihr am Gartentisch und hielt ihr sein Rechenheft entgegen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass sie gedanklich abgeschweift war. Leicht verlegen richtete sie abermals ihre Brille. »Das kann ich dir gleich sagen.« Sie nahm einen Bleistift zur Hand und überprüfte die bearbeiteten Rechenaufgaben.

»Null Fehler, Mika. Toll!«, sagte sie kurze Zeit später und malte mit dem Stift ein lachendes Gesicht unter die gelösten Aufgaben. »Für dich kann im nächsten Schuljahr das Gymnasium seine Tore öffnen.«

»Null Fehler? Ich dachte, dass ich mindestens zwei habe.« Er strahlte über das ganze Gesicht, während er sein Rechenheft wieder in Empfang nahm. »Aber ob ich so gut auf dem Gymnasium sein werde? Da sind doch nur schlaue Kinder«, fügte er zweiflerisch hinzu.

»Na und? Du bist doch auch ein schlauer großer Junge.« Sie lächelte ihn aufmunternd an und nahm das leere Glas, das vor ihm stand, um es mit Fruchtschorle aus der Glaskaraffe aufzufüllen.

»Danke.« Er trank einen großen Schluck. »Darf ich denn in der fünften Klasse trotzdem noch zu Ihnen kommen?« Er schaute sie so voller Hoffnung an, dass es sie rührte.

Natürlich kannst du das, das hätte sie ihm unter normalen Umständen geantwortet. Doch die Dinge lagen anders und waren von Normalität so weit entfernt wie nie zuvor. Sie lächelte milde und fühlte, wie ihr Herz schwer wurde. »Nach den Sommerferien gehst du erst mal in deine neue Klasse und schaust, wie es dort so ist. Vielleicht läuft alles viel besser, als du befürchtest. Am Ende hast du einen tollen Lehrer, und der Mathematikunterricht fällt dir ganz leicht. Dann hast du dir ganz umsonst Sorgen gemacht.«

»Meinen Sie?« Mika schien noch nicht überzeugt zu sein.

Sie legte eine Hand auf seinen Unterarm. »Aber ja. Die vierte Klasse hättest du doch eigentlich auch ohne meine Hilfe spielend geschafft.«

Von dem gepflasterten Weg, der am Haus entlangführte, näherten sich Schritte. Wenig später bog eine Frau in den späten Dreißigern um die Hausecke. In einer Hand hielt sie einen üppigen bunten Blumenstrauß. »Moin! Bin ich etwa zu früh?« Sie blieb schließlich neben dem runden Gartentisch stehen und strich sich eine Strähne ihrer blond gelockten Haare hinters Ohr.

»Nein, nein. Wir waren gerade fertig.« Irma schlug das Schulbuch zu.

»Frau Witt sagt, ich soll am Gymnasium erst mal gucken, wie ich klarkomme«, sagte Mika, während er seine Schulsachen in einem Rucksack verstaute.

»Das klingt vernünftig«, erwiderte seine Mutter. »Aber zunächst möchte ich mich für Ihre unermüdliche Hilfe bedanken. Ohne Ihren Unterricht wären bestimmt einige der Klassenarbeiten nicht so gut ausgefallen.« Sie überreichte ihr lächelnd den Strauß. »Danke, Frau Witt!«

»Oh, so schöne Blumen. Das wäre doch nicht nötig gewesen.« Sie roch an einer Blüte, die herrlich süß duftete.

»Natürlich war das nötig.« Amüsiert zwinkerte sie ihr zu, bevor sie ihrem Sohn half, den Rucksack aufzusetzen.

»Keine Sorge, Sanne. Dein Sohn wird in Mathematik bestimmt zu einem der besseren Schüler gehören. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe, genau wie du in seinem Alter.« Irma legte den Blumenstrauß vorsichtig auf dem Tisch ab, erhob sich von ihrem Stuhl und begleitete ihre ehemalige Schülerin und deren Sohn vor die Fischerkate, auf deren Einfahrt Sannes kleines gelbes Auto stand.

»Schöne Sommerferien und danach einen guten Start am Gymnasium!«, wünschte sie zum Abschied.

»Tschüss, Frau Witt.« Mika winkte ihr zu und kletterte dann auf die Rückbank des Wagens.

Sanne öffnete die Fahrertür. »Danke für alles. Darf ich mich denn wieder bei Ihnen melden, falls Mika am Ende doch nicht zu den Rechengenies gehören sollte?«

Irma schluckte. Sie wusste nicht, wie sie unter diesen besonderen Umständen reagieren sollte. Doch dann lächelte sie tapfer. »Selbstverständlich.« Ihre Stimme zitterte leicht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich stets an ihre Versprechen gehalten – aber nun? »Ich bin jedoch überzeugt, dass Mika meine Hilfe nicht mehr brauchen wird«, bekräftigte sie noch einmal ihre Einschätzung und hoffte inständig, dass sie damit dank ihrer langjährigen Erfahrung richtiglag.

»Wir werden sehen. Einen schönen Sommer für Sie.« Sanne stieg ins Auto und zog die Tür zu.

Irma trat ein Stück zurück und winkte ihnen nach, als Sanne den Wagen von der Auffahrt auf die Straße lenkte. Wieder fuhr ein Auto von dannen.

