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Ein Alman feiert selten allein

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Nie waren Klischees wahrer: Wie viel Alman steckt in dir?


Zu Weihnachten gehören ein geschmückter Baum, leckeres Essen, Geschenke und die Familie – das ist selbst Elif, die als Kind türkischer Gastarbeitereltern in Deutschland großgeworden ist, klar. Doch wie genau die Deutschen es mit ihren Weihnachtstraditionen und Bräuchen nehmen, wird deutlich, als Elif das erste Weihnachtsfest bei den Eltern ihres Freundes Jonas verbringt. Vom Planungswahnsinn in der Familien-WhatsApp-Gruppe über Diskussionen um nachhaltige Nordmanntannen, bis hin zum Bügeln des Geschenkpapieres aus dem letzten Jahr, bleibt ihr nichts erspart. Und schnell stellt sich die Frage, ob das wirklich noch besinnliches Beisammensein ist, oder schon der nächste Erbschaftsstreit naht.


  • Erscheinungstag: 27.09.2022
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000724

Leseprobe

Für Jan

Prolog

Wer hat sich eigentlich ausgedacht, dass Weihnachten das Fest der Liebe sein soll? Ich meine, das muss ja irgendwer irgendwann mal festgelegt haben, ehe es von allen, ohne groß darüber nachzudenken, für beschlossene Sache erklärt und in den Kalender eingetragen wurde, um von da an Jahr für Jahr gefeiert zu werden.

An sich ist das mit Weihnachten ja auch gar keine so dumme Idee. Einmal im Jahr ist allen klar: Jetzt ist man drei von dreihundertfünfundsechzig Tagen lieb zueinander. Drei Tage. Nicht mal eine halbe Woche. Das kriegt man doch hin! Die restlichen dreihundertzweiundsechzig Tage kann man dann ja gerne auch wieder anderer Meinung oder einander egal sein, sich von mir aus trotzdem weiter gernhaben oder eben leidenschaftlich hassen.

Nur, mit der Liebe auf Kommando und dem Umstand, daraus dann auch gleich noch ein mehrtägiges Fest zu machen, ist das so eine Sache. Lieb sein ist ja kein Schalter, den man mal eben so mir nichts, dir nichts umlegt, und plötzlich liegt man sich in den Armen und vergisst, was einem an seinem Gegenüber schon seit Ewigkeiten auf die Nerven geht.

Harmonie auf Knopfdruck? Schwierig. Ich meine, das kann man gerne versuchen, und möglicherweise geht das auch ein paar Wochen, Monate oder sogar Jahre gut. Und irgendwann, von jetzt auf gleich, dann nicht mehr. Wissen auch meine Eltern. Die sind jetzt nämlich seit gut fünf Jahren geschieden. Denen muss ich nicht mit dem Fest der Liebe kommen.

Gut, musste ich aus religionstechnischen Gründen ohnehin nie. Ich muss mich an Heiligabend glücklicherweise nicht entscheiden, wen von den beiden ich besuchen möchte. Weihnachten feiert in unserer Familie nämlich sowieso keiner mehr, seit die Kinder, also meine Schwester und ich und unsere Cousinen und Cousins, erwachsen sind. Aber das ist ein anderes Thema.

Jedenfalls hat mir das gezeigt, dass es genau andersherum ist, als ursprünglich gedacht: Wenn man sich vornimmt, jemanden für eine bestimmte Zeitspanne besonders lieb zu haben, gelingt einem das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau dann so gar nicht. Mehr noch: Die ursprünglich mal positiv angedachten Gefühle werden im Handumdrehen zu blankem Hass oder wenigstens zu latenter Genervtheit.

In etwa so, wie aus dem bisschen Schnee, der hier gerade aus dem dunklen Dezemberhimmel gerieselt kommt, in null Komma nix Matsch wird. Meine Füße stecken in viel zu großen Birkenstock-Sandalen, die eigentlich meiner Schwiegermutter in spe gehören. Gäste-Pantoffeln – oder Terliks, wie wir sie nennen – gibt es bei deutschen Familien nämlich nicht. Meine Socken sind vom Schneematsch schon ganz aufgeweicht, und der Wind pustet unter meinen Mantel.

