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Dunkle Asche

Als Buch hier erhältlich:

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Mord verjährt nie ...

Sommer 1992 an der Ostsee: Eine Partynacht im Badeort Kalifornien endet mit einem brutalen Mord. Eine junge Frau wird in einem Ferienhaus mit zwölf Messerstichen getötet, die Leiche anschließend in Brand gesteckt. Ein Mörder kann nicht ermittelt werden. 

Dreißig Jahre später wird Gudrun Möller mit ihrer neuen Kollegin Judith Engster von der Cold Case Unit der Landeskriminalpolizei in ein Kieler Hospiz gerufen. Ein Zeuge aus Kalifornien möchte eine Aussage machen, um vor seinem bevorstehenden Tod Frieden zu finden. Der ehemalige Besitzer eines Strand-Imbisses beschuldigt seine eigene Tochter – die bis dahin niemals im Visier der Ermittler war. Die Kommissarinnen holen den Fall aus dem Archiv, die Cold Case Unit nimmt ihre gewohnte Arbeit auf, und mit neuen Forschungsmethoden ergibt sich schnell eine neue Spur. Doch der Täter von damals beobachtet die Ermittlungen genau – und er weiß, dass sich das Netz immer enger zieht …


  • Erscheinungstag: 28.01.2025
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907892
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Kalifornien bei Schönberg

15. Juli 1992

0:30 Uhr

Endlich war sie allein. An den Strand war ihr keiner gefolgt. Sie sog die würzige Meerluft ein, spürte die Feuchte der Gischt auf den Wangen und ließ den Atem fließen.

Ich werde nie wieder Angst haben, dachte sie probehalber. Obwohl sie nicht wusste, ob sie dem Gedanken trauen konnte, fühlte er sich gut an. Niemals wieder, fest versprochen.

Bässe und Musikfetzen wehten herüber: Die Party ging weiter, auch ohne sie.

Sie streckte das Gesicht dem Nachthimmel entgegen. In der Ferne lagen Schiffe im Wasser. Fähren und Containerschiffe auf dem Weg nach Skandinavien. Positionslichter gaben dem Blick Halt und wirkten so beständig wie das Rauschen der Brandung. Sie hob spontan die Hand und winkte, als wäre der Frachter ihr altes Ich, das sie zurückließ.

Es war gut, das Leben zu beenden. Es fühlte sich richtig an. Sie würde sterben und wiederauferstehen. Sie würde alles für immer hinter sich lassen.

Ihr Flieger ging morgen über New York nach Montreal. Acht Stunden Flug, sechs Zeitzonen. Ihre Freundin Mascha würde am Flughafen auf sie warten. Eine Reisetasche mit dem Nötigsten war gepackt. Kaum mehr als Handgepäck, denn im Grunde brauchte sie nur sich selbst, nur ihren Mut. Morgen um diese Zeit hätte sie es geschafft. Sie wäre für immer verschwunden.

Hinter ihr in den Dünen lag das Ferienhaus ihrer Eltern, wo sie ihre letzte Nacht verbringen würde. Da an Schlaf eh nicht zu denken war, konnte sie sich ebenso gut eine Flasche Wein aus der Küche holen, eine Decke schnappen und die Nacht am Strand verbringen. Aufs Meer hinausblicken, den Schiffen nachsehen und darauf warten, dass die Sonne aufging.

Im schwachen Licht der Sterne bahnte sie sich den Weg. Die Musik, die durch das Schilf und die Dünen drang, wurde schwächer. Der Wind änderte die Richtung, die Party entfernte sich. Sie öffnete das Gartentor, schlich über den Kiesweg zur Haustür – und stockte. Die Tür war unverschlossen.

Hatte sie vergessen abzuschließen? Mit angehaltenem Atem trat sie ein. Nahm den vertrauten Geruch wahr, nach Vanille, Holz und Kaffeepulver. Plötzlich pochte ihr Herz laut und schnell. Sie war doch allein?

Da, eine Silhouette im Sessel neben dem Kamin. Nein, das war unmöglich. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie den Lichtschalter fand und die Lampe einschaltete.

Lautstark stieß sie die Luft aus. Er hatte sie zu Tode erschreckt. Hockte hier im Dunkeln rum, ohne etwas zu sagen.