Dies war ein weiterer Teil ihres Lebens, von dem sie sich verabschieden musste. Es war ihre letzte Unterrichtsstunde gewesen.

Seufzend ging sie dann zurück auf die Terrasse und nahm den Blumenstrauß mit ins Haus, um eine Vase mit Wasser zu füllen und ihn hineinzustellen.

Am Nachmittag verstaute Irma einen frisch gebackenen Obstkuchen in eine große quadratische Plastikbox. Aus einer Schublade nahm sie anschließend ein handliches Lederetui, an dem der Zweitschlüssel für ihr Haus befestigt war. Früher hatte Rudi ihn benutzt.

Nachdem sie das Etui in ihre Handtasche hatte fallen lassen, hob sie die Kuchenglocke vom Küchentisch und verließ das Haus. Bis zu ihrem Ziel war es bloß ein kurzer Fußweg. Der Campingplatz Strandperle lag nur ein paar Minuten von ihrem Zuhause entfernt.

An diesem Tag erwies sich der Weg für sie beschwer­licher als sonst. Ihre Beine fühlten sich schwer an, als hätte jemand dicke Steine an ihnen festgebunden. Sie kam langsamer voran, machte sogar auf halber Strecke einmal halt, um tief durchzuatmen. Urlauber kamen ihr entgegen. Es waren Familien mit Kindern, Männer und Frauen mit Hunden, manche hielten Walking-Stöcke in den Händen, andere fotografierten mit ihren Handys.

Irma blickte in ihre fröhlichen Gesichter und bekam sogleich ein schlechtes Gewissen. War sie am Ende vielleicht undankbar? Hatte sie bisher etwa kein wunderbares Leben genossen? Hatten ihre Eltern damals nicht alles getan, damit sie als Erste in der Familie eine Universität besuchen und Lehrerin werden konnte? Sie hatte noch genau die Holzkiste vor Augen, in der ihre Eltern damals ihre gesamten Ersparnisse gesammelt hatten, damit sie ihre Tochter auf ein Gymnasium schicken konnten und später dann zur Universität nach Hamburg. Für ihre Mutter und ihren Vater war das Leben kein Zuckerschlecken gewesen. Sie hatten große Entbehrungen in Kauf genommen, damit ihre Tochter es einmal besser haben würde als sie.

Und dann war der besondere Abend gekommen, an dem sie Rudi auf einer Studentenfeier über den Weg gelaufen war. Sie konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Attraktiv hatte er ausgesehen. Unter seinem Jackett hatte er einen dunklen Rollkragenpullover getragen, die braunen Haare nach hinten gekämmt, und in einer Hand hatte er eine ­Colaflasche gehalten. Zwei Jahre später folgte die Hochzeit, und im Jahr darauf kam ihre gemeinsame Tochter Amelie zur Welt. Ihr Glück hätte kaum größer sein können, obwohl sie beide noch im Studium gesteckt hatten. Aber zusammen hatten sie die Herausforderungen gemeistert.

Im Laufe ihres Lebens hatte sie keine schweren Erkrankungen durchgemacht. Nur das Übliche. Und nun war sie Ende siebzig und musste sich mit allerhand Zipperlein herumschlagen, die zwar nicht ungewöhnlich für ihr Alter waren, sie jedoch zunehmend einschränkten.

Sie atmete einmal tief durch. Dann gab sie sich einen Ruck und ging weiter. Es half ja alles nichts. Die Vergangenheit war vergangen, es gab keine Möglichkeit, sie zurückzuholen.

Vor der Miesmuschel, dem zugehörigen Restaurant des Campingplatzes, herrschte Hochbetrieb. Im ­Außenbereich der Gastronomie waren alle Sitzplätze belegt, und drinnen sah es vermutlich nicht anders aus. Vor dem Eingang des Lokals hatte sich eine Warteschlange gebildet. Jeder im Ort und eben auch die Camper wussten, dass man dort preiswert und gut essen konnte. Der Fisch war fangfrisch, die Salate knackig und der Service flott.

Ihre Freundin Lilo und sie waren etwa gleich alt. Doch Irma konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in ihrem Alter noch einen Campingplatz zu führen. Lilo wurde zwar von einer ihrer Nichten unterstützt, aber ein Großteil der Arbeit lastete nach wie vor auf ihr. Lilo sah es positiv und war überzeugt, dass sie ohne ihren Campingplatz längst im Altersheim hocken würde.

Irma ging auf das weiße Gebäude zu. Sie drückte auf die Klingel, neben der ein Schild mit der Aufschrift Büro befestigt war. Als der Summer ertönte, drückte sie gegen die Tür.

»Moin!«

Lilo erwartete sie gut gelaunt in der offenen Tür. Sie trug eines ihrer bunten, weiten Kleider und eine lange Bernsteinkette. An ihren Ohrläppchen baumelten die passenden Ohrringe, und ihre Füße steckten in bequemen Sandalen. Das lange graue Haar hatte sie mit einem türkisfarbenen Band gebändigt.