Es fröstelt mich. Aber das ist mir gerade egal. Ich brauche nämlich Zeit für mich. Und Ruhe, die brauche ich auch. Ganz dringend. Denn heute ist Weihnachten, also Heiligabend, und die letzten fünf Stunden waren alles, nur nicht besinnlich.

Ich zünde mir noch eine Zigarette an, nehme einen tiefen Zug und blase den Rauch in die Luft. Es ist ja nicht so, dass ich mir das alles ausdenken würde. Ich habe handfeste Beweise dafür, dass das mit Weihnachten und der Liebe so gar nicht zusammengeht – und zwar jede Menge.

Für die muss ich nur einen Blick durch die dreifachverglaste Terrassentür ins Wohnzimmer der Familie von Jonas werfen. Denn was sich dort nur wenige Zentimeter von mir entfernt abspielt, hat mit Liebe nicht mehr viel zu tun – und mit Weihnachten schon mal gar nicht.

Jonas’ Mama ist eigentlich damit beschäftigt, in der Küche zu stehen und die Reste des Weihnachtsessens per Küchenwaage zu portionieren, die korrekte Grammzahl an Geflügelbraten, Klößen und Rotkraut in Plastikboxen, pardon, Tupperdosen zu verpacken und diese anschließend mit Namensschildern zu versehen. Die Anzahl der nachweihnachtlichen Carepakete, oder besser gesagt Resteverwertungs- und/oder Müllvermeidungspakete, wächst und wächst.

Gerade muss das Abwiegen und Verpacken allerdings pausieren, denn die auf allen erdenklichen Hockern und Tischen stehenden Keksteller wollen mit Nachschub in ihren Originalzustand zurückversetzt werden. Und das heißt, dass Jonas’ Mutter auf jeden von ihnen die genau gleiche Anzahl von Plätzchen, Lebkuchen und Co verteilt. Außerdem müssen die selbst gedruckten und von Hand gebundenen Liederhefte vom der Bescherung vorangegangenen Weihnachtssingen wieder eingesammelt und fein säuberlich im Regal einsortiert werden.

Anschließend hechtet Jonas’ Mutter, die ich seit zehn Minuten offiziell Evelyn nennen darf, mit panischem Blick von einem anwesenden Familienmitglied zum nächsten, um jedem mit einer passiv-aggressiven Geste einen Korkuntersetzer zwischen dessen Getränk und die Glasplatte des Couchtisches zu schieben und drohenden Flecken schon mal prophylaktisch vorzubeugen.

Im Hinblick auf Jonas und seinen Vater gestaltet sich dieses Unterfangen allerdings etwas aufwendiger als angenommen. Denn Jonas’ Papa aka Harald aka Harry hat unser Geschenk an ihn, einen streng limitierten Wacholderschnaps aus dem Schwarzwald, zum Anlass genommen, seinem Sohn doch gleich mal die volle Bandbreite seiner Gin-Sammlung vorzuführen. Und das macht natürlich am meisten Sinn, wenn man die gesammelten Sorten auch schmecken kann. Das Gin-Tasting der beiden ist im vollen Gange, was heißt, dass sie gerade bei Flasche sechs von zehn angekommen sind. Harry hat sich, kein Witz, sogar extra ein Shirt mit der Aufschrift »Der Gin des Lebens« übergezogen. Dass er überhaupt so ein Shirt sein Eigen nennt, ist wohl die größte Überraschung für mich an diesem Abend.

Neben zwanzig Gläsern, unter die Jonas’ Mutter natürlich jeweils einen ihrer Untersetzer platzieren muss, steht außerdem auch eine ganze Batterie an Kräutern und Früchten vor den beiden. Leider waren auch die Gin-Zusätze, neudeutsch Botanicals, ein Geschenk von uns. Folglich wird jeder neue Schluck jetzt mit einer Prise Kardamom, einem Hauch Hibiskus und weiß der Geier was verfeinert.

