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Ein gefährliches Talent

Als Buch hier erhältlich:

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Pass dich ihnen an. Sonst wirst du es bereuen.
Die forensische Psychologin Rebecca Lekmann kehrt nach vielen Jahren wieder in ihre Heimatstadt Djursholm zurück, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Dafür lässt sie ihre Ehefrau und auch eine glänzende Karriere in den USA zurück. Eines Nachts erhält sie einen Anruf ihres ehemaligen Kollegen Leo: Rebeccas alte Highschool-Freundin Louise wurde in ihrer luxuriösen Villa brutal getötet. Rebecca beginnt, auf eigene Faust den Mord um Louise aufzuklären. Wer hat sie getötet und warum? Und weshalb hat Louise nur wenige Wochen vor dem Mord versucht, Rebecca zu kontaktieren – obwohl sie geschworen hatte, Rebecca nie wiedersehen zu wollen? Je näher Rebecca den Menschen um Louise kommt, desto brenzliger wird es für sie selbst. Am Ende muss sie sich fragen, welches Risiko sie tatsächlich bereit ist einzugehen ...


  • Erscheinungstag: 23.04.2024
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004784

Leseprobe

Für meine Mutter, die, als ich mit sieben Jahren meine allererste Seite geschrieben hatte, sagte:
»Ich glaube, daraus könnte ein Buch werden.«
Aus jener Geschichte wurde kein Buch.
Dafür aber aus dieser hier.
Ohne dich wäre das nie geschehen.

Prolog

Der Wein hatte Zimmertemperatur, und Louise spürte das wohlige Ziehen der Tannine weit hinten am Gaumen. Es war eine teure Flasche, eine von Williams besten, die er eigentlich als Investition und nicht zum Trinken gekauft hatte.

Eine der Eigenarten an ihm, die ihr schon immer ein wenig auf die Nerven gefallen waren.

Inzwischen war es eine Stunde her, seit sie die SMS abgeschickt hatte, 55 Minuten, seit sie in den Keller gegangen war, den Weinkühlschrank einige Sekunden lang angestarrt, ihn geöffnet, eine Flasche heraus- und mit nach oben in die Küche genommen hatte. Noch an der Küchenarbeitsplatte hatte sie den Wein entkorkt und einen Schluck direkt aus der Flasche getrunken. Nachdem sie ihn im Mund hin und her gespült und heruntergeschluckt hatte, stellte sie ernüchtert fest, dass er nicht mehr nach einer Geldanlage schmeckte als der Rioja, den sie am Vortag für 119 Kronen im Systembolaget gekauft hatte.

Jetzt war die halbe Flasche geleert, aber ohne, dass sich die innere Ruhe eingestellt hätte, auf die sie gehofft hatte. Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie etwas Stärkeres brauchte als Wein, etwas, das sie noch mehr beruhigte, doch sie wischte den Gedanken beiseite. Heute Abend brauchte sie einen klaren Kopf.

Früher hatte sie sich immer über die Filmszenen lustig gemacht, in denen jemand vor einer Konfrontation Lippenstift auflegte. Jetzt allerdings spürte sie, dass diese Art der Kriegsbemalung gar nicht so abwegig war.

Sie war geduscht, hatte die Beine sorgfältig rasiert, bis auch das letzte Härchen entfernt gewesen war, Arme, Beine und Gesicht mit drei verschiedenen Lotionen eingecremt, jede aus je einem kleinen weißen Glastiegel. Hatte sich Parfüm an die Schlüsselbeine und unter das Kinn getupft. Für ihr Outfit hatte sie eine weiße Seidenbluse und eine passende weiße Hose gewählt. Hätte sie das Haus verlassen wollen, wäre ihre Wahl auf etwas anderes gefallen, aber die Klimaanlage, die sie im letzten Sommer hatten installieren lassen, hielt die Temperatur unter 20 Grad, trotz der klebrig-feuchten Augusthitze, die sich von draußen gegen die Fenster drückte.

Mit leichten Fingern hatte sie sich geschminkt und sich Zeit gelassen, ihre Hände zitterten nur ein wenig, als sie die Spuren der braunen Mascara von ihren Augenlidern wischte.

Und dann hatte sie gewartet.

Louise schenkte sich noch etwas Wein ins Glas und setzte sich an den Küchentisch. Jede Minute war es so weit.

Sie hatte es nicht als Frage formuliert, sondern als Frist.

»20:00 Uhr. Bei mir zu Hause. William ist nicht daheim.«

Die Uhr am Herd zeigte jetzt 19:56 an.

War sie nervös? Sie wusste es selbst nicht so richtig. Es musste Nervosität sein, die das Adrenalin durch ihren Körper strömen ließ, aber so fühlte es sich nicht an. Vielmehr kribbelte es unter ihrer Haut, als wäre sie zum ersten Mal seit einer langen, langen Zeit wach.

19:58.

Unten bog ein Auto um die Kurve am Wasser und näherte sich.

Louise stand vom Tisch auf und strich sich die Bluse glatt. Ihre Hände waren mit einem Mal vollkommen ruhig, keine Spur mehr von einem Zittern.

Es war so weit.

Kapitel 1

Ich wache davon auf, dass Marias Wecker klingelt.

Sie stellt sich immer vier oder fünf Wecker, den ersten eine Stunde, bevor sie sich aus dem Bett wälzen muss, und selbst diese Lösung ist ein Kompromiss. Als wir zusammenzogen, waren es noch elf oder zwölf Wecker.

»Maria«, stöhne ich, »would you please, for the love of god, turn off that alarm?«

Sie antwortet nicht.

Ich presse den Kopf ins Kissen und ziehe die Decke über mich, versuche, das Geräusch zu ignorieren. Aber die Decke ist zu schwer, das Kissen hat den falschen Geruch, und niemand schaltet das Weckerklingeln aus.

Ich setze mich auf. Im Zimmer ist es dunkel, aber nicht dunkel genug. Vor den Fenstern hängen nicht meine sonderangefertigten Verdunklungsgardinen, und das hier ist nicht mein Bett. Maria liegt nicht neben mir auf der Matratze, keine wilden Locken schauen unter der Daunendecke hervor, keine leise schnaufenden Atemzüge sind zu hören.

Es ist mein Handy, das klingelt.

Ich strecke mich danach, es liegt auf dem Nachttisch, und die Vibration droht die ganze Wand einstürzen zu lassen, als ich auf das Display schaue. Kein Wecker, sondern ein Anruf. Die Nummer kenne ich nicht, schwedische Vorwahl.

Wäre ich eine optimistischere Person, hätte ich wohl vermutet, es sei die Klinik, bei der ich vor einigen Wochen zum Vorstellungsgespräch war.

Einen Moment zögere ich, dann drücke ich mir das Handy ans Ohr. Meine Stimme klingt noch immer ganz verschlafen, als ich sage:

»Ja, hallo, hier ist Rebecca.«

»Hier ist Leo«, stellt sich die Person in der Leitung vor, und ich setze mich augenblicklich noch ein Stück weiter auf.

»Leo?«, wiederhole ich, wie um sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört habe.

Er und ich haben seit … Gott, bestimmt fünf Jahren nichts mehr voneinander gehört. Wir waren keine Freunde, nur Kollegen, die gut miteinander auskamen und ebenso gut zusammenarbeiteten. Nach langen Tagen gingen wir gelegentlich in einem Pub etwas trinken, ansonsten hatten wir privat nichts miteinander zu tun.

»Kannst du reden?«, fragt er, und ich fahre mir halb unbewusst mit den Fingern durchs Haar, als könnte er mich durchs Telefon sehen. Auf eine bizarre Art ist es mir peinlich, dass ich vom Schlaf verschwitzt bin, meine Haare durcheinander sind und ich nichts anderes anhabe als ein 17 Jahre altes T-Shirt, das ich irgendwo weit hinten in einer Schublade gefunden habe.