»Was machst du hier?«, fragte sie vorwurfsvoll.

Er antwortete nicht.

»Ich hab doch gesagt, dass ich allein sein will.«

Erst jetzt sah sie die Briefe auf dem Boden vor dem Sessel, geöffnet und gelesen. Sie waren bereits frankiert gewesen. Morgen auf dem Weg zum Flughafen wollte sie alle in den Briefkasten werfen. Es sollte die letzte Handlung ihres alten Lebens werden. Sie sah ihre eigene Schrift, mit blauer Tinte auf weißem Papier, sah den Schmerz in seinen Augen.

»Die solltest du nicht lesen …«

Jetzt wusste er, was sie vorhatte. Es war nicht geplant, jemanden einzuweihen. Wie sollte sie das erklären?

Er erhob sich, so plötzlich, dass sie glaubte, er würde wortlos an ihr vorbei nach draußen stürmen. Wegen ihres unverzeihlichen Verrats. Doch er stürmte auf sie zu.

Der Schlag in den Magen traf sie völlig unvorbereitet. Sie krümmte sich stöhnend. Tief im Innern spürte sie ein Ziehen, das sich fern anfühlte und gleichzeitig bedrohlich. Erst jetzt sah sie das Messer. Das Blut auf der Klinge.

Sie blickte verstört auf. Seine Augen schwammen in Schmerzen und Hass.

»Was tust du?«, hauchte sie. »Was …?«

Er stach wieder zu. Ihre Lunge wurde getroffen, sie konnte kaum mehr atmen. Noch ein Stich. Und noch einer. Blut spritzte auf den Teppich. Ihre Schreie klangen seltsam fremd. Sie stolperte zurück. Raus hier, war das Einzige, das sie denken konnte. Er stach wieder zu. Sie fiel zurück, landete auf dem Teppich.

»Bitte …«

Sie griff in das Messer, um es davon abzuhalten, wieder in ihren Körper einzudringen. Es schnitt durch ihre butterweichen Handflächen, durchtrennte die Sehne zwischen Daumen und Zeigefinger. War da Blut in ihrem Mund?

Es wurde dunkel um sie herum. Das Bewusstsein glitt davon. Dann war es, als würde sie in Schmerzen erwachen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu erinnern, was passiert war. Du musst Hilfe rufen. Das Telefon. Du brauchst Hilfe …

Vor der Tür waren Schritte, ein Gluckern, dann das Aufflammen eines Streichholzes. Sie wollte um Hilfe rufen, doch sie brachte kein Wort hervor. Das Telefon …

Mit einem wütenden Fauchen wurde es taghell. Flammen schossen hoch, züngelten an Vorhängen und Tapeten, nagten an Schränken und Türen.

Bitte, warum hilft mir keiner?

Sie war so furchtbar müde. Nur kurz die Augen schließen und sich ausruhen. Danach würde sie die Kraft finden, aufzustehen und zum Telefon zu gehen. Sie würde einen Krankenwagen rufen. Und die Polizei. Und das brennende Haus verlassen. Nur kurz die Augen schließen.

Sie war nicht mehr in Kalifornien. Das war längst Vergangenheit. Sie saß in ihrem Flugzeug und sah durch das runde Fenster hinab auf die Erde. Unter ihr lag Montreal. Die gläsernen Türme der Stadt, in denen sich der klare Himmel spiegelte. Das tanzende Licht auf den Wassern des Ottawa. Die leuchtenden Bäume des Indian Summers. Sie sah Mascha, die am Flughafen stand, den Kopf in den Nacken legte und ihr zuwinkte.

Sie lächelte, als sich das Feuer in den hölzernen Dachstuhl fraß. Spürte weder die Hitze, noch hörte sie das bedrohliche Knarzen, mit dem sich der Einsturz des Dachstuhls ankündigte. Nicht einmal die Flammen, die an ihrem T-Shirt und der Jeans fraßen. Hoch oben im Himmel spürte sie nichts von alledem, und was sie sah, war ihr neues Leben, das nun beginnen würde. Ein Leben in Freiheit. Ein Leben ohne Angst.