Jonas’ Vater hält zu jeder neuen Sorte Gin einen mehrere Minuten andauernden Vortrag und befragt ihn im Anschluss an jeden Schluck nach seinem Geschmackseindruck, der selbstredend anschließend fein säuberlich in eine Liste eingetragen wird. Ich bin mir sehr sicher, dass Jonas sich die Assoziationen ausdenkt. Denn wenn wir zusammen kochen, dann kann er kaum Zwiebeln von Knoblauch unterscheiden, geschweige denn Gewürze kombinieren. Man merkt sehr eindeutig, dass er, wie die meisten Deutschen, in einem reinen Salz-und-Pfeffer-Haushalt aufgewachsen ist.

Wie viel die Notizen im Hinblick auf das Promillelevel der beiden allerdings am nächsten Morgen noch wert sein werden, ist außerdem eine andere Frage.

Eine, die sich Jonas’ Cousine Patrizia mit ziemlicher Sicherheit nicht stellen wird. Sie liegt mit geschlossenen Augen, hinter dem Kopf verschränkten Armen und ihren, vor einer halben Stunde von Jonas’ Eltern erhaltenen nagelneuen Bluetooth-Kopfhörern mit Noise-Cancelling-Funktion in den Ohren auf dem Sofa. Während sich ihr Freund Carlo mit ihrer Mutter Claudia unterhält. Ihre Füße wippen im Takt eines Songs, den nur sie hört, und ich weiß jetzt schon, dass ich mir von dem Fünfzigeuroschein, den mir Jonas’ Großeltern vorhin in einem unbeschrifteten Umschlag eher widerwillig überreicht haben, vermutlich ein ähnliches Exemplar kaufen werde.

Jemand, der so gar nichts mit solchen Kopfhörern anfangen könnte, ist Opa Helmut. Der muss einfach nur sein Hörgerät abstellen. Was er auch getan hat. Also hat er eigentlich alles richtig gemacht. Er ist vom ganzen Bescherungs-Prozedere und vielleicht auch dem einen oder anderen Cognac zu viel mittlerweile doch ziemlich mitgenommen und hat sich leise, still und heimlich auf den Ohrensessel in der Ecke zurückgezogen und ist von dort hin ins Reich der Träume verschwunden. Sein Schnarchen kann ich bis hier draußen hören. Noch ein Argument für Noise-Cancelling-Kopfhörer.

Seine Frau Barbara sitzt derweil im Sessel daneben und ist im Gegensatz zu ihrem Gatten wach. Aber so richtig. Muss sie auch. Denn sie ist durch und durch damit beschäftigt, demonstrativ zu schweigen, so wie den ganzen Tag schon. Ich habe nicht ein Wort aus dem Mund dieser Frau gehört – damit man ihr auch ja ansieht, wie wenig Gefallen sie an all dem findet, was hier gerade und in den letzten Stunden um sie herum passiert ist.

Einer Galapagos-Schildkröte gleich lässt sie den grimmig dreinblickenden Kopf auf ihrem faltigen Hals von einer Ecke des Wohnzimmers in die andere und wieder zurück wandern. Der Konsum, die vielen Geschenke, das übermäßige Essen. Die Jüngeren ohne Anstand, die Älteren ohne Ordnung. Alles, aber wirklich alles an ihr strahlt aus: Zu ihrer Zeit hätte es so etwas ganz bestimmt nicht gegeben.

Wann denn ihre Zeit war, ließ sich an dem pikierten Blick erahnen, den sie mir zuwarf, nachdem sie mich als eindeutig nicht-christlich-deutsch identifiziert hatte. Zum Glück muss ich vermutlich nicht mehr so viele Heiligabende in ihrer Gesellschaft verbringen. Der Zahn der Zeit nagt nicht nur an ihrem Mindset, sondern ihrer fahlen Gesichtsfarbe nach zu urteilen auch eindeutig an ihrer Gesundheit.