»Moin, Lilo!«

»Komm rein!«

Irma betrat das Büro und warf einen Blick auf den Schreibtisch, auf dem sich Belege stapelten. »Du bist wohl gerade fleißig?«

Lilo zuckte die Schulter. »Seit heute früh um neun. Aber nun ist es Zeit, eine Pause einzulegen. Gut, dass ich gerade Kaffee aufgesetzt habe.« Sie zeigte zuerst auf die Kuchentransportbox, die Irma trug, dann auf die gluckernde Kaffeemaschine, die auf einem Tisch neben einem Radio stand. Auffordernd streckte ihre Freundin beide Hände aus. »Soll ich dir den Kuchen ab­nehmen?«

»Ja, bitte. Die Obsttorte ist ohnehin für dich. Ein kleines Dankeschön dafür, dass du in meiner Abwesenheit das Haus hütest und meine Gartenpflanzen gießt.«

»Genau deswegen habe ich mich dir ja angeboten. Ich hatte es in Wirklichkeit nur auf deinen leckeren Kuchen abgesehen.« Lilo zwinkerte ihr zu, bevor sie die Box neben der Kaffeemaschine abstellte. Dann öffnete sie ein Schränkchen, aus dem sie Kaffeegeschirr und Tortengabeln hervorholte. »Wie lange bleibst du eigentlich in München?«

»Das steht noch nicht fest«, wich Irma einer konkreten Antwort aus. Sie wandte den Blick ab und setzte sich auf einen Stuhl, der schräg vor Lilos Schreibtisch stand. »Amelie hat einiges geplant. Nach Garmisch-Partenkirchen wollen wir fahren und vielleicht auch mal ins Theater gehen. Sogar eine Fahrt nach Salzburg hat sie vorgeschlagen. Wie lange würdest du dich denn um mein Haus kümmern?«

»So lange du willst.« Der Kaffee war durchgelaufen. Lilo füllte das heiße Getränk in zwei Tassen. »Nimm dir ruhig so viel Zeit, wie du möchtest. Mir macht es nichts aus, ein- oder zweimal am Tag bei dir nach dem Rechten zu sehen. Mit Kaffeesahne?«

»Ja, bitte.« Irma rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Ihr schmeckte es gar nicht, unaufrichtig zu ihrer guten Freundin zu sein. Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihr den wahren Grund der Reise zu beichten. »Sollte dir die Rennerei doch zu viel werden, habe ich natürlich vollstes Verständnis.«

Resolut stellte Lilo eine Kaffeetasse vor sie und stemmte dann eine Hand in die Hüfte. »Wofür hat man denn Freundinnen? Sollte ich mal deine Hilfe brauchen, würdest du mich wohl auch kaum hängen lassen, oder?«

»Natürlich nicht«, bekräftigte Irma, senkte aber gleich ihren Blick.

»Na also.« Mit einem langen Messer schnitt Lilo die Torte an und legte dann den Kopf schief. »Möchtest du ein Stück mit mehr Erdbeeren oder Heidelbeeren?«

Es war Abend geworden, als Irma einen ihrer selbst gestrickten Pullover in ihren großen braunen Lederkoffer legte. Die Winter konnten in München streng sein, wie sie nur zu gut aus den Erzählungen ihrer Tochter wusste. Bisher kannte sie die Stadt bloß im Sommer. Vielleicht sollte sie zur Sicherheit noch einen weiteren einpacken. Aber durch das zweite Oberteil würde sie viel Platz im Koffer vergeuden, Platz, den sie noch dringend für andere Dinge benötigte.

Stirnrunzelnd beäugte sie den Stapel an Kleidungsstücken, der auf ihrem Bett lag. Die würde sie nie und nimmer alle im Koffer unterbringen können. Schuhe hatte sie noch gar keine herausgesucht, geschweige denn ein paar Erinnerungsstücke, ohne die sie St. Peter-Ording unmöglich verlassen konnte.

Irma spürte, wie sich immer mehr Hoffnungslosigkeit in ihr breitmachte und eine Träne über ihre Wange lief. Mit einer Hand suchte sie Halt an der Schranktür. Sie wollte ihre Fischerkate nicht für immer verlassen, sich nicht damit abfinden, dass ihr Schicksal und auch das ihres Zuhauses nun endgültig besiegelt sein sollte. Ein halbes Jahr hatte sie noch Zeit, um das Ruder herumzureißen. Bis dahin würden noch viele Wellen an den Ordinger Strand perlen – doch, was sollte sich in den sechs Monaten ändern? In einen Jungbrunnen würde sie nicht mehr fallen. Und Amelie würde auch nicht zurück nach St. Peter-Ording ziehen.

Sie setzte sich neben den Kleiderstapel aufs Bett. Amelie meinte es gut mit ihr, daran bestand für sie kein Zweifel. An ihrer Stelle hätte sie vermutlich die gleichen Schritte in die Wege geleitet. Trotzdem haderte sie mit der Situation. Aufgegeben hatte sie noch nie in ihrem Leben. Warum sollte sie ausgerechnet jetzt damit beginnen? Bloß weil sie ein gewisses Alter erreicht hatte? War das Grund genug?

Irma kam wieder auf die Beine, ging zu dem kleinen Schlafzimmerfenster und öffnete es. Eine Weile blickte sie hoch zum Abendhimmel, der in Blau- und Rottönen schimmerte. Ach, Rudi, was soll ich nur tun? Kampflos haben wir uns doch nie geschlagen gegeben. Oder soll es dieses Mal anders sein? Ich wünschte, du könntest mir antworten.