***

Die Flammen fraßen sich durch den Dachstuhl, züngelten an dem Dachfirst und quollen aus zerplatzten Fenstern. Ansonsten war es totenstill in der Feriensiedlung. Nirgendwo brannte Licht, keiner war auf der Straße zu sehen. Er hielt den Vorhang und schaute.

»Siehst du was?«, fragte sie von hinten.

»Das Haus der Hansens, es brennt.«

Er rechnete damit, dass sie zu ihm eilte, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Doch sie blieb im Dunkeln.

»Können sich die Flammen ausbreiten?«

»Eher nicht. Es ist beinahe windstill.«

»Sind die Nachbarhäuser in Gefahr?«

»Ich glaube nicht, nein.«

In das Schweigen mischte sich das ferne Knistern des Feuers. Die leuchtend roten Flammen spiegelten sich in seinen Augen. Komisch, dass überhaupt kein Nachbar zu sehen war.

»Wir sollten die Feuerwehr rufen«, sagte er.

»Nein. Geh weg vom Fenster, bevor dich jemand sieht.«

Er zögerte. Es war faszinierend, den Flammen bei ihrer Zerstörungskraft zuzusehen.

»Weg vom Fenster!«, zischte sie. »Jetzt mach schon, ich will nichts damit zu tun haben.«

Widerwillig ließ er den Vorhang vors Fenster gleiten. Trat zurück in das dunkle Haus und schwieg. Sie hatte ja recht: Besser, sie hätten mit der ganzen Sache nichts zu tun. Er legte sich wieder ins Bett. Unfähig zu schlafen, starrten beide wortlos in die Dunkelheit und lauschten in die Nacht hinaus, die erfüllt war vom leisen Knistern der Flammen.

1

Gudrun war erst seit ein paar Minuten wach, als jemand gegen die Tür ihres Campers hämmerte. Gerade wach genug, um zu realisieren, dass sie das Handy vorm Schlafengehen nicht aufgeladen hatte und der Wecker deshalb nicht losgegangen war. Um sich ein T-Shirt überzuwerfen, leise herumzufluchen, weil sie wieder mal zu spät zur Arbeit kam, um eilig Kaffee aufzusetzen und sich zu überlegen, welche Ausrede sie Wolfgang diesmal auftischen sollte, ihrem Vorgesetzten bei der Kieler Landespolizeibehörde.

Vielleicht sollte sie einfach bei der Wahrheit bleiben, nämlich dass sie nach ihrer Bandprobe komplett versackt war. Die Jungs hatten in der Kneipe, die sie als Probenraum benutzten, ein Spontankonzert vor Touristen und Kneipengängern gegeben, mit ihr als Frontfrau am Mikro, und wie aus dem Nichts hatte sich eine wilde Party entwickelt. Was für eine Stimmung plötzlich geherrscht hatte! Es war eine dieser magischen Nächte gewesen, in denen alles möglich schien und in denen man selten vor sechs Uhr morgens nach Hause kam. »Du bist keine vierzig mehr, Gudrun«, würde Wolfgang brummeln. »Hört das denn nie auf bei dir?« Doch ein heimliches Lächeln würde ihr zeigen, dass es ihn im Grunde amüsierte, wenn sie sich wie eine Studentin benahm.

Wieder hämmerte es gegen die Tür, diesmal drängender und aggressiver. »Ja doch«, rief sie. »Ich komme.«

Unter der Bettdecke bemerkte sie eine Bewegung. Ein blasses Bein schob sich ins Freie, eine nackte Schulter erschien und wuscheliges langes Haar. Gudrun wunderte sich sehr über den sehnsüchtigen Stich, den sie bei dem Anblick in der Magengegend verspürte. Es war nur ein One-Night-Stand, sagte sie sich, nur das Ergebnis einer durchzechten Nacht. Was war denn los mit ihr? Sie wollte niemanden in ihrem Leben. Diese Sehnsucht zeigte nur, wie übernächtigt sie war. Seufzend beugte sie sich zum Türgriff hinab und stieß die Seitentür des Campers auf.