Geschichte ist ohnehin ein gutes Thema. Findet auch Jonas’ Onkel Georg, der über seine Lesebrille auf sein neues iPad starrt und mit ausgestrecktem Zeigefinger umständlich darauf herumwischt. Jetzt blickt er sich gerade suchend um; da sich alle anderen im selben Raum befinden, muss er offensichtlich nach mir Ausschau halten. Ich habe die Befürchtung, dass er das halbe Internet nach in seinen Augen interessanten und erstaunlichen Fun Facts zum Thema Türkei und Weihnachten durchforstet. Der Umstand, dass die Türkei ja in erster Linie ein muslimisches Land ist, aber genau dort der Ursprung für so viele christliche Erzählungen und Ideen liegt, will ihm scheinbar einfach nicht in den Kopf.

Sicher wird er all seine frisch gesammelten Erkenntnisse gleich in einem halbstündigen und exklusiv für mich bestimmten Vortrag zusammenfassen. Nachdem er mich vorhin schon gefragt hat, ob es in der Türkei Weihnachten gibt, ist ja nur klar, dass er mich gleich mit dem unglaublichen Fakt überraschen wird, dass der Nikolaus ja eigentlich aus der Türkei stammt.

»Nein, Georg, das ist mir gänzlich neu. Bitte erzähl mir mehr über das Heimatland meiner Eltern und ihre Bräuche!«, höre ich mich schon sagen und bete inständig, dass ihm das iPad gleich aus der Hand rutscht und dann einer von Jonas’ Neffen drauftritt.

Noch führen die beiden aber einen unerbittlichen Kampf um eins der bunten Autos, die bei unserem Geschenk dabei waren. Dabei hatte mir Jonas hoch und heilig versichert, die beiden wären alt genug, um das zu verstehen und richtig gut im Teilen. Sieht eher nicht danach aus.

Überhaupt bin ich mir nicht so sicher, ob unsere Geschenke wirklich gut ankommen. Jonas’ große Schwester Bianca beäugt kritisch das blinkende und tutende Spielzeug-Parkhaus, das wir ihren Söhnen geschenkt haben. Sie nimmt eines der Fahrzeuge mit spitzen Fingern in die Hand und hält es sich unter die Nase, um daran zu riechen. Dann verzieht sie angeekelt das Gesicht. Über Plastikspielzeug voller ausdünstender Weichmacher freuen sich eben auch nur kleine Kinder und keine Akademiker-Mütter. Das Geschenk wird bei der Abreise garantiert aus Versehen hier »vergessen« oder landet spätestens zu Hause im Müll.

Bei dem Gedanken, gleich auch nur einen meiner beiden völlig durchnässten Birkenstockfüße wieder in diesen pseudobesinnlichen Wahnsinn zu setzen, läuft mir kurz ein Schauer über den Rücken. Aber dann denke ich auch wieder an Jonas. Unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest habe ich mir definitiv anders vorgestellt.

Das ist eines meiner Lebensziele: Dinge genau so empfinden, wie ich sie mir vorher ausgemalt hatte. Nicht besser, nicht schlechter. Das wäre meine liebste Superkraft, immer ganz genau einschätzen zu können, wie etwas wird. Keine Überraschungen, keine Enttäuschungen, keine unrealistischen Szenarien in meinem Kopf, die ich immer und immer wieder vor dem eigentlichen Ereignis durchspiele. Keine tagelange Anspannung, um am Ende dann zu sagen: War ja gar nicht so schlimm – oder: War ja doch viel schlimmer als gedacht. Sondern: Es war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte!

So stelle ich mir wahre Zufriedenheit vor.

Die Sache ist: Man macht sich am Anfang einer Beziehung ja überhaupt keine Gedanken über solche Dinge wie gemeinsame Feiertage oder Familienfeste. Man lernt einen Menschen kennen und denkt nicht gleich: »Mit dem kann ich bestimmt gut Weihnachten feiern!« oder: »Also, wenn ich am 24. Dezember mit zu seinen oder ihren Eltern muss, kann ich das Ganze auch jetzt hier an Ort und Stelle gleich beenden!«

Man denkt ja eher daran, ob man über die gleichen Witze lacht, die gleiche Musik mag oder ob das auch was wird, wenn dem nicht so ist. Ob das funktioniert, wenn ein Fleischliebhaber und eine militante Vegetarierin unter einem Dach wohnen müssen oder der eine schon einpennt, wenn »GZSZ« läuft, während der andere bis weit nach Mitternacht Netflix bingt.