Sie seufzte aus tiefsten Herzen und fühlte sich in diesem Moment einsam und verloren wie noch nie zuvor. Eine Windböe strich geräuschvoll durch die Gräser und Sträucher und wirbelte abgefallene Blütenblätter auf. Wie aus dem Nichts schwebte plötzlich eine kleine weiße Feder vor Irmas Augen herab, landete auf ihrem rechten Handrücken und blieb dort liegen. Sie blickte nach oben, doch sie konnte keinen Vogel ausmachen, der sie verloren hatte.

Vorsichtig nahm sie sie zwischen zwei Finger und drehte sie einmal. Es war eine schneeweiße Daune mit kurzem Kiel und sehr weichen Federästen. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Fest umschloss sie die Feder. Sie hatte verstanden. Wieder blickte sie hoch zum abendlichen Himmel.

»Danke!«, sagte sie. »Danke, dass du mir ein Zeichen gegeben hast!« Irma presste sich die Hand, in der sie die Feder hielt, ans Herz.

Dann schloss sie das Fenster wieder und legte die Daune in die weiße Porzellanschale, in der sie den Ehering ihres Mannes aufbewahrte. Entschlossenen Schrittes ging sie nun zu ihrem Koffer und nahm den Pullover wieder he­raus. Sie legte ihn zurück an die Stelle in ihrem Kleiderschrank, wo er hingehörte. Stattdessen suchte sie luftigere Bekleidung zusammen, die sie für einen Sommerurlaub eingepackt hätte.

Als sie alles beisammenhatte, nahm sie noch einen kleinen roten Kinderkoffer vom Kleiderschrank, der ursprünglich mal Amelie gehört hatte. Eine graue Staubschicht hatte sich auf dem Lackleder angesammelt. Mit einem feuchten Fensterleder wischte sie die Zeichen der Zeit fort. Ihr war eine Idee gekommen. Zugegeben, es war zwar gewagt, aber wer nicht wagte, konnte schließlich nicht gewinnen.

Bevor Irma am nächsten Morgen die Fischerkate verlassen hatte und mit einem Taxi zu dem kleinen Bahnhof in St. Peter-Ording gefahren war, hatte sie einen Brief an ihre Freundin Lilo geschrieben, in dem sie ihr zwar nicht reinen Wein über ihre Situation einschenkte, aber zumindest einräumte, wohl länger in München zu bleiben. Irma hatte das Schriftstück in einen Umschlag gesteckt und Lilos Namen darauf geschrieben. Danach hatte sie das Kuvert gegen die Vase mit Sannes Blumenstrauß gelehnt, die auf dem Esstisch im Wohnzimmer stand. Dort würde Lilo ihn sicherlich finden.

Danach hatte sie noch einen zweiten Brief geschrieben. Er war an niemand Bestimmtes gerichtet, enthielt jedoch die wohl wichtigste Nachricht, die sie jemals schriftlich verfasst hatte. Ihn hatte sie in den roten Koffer gelegt.

In Düsseldorf musste Irma zum dritten und letzten Mal umsteigen. Von hier aus konnte sie mit dem ICE bis zum Münchener Hauptbahndorf durchfahren, wo ihre Tochter sie erwarten würde. Die reguläre Umsteigezeit betrug eine knappe Viertelstunde, doch der ICE hatte Verspätung. Es blieb ihr genügend Zeit, um sich eine kleine Stärkung zu gönnen. Mit beiden Koffern bepackt, steuerte sie auf ein Kaffeehaus zu und kaufte ein Stück Kuchen und einen Cappuccino. Das heiße Getränk tat ihr gut, der süße Schokokuchen war Balsam für ihre Nerven.

Noch hatte sie ihre verrückte Idee nicht in die Tat umgesetzt, doch es stand unmittelbar bevor. Ein paar Minuten bevor der ICE in den Bahnhof einfuhr, setzte sie sich auf eine Bank. Der Bahnsteig war voller Menschen. Die meisten schienen es eilig zu haben, niemand achtete auf sie. Die Gelegenheit war günstig. Schon kündigte eine Durchsage das Eintreffen des Zuges an, und kurz darauf bremste er geräuschvoll auf dem Gleis. Der ICE kam zum Stehen, seine Türen öffneten sich. Sogleich setzten sich die Wartenden in Bewegung. Irma griff nach ihrem Koffer und schloss sich ihnen an. Vor der Bahnsteigkante blieb sie stehen und wartete, bis alle Reisenden aus dem Zug ausgestiegen waren.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein junger Mann neben ihr mit Blick auf ihren Koffer. »Ihr Gepäck sieht nicht leicht aus.«

Irma lächelte ihn an. »Oh, das ist aber sehr freundlich von Ihnen. Ich habe gerade schon überlegt, wie ich das Monstrum in die Bahn hieven soll.«

»Für mich ist das ein Klacks.«

»Aber nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Ganz und gar nicht!« Er erwiderte ihr Lächeln und griff beherzt nach ihrem Gepäck. Er trug Irmas Koffer bis zu ihrem reservierten Platz und verstaute ihn in einem Gepäckregal. »So, das hätten wir geschafft. Gute Fahrt!«, verabschiedete er sich von ihr.