»Klar doch«, sage ich. »Was gibt’s denn?«

Es ist nicht nur der Umstand, dass er mich früh an einem Sonntagmorgen anruft, obwohl er sich ansonsten nie außerhalb der Arbeit bei mir gemeldet hat, nicht nur, dass unser einziger Kontakt in den letzten fünf Jahren aus sporadischen Likes von Facebook-Posts bestanden hat.

Es ist sein Tonfall. Dieser gedämpfte, zurückhaltende Ton in seiner Stimme. Ich habe ihn schon einmal gehört.

»Die Zeitungen werden heute darüber schreiben«, sagt Leo. »Ich weiß, dass du zu Hause bist, und … wir haben die Angehörigen bereits informiert. Du bist zwar nicht unbedingt eine Angehörige, aber ich dachte, du würdest es trotzdem gern wissen. So musst du es nicht aus den Schlagzeilen erfahren.«

»Wer ist es?«, frage ich. Längst sitze ich kerzengerade im Bett und nehme vage, in einem anderen Teil meines Gehirns, wahr, dass sich mein Puls erhöht hat, sich meine Schultern anspannen, dass sich gerade mein gesamter Körper in Alarmbereitschaft versetzt.

Stille in der Leitung. Dann höre ich Leo sagen:

»Es ist Louise von Ascheberg.«

Mein Mund wird trocken. Eine Erinnerung flackert auf, so deutlich und lebendig, dass sie mir für einen Moment wirklicher erscheint als der Raum rund um mich.

Ein Strickpullover, schwacher Vanilleduft, vermischt mit Salz und Algen. Dämmerlicht über feuchtem blondem Haar.

»Wie?«, frage ich, aber meine Stimme klingt, als wäre sie weit entfernt.

»Du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann«, erklärt Leo mit entschuldigender Stimme. Ich nicke vor mich hin, sicher, natürlich, das weiß ich, ich sollte nicht danach fragen, und trotzdem kann ich mich nicht daran hindern:

»Aber ihr ermittelt in einem Mordfall?«

Sein Schweigen bestätigt alles, was er nicht zugeben kann.

Ich sollte etwas sagen. Muss etwas sagen. Kann nicht.

»Ich muss los«, unterbricht Leo meine Gedanken. »Ich wollte es dir nur erzählen. Keine Ahnung, ob es dir wichtig ist, aber … ja.«

»Das ist es«, bringe ich schließlich heraus, meine Kehle ist wie zugeschnürt. »Danke.«

Leo zögert noch aufzulegen.

»Ja«, sagt er schließlich, »dann pass auf dich auf.« Es klickt in der Leitung.

Mehrere Sekunden bin ich wie gelähmt, sitze in den durchwühlten Laken, das Handy ans Ohr gepresst. Ihr Name pocht in meinem Kopf.

Louise.

Vor sechs Wochen hatte sie sich bei mir gemeldet. Wir sind weder auf Facebook befreundet noch auf LinkedIn vernetzt, auch bei Instagram folgen wir einander nicht, deshalb bekam ich ihre Nachricht als Anfrage, auf die ich nicht antwortete. Aber ich habe sie Dutzende Male gelesen. Habe versucht, etwas zwischen den Zeilen herauszulesen.

Louise von Ascheberg

Hej, Rebecca!

Ich habe gehört, dass du zurück in Djursholm bist, und wollte wissen, ob du die Tage mal Zeit für einen Kaffee hast? Es gibt da etwas sehr Spannendes, über das ich gern mit dir reden würde!

Kapitel 2

Ich spreche nie über Louise. Wäre Miriam Hedlund nicht gewesen, hätte ich auch Leo nie von ihr erzählt.

Es war ungefähr ein Jahr, bevor ich in die USA zog. Leo und ich arbeiteten da seit ein paar Jahren regelmäßig zusammen. Ein eingespieltes Duo wie in den Fernsehkrimis waren wir aber nicht: Er war kein dunkler, düsterer Typ, ich nicht groß, schlank und ohne BH, und ein Alkoholproblem hatten wir beide nicht. Ich trank überhaupt nicht, und Leo war so fokussiert auf sein Training, dass er jeden Drink verabscheute, sofern er kein grüner Smoothie war oder Kreatin enthielt.

Doch der Fall mit Miriam Hedlund brachte uns weit genug aus der Fassung, um uns einander zu öffnen.

Da sie erst 15 Jahre alt gewesen war, beschloss er, eine externe Beraterin hinzuzuziehen. Meine Chefin Laetitia hatte früher in der Jugendhilfe gearbeitet und kümmerte sich normalerweise um Fälle mit Kindern und Jugendlichen, aber Leo und ich hatten zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach zusammengearbeitet und wussten, dass wir als Team gut funktionierten, weshalb er mich anrief und fragte, ob ich Zeit hätte.

Damals war ich knapp über 30 und hatte gerade ausreichend Erfahrung als beratende Vernehmungsexpertin, um irrtümlicherweise zu glauben, ich wüsste, was ich tue. Leo hatte ein gutes Jahr hinter sich und fühlte sich allmählich richtig wohl in seiner Rolle als Ermittler. Der Fall schien simpel: ein Einbruchdiebstahl, der schiefgegangen und aus dem Ruder gelaufen war. In der Gegend, in der Miriam und ihre Eltern wohnten, hatte es eine Reihe von Einbrüchen gegeben, und Miriam war eine aufmerksame Zeugin.

Zu aufmerksam, aber daran dachten wir damals nicht.

Leo holte mich dazu, um sie als Zeugin zu befragen, nicht um sie als Verdächtige zu vernehmen. Sie tat ihm leid. Er bat mich, auf Anzeichen für ein Trauma zu achten, denn welche 15-Jährige wäre schließlich nicht traumatisiert, wenn sie mit ansehen müsste, wie ihr Vater von einem Einbrecher schwer misshandelt wird?

Wir beide trugen Schuld. Doch das begriffen wir erst danach. Hätte Leo sich den Tatort genauer angesehen, wäre ihm aufgefallen, dass das Schloss an der Haustür in Wahrheit nie aufgebrochen worden war, sondern dass die groben Spuren rund um das Schloss eher aussahen, als hätte jemand mit einem Messer auf die Tür eingehackt, und nicht auf einen ernst zu nehmenden Einbruchsversuch schließen ließen.

Und wäre ich nicht so beschäftigt damit gewesen, nach Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung zu suchen, hätte ich erkannt, wie ungewöhnlich Miriams Aussage ausfiel, wenn man sie mit typischen Zeugenaussagen von Verbrechensopfern verglich. Sie erinnerte sich an jedes Detail, zögerte nicht, verhaspelte sich nie oder suchte nach Worten. Ich interpretierte ihren Affektmangel als Schock, ihre Sicherheit als Verteidigungsmechanismus.

Noch heute frage ich mich manchmal, ob meine Chefin Laetitia gesehen hätte, was mir damals entging. Ebenso wenig kann Leo wissen, ob ein anderer Ermittler hätte ahnen können, dass etwas nicht stimmte. Womöglich wäre ein anderes Team zu den gleichen Schlussfolgerungen gekommen wie wir. Aber nichts konnte die Schuld im Nachhinein mindern, nachdem Miriams Mutter ihre Geschäftsreise abgebrochen und ihre Tochter auf dem Polizeirevier abgeholt hatte und Miriam, eine knappe Stunde später, denselben Spaten nahm, mit dem sie ihren Vater ins Koma geprügelt hatte, und ihn ihrer Mutter in den Schädel rammte.

Dieses Mal im Badezimmer. Nicht in der Küche.

Später erhielt sie eine Diagnose, die meist nur bei Erwachsenen angewendet wird. Ich wurde gebeten, in dem Team mitzuarbeiten, das die Untersuchung vornahm, aber ich lehnte ab. Noch immer kann ich nicht an sie denken, ohne dass mir schlecht wird. Ob aus Schuldgefühlen oder aus Abscheu vor dem, was sie getan hat, weiß ich nicht.

An dem Tag aber, an dem das Urteil verkündet wurde – Jugendarrest –, gingen Leo und ich etwas trinken.