Aber Weihnachten feiern? Ob das klappt, stellt man erst fest, wenn es so weit ist. Oder noch eher danach. Weil man dann gemerkt hat, wie es so war. Aber das ist ja schon auch nicht unwichtig, weil dieses Fest eben einmal im Jahr im Kalender steht und man sich irgendwie dazu verhalten muss.

So, wie meine Familie und ich es auch tun mussten.

1

Drei Monate zuvor …

Jonas hält mir triumphierend einen roten Umschlag vors Gesicht, den er gerade aus dem Briefkasten gefischt hat. Auf dem Kuvert sind in goldener Schönschrift unsere beiden Namen und unsere Adresse geschrieben worden.

»Schau mal, ich hab’s doch gesagt. Da ist sie!«

»Da ist was?«, frage ich atemlos, während wir die Treppen zur Wohnung hinaufgehen.

»Na, die Weihnachtskarte von meinen Eltern.«

Für einen Moment denke ich, dass ich mich möglicherweise verhört habe. Die Weihnachtskarte? Wir haben gerade mal September! Wenn man so will, ist also immer noch Spätsommer. Und da verbringt man so viel Zeit wie möglich an der frischen Luft und genießt die letzten Sonnenstrahlen. Vielleicht isst man auch ein Eis oder geht in den Park. Oder, oder, oder. Aber man denkt doch nicht an Weihnachten und verschickt auch ganz bestimmt keine Karten, die im direkten Zusammenhang mit diesem Fest stehen, das im tiefsten Winter stattfindet!

Aber nachdem wir die Wohnungstür geschlossen und den Briefumschlag geöffnet haben, muss ich feststellen, dass Jonas’ Eltern es offensichtlich ernst meinen: Die Weihnachtskarte, die ich gerade in den Händen halte, ist ein Meisterwerk aus grünem und rotem Karton, Glitzerband, Schmucksteinchen und Buchstaben in Gold – und eigentlich ganz schön.

»Wo hat deine Mutter die Karten denn gekauft?«, frage ich.

»Gekauft?«, sagt Jonas und lacht.

»Ja, was denn sonst?«

»Das, was du da in den Händen hältst, Elif, ist ein Neubauer-Original. Liebevoll von Hand angefertigt und jährlich streng limitiert auf zweihundert Stück.«

»Du willst mir erklären, dass deine Mutter jedes Jahr zweihundert von den Dingern hier bastelt?«

»Mittlerweile«, sagt Jonas. »Früher mussten meine Schwester und ich auch helfen. Das war ein Job fürs ganze Jahr. Wenn bei uns zu Hause die ersten Karten ankamen, wurden sofort alle fein säuberlich abgeheftet und noch vor Silvester gemeinsam entschieden, welche Karte für das Fest im nächsten Jahr als Inspiration herhalten durfte. Im Januar ging es in den Bastelladen, und ab Februar wurden dann schon erste Probekarten gebastelt.«

Ich starre Jonas ungläubig an. Aber bevor ich die Schilderungen vom Neubauer’schen Weihnachtskarten-Sweatshop kommentieren kann, vibriert mein Handy.

»Mama Jonas hat dich zur Gruppe WEIHNACHTSWUNDER 2019 eingeladen«, steht auf meinem Display. Wobei vor und hinter dem Wort »Weihnachtswunder« jeweils ein Tannenbaum-Emoji platziert worden ist.

Ich klicke auf die Gruppeninfo. Neben Jonas’ Eltern, seiner Schwester und mir befinden sich noch ganze achtunddreißig weitere Teilnehmer in der Gruppe. Es werden drei verschiedene Feste geplant, einmal bei Jonas’ Eltern am 24. und außerdem noch zwei Feiern in etwas größerem Rahmen am ersten und am zweiten Weihnachtsfeiertag.