Auf dem Rasen stand Judith Engster, ihre neue Kollegin. Merkwürdig. Was wollte die denn hier? War die nicht in der Direktion? Mit dem Hosenanzug, den perfekt sitzenden Haaren, den hohen Schuhen und der strengen Erotik, die sie ausstrahlte, wirkte sie auf dem bodenständigen Campingplatz wie von Außerirdischen entführt und abgesetzt.

Gudrun bemerkte im Augenwinkel, wie das Rentnerpaar aus den Niederlanden, das es sich mit Kaffee und Gebäck im Außenzelt bequem gemacht hatte, neugierig herübersah.

»Judith. Was machst du hier?«

»Morgen, Gudrun. Ich soll dich abholen.«

»Abholen? Warum denn das?«

»Wolfgang schickt mich.«

Herrje. Da machte sie ja gleich Eindruck bei der neuen Kollegin. »Mein Handy«, entschuldigte sie sich. »Der Akku war leer, ich habe verschlafen.«

»Kann ja passieren.« Ihr Gesichtsausdruck war unmöglich zu deuten. »Kommst du dann?«

»Eine Minute.« Gudrun sah sich nach ihren Klamotten um. »Ist denn was passiert, dass du hier aufschlägst, als würde es brennen?«

»Wir haben einen Fall.«

Das allein konnte kaum Grund zur Eile sein. In der Cold Case Unit, in der sie seit zwei Jahren arbeitete, ging es selten darum, überstürzt zu Tatorten zu fahren oder sich Verfolgungsjagden zu liefern. Stattdessen sichteten sie wochenlang alte Akten zu ungelösten Kapitalverbrechen, um sie mithilfe neuer Methoden erneut aufzurollen. Wenn sie einen Fall bekamen, ging es für gewöhnlich als Erstes ins Archiv der Polizeidirektion, wo sie körbeweise Akten einsammelten.

Sie massierte sich die Nasenwurzel. »Wie du willst«, sagte sie. »Ich mach mich schnell fertig. Du entschuldigst mich?«

»Natürlich. Ich warte.«

Sie war im Begriff, die Tür wieder zuzuziehen, als sie bemerkte, dass ihr Übernachtungsgast aus dem Bett geklettert war und an ihr vorbei zum Ausgang wollte. Es war zu spät, ihrem Gast zu bedeuten, besser im Bett liegen zu bleiben, bis die Luft rein war. Barfuß, ohne BH und nur mit einem weiten Band-T-Shirt bekleidet, schob Jasmin sich zur Tür.

Gudrun seufzte. Im Tageslicht wirkte sie noch jünger als gestern Nacht in der Kneipe. Als sie beim dritten Shot nach Jasmins Alter gefragt hatte, sagte die, sie sei vierundvierzig. Das hatte Gudrun jedenfalls bei dem Lärm verstanden, denn später stellte sich heraus, dass Jasmin vierunddreißig gesagt hatte. Dabei war Gudrun vierundvierzig schon zu jung gewesen. Aber da waren sie bereits im Camper und Gudrun hatte ihre romantische Lichterkettenbeleuchtung eingeschaltet.

»Darf ich?«, fragte Jasmin, als sie sich an ihr vorbeidrückte. »Ich flitz mal schnell aufs Klo.«

Dabei schenkte sie ihr ein Lächeln, das ihren Magen erneut auf Achterbahnfahrt schickte. Diese Sehnsucht hat nichts zu bedeuten, erinnerte sie sich. Du bist nur übernächtigt.

»Warte!« Sie schnappte sich eine Plastikkarte vom Einbautisch. »Ohne die kommst du nicht in die Duschräume.«

Jasmin nahm die Zugangskarte, zwinkerte, dann schenkte sie Judith ein Lächeln und huschte davon. Gudruns Kollegin ließ sich nichts anmerken. Sie sah Jasmin scheinbar unbeteiligt nach, wirkte völlig desinteressiert. Aber Gudrun wusste genau, wie eine Polizistin aussah, der kein Detail entging.

»Fahren wir ins Archiv?«, lenkte sie die Aufmerksamkeit auf sich. »Holst du mich deswegen ab?«

»Nein, diesmal nicht. Wir haben einen Zeugen.«

»Und kann der nicht warten? Wir durchforsten doch zuerst die alten Akten, oder?«

Was ergab es sonst für einen Sinn, jemanden zu befragen?