Mir wäre es lieber gewesen, er wäre zu mir in die Wohnung gekommen, damit ich uns einen Joint hätte bauen können, aber das hätte Leos Freundin nicht gefallen, weder das Gras noch wir beide allein. Damals konnte sie ziemlich eifersüchtig sein. Für sie spielte es keine Rolle, dass ich Männer höchstens als Bekannte oder Kollegen mochte und anderweitig kein Interesse an ihnen hatte. Vielleicht hat sich die Eifersucht mit der Zeit ja gelegt. Heute haben die beiden zwei Kinder und ein kleines Haus in Solna.

Wir gingen in einen heruntergekommenen Pub, der sehr praktisch in der Nähe der U-Bahn gelegen war. Ich bestellte ein Tonicwater mit Zitrone und Eis, Leo ein großes Bier.

Eine ganze Weile lang sagte keiner von uns ein Wort. Wir saßen nur schweigend an dem schweren, dunklen Holztisch und tranken.

»Der Vater hat es überlebt, immerhin«, sagte Leo schließlich, und ich lachte bitter auf.

»Mhm«, sagte ich. »Wenigstens etwas.«

Leo schüttelte den Kopf.

»Scheiße«, fluchte er leise und fasste die Situation damit auf seine eigene Weise zusammen.

Es war das erste Mal, dass wir uns außerhalb der Arbeit verabredet hatten, und wir sollten es noch ein paarmal tun, bis ich Stockholm verließ und nach Houston ging. Leo hatte es vorgeschlagen, und ich hatte zugesagt, aber weder er noch ich sprachen aus, was wir beide wussten: Wir brauchten jemanden, der das furchtbare und bittere Scheitern verstand und uns nicht wie alle anderen weiszumachen versuchte, wir bräuchten es nicht zu spüren.

»Ich hätte es sehen müssen«, meinte ich leise, während ich den einsamen kleinen Eiswürfel in meinem Tonicglas mit dem kurzen schwarzen Strohhalm schwenkte. »Hätte ich mich an die Regeln für eine Erstvernehmung gehalten, hätte ich es bemerkt.«

»Wir wussten nicht, dass es eine Vernehmung war«, erwiderte Leo, aber seine Stimme klang schwer.

Ich sagte nicht, was ich dachte. Das war nicht nötig. Ich wusste, dass er das Gleiche dachte.

Stattdessen stellte ich ihm eine unbeholfene Frage über seine Freundin. Wie sie sich kennengelernt hätten. Über solche Dinge redeten wir für gewöhnlich nicht, und das Gespräch lief ein wenig schleppend, aber es half gegen die Stille. Nachdem Leo sich ein zweites Bier bestellt hatte, veränderte sich die Atmosphäre im Raum. Die Schuldgefühle, die Erschöpfung und der stickige Geruch nach altem Alkohol legten sich wie eine Decke um mich.

»Und du?«, fragte Leo dann. »Datest du jemanden?«

Ich schüttelte den Kopf und lachte kurz.

»Nein«, antwortete ich. »In so was bin ich nicht so gut. Und die Arbeit ist immer ein Problem. Entweder finden sie es unheimlich, oder sie interessieren sich ein bisschen zu sehr dafür.«

»Aha«, sagte Leo mit einem Nicken. »Krimifans, oder was?«

»Nein, das wäre wahrscheinlich einfacher. Ich spreche von Menschen, die eine Privattherapeutin wollen. Vielleicht ziehe ich diese Art von Frauen einfach an.«

Leo zog die Augenbrauen nach oben, und ich sah, wie er die Information verarbeitete, ehe er nickte. Schön. Zwar hatte ich Leo nicht für einen dieser Typen gehalten, mit denen solche Situationen anstrengend wurden, aber ich hatte mich auch in der Vergangenheit schon geirrt. Hatte zu oft erlebt, dass scheinbar vernünftige männliche Bekannte dieses charakteristische Funkeln in den Augen bekamen, sobald ich mich sicher genug fühlte, ihnen zu erzählen, dass ich lesbisch bin. Genau diesen Blick, stellte ich mir vor, trugen auch Missionare in sich.

Ich kann sie bekehren.

»Ich verstehe«, sagte Leo. »Ich glaube nicht, dass es an dir liegt. Es ist einfach schwer, jemanden kennenzulernen, wenn man in diesem Bereich arbeitet. Bevor ich Linda traf, hatte ich schon so gut wie aufgegeben.«

Ich lächelte schief.

»Sollte ich etwa auch anfangen, an der Ruderbank im Fitnessstudio abzuhängen? Warten, bis meine Prinzessin auftaucht und meine Technik korrigiert?«, fragte ich.

»Vielleicht«, entgegnete Leo und grinste. »Mir hat es gefallen, als Linda das getan hat.«

Ich spürte, wie mein Lächeln erstarb. Plötzlich war sie wieder in meinem Kopf.

Damals tat sie das gelegentlich. Tauchte wie aus dem Nichts auf. Manchmal habe ich mich gefragt, ob es dabei wirklich um Louise ging oder ob sie zu einer Art Symbol für etwas anderes geworden war. Vielleicht für mein Scheitern oder meine Einsamkeit.

Während meiner obligatorischen 25 Therapiesitzungen im Psychologiestudium war ich sämtlichen Fragen nach Beziehungen und Bindungen, so gut es ging, ausgewichen, weil ich wusste, dass ich dann über sie hätte sprechen müssen. Ich hatte mir eingeredet, mich zu weigern, weil es irrelevant für mich war, aber auf irgendeiner Ebene fragte ich mich trotzdem, ob es nicht die Angst davor war, was mein Psychologe darüber gesagt hätte.

»Ich weiß nicht«, hörte ich mich sagen, leicht erstaunt, als mir bewusst wurde, was ich gleich erzählen würde. Vielleicht lag es an der unerwarteten Intimität zwischen uns, die durch unser geteiltes Scheitern entstanden war.

»Ich hatte schon immer eine Schwäche für ein wenig komplizierte Mädchen«, erzählte ich. »Meine erste Freundin war auch so jemand. Ich habe versucht, sie zu therapieren, aber sie wollte nicht therapiert werden. Du weißt, wie so was ist.«

Leo, der mit Blick auf seine bodenständige Frohnatur von Freundin wahrscheinlich keinen blassen Schimmer hatte, nickte.

»Ja«, stimmte er mir zu. »Es ist nicht leicht, jemandem zu helfen, der keine Hilfe will.«

»Ach, vielleicht hab ich’s auch einfach nur verbockt«, meinte ich. »Man sollte nicht glauben, man könnte die ganze Welt retten. Und wahrscheinlich ist es nicht so toll, mit jemandem zusammen zu sein, der einen als Projekt betrachtet.«

Ich biss mir auf die Wange. Mir fiel unser letztes Gespräch ein.

Verpiss dich, Rebecca. Ich will dich nie wieder sehen.

Leo konnte gut zuhören. Nicht auf die Art, wie man es in der Ausbildung lernte, mit viel Augenkontakt, Nicken und Spiegeln, sondern er hörte einfach zu. Saß ruhig und entspannt, fast träge da und wartete darauf, dass ich die Stille füllte.

Und das tat ich. Ich erzählte von Louise.

Kapitel 3

Auf dem Bild sieht sie nicht aus wie sie selbst.

Ihr Facebook-Profil ist öffentlich, und ihr Foto lässt sich anklicken. Es ist ein professionelles Porträt, Kopf und Schultern vor einem weißen Hintergrund.

Das dicke, strubbelige, hüftlange Haar, an das ich mich erinnere, reicht ihr nur noch bis zu den Schultern, ist geglättet und hat Strähnchen. Sie hat diskrete Perlenstecker in den Ohrläppchen und ein leichtes Grübchen am Mundwinkel.

Ich weiß noch, wie ich den Daumen in dieses Lachgrübchen gelegt habe, wenn sie sauer auf mich war, damals, vor einer halben Ewigkeit. Jetzt kommt mir diese Erinnerung wie ein schlechter Witz vor, jetzt, da ich hier in meiner durchgeschwitzten Bettwäsche sitze, während ein wenig Sonnenlicht neben der Gardine ins Zimmer sickert.