Jonas und ich verbringen nur den Heiligabend mit seiner Familie. Meiner Meinung nach ist das der einzig wahre Weihnachtstag; die beiden Tage danach sind einfach nur gefühlt zwei Sonntage hintereinander und dienen ausschließlich dazu, sich von Heiligabend zu erholen. Bei dem Gedanken, mein erstes echt deutsches Weihnachtsfest zu feiern, macht sich ein wohlig warmes Gefühl in meinem Bauch breit, und ich bin ganz gespannt, wie der Tag wohl so wird.

Immerhin geht ein kleiner Kindheitstraum von mir in Erfüllung: endlich das Fest so zu verbringen, wie all meine deutschen Freund: innen es immer verbracht haben. Das würde ich so aber niemals vor irgendjemandem zugeben, weil ich schon lange kein Kind mehr bin. Andererseits bin ich aber auch total aufgeregt, weil es eben nicht nur mein erstes richtiges Weihnachtsfest sein wird, sondern auch das allererste Treffen mit Jonas’ Familie, bei der ich natürlich einen guten Eindruck hinterlassen will. Zu meiner Erleichterung nimmt zum Glück nur ein Bruchteil der Verwandten am Heiligabend teil, was meine Performanceangst etwas minimiert.

Während ich noch dabei bin, die Telefonnummern und Profilbilder zu studieren und mit den Erzählungen von Jonas abzugleichen, rauscht schon die erste bildschirmfüllende Nachricht in den Gruppenchat.

»Hallo, ihr lieben Neubauers und alle Neu-Neubauers Weihnachten hat es ja bekanntlich so an sich, dass es jedes Jahr gefeiert wird. Um die Planung für uns alle etwas zu erleichtern, dachte ich, es wäre an der Zeit, vielleicht schon mal diese Gruppe hier ins Leben zu rufen. Ist zwar noch ein bisschen bis zum 24., 25. und 26. Dezember, aber so sind wir schon mal alle beisammen und immer jeder auf dem neuesten Stand. Heute dürfte jeder Haushalt ja auch unsere Weihnachtskarte bekommen haben. Es wäre ganz toll, wenn ihr uns bis Ende der Woche Bescheid gebt, ob ihr kommt, damit wir ein bisschen planen können. Absagen werden natürlich nicht akzeptiert Gerne dürft ihr uns dann auch gleich mitteilen, ob ihr einen Kuchen oder Kekse zum Kaffee mitbringen mögt. Soweit ich weiß, hatte Bea angekündigt, einen Glühweinkuchen aus dem Thermomix beizusteuern?!«

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Bei den Nasen-Smilies von Jonas’ Mutter, dem Glühweinkuchen aus dem Thermomix oder vielleicht auch einfach bei dem Umstand, dass ich gerade mit achtunddreißig mir fremden Menschen in einer gemeinsamen WhatsApp-Gruppe gelandet bin, um den Ablauf des diesjährigen Weihnachtsfestes zu planen. Im September!

Ich bin der festen Überzeugung, dass WhatsApp-Gruppen eine Erfindung des Teufels sind. Oder sagen wir so: Wenn es einen Teufel geben würde, wäre er sicher den halben Tag damit beschäftigt, WhatsApp-Gruppen zu eröffnen und wahllos Menschen dorthin einzuladen.

Das Problem ist, dass man sich irgendwie zu diesen Gruppen verhalten muss und davon gleich alle anderen Teilnehmer mitbekommen. Natürlich wäre es ein Leichtes, die Gruppe einfach zu verlassen. Aber dann könnte ich vermutlich auch die Beziehung zu Jonas gleich hier an Ort und Stelle beenden. Die Gruppe stummschalten und Jonas die Arbeit machen lassen wäre eine Option. Aber ein Schweigen meinerseits würde natürlich sofort Fragen aufwerfen und sicher gleich als »schwieriges« Verhalten ausgelegt.

»Hallo, Evelyn, toll mit der Gruppe! Die Technik macht’s möglich!«, meldet sich eine mir unbekannte Nummer zu Wort und schickt gleich einen YouTube-Link hinterher, der zum Video einer »Last Christmas«-Parodie führt.