»Dieser kann nicht warten«, meinte Judith nüchtern. »Er liegt im Hospiz.«

Gudrun seufzte. Genau das, was sie übernächtigt und verkatert brauchte: einen Besuch im Hospiz. Sie würde sich unterwegs einen Kaffee besorgen. Und wenn möglich, eine Aspirin.

»Verstanden«, sagte sie. »Ich beeile mich.«

Sie war schon im Begriff, die Tür zuzuziehen, da hielt sie inne. »Wollen wir da wirklich im Blindflug rangehen? Was ist das denn für ein Fall?«

»Ich habe mir im Büro einen groben Überblick verschafft. Es geht um ein Tötungsdelikt aus dem Jahr zweiundneunzig. Das Opfer hieß Sanna Hansen. Du müsstest davon gehört haben.«

Sanna Hansen. Gudrun klammerte sich an den Türgriff. Ein Fenster in die Vergangenheit öffnete sich, zu einem Sommer, den sie am liebsten vergessen hätte. Seltsam. Sie hatte nie über den Fall nachgedacht, obwohl er bei den Cold Cases doch in ihre Zuständigkeit fiel. Über Judiths Kopf hinweg sah sie zum Meer, das unter einem perfekten blauen Himmel in der schwirrenden Morgenluft lag. Möwen schrien in der Ferne, und ein Tanker lag in Spielzeuggröße draußen auf der See.

»Wolfgang meinte, du bist in der Gegend aufgewachsen«, sagte Judith. »Du müsstest dich an den Fall erinnern. Zur Tatzeit warst du … etwa zwanzig?«

Sie hatte damals das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht. Danach wollte sie sich ein paar Wochen freinehmen und das Leben genießen. Ein Sommer voller Möglichkeiten, der Aufbruch in die Zukunft. Und dann folgte das Verbrechen.

»Ich war einundzwanzig.«

»Du erinnerst dich also?«

»Wer tut das nicht«, murmelte sie.

»Dann zieh dich an«, sagte Judith. »Ich stehe am Parkplatz. Der dunkle Passat.«

Sie wandte sich ab und schritt trotz der hohen Absätze kraftvoll und elegant über den Rasen davon. Ihre Hüften bewegten sich dabei wie die Dünung bei stürmischem Wetter. Gudrun sehnte sich nach Mohammed, ihrem alten Kollegen, der in den Ruhestand gegangen war. Nach der Vertrautheit, die zwischen ihnen geherrscht hatte. Besonders bei diesem Fall, an den sie sich nicht erinnern wollte.

Judith verschwand auf dem Parkplatz. Die niederländischen Rentner sahen ihr staunend hinterher, bis sie bemerkten, dass Gudrun sie beobachtete. Um jede Verlegenheit zu überspielen, grüßten sie freundlich und wünschten ihr einen guten Tag. Gudrun winkte zurück, lächelte ebenfalls und trat in den Camper.

Sanna Hansen, dachte sie, während sie die Tür hinter sich zuzog. Verflucht. Es fiel ihr schwer, die vielen unangenehmen Erinnerungen, die bei der Erwähnung dieses Namens auf sie einstürzten, abzuwehren. Und während sie ihr Sweatshirt aus dem Schrank hervorzog, erwischte sie sich bei einem Gedanken, der ihr in fast dreißig Jahren im Polizeidienst kein einziges Mal gekommen war: Manche Fälle sollte man lieber ruhen lassen. Nicht in jedes ruhige Wasser sollte ein Stein geworfen werden. Selbst wenn dadurch ein Mörder auf freiem Fuß bliebe, der unter anderen Umständen der Gerechtigkeit zugeführt werden sollte.

2

Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, und da keine Zeit war, sich die Haare zu waschen, setzte sie kurzerhand ein Basecap auf. Mit dem Blick in den Spiegel fragte sie sich, ob sie so in einem Hospiz auftauchen konnte. Es sah eher aus, als wollte sie joggen gehen, doch wenigstens wirkte ihr Spiegelbild nicht verkatert.