Wie kann Louise tot sein?

Ich habe mir immer vorgestellt, dass sie irgendwo da draußen ist. Manchmal habe ich an sie gedacht, mich gefragt, was für ein Leben sie lebt, wie es ihr geht. Ob sie jemals an mich denkt, so wie ich an sie.

Meistens tat ich das, wenn ich mich ein wenig verloren fühlte, ratlos, gescheitert. Wenn ich über das Leben nachdachte, gegen das ich mich entschieden habe.

Nachdem ich Maria kennenlernte, passierte es immer seltener, bis es irgendwann kaum noch passierte.

Als ich wieder nach Hause kam, wurde es wieder schlimmer. Noch schlimmer, als ich zurück nach Djursholm musste, und viel schlimmer, als Maria diese letzte Mail schickte.

I think you should get a lawyer.

Danach suchte Louise mich wieder heim. Aber ich blieb stark. Googelte sie nicht, suchte sie nicht auf Social Media. Nicht einmal nach ihrer Nachricht.

Als ich auf ihrem Profil nach unten scrolle, sehe ich das Übliche. Geburtstagsglückwünsche, Meilensteine, Jobwechsel.

Keine Fotos von Kindern. Was allerdings nicht bedeuten muss, dass sie keine hat. Vielleicht ist sie eine dieser Mütter, die versuchen, die Privatsphäre ihrer Kinder zu schützen, und nichts davon halten, Fotos hochzuladen.

War. War eine dieser Mütter.

Mein Gott.

Ich halte inne, versuche nachzuspüren, was ich fühle. Trauer? Schock? Nein, nichts in der Art. Jedenfalls noch nicht.

Warum sollte ich überhaupt trauern? Ich kenne diese Frau nicht. Ich kenne Louise von Ascheberg nicht, die im Juni vor drei Jahren William von Ascheberg geheiratet hat, die gebügelte Ralph-Lauren-Blusen trägt und auf Mädelswochenenden nach Nizza fliegt, um dort mit einem Aperol Spritz in der Hand für Selfies zu posieren. Sie ist eine Fremde. Als ich mich nach vorn beuge, um die verpixelten Gesichtszüge auf den Fotos genauer zu studieren, so nah, dass meine Nase gegen den billigen Laptopbildschirm stößt, erkenne ich nicht einmal einen Abglanz der Louise, die ich einmal kannte.

Meine Louise ist schon lange tot, sie lebte nur noch in meiner Erinnerung. Und vielleicht hat sie sogar nie existiert. Nicht wirklich. Vielleicht war sie nur mein Bild von Louise, all die kleinen Details, die ich sammelte, um glauben zu können, sie gehöre mir, dass irgendein geheimer Teil von ihr mir gehöre.

Da. Jetzt kommt die Trauer. Wie ein dumpfer Hieb in die Magengrube.

Ich klappe den Laptop zu und bleibe aufrecht im Bett sitzen. Höre leichte Schritte über mir.

Sie sind wach.

Ich sollte nach oben gehen. Mit dem Frühstück helfen. Mama muss heute zum Arzt, und Papa wird jemanden zum Anlehnen brauchen, damit er stark sein kann. Deshalb bin ich hier, trotz allem.

Aber ich kann mich nicht richtig bewegen. Eine Erinnerung taucht auf, weit hinten im Kopf nagt dieses Bild an mir.

19 Jahre sind seit diesem Abend vergangen, aber die Erinnerung ist nach wie vor klar. Die zerschlissene Jeansjacke mit dem Loch am linken Ellbogen, der struppige Pferdeschwanz, die Sicherheitsnadel in ihrem einen Ohr.

Ich will dich nie wieder sehen.

Warum also hat sie sich jetzt bei mir gemeldet?

12. November

Als der Wecker klingelte, schaltete Louise ihn aus. Dann legte sie sich wieder ins Bett, ließ den Kopf ins Kissen sinken und starrte an die Decke.

William würde nicht vor morgen früh zurück sein. Sie hatte das ganze Haus für sich allein.

Das Haus war so still. Anfangs hatte sie es gemocht, es erinnerte sie an die Stille ihrer Kindheit.

In der Stadt hatte sie sich nie wohlgefühlt. Als Louise und ihre Eltern sich nach ihrem Examen Wohnungen ansahen, hatte sie eigentlich Vasastan im Blick gehabt. Sie hatte von einer Wohnung im Zentrum Stockholms geträumt, davon, die Geräusche der Stadt zu hören, wenn sie sich abends schlafen legte. Sie hatte ein Leben voll von schönen Freunden, vollen Bars und langen Nächten vor sich gesehen.

Aber zu Hause hatte sie sich nie gefühlt.

Es war, als seien alle anderen im Besitz eines geheimen Regelbuchs gewesen, das man vergessen hatte, ihr zu geben. Als hätten sie ganz automatisch gewusst, welche Kleidung man tragen musste, wie man sich benahm, welche Bücher man las und in welchen Restaurants man aß. Louise hatte all das mühsam lernen müssen. Sie studierte ihre Kollegen, lud sich selbst zu Abendessen und Afterwork-Events ein, wo sie dann mit feuchten Handflächen versuchte herauszufinden, wie man sich so gab, als gehöre man dazu.

Wie ironisch es doch war, dass sie als Teenager Djursholm verabscheut hatte. Groß hatte sie damals getönt, sie würde nie dorthin zurückkehren, wenn sie erst einmal von dort weggezogen war. Djursholm sei eine Klonfabrik für unterkühlte Frauen und konservative Männer, kein Mensch mit halbwegs vernünftigen Ansichten könne jemals dort bleiben, hatte sie gesagt.

Doch als sie William wiedertraf, als sie ein Paar wurden und über eine gemeinsame Zukunft sprachen … da bekam sie Heimweh. Heimweh nach Djursholm, wo sie und William ihre Jugend verbracht hatten, dem Ort, an den sie geschworen hatte, nie wieder zurückzukehren.

In ihr muss es eine Sehnsucht nach ihrer Kindheit gegeben haben, nach der Zeit, bevor alles so kompliziert wurde. Nach den uralten Eichen und den kalten Wogen an der Strandpromenade. Nach den hohen, stillen Räumen in den alten Villen, die einen 100 Jahre in der Zeit zurückzuversetzen schienen.

Sie hatte die ungeschriebenen Regeln in Djursholm nie leiden können, aber dort hatte sie die geltenden Gepflogenheiten wenigstens gekannt. Trotzdem hatte sie versucht, außerhalb davon zu existieren, sich ein eigenes Regelwerk aufzubauen, aber sie war erschöpft. Sie war es leid, es zu versuchen.

Also heirateten sie, kehrten zurück in die hohen stillen Räume aus der Zeit der Jahrhundertwende und versuchten, sie mit Kindern zu füllen. Und jetzt lag sie hier in dieser Stille. Sie wusste nicht, wohin mit sich, und hatte niemanden, mit dem sie hätte reden können.

Wieso überhaupt das Bett verlassen?

Sie hätte frühstücken können, aber in der letzten Zeit fehlte ihr immer öfter der Appetit. Nach der letzten fehlgeschlagenen Befruchtung hatte der Arzt ihr eine Pause empfohlen. Die Hormone hatten ihren Bauch anschwellen lassen und sie sehr emotional gemacht, beim kleinsten Anlass brach sie in Tränen aus, und sie hasste es. Sie verabscheute, wie fremd sich der Körper anfühlte, in dem sie steckte.

Doch jetzt fühlte sie sich nicht mehr aufgedunsen und aufgewühlt. Sie fühlte sich klein, geschrumpft, hart und allein.