Deutsche Comedians, die als George Michael und der andere von WHAM! verkleidet sind, bewerfen sich mit Erde und Dreck und singen zur Originalmelodie einen umgeschriebenen Text, der davon handelt, dass es auch dieses Jahr sicher keine weiße Weihnacht geben wird.

»Klasse, Anke! :-D«, schreibt Jonas’ Mama und kontert mit einem Foto, auf dem zwei Cartoon-Tannenbäume nebeneinanderstehen. Der eine ist mit Kugeln und Girlanden behangen, der andere nicht. In einer Sprechblase über dem ungeschmückten Tannenbaum steht: »Du läufst ja schon wieder rum wie ein Flittchen!«

Jetzt gibt es kein Halten mehr. Das schlüpfrige Bildchen von Jonas’ Mutter löst eine Lawine an lachenden Emojis aus, die gleich noch mehr witzigen Weihnachts-Content nach sich zieht. Mein Hirn drückt von innen auf meine Augäpfel, oder zumindest fühlt es sich so an, als würde es das. Ich weiß jetzt schon: Weihnachten wird anders als sonst.

»Nach dem elften Glühwein zieht mein Schuh etwas nach links«, postet das Profilfoto eines Mannes, den ich wegen seines nicht vorhandenen Haupthaars und des dafür umso üppiger wachsenden Vollbarts als Onkel Georg identifiziere.

Nachdem sich die Stimmung wieder etwas beruhigt hat, beschließt Jonas’ Mutter, wieder zur Tagesordnung überzugehen.

»Georg, isst deine Tochter immer noch kein Fleisch?«, fragt sie in die Runde.

Und während ich mich noch darüber wundere, dass Patrizia nicht direkt angesprochen wird, hat Onkel Georg als Reaktion natürlich gleich den passenden Cartoon parat. Eine Zeichentrick-Kuh steht irritiert auf der Wiese, während vor ihr ein Mensch leidenschaftlich grast.

»Vegetarier essen meinem Essen das Essen weg, sage ich da nur!«, meldet sich Claudia zurück.

»Ich esse nur Fleisch, weil mir die kleinen Tofus so leidtun«, legt Georg noch mal nach.

Was sich hier gerade abspielt, ist wirklich schlimmer als jede Comedy Night auf RTL. Was ist das überhaupt mit Boomern und ihrer Vorliebe für vor Klischees triefenden Cartoons?

In mir zieht sich alles zusammen. Wie soll ich bitte Weihnachten mit all diesen Menschen überstehen, wenn das pseudolustige Gag-Feuerwerk in Chatform schon schambedingte Hitzewallungen in mir auslöst? Am besten ist vermutlich, mich erst mal unverfänglich mit einem lachenden Emoji einzubringen und danach wieder zu schweigen.

»Das war ein Fehler«, höre ich Jonas aus der Küche rufen.

Denn gerade als ich das gelbe Gesicht mit den tränenden Augen abgeschickt habe und den Chat schließen will, nimmt mich seine Mutter in den kommunikativen Würgegriff.

»Wir haben dieses Jahr übrigens einen neuen Gast. Jonas wird von seiner Freundin Elif begleitet. Elif ist schon ganz gespannt darauf, wie wir Sauerländer so Weihnachten feiern!«

»Hallo, Elfi«, kommt es gleich von Claudia zurück, aber Onkel Georg schießt den Vogel ab.

»Gut, wenigstens darfst du ja Rindfleisch essen. Dann wirst du hier keine Probleme haben.«

Das ist der Moment, in dem ich die Gruppe stummschalte und mein Smartphone genervt ans andere Ende des Sofas werfe.

»Ich hab dich gewarnt!«, sagt Jonas, während er sich zu mir setzt.

»Ja, aber erst, als es schon zu spät war!«

»Die Gesprächsgepflogenheiten in den Gruppenchats meiner Familie sind …«

»… idiotisch?«

»Ich hätte jetzt ›speziell‹ gesagt, aber gut, so kann man es auch nennen«, sagt Jonas, während er gedankenverloren auf seinem Smartphone herumwischt.