»Das wünsche ich Ihnen auch. Und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.« Irma setzte sich auf ihren Fensterplatz und entnahm ihrer Handtasche die Zugfahrkarte, die sie vor sich auf dem Tisch ablegte. Außer ihr saß noch eine Frau mit zwei Kindern im Grundschulalter im Abteil. Zwei weitere Plätze waren frei. Ihr Blick glitt aus dem Fenster, den Bahnsteig entlang, bis zu der Bank, auf der sie wenige Augenblicke zuvor noch gesessen hatte. Dort stand ein herrenloses Gepäckstück. Keiner der Vorbeieilenden schien davon Notiz zu nehmen.

Mit einem sanften Ruck setzte sich die Bahn in Bewegung. Irma drehte ihren Kopf, um die Bank noch eine Weile im Blick halten zu können. Der leuchtend rote Koffer wurde immer kleiner.

Kapitel 1

Malin lehnte sich auf ihrem Bürostuhl zurück und gähnte.

»Du hast eindeutig Sauerstoffmangel.« Franzi lugte um ihren Bildschirm herum und grinste sie an.

»Damit könntest du recht haben.« Sie stand von ihrem Stuhl auf und machte einen Schritt zum Fenster. »Hast du was dagegen, wenn ich lüfte?«

Franzi hob den Zeigefinger. »Sekunde!« Sie beugte sich zu ihrer Tasche, die neben ihrem Schreibtisch stand, und holte einen langen Strickschal hervor, den sie sich schnell um den Hals schlang. »So, ich wäre dann bereit.«

Malin lächelte. »Du bist und bleibst eine Frostbeule, Franzi.«

Ihre Kollegin zuckte bloß mit den Schultern. »Ich finde es eben kühl.«

»Dabei haben wir doch erst Mitte November. Der Winter hat noch nicht begonnen, und draußen ist herrlicher Sonnenschein. Ich meine, für heute waren sogar vierzehn Grad Celsius angesagt.«

Franzi schüttelte sich. »Eindeutig zu kalt für mich.«

»Dann lass ich mal die Eiseskälte herein. Oder möchtest du dir vorher vielleicht noch ein Paar Ohrenschützer aufsetzen?«

Franzi rollte mit den Augen. »Ha, ha, ha!«

Malin drehte den Griff zur Seite und zog das Fenster auf. Sie stellte sich in den frischen Luftzug und atmete tief die Luft ein, die nach Herbstsonne roch. Lächelnd schloss sie die Augen und genoss für ein paar Augenblicke die warmen Strahlen auf ihrer Haut. Als sich ein klapperndes Fahrgeräusch näherte, schaute sie nach rechts.

Die hellblauen Abteile der Wuppertaler Schwebebahn näherten sich der Höhe des Bürofensters. An einem Fenster stand ein Junge, der heftig winkte und anscheinend ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Malin lachte ihm freundlich zu und winkte zurück. Als die Bahn vorübergezogen war, blickte sie runter zum Bismarcksteg, der über die Wupper führte. Ein älteres Ehepaar war auf der Mitte der Brücke stehen geblieben und schaute hinunter zum Fluss. Sie hielten einander an den Händen und schienen ebenfalls das warme Herbstwetter zu genießen.

Der Anblick zauberte abermals ein Lächeln auf Malins Gesicht. Wie schön, dass es noch Ehepaare im höheren Alter gab, die sich eine gewisse Verliebtheit erhalten hatten. So etwas wünschte sie sich für später auch. Aber dazu fehlte ihr gegenwärtig noch der passende Mann. Inzwischen zweifelte sie daran, ob sie ihn jemals treffen würde. Zu viele schmerzvolle Trennungen pflasterten ihren Lebensweg. Ihr letzter Freund war von heute auf morgen ohne Erklärungen abgetaucht. Das war nicht schwer für ihn gewesen, da sie eine Fernbeziehung geführt hatten. Bis heute nagte die Frage an ihr, was in ihrer Beziehung schiefgelaufen war und ihn zu diesem radikalen Schritt veranlasst hatte. Sie hätte sich wenigstens gewünscht, den Grund für das Beziehungsende zu erfahren. Unwillkürlich seufzte sie auf.

»Wenn du das Fenster noch länger offen lässt, sind meine Fingerspitzen bald an der Tastatur festgefroren«, merkte Franzi bibbernd an.

»Ich sag es ja, du bist eine unverbesserliche Frostbeule.« Malin lachte. »Das Wetter ist doch eigentlich viel zu schön, um im Büro zu vergammeln. Wer weiß, wann es wieder so herrlichen Herbstsonnenschein gibt.« Sie schloss das Fenster und setzte sich wieder vor ihren Computer.

»Wir könnten Mittagspause machen und den Rest des Tages ausbüxen«, schlug Franzi vor. »Oder muss dein Projekt heute fertig werden?«

»Nein, das kann ich auch nächste Woche abschicken. Ach, das die beste Idee des Tages«, sagte Malin erfreut. Vor fast zwei Jahren hatten Franzi und sie sich gemeinsam mit einem Büro für Grafikdesign selbstständig gemacht und die Räume an der Wuppertaler Schlossbleiche angemietet. Davon hatten sie seit ihrem Studium geträumt. Es waren keine besonders großen Geschäftsräume, bloß ein Bürozimmer mit einem kleinen Besprechungsraum und einer separaten Teeküche. Klein, aber fein, beschrieb es am treffendsten.