Vor einigen Tagen hatte sie beim Abendessen gesagt, dass sie überlege, wieder arbeiten zu gehen. Es war ihr wie etwas vorgekommen, das man eben sagte. Wenn der Arzt empfahl, Stress zu reduzieren, weil das helfen könne, schwanger zu werden, dann kündigte man seinen Job – wenn man dann aber damit scheiterte, schwanger zu werden, wieder und wieder und wieder, dann ging man eben wieder arbeiten. Man nahm es nicht zu schwer, stand auf, richtete sein Krönchen und lebte sein Leben weiter. So ging man damit um.

Man blieb nicht jeden Morgen länger unter der Decke liegen und spürte die Leere in der eigenen Brust wachsen, bis man glaubte, der Wahnsinn fresse einen von innen auf.

Louise rollte sich zur Seite und griff zum Handy. Vor einigen Jahren war sie morgens noch aus dem Bett gesprungen, eine Runde am Wasser laufen gegangen, hatte einen Smoothie am Küchentresen getrunken, während sie die 15 bis 20 Mails durchgegangen war, die sie in der Nacht bekommen hatte. Ihr Alltag war immer so schnelllebig gewesen. Nie war genug Zeit übrig gewesen, alles zu schaffen, und sie hatte sich ständig darüber beklagt, auf diese selbstgefällige Art, obwohl man eigentlich wusste, dass man sich zu den Glücklichen zählen durfte.

Sie vermisste das. Vermisste es so sehr, dass es wehtat. Aber sie wusste nicht, wie sie dahin zurückfinden sollte.

Manchmal fragte sie sich, ob sie je Louise von Ascheberg gewesen war, Marketing Consultant mit eigener Firma, mit perfekt gestyltem Haar und makellosen Nägeln. Das klang gut. Hatte ein gutes Bild abgegeben.

Warum also fand sie nicht zurück, warum konnte sie nicht wieder diese Louise sein?

Woher war diese endlose graue Misere gekommen?

Sie war auch in der Vergangenheit schon gescheitert, aber sie hatte es immer wieder auf die Beine geschafft. Hatte weitergekämpft. Ein neues Projekt gefunden, einen kniffligen Klienten, einen Halbmarathon, ein Renovierungsobjekt, mit dem sie sich beschäftigen konnte, bis der neue Triumph das alte Scheitern vergessen machte, als wäre es nie geschehen.

Mit trägen Fingern schaltete Louise ihr Handy ein. Novembergraues Licht sickerte durch die dünnen weißen Gardinen ins Zimmer, wie das Versprechen auf eine Nacht, die nie weit entfernt war.

Eine Guten-Morgen-SMS von William. Meldungen von den großen Tageszeitungen, die über die Ereignisse der Nacht berichteten. Eine Erinnerung ihrer Fitness-App, ihr letztes Training war schon eine Weile her.

Danke, weiß ich selbst.

Als sie bis zum Ende der Liste gekommen war und ihr Blick auf eine Facebook-Nachricht fiel, runzelte sie die Stirn. Zuerst erkannte sie nicht einmal den Namen, doch dann fiel es ihr wieder ein: Lykke Haraldsson. Sie hatten sich vor ein paar Jahren bei einem von Williams Geschäftsessen getroffen.

Hallo, Louise!

Ich hoffe, dir geht es gut. Hast du Lust, in der nächsten Zeit mal einen Kaffee trinken zu gehen? Ich würde gern mit dir über eine Geschäftsidee sprechen.

Kapitel 4

Es gibt zwei typische Missverständnisse, bei denen ich immer den Verdacht hatte, dass sie das Resultat von Wunschdenken sind.

Das Erste ist, dass Menschen, die es besser wissen, auch besser handeln. Im Grunde wollen wir gern glauben, dass Menschen Fehler begehen, weil ihnen nicht klar ist, dass sie bessere Optionen haben, dass sie unfassbar schlechte Entscheidungen treffen, weil sie es schlicht und ergreifend nicht besser wissen.

Die Wahrheit aber, nach meinen zwölf Jahren als professionelle Psychologin, ist, dass die absolute Mehrheit ganz genau weiß, was sie tut. Besonders, wenn sie schlechte Entscheidungen trifft. Über eine positive, konstruktive Entscheidung braucht man sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Niemand durchleidet eine schlaflose Nacht, um zu hinterfragen, ob es wirklich eine gute Idee ist, sich mit jemandem zu verabreden, der lieb und aufrichtig wirkt, oder weil er sich um die Konsequenzen sorgt, die es hat, dreimal pro Woche Sport zu treiben. Nur wenige Entscheidungen sind so wohlüberlegt wie die schlechten. Wer sich dazu entschließt, etwas richtig, richtig Dummes zu tun, hat diese Entscheidung aller Wahrscheinlichkeit nach aus sämtlichen Perspektiven betrachtet, bevor er oder sie diese tatsächlich in die Tat umsetzt.

Das zweite Missverständnis ist, dass Psychologen besser als jeder andere schlechte Entscheidungen identifizieren können.

Genau deshalb befinde ich mich gerade vor dem Haus im Njordevägen 4, die alte Tenniskappe meines Vaters auf dem Kopf und die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die gleißende Augustsonne schmerzt in den Augen, und ich wünsche mir, ich hätte eine Sonnenbrille aufgesetzt, als ich von der Straße aus in Richtung Fassade blicke.

Es ist ein schönes Haus. Die meisten Häuser im Njordevägen sind bis zur Unkenntlichkeit renoviert worden, sind jetzt viereckiger und offener, um mehr Licht hereinzulassen. Aber dieses Haus hier sieht aus wie die Villa Kunterbunt. Es ist drei stattliche Stockwerke hoch, mit gelben Holzwänden und sattgrünen Fensterrahmen.

Ohne die Polizeiabsperrungen hätte es sogar pittoresk ausgesehen. Dem Haus, in dem Louise und ihre Familie wohnten, als ich sie kannte, gar nicht so unähnlich. Ob sie es wohl deshalb ausgesucht haben?

Ich bin nicht die Einzige, die vor dem Haus stehen geblieben ist, um zu schauen. Es ist ein warmer Augustsonntag, auf der Strandpromenade tummeln sich Familien für einen kurzen Spaziergang, um so viel ihrer Sommergarderobe wie möglich noch einmal auszuführen, bevor der Herbst Stockholm in seinen grauen Würgegriff nimmt. Die coolen Latte-Macchiato-Mamas bleiben ab und zu stehen, heben die Augenbrauen und gucken, dann schieben sie ihre Kinderwagen weiter am Wasser entlang. Ein paar Teenager auf Rädern halten an und machen Fotos, bis sie mir einen argwöhnischen Blick zuwerfen und weiterradeln.

Ich stehe schon eine Weile hier, ohne dass jemand aus dem Haus gekommen ist. Womöglich ist in diesem Moment gar niemand dort. Bei meiner Suche im Internet bin ich in der Zeitung von gestern auf einen Artikel gestoßen, in dem von einem Mord an einer Frau Mitte 30 berichtet wird, die man am Samstagmorgen entdeckt hat. Seit sie gefunden wurde, sind mehr als 24 Stunden vergangen. Die Spurensicherung war bereits vor Ort und hat ihre Arbeit erledigt, und die Leiche wurde in einem Krankenwagen ins Leichenhaus gebracht.

In der Auffahrt stehen keine Streifenwagen.

Aber dort parkt ein unscheinbarer Volvo, der mehr als ein paar Jährchen auf dem Buckel hat.

Und wenn ich Leo richtig einschätze, dann ist er am Tatort. Ich habe zweimal versucht, ihn anzurufen, ohne dass er abgenommen hat.

Oder das ist lediglich das, was ich mir einrede. Ich bin Psychologin, keine Hellseherin, und das hier ist kein stundenlanger Fernsehkrimi mit Platz für vier Werbeunterbrechungen. Leo könnte gerade an tausend Orten sein. Das Auto könnte irgendjemand anderem gehören.

Ich hoffe einfach, dass es seins ist. Ich hoffe, dass er hier ist, denn ich will mit ihm reden.

Nein, das stimmt nicht.

Es hat keinen Sinn, mich selbst zu belügen.

Ich will den Tatort sehen.

Ich will, dass sie mich als Beraterin beauftragen.