»Was machst du da eigentlich?«

»Nichts, wieso?«

»Du schickst da jetzt aber kein Lach-Emoji als Antwort an Georg?«

»Nein!«, sagt Jonas und hält mir den Startbildschirm seines Smartphones hin. »Sag mal, was wünschst du dir denn eigentlich zu Weihnachten?«

»Du verarschst mich doch, oder? Erst die Karte, dann der Chat, jetzt fragst du mich nach meinem Wunschzettel. Jonas, wir haben September!«

»Ich weiß, ich weiß, aber es ist halt nur …«

Jonas drückt wieder auf seinem Bildschirm herum.

»Was denn?«

»Mama muss das schon mal wissen.«

»Ich weiß noch nicht mal, was ich mir zum Geburtstag nächste Woche wünsche.«

»Aber Mama möchte ein bisschen planen.«

»Ja, das habe ich schon gemerkt. Was gibt es denn da bitte groß zu planen?«

»Na ja, zum Beispiel, wie viel Platz für uns beide unterm Baum frei gehalten werden muss.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Meiner nicht, aber der von meiner Mutter. Wir müssen bis Ende der Woche durchgeben, was wir wem schenken.«

Ich schlittere hier wirklich von einer vorweihnachtlichen Panikattacke in die nächste. Nicht nur, dass dieser um sich greifende Planungswahn meiner eher als spontan zu bezeichnenden Alltagsgestaltung widerspricht und ich gleich im ersten Moment meines Auftretens in der Familiengruppe problematische bis rassistische Sprüche kassiere, nein, zu allem Überfluss soll ich jetzt auch noch meine nicht vorhandene Geschenkeplanung offenlegen. Ich überlege, ob ich nicht doch besser zu Hause bleiben sollte. Aber Jonas’ Eltern würde ich schon gerne mal kennenlernen. Das letzte Mal, als sie hier waren, war ich nämlich bei meiner eigenen Familie und hab die beiden somit verpasst. Eine Zwickmühle also.

Ganz abgesehen davon habe ich noch nicht mal eine Ahnung, was ich Jonas eigentlich schenken werde. Um ehrlich zu sein, hatte ich darauf gehofft, mich Mitte Dezember von einer spontanen Eingebung oder einem mehr als offensichtlichen Hinweis aus seiner Richtung inspirieren zu lassen.

Dabei war das mit den Geschenken an Weihnachten ohnehin schon immer so eine Sache. Schon als Kind in der Schule. Nicht nur, dass es schon vor den Ferien ein Riesenthema war, wer welches Geschenk von welchen Großeltern bekommen würde oder mitunter schon in einem supergeheimen Versteck entdeckt haben könnte, sondern auch nach den Ferien gab es kein anderes Thema als Weihnachten.

Wir saßen im Stuhlkreis und sprachen darüber, wie wir die Weihnachtsferien verbracht hatten. Ganz abgesehen davon, dass ungefähr neunundneunzig Prozent der Kinder mit ihren Familien in irgendwelchen Wintersportgebieten Urlaub gemacht hatten und mir das Konzept Skifahren sehr suspekt war, ging es natürlich um die Geschenke, die an Weihnachten unter dem Baum gelegen hatten.

Minutenlang hörte ich Sarah, Tobias und Anna-Lena dabei zu, wie sie ihre wahr gewordenen Wunschzettel runterbeteten. Fahrräder, Kettcars, ferngesteuerte Autos, Keyboards, Game Boys. Und zwar jeder! Ich bekam eine Barbie; wenn ich Glück hatte war sie neu; wenn mein Vater Glück hatte, war sie vom Flohmarkt. Steffi hingegen gleich das Traumhaus und mehrere Puppen.

Auch das setzte meine Eltern wieder unter Druck, und sie nahmen für uns nicht nur einen weiteren Feiertag in ihren Kalender, sondern auch die Anschaffung von einigermaßen akzeptablen Geschenken in ihrer Finanzplanung mit auf.

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