Malin genoss den Umstand, endlich ihre eigene Chefin zu sein, hatte allerdings nie ausschließlich von zu Hause aus arbeiten wollen. Sie brauchte einen Ort, an den sie gehen konnte, um konzentriert an ihren Projekten zu arbeiten. In den eigenen vier Wänden hätte dies nicht so gut funktioniert.

»Den Entwurf für die Waschmittelverpackung muss ich erst in ein paar Tagen fertig haben«, sagte sie. »Ehrlich gesagt stecke ich gerade in einem kreativen Loch. Ein bisschen Zerstreuung käme mir wirklich gelegen. Also, was wollen wir anstellen?«

»Hm … der Weihnachtsmarkt eröffnet erst nächste Woche.«

Wieder musste Malin lachen. »Na, ein Glück aber auch! Du hättest dir womöglich einen Glühwein genehmigt.«

»Natürlich! Ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt ohne Glühwein ist doch wie Spaghetti ohne Bolognese.«

»Oder Carbonara.« Malin legte einige handgezeichnete Entwürfe in eine Mappe.

»Lass uns doch zu Milia’s eine Kleinigkeit essen gehen«, schlug Franzi vor.

»Gebongt. Und was machen wir danach mit dem angebrochenen Nachmittag?«

Franzi verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. »Heute ist doch Donnerstag.«

Malin nickte. »Den ganzen Tag lang.«

Keck grinste Franzi sie an und machte eine halbe Drehung auf ihrem Schreibtischstuhl. Von ihrer Pinnwand nahm sie eine rosa Pappkarte und hielt sie Malin demonstrativ entgegen. »Ich würde sagen, es ist höchste Zeit, dass ich einen meiner Gutscheine bei dir einlöse, bevor er verfällt.«

»Okay, welcher ist es denn?« Sie hatte ihrer Freundin zum letzten Geburtstag einen bepflanzten Blumenkasten geschenkt und zwischen den einzelnen Pflanzen bunte Gutscheine verteilt.

»Gutschein über ein verrücktes Erlebnis deiner Wahl«, las Franzi laut vor und drehte ihn dann so, dass Malin den Text ebenfalls lesen konnte.

»Wie lautet deine Wahl?«

»Ich weiß noch nicht. Aber mit vollem Magen fällt mir bestimmt was Verrücktes ein.«

»Daran habe ich keinen Zweifel.« Beschwingt ging Malin zu der kleinen Garderobe, um ihre Jacke zu holen. »Dann nichts wie los in die Mittagspause!«

Malin schlug den Kragen ihrer Woll-Cabanjacke hoch, als sie das Lokal verließen, und blinzelte hoch zur Sonne. »Das war mal wieder lecker.«

»Ich hätte noch Platz für eine Strawberry Cheesecake Latte zum Dessert«, verkündete Franzi.

»Ist das etwa das verrückte Erlebnis, das dir vorschwebt?«, wollte Malin wissen.

»Zumindest verrückt, wenn ich daran denke, wie viele Kalorien ein einziger Becher davon hat.«

»Einer süßen Versuchung sollte man nicht widerstehen. Man weiß nie, wann sich die nächste ergibt«, sagte Malin gut gelaunt. »Gönnen wir uns diesen herrlichen Zuckerschock.«

Sie schlugen den Weg zum Wuppertaler Hauptbahnhof ein, der eine Filiale einer US-amerikanischen Kaffee- und Donuts-Kette beherbergte. Am Eingang des Bahnhofs­gebäudes blieb Franzi unvermittelt vor einem Aufsteller stehen.

Malin schaute zu ihr. »Was ist?«

Franzi deutete auf den Text, der hinter einer transparenten Schutzfolie zu lesen war. »Heute findet um 15 Uhr eine Auktion im Zentralen Fundbüro der Deutschen Bahn statt.« Sie schaute hoch zur digitalen Zeitanzeige über dem Geschäft zu ihrer Rechten. »Das ist in einer guten Viertelstunde.«

»Ja, und?« Malin legte den Kopf schief. »Hast du etwa was in der Bahn verloren?«

»Quatsch! Wir gehen zu der Auktion. Das ist das verrückte Erlebnis meiner Wahl!«

»Wirklich abgefahren«, stimmte Malin überrascht zu. »Dann nichts wie hin.«

Bevor sie sich auf den Weg zum Versteigerungsraum der Deutschen Bahn machten, besorgten sie sich zwei süße Kaffeekreationen.

»Ich war noch nie bei einer Auktion.« Malin trank mit einem Strohhalm ihre Creme-Latte, auf der eine dicke Sahne­haube thronte.

»Geht mir genauso.«

»Wusstest du, dass bei Sotheby’s in New York eine bekannte Harry-Potter-Illustration versteigert wurde? Am Ende hat die Grafik für fast zwei Millionen Dollar den Besitzer gewechselt.«

»Zwei Millionen?!« Franzi hob die Augenbrauen und blieb vor der Glastür stehen, um zuerst auszutrinken. »Ein wahres Schnäppchen.« Sie entsorgte den leeren Plastik­becher in einem Abfallbehälter in der Nähe. »Ich wäre dann so weit.«

»Einen Moment noch.« Geräuschvoll sog Malin durch den Strohhalm den verbliebenen Kaffee, bevor sie den leeren Behälter ebenfalls in den Müll warf. »Meinst du, da sind wirklich Leute drin?«, fragte sie argwöhnisch mit Blick auf die Tür.