Ich will an dem Fall arbeiten.

Eine schwache Brise weht über den Sund und wiegt die hohen Kronen der alten Bäume über den exakt getrimmten Rasenflächen.

Als ich vor acht Monaten nach Schweden zurückkehrte, hatte ich zunächst nicht vor, länger als ein paar Tage zu bleiben. Papa rief mich mitten in der Nacht an – jedenfalls war es für mich mitten in der Nacht, in Schweden war schon der nächste Tag angebrochen –, um mir zu sagen, dass Mama die Treppe hinuntergestürzt war und sich die Hüfte gebrochen hatte. Für mich war es selbstverständlich, nach Hause zu fliegen, da zu sein, mich zu kümmern, zu zeigen, dass ich mich sorgte. Maria dagegen hatte Zweifel; wir hatten oft genug über meine Kindheit gesprochen, dass sie es für eine schlechte Idee hielt. Aber ich bestand darauf, und sie hinderte mich nie daran, etwas zu tun, das ich wirklich wollte.

Also packte ich eine kleine Reisetasche, buchte ein Last-Minute-Ticket und setzte mich in den Flieger.

Nach einigen Tagen begriff ich, dass es mit Mama nicht zum Besten stand. Es lag nicht nur an der gebrochenen Hüfte.

Manchmal war sie genau wie sonst. Wahrscheinlich ist es mir deshalb nicht früher aufgefallen. Es war schwer, so etwas bei kurzen transatlantischen Telefongesprächen zu bemerken. Aber als ich dann dort war, erschien es mir unbegreiflich, wie ich es vorher hatte übersehen können.

Ihre Aufmerksamkeit verschwand von einer Sekunde auf die nächste. Sie sah mich mit einem verwirrten Blick an, als wüsste sie auf einmal nicht mehr, wer ich bin. Manchmal redete sie mit mir, als würde ich immer noch zu Hause wohnen.

Ich telefonierte mit Maria, erklärte ihr, dass ich ein wenig länger bleiben musste. Sie verstand mich. Ich glaube, wir waren beide ein wenig erleichtert darüber. Waren froh über eine Pause von den ständigen Streitereien, die allmählich unseren Alltag bestimmt hatten. Darüber, ein wenig Luft zum Atmen zu haben.

Ich konnte die Diagnose nicht wirklich glauben, bevor der Arzt sie uns verkündete, und vielleicht nicht einmal da. Vielleicht begriff ich es erst viel später. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass es wirklich seltsam ist, wenn man derart ernste Neuigkeiten von einem Arzt erfährt, der aussieht, als hätte er gerade erst den Schulabschluss gemacht. Er war ein dünnes und bartloses Kerlchen, das eine schwere Brille trug, wahrscheinlich um älter zu wirken. Nur hatte das den entgegengesetzten Effekt.

Demenz mit unklarer Ursache. Wahrscheinlich nicht Alzheimer, so viel konnte er sagen, aber es ließ sich nicht ausmachen, was genau es war. Ihre Symptome waren ebenso weit verbreitet wie vage, sodass sie nicht besonders gut auf irgendeine bestimmte Diagnose passten. Ihm zufolge käme das häufiger vor, als man meinen könnte. Sie wollten sie weiter im Auge behalten, die Entwicklung beobachten, um vielleicht später eine Diagnose stellen zu können.

Aber es spielte keine Rolle. Nicht wirklich. Was für einen Unterschied machte es schon, ob Lewy-Körperchen oder Blutgerinnsel verantwortlich waren? Das Urteil war bereits gefällt. Teile meiner Mutter waren längst im Begriff, einfach zu verschwinden. Und so würde es weitergehen, stückchenweise, bis von meiner Mutter nichts mehr übrig sein würde.

Ich durchlief all die klassischen Stadien. Suchte nach anderen Erklärungen, anderen möglichen Ergebnissen, nach Behandlungsmethoden, die zu verhindern imstande waren, was unausweichlich war, ich mir aber nicht eingestehen wollte. Woche um Woche rief ich Maria an, sagte ihr, dass ich nur ein wenig mehr Zeit bräuchte, ein klein wenig mehr Zeit, um zu verstehen, was gerade passierte, um meiner Mutter zu helfen, meinem Vater. Und sie verstand es.

Irgendwann sagte sie nicht mehr, dass sie mich vermisste.

Irgendwann sagte sie nicht mehr, dass sie mich liebte.

Ich weiß nicht, ob ich es hätte verhindern können, wenn es mir früher aufgefallen wäre.

Der Todesstoß kam, als ich sie fragte, ob sie sich vorstellen könne, nach Schweden zu ziehen, und sie mir die Gegenfrage stellte, ob ich mir die Scheidung vorstellen könne.

Ich hätte mir hier eine neue Arbeit suchen sollen. Alte Kontakte anrufen, mich bei ehemaligen Kollegen melden sollen, mich erkundigen, ob sie jemanden brauchten. Aber mit einem Mal war ich wie gelähmt. Ich wartete darauf, dass es vorüberging, dass ich eines Morgens aufwachen und mich wieder wie ich selbst fühlen würde.

Nur passierte das einfach nicht.

Worauf ich eigentlich wartete, war wohl, dass ich aus diesem Albtraum erwachte. In meinem eigenen Bett aufwachte, zu Hause in Houston, Maria leise schnarchend neben mir und meine gesunden Eltern viele Tausend Kilometer weit weg.

Aber als Leo Louises Namen ausspricht, lässt mich das zusammenzucken. Ich fühle so intensiv wie seit einer langen Zeit nicht mehr.

Mir erscheint es unmöglich, dass sie tot ist; was mich aber wirklich aufreibt, ist diese Nachricht. Dieser Kontaktversuch.

Ist es wirklich ein Zufall, dass sie so viele Jahre danach ihre Hand durch den Computer ausstreckte, nur Wochen, bevor sie ermordet wurde?

Was ging in ihrem Leben vor, bevor es zu Ende ging?

Ich sehe, wie sich die Haustür öffnet. Erhasche einen kurzen Blick auf ein kurzärmeliges weißes Hemd, eine schwarze Hose, kurzes weißblondes Haar, das in der Sonne aufblitzt. Ich habe ihn immer damit aufgezogen, dass er sich anzog wie ein typischer Nerd.

Mit schnellen Schritten laufe ich die geschotterte Auffahrt hinauf.

»Leo«, rufe ich. Er dreht sich zu mir um und fragt:

»Was machst du hier?«

Kapitel 5

Ich bleibe vor der Treppe stehen und schaue zu ihm hoch.

Leo sieht genauso aus wie damals. Er trägt noch immer die stachelige Igel-Kurzhaarfrisur, sein Gesicht hat die gleichen jungenhaften Züge wie das Bild auf der Kalles-Kaviar-Tube, und seine Schultern sind nach wie vor unproportional breit und muskulös im Verhältnis zu seinem eher kleinen Kopf. Ich weiß noch, dass ich ihm oft versicherte, er würde in sein Aussehen hineinwachsen und sich glücklich schätzen, sobald wir auf die 40 zuschreiten würden.

»Lange her«, sage ich.

»Was machst du hier?«, wiederholt er.

»Du bist nicht ans Telefon gegangen«, sage ich.

Leo schweigt, also gebe ich es zu:

»Ich will helfen. Bei den Ermittlungen.«

Leo reibt sich über die Stirn und schüttelt den Kopf.

»Komm schon«, drängele ich. »Ich kann helfen. Ich kenne mich in diesem Milieu aus. Ich kann mit den Leuten hier reden. Ich bin in Djursholm aufgewachsen, die sozialen Codes kenne ich aus dem Effeff.«

»Wir wissen beide, dass das eine schlechte Idee ist«, sagt Leo.

Er zieht eine kleine Grimasse, presst die Lippen zusammen und wendet den Blick ab. Eventuell ein Anzeichen dafür, dass er sich die Sache noch einmal überlegt.

Oder es ist ihm einfach unangenehm.