»Entschuldigung, dürfte ich?« Eine ältere Dame in dunkelblauem Mantel war hinter ihnen aufgetaucht.

»Aber natürlich!« Malin und Franzi gaben für sie den Weg frei.

»Danke.« Die Frau zog die Tür auf und verschwand in den Räumlichkeiten des zentralen Fundbüros.

Herausfordernd schaute Franzi sie von der Seite an. »Eine Mitstreiterin wäre schon mal da.«

»Du willst da wirklich reingehen, oder?«, fragte Malin zögerlich.

»Na klar. Ich bin neugierig, was die Leute bei der Deutschen Bahn alles verlieren. Du etwa nicht?«

Malin hob unschlüssig die Schultern. »Ach, warum eigentlich nicht?«

Der Boden im Auktionsraum hatte ein Schachbrettmuster, es waren Stuhlreihen für circa hundert Personen aufgestellt worden. Ein Drittel der Plätze war bereits besetzt. Das ­Publikum war gemischt, wie Malin überrascht feststellte. Vom Studenten bis zum betagten Rentner war alles vertreten. Einige von ihnen waren in lebhafte Gespräche ver­wickelt. Sie schienen einander zu kennen.

Die Dame, die vor ihnen hineingegangen war, saß auf einem Stuhl in der ersten Reihe. Vor ihr erhob sich eine kleine Bühne mit zwei Tischen. Daneben war ein Schalter, an dem ein Mann gerade eine provisorische Kasse aufbaute. Dort konnten offensichtlich die ersteigerten Sachen bezahlt werden. Malin und Franzi nahmen auf zwei Stühlen in der zweiten Reihe Platz. 

»Guck mal, da vorne«, raunte Malin ihrer Freundin zu und deutete auf einen Punkt schräg hinter der Bühne. »Das scheinen die Gepäckstücke zu sein, die heute unter den Hammer kommen sollen.«

»Wie spannend!« Franzi hatte vor Aufregung gerötete Wangen. »Das hat was von Wichteln.« Sie nahm ihr Portemonnaie aus ihrer Handtasche und zählte den Inhalt. »Gute hundertfünfzig Euro habe ich bar dabei.«

Malin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Hast du wirklich vor mitzubieten?«

»Selbstverständlich! Du etwa nicht?«

Ein älterer Herr mit einer Schlägermütze setzte sich neben Franzi und nickte ihnen zu. Er öffnete die oberen zwei Knöpfe seiner Jacke, dann warf er einen prüfenden Blick zu den aufgestellten Fundstücken.

Malin lehnte sich an Franzi. »Wer weiß, was man am Ende ersteigert? Die dritten Zähne von Oma Elsbeth oder Jagdtrophäen von Onkel Theodor.«

»Oder Zahngold? Einen wertvollen Ring oder eine teure Kamera? Die Leute verlieren ja nicht nur Ramsch. Zumal ich davon ausgehe, dass die meisten Koffer unfreiwillig verloren gehen.«

»So ist es«, stimmte der ältere Herr zu. »Verzeihen Sie, wenn ich mich in Ihr Gespräch einmische, aber wenn Sie wüssten, was ich hier schon alles ersteigert habe! Vor zwei Wochen habe ich zwanzig Euro investiert und bin am Ende mit einer Reisetasche nach Hause gegangen. In ihr war ein nagelneues und originalverpacktes Handy. So etwas verliert niemand freiwillig. Mein Enkel hat sich gefreut.«

»Das kann ich mir vorstellen. Manchmal hat man Glück«, erwiderte Malin.

Der Herr wiegte den Kopf. »Glück gehört sicherlich auch dazu. Aber wenn Sie öfter an Versteigerungen teilnehmen, entwickeln Sie einen gewissen Blick für mögliche Inhalte. Heute habe ich den Auftrag von meinem Enkel erhalten, nach einem Tablet Ausschau zu halten. Wir haben uns zusammen im Internet Taschen mit integrierten Fächern für Laptops angesehen. Ich weiß also ungefähr, worauf ich zu achten habe.«

»Wir drücken Ihnen und Ihrem Enkel die Daumen!«, meinte Franzi zu ihm.

»Gleich geht es los«, bemerkte er und nickte Richtung Bühne.

Malin und Franzi folgten seinem Blick. Ein Mann in Jeans und weißem Hemd betrat das Podest. In seiner Rechten hielt er einen Holzhammer und legte ihn auf den Tisch neben der Kasse ab.

Malin blickte sich um. Inzwischen waren weitere Inte­ressenten gekommen. Die meisten Stühle waren nun besetzt.

Der Mann auf der Bühne begrüßte die Anwesenden und erklärte die Auktionsregeln. »Gebote per Handzeichen sind verbindlich. Wer am meisten bietet, bekommt den Zuschlag.«

Ein stämmiger Mann mit Halbglatze hievte den ersten Koffer auf den Tisch. Das anthrazitfarbene Gepäckstück war wuchtig, wirkte aber gleichzeitig edel. Dies animierte mehrere Besucher dazu, hartnäckig zu bieten. Malin hatte Schwierigkeiten, bei dem Tempo den Überblick zu behalten. Die Gebote flogen nur so in dem Saal hin und her. Schließlich fiel der Hammer bei hundertfünf Euro. Der Koffer ging an einen Herrn in dunkelblauem Anzug. Hätte Malin ihn so auf dem Bahnsteig gesehen, hätte sie keinen Zweifel daran gehabt, dass genau der Koffer ihm gehörte.