»Ich habe eine Lücke in meinem Terminkalender«, behaupte ich. Als hätte ich irgendwelche To-dos auf der Liste, von der Suche eines Anwalts (oder der Vermeidung derselben) einmal abgesehen. »Und ich bin mir wirklich sicher, dass ihr meine Kompetenzen gebrauchen könnt.«

Leo schüttelt erneut den Kopf.

»Das ist nicht diese Art Fall, Rebecca«, meint er. »Und du hattest eine Beziehung zum Opfer.«

»Ich würde euch lediglich beraten«, entgegne ich. »Das ist kein …«

Aber Leo unterbricht mich scharf: »Verdammt, ich sollte dir nicht erklären müssen, dass ich die Ex-Freundin meines Opfers nicht als Beraterin in der Ermittlung anheuern kann.« Er macht eine Pause. »Außerdem haben wir bereits einen Kriminalpsychologen, den wir hinzuziehen, wenn wir ihn brauchen. Du hast seit mehreren Jahren nicht mit uns zusammengearbeitet, weil du in die USA gegangen bist und Karriere gemacht hast. Ich habe keine Argumente dafür, dich plötzlich zu einer Ermittlung dazuzuholen, bei der ich ehrlich gesagt der Meinung bin, dass wir gar keinen Vernehmungsspezialisten benötigen.«

»Dann wisst ihr also, wer es war?«, frage ich unmittelbar und sehe, wie Leo zögert.

»Es ist eine laufende Ermittlung«, sagt er dann.

Das ist zwar nicht das Gleiche wie ein Nein. Aber ein Ja ist es auch nicht.

Ich wippe auf den Zehenspitzen.

Spüre diesen alten Funken in mir aufglimmen. Meinen Hunger nach Antworten. Aber jetzt ist er viel stärker als früher.

»Willst du mit mir besprechen, welche Spuren ihr habt?«, frage ich. »Ich kann dir ein Supervisionsgespräch anbieten. Gratis.«

Wieder schüttelt er den Kopf. Die Sonne brennt von oben, und meine Kopfhaut wird unangenehm warm.

Ich fürchte, ich kann nicht auf seine Antwort warten. Manchmal ist Schweigen die beste Lösung, manchmal bringt das die Leute zum Reden, aber Leo ist ein sturer Hund.

Wobei er immer noch hier steht.

Früher habe ich Leo einmal ziemlich gut gekannt. Auf diese spezielle Art, wie das nur bei Arbeitskollegen der Fall ist. Und der Leo, den ich kannte, war sehr pragmatisch eingestellt.

Sicher, möglicherweise hat er mich angerufen, um mich zu warnen. Aber ich glaube, es steckte mehr dahinter. Er will über etwas reden.

»Darf ich dich wenigstens auf eine Tasse grünen Tee einladen?«, frage ich.

Leo hebt die Augenbrauen.

Kapitel 6

Wir sitzen auf den Bänken an der Landzunge, ich mit einem Becher Kaffee in der Hand, Leo mit seinem grünen Tee.

Sonnenstrahlen glitzern auf dem Wasser, werden von den Wellen reflektiert und lassen die Fenster der Häuser auf Lidingö am anderen Ufer des Sunds aufleuchten. Die Strandpromenade ist gerade erst neu angelegt worden, aber diese Bänke sehen aus, als stünden sie schon seit den Siebzigerjahren hier. Es sind die gleichen Bänke, auf denen wir uns als Jugendliche darüber unterhielten, wie falsch und heuchlerisch alle in Djursholm waren und dass wir nichts lieber wollten, als von dort wegzugehen. Irgendwohin, wo die Menschen authentisch waren.

Lieber Gott, was für ein unausstehlicher Teenie ich war.

Aber manchmal vermisse ich diese Zeiten. So wie jetzt. Ein Echo von Louise, Wille und mir, auf dem Weg zum Strand, Plastikflaschen gefüllt mit teurem Whisky, den Wille aus dem überfüllten Barschrank seines Vaters geklaut hat, russische Zigaretten, frisch gewaschene Haare und stümperhaft geschminkt.

Wir zogen einander an, weil wir alle drei wütend waren, im Prinzip auf alles. Wir glaubten, uns zu verstehen, die Einzigen zu sein, die einander wirklich verstehen konnten.

Irgendwie ironisch, wie alles endete. Alles, was wir damals wollten, war, aus Djursholm zu fliehen. Und dann landeten wir am Schluss doch alle drei wieder hier. Louise und William zusammen und ich allein. Wir kamen zurück wie Vögel nach dem Winter, die es nicht besser wussten, als demselben Weg zu folgen wie ihre Eltern.

»Also«, sage ich und drehe mich zu Leo um. »Was wolltest du von mir? Eigentlich?«

Leo kneift die Lippen zusammen. Er ringt mit sich selbst, das sehe ich.

»Alles, was du sagst, bleibt unter uns«, verspreche ich. »Das weißt du. Ich kann dich als Klienten behandeln, inklusive allem, was dazugehört.«

Er verzieht den Mund, dann seufzt er. Über der Stirn stehen seine Haare hoch, was bedeutet, dass er mehrfach mit der Hand hindurchgefahren ist. Frustration.

»Du kanntest Louise von Ascheberg, als ihr jünger wart. Ihr wart ein Paar, richtig?«

»Als ich sie kannte, hieß sie noch Louise Rehnskiöld.«

»Hast du seit damals mit ihr gesprochen?«

»Nein«, antworte ich.

Ihre Nachricht zählt nicht. Ich habe nie darauf reagiert.

»Irgendetwas stimmte da nicht mir ihr«, sagt Leo.

»Was meinst du?«

Er trinkt einen Schluck von seinem grünen Tee. Schaut aufs Wasser.

»Das mit dem Klientenstatus. Was bedeutet das?«

Bullshit, das bedeutet es. Schließlich bin ich nicht seine Psychologin. Aber er muss über das reden, was an ihm nagt, und aus irgendeinem Grund will er mit mir darüber reden. Ich muss ihm nur die Erlaubnis dazu geben.

»Es bedeutet, dass alles, was du sagst, unter uns bleibt«, wiederhole ich.

Leo nickt langsam.

»Fang von vorn an. Was weißt du darüber, was passiert ist?«, fahre ich fort.

Die Worte strömen aus ihm heraus, als hätte er nur darauf gewartet, den Mund zu öffnen. Es erstaunt mich immer wieder, wie oft Leute nur einen kleinen Schubs brauchen, um zu reden. Das ist das Geheimnis hinter meinem ganzen Beruf, hinter jeder erfolgreichen Vernehmung, die ich je geführt habe.

Alle wollen ihr Herz erleichtern. Alles, was sie brauchen, ist jemand, der zuhören kann.

»Louise und ihr Mann William waren in die Schären rausgefahren, um dort das Wochenende zu verbringen. William gibt an, dass Louise am Freitagnachmittag eine SMS bekam und dann sagte, sie müsse an diesem Abend noch mal in die Stadt. Sie soll behauptet haben, ihrer Schwester gehe es schlecht und sie brauche Hilfe. Ihre Schwester ist schwanger und alleinstehend, deshalb hat er es nicht infrage gestellt. Louise nahm die Fähre um 16:40 Uhr nach Stockholm und holte ihr Auto. Ihre Nachbarn sahen den Wagen gegen 18 Uhr in der Auffahrt, weshalb es eher so scheint, als sei sie direkt nach Hause gefahren und nicht zu ihrer Schwester.«

»Was sagt Hedda dazu?«, will ich wissen.

»Sie hat seit über einem Monat nicht mehr mit Louise gesprochen, sagt sie.«

Ich runzle die Stirn.