Es ging weiter mit einer bunten Reisetasche, die rein optisch bereits in die Jahre gekommen war. Dementsprechend verhalten waren die Gebote. Doch am Ende bot noch eine Dame zehn Euro und konnte kurz darauf die Tasche in Empfang nehmen. Als Nächstes stellte der Mann einen hellblauen Rucksack einer schwedischen Firma für Outdoorbekleidung auf den Tisch. Auf den ersten Blick ein unscheinbares Fundstück, das keinen wertvollen Inhalt vermuten ließ.

Der ältere Herr neben Franzi wurde unruhig. »Da ist der Polarfuchs drauf«, raunte er ihr zu und deutete auf das Firmenlogo, das vorne auf die Tasche aufgenäht worden war. »Mein Enkel hat gesagt, wenn so eine Tasche kommt, soll ich bieten.« Schon schnellte sein rechter Arm in die Luft.

»Viel Glück«, wünschte Franzi ihm.

Die Gebote gingen zunächst zwischen dem älteren Herrn und zwei jüngeren Männern hin und her. Doch sie stiegen beide bereits bei unter fünfzig Euro aus. Am Ende erhielt Franzis Sitznachbar tatsächlich den Zuschlag. Sichtlich erfreut nahm er den Rucksack vor der Bühne in Empfang, bezahlte dann den vereinbarten Preis und kam zurück an seinen Platz.

»Dann wollen wir mal schauen, was ich ersteigert habe.« Eifrig zog er den Reißverschluss auf und blickte hinein. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Er griff hinein und beförderte einen HD-Bluetooth-Kopfhörer zutage und zog schließlich aus einem Fach ein fast neuwertiges iPad. »Mein Auftrag ist für heute erfüllt«, erklärte er strahlend.

»Bravo!« Franzi nickte ihm anerkennend zu.

Malin war von seiner Treffgenauigkeit beeindruckt. »Ihr Enkel wird sich bestimmt freuen.«

»Bestimmt. Opa, du machst das schon, hat er gestern noch zu mir gesagt.« Gut gelaunt verstaute der Mann den Kopfhörer und das Tablet wieder in der Tasche. »Ihnen wünsche ich genauso viel Glück. Und ein kleiner Tipp von mir: Lassen Sie sich vom äußeren Erscheinungsbild der Gepäckstücke nicht in die Irre führen. Meist sind es die unauffälligsten Fundstücke, die die größten Schätze bergen«, sagte er zum Abschied und verließ den Saal.

»Das war ein Profi«, stellte Franzi fest.

»Er wusste, was er wollte, und hat es bekommen«, stimmte Malin ihr zu. »Aber was wollen wir eigentlich?«

Franzi zog die Augenbrauen zusammen. »Ich glaube, ich will genau das da.« Sie schaute zum nächsten Fundstück, das auf dem Tisch präsentiert wurde.

Malin betrachtete die längliche olivgrüne Transporthülle und runzelte die Stirn. »Was willst du denn damit?«, fragte sie skeptisch.

Franzi reckte schon ihre Hand in die Luft, um zu bieten. »Sieht doch nach einer Angelausrüstung aus. Mein Vater meinte kürzlich, dass er seine im nächsten Jahr gegen ein neueres Modell austauschen will. Vielleicht habe ich Glück und die Ausrüstung ist tipptopp.«

Malin lächelte. »Dann mal Petri Heil!«

Nur ein Mann bot gegen Franzi und stieg bei fünfundzwanzig Euro aus. Ihre Freundin klatschte vor Begeisterung in beide Hände, als sie den Zuschlag erhielt. Freudig nahm sie die rustikale Angeltasche in Empfang. Nachdem sie gezahlt hatte, kam sie wieder zurück zu Malin.

»Jetzt bin ich aber gespannt!« Malin beobachtete neugierig, wie ihre Freundin den Reißverschluss der Transporthülle aufzog.

»Ein Volltreffer«, sagte Franzi strahlend. »Zwei Angelruten mit Rollen, ein Kescher und anderes Zubehör. Scheint alles in einwandfreiem Zustand zu sein. Mein Vater wird sich freuen.«

»Herzlichen Glückwunsch!« Malin rümpfte lachend die Nase. »Es riecht sogar noch nach Fisch.«

»Petri Dank!« Franzi zog die Reißverschlüsse wieder zu und legte die Transporttasche neben ihren Stuhl auf den Boden. »Nun fehlst nur noch du.«

»Ach!«, winkte Malin ab. »Von mir aus können wir auch gehen.«

Franzi schüttelte entschieden den Kopf. »Das kommt ja gar nicht in die Tüte. Du hast dein Glück noch nicht mal versucht.«

Auch wenn sie sich nichts davon versprach, gab Malin sich geschlagen. »Also gut. Beim nächsten Fundstück biete ich mit. Und falls es nicht funktioniert, gehen wir.«

»Na gut«, versprach Franzi widerwillig.

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