»Hat sie erklärt, wieso?«

»Sie haben sich wohl gestritten. Aber bevor du fragst: Die Schwester hat ein Alibi. Nicht, dass sie eines gebraucht hätte. Sie ist im siebten Monat schwanger und hat offenbar eine schwere Symphysenlockerung. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie irgendjemandem etwas angetan haben kann.« Nach einer Pause fügt er hinzu: »Sie schien extrem aufgewühlt über Louises Tod, hat fast während der gesamten Vernehmung geweint.«

»Kann ich mir denken.«

Ich kenne Hedda als hyperaktive Zwölfjährige mit übertrieben korrekter Aussprache und transparenter Zahnspange. Die gleichen blonden Haare wie Louise, aber ein völlig entgegengesetztes Temperament. Wo sich Louise geheimnisvoll und sarkastisch gab, war sie offenherzig und anhänglich. Trotzdem standen sie sich nahe. Wenn es um Hedda ging, war Louise unerwartet beschützerisch und verhielt sich oft mehr wie eine zweite Mutter als wie eine große Schwester. Kein Wunder bei den Eltern: Die Rehnskiölds, so schien es, hatten eigentlich nur Kinder bekommen, um diesen Punkt von ihrer Liste streichen zu können; besonders interessiert waren sie nie an ihren Töchtern.

Dass wir mit unseren Müttern nicht gut zurechtkamen, war eine der Gemeinsamkeiten zwischen Louise und mir.

»Hat sie gesagt, worüber sie gestritten haben?«, frage ich.

»Sie meinte, es ging um die Arbeit«, sagt Leo. »Sie stellte es so dar, als wäre es nicht ungewöhnlich, dass Louise sich wie ihre Chefin aufführte. Dass Louise es gern besser wusste, es gleichzeitig aber gut meinte.«

Ich lächle, aber spüre einen Kloß im Hals.

»Klingt nach Louise«, sage ich. »Okay, Louise kommt also gegen 18 Uhr nach Hause. Was passiert danach?«

»Die Nachbarn hören später am Abend Musik von der anderen Seite der Hecke. Wann genau, wissen sie nicht mit Sicherheit. Die von Aschebergs haben jemanden, der einmal im Monat kommt, um den Pool im Haus zu reinigen, und er hat einen eigenen Schlüssel. Er betritt das Haus um kurz nach neun am Samstagmorgen und findet Louise tot auf dem Wohnzimmerteppich. Sechs Stichwunden im Oberkörper.« Nach einer Pause sagt er: »Eine halb volle Flasche Rotwein auf dem Wohnzimmertisch, zwei gespülte Weingläser auf dem Küchentresen. Ihr Handy fehlt.«

Es dauert einige Sekunden, bis ich meine Stimme wiederfinde.

Ich gebe mein Bestes, um mir Louise nicht vorzustellen. Tot.

»Mordwaffe?«, bringe ich heraus.

»Wir warten immer noch auf die Bestätigung, aber eines der Küchenmesser war feucht, als hätte jemand es sauber gewischt und nass in den Messerblock gesteckt.«

Ich nicke langsam.

»Okay. Louise erhält also eine SMS, belügt William, sie sei von ihrer Schwester, und fährt in die Stadt. Bekommt nach sechs Uhr Besuch. Irgendwann im Lauf des Abends, nachdem einer oder beide Wein getrunken haben, nimmt der Gast ein Messer aus der Küche, ermordet Louise, spült die Gläser und das Messer und verlässt den Tatort.«

»So scheint es.«

»Und ihr seid euch sicher, dass es nicht der Poolreinigungstyp war? Der Louise ermordet und dann die Leiche ›gefunden‹ hat?«

»Er hat ein Alibi. Seine Freundin und er haben am Abend vorher wohl eine Geburtstagsparty mit Übernachtung für ihre neunjährige Tochter veranstaltet. Ich habe zehn Mädchen und eine sehr müde Frau, die mir bestätigen können, dass er den ganzen Abend über im Haus gewesen ist.«

»Und ich gehe davon aus, dass ihr Williams Alibi ebenfalls überprüft habt?«, frage ich.

»Er hat mit seinen Nachbarn auf der Insel zu Abend gegessen«, sagt Leo. »Die letzte Fähre geht um sechs.«

»Hat er ein Boot?«

»Ein kleines. Ziemlich laut, behauptet er. Er sagt, die Nachbarn hätten gehört, wenn er damit losgefahren wäre.«

»Könnte sich lohnen, das nachzuprüfen. Du weißt ja: Es ist fast immer der Ehemann.«

Es fühlt sich eigenartig an, das über William zu sagen. Wille. Aber er ist nicht mehr der Teenager, den ich kannte, und was ich sage, ist wahr, auch wenn es heftig klingt: Es ist tatsächlich fast immer der Ehemann.

Leo nickt, aber er scheint auf etwas zu warten.

»Was stimmt nicht?«, frage ich, und es kommt mir wie ein Echo all der Male vor, die ich ihm diese Frage schon gestellt habe.

All die langen Abende, an denen wir in einem kleinen, dunklen Zimmer gesessen, Verhöre, Bilder und Beweise wieder und wieder durchgesehen haben, um ein Detail zu entdecken, das uns möglicherweise entgangen ist.

Es scheint genauso lange her zu sein wie die Spätsommerabende am Wasser mit Louise und William.

»Ich bekomme Louises Bild nicht zusammengesetzt«, sagt Leo. »Du weißt selbst, wie es in solchen Situationen normalerweise abläuft: Alle stehen unter Schock, jeder versucht, das Opfer als Engel darzustellen.«

»Klar«, stimme ich ihm zu.

Es ist natürlich. Nachdem jemand gestorben ist, verzerrt die Trauer um den Verstorbenen das Bild, das man von der Person hatte. Alles erscheint in helleren Farben. Zuerst die Sehnsucht, dieser schneidende Schmerz, der es einem unmöglich macht, an das Verlorene zu denken.

Danach kommt die Reue über all die nie geführten Gespräche, all die Konflikte, die nun niemals gelöst werden können. Manchmal auch Zorn, als sei der Verstorbene absichtlich gegangen, als sei er nur gestorben, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen.

Nach einer Weile verblassen diese Eindrücke, und das Bild des Verstorbenen stabilisiert sich. Im Guten wie im Schlechten, fast so, wie die Person wirklich war im Leben. Nie ganz die- oder derselbe. Von drei Dimensionen bleiben zwei, aus einem bewegten Bild wird ein starres, unveränderliches. Aber ein gerechteres. Meistens zumindest.

In einer Mordermittlung kommt allerdings oft ein weiterer Faktor hinzu: Angst. Sie schürt den Trieb, das Opfer zu idealisieren, um ja nicht in Verdacht zu geraten. Und ein gewaltsamer Tod lässt das Opfer, ungeachtet aller menschlichen Fehler und Unzulänglichkeiten, wie eine Heilige dastehen, als völlig unschuldig im Hinblick auf die Schuld des Mörders.

»Weder der Ehemann noch die Schwester oder die Eltern haben so über Louise gesprochen, wie Angehörige sonst über das Opfer sprechen«, sagt Leo. »Sie wirkten … sauer. Auch traurig und geschockt, sicher, aber unter der Oberfläche schienen sie verärgert und ließen seltsame Bemerkungen fallen.«

»Was für Bemerkungen?« Jetzt höre ich genau hin.

»Schwer zu sagen. Nichts besonders Konkretes, es war eher ein Gefühl. Nichts, das sich als Beweis eignen würde, wenn du verstehst, was ich meine. Ich habe gefragt, ob jemand von ihnen Louise wegen irgendetwas böse war, aber das haben sie sofort abgestritten, haben sich über die Frage empört. Du kennst das. Deshalb habe ich versucht, sie zu beschwatzen, habe nach möglichen Feinden gefragt, ob Louise möglicherweise eine Affäre gehabt haben könnte, aber auch das führte zu nichts.«

»Sie hatte also keine Feinde«, halte ich fest. »Aber ihre Liebsten wirken trotzdem sauer und aufgebracht. Und sie weigern sich zuzugeben, dass sie sauer sind, auch den Grund für ihren Ärger nennen sie nicht.« Ich denke nach, versuche, eine mentale Struktur ausfindig zu machen, die diese Art von Reaktion hervorrufen könnte. »Irgendetwas fehlt«, sage ich schließlich, und Leo verdreht die Augen.

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