In der Kaffeemaschine plätscherte es verführerisch, aber es half nichts, sie konnte nicht darauf warten, dass der Kaffee durchgelaufen war. Stattdessen zog sie die Turnschuhe unterm Bett hervor, schlüpfte hinein und fummelte an den Schnürbändern herum.

Es klopfte zaghaft, und Jasmin kehrte zurück.

»War das deine Arbeitskollegin?«, fragte sie.

»Genau«, sagte Gudrun, die vom Bett aufstand. »Ich muss jetzt leider los. Keine Zeit mehr für Frühstück.«

»Ist das blöd, dass wir …? Ich mein, kriegst du Ärger, weil du verschlafen hast?«

»Ach was. Und wenn, wäre es nicht deine Schuld.«

In ihrem T-Shirt, das ihr kaum über den Slip reichte, stand Jasmin etwas scheu in der Tür. Sie schlang die Arme um den Oberkörper, als wüsste sie nicht, was sie sonst mit ihnen machen sollte, und lächelte verlegen. Als wäre die stürmische Frau, die sie gestern Nacht gewesen war, eine andere Person. Gudrun erging es ähnlich. Auch sie spürte die Distanz. Wie befangen ein bisschen Tageslicht machte.

»Mach es dir einfach gemütlich«, schlug sie Jasmin vor. »Der Kaffee ist gleich durchgelaufen. Lass dir alle Zeit der Welt. Und wenn du gehst, dann zieh einfach die Tür hinter dir zu.« Gudrun schnappte sich ihr Handy und steckte es ein.

Ohne sie anzusehen, fragte Jasmin: »Sehen wir uns wieder?«

»Ich weiß nicht. In den nächsten Tagen hab ich viel zu tun. Im Job, du weißt schon.«

»Vielleicht ja am Wochenende.«

»Mal sehen, wie’s läuft.«

Gudrun schlüpfte in die Jacke, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Jasmin wäre bis Sonntagabend in Laboe, wo sie Ostseeurlaub mit Freundinnen machte. Sicher würden ihre Mädels schon in der Ferienwohnung auf sie warten und alles über die vergangene Nacht wissen wollen. Kichernd jedes Detail über diese Rocksängerin, mit der Jasmin losgezogen war, aus ihr herausquetschen.

»Ich texte dir«, sagte sie. »Wir sehen uns.«

Sie drückte sich an Jasmin vorbei zur Tür. Die junge Frau schlang plötzlich ihre Arme um Gudrun. Sie roch nach Schlaf und nach Sex, nach Rotwein und dem flatternden Gefühl plötzlicher Verliebtheit. Die Distanz schmolz augenblicklich dahin. Für einen Moment war es wie in der vergangenen Nacht, und Gudrun vergaß die Welt draußen, in der es Arbeitszeiten gab und Mörder und zu befragende Zeugen. Sie küsste Jasmin leidenschaftlich.

Dann löste sie sich aus der Umarmung, lächelte, stieß die Tür auf und sprang auf den Rasen. Die niederländischen Rentner sahen ihr dabei zu, sie winkten, Gudrun wandte sich ab und steuerte den Parkplatz an. Sie sah nicht zurück.

Judith wartete auf dem Kiesweg auf sie, den Blick auf das Meer und die Wolkentürme am Horizont gerichtet. Sie schien tief in Gedanken versunken, stand mit dem Rücken zum Auto, die Arme vor der Brust verschränkt. Gudrun lächelte. Wie ihre Kollegin dort stand, wirkte sie wie eine Galionsfigur am Bug eines Viermasters, das Gesicht unbeirrbar dem Wind und der Gischt entgegengestreckt.

»Da bin ich«, rief sie.

Judith zuckte zusammen, fasste sich schnell und schritt entschlossen zur Fahrertür. »Wird auch Zeit. Können wir dann?«

»Wir können«, erwiderte Gudrun. »Ich brauch nur einen Kaffee unterwegs. Da lasse ich nicht mit mir reden.«

»Ich halte unten an der Bäckerei. Steig ein.«

Judith warf sich hinters Steuer und startete den Motor. Im Grunde wusste Gudrun wenig über die neue Kollegin. Nicht einmal, ob sie ihr sonderlich sympathisch war. Judith hatte in Rostock bei der Kriminalpolizei gearbeitet. Offenbar bei der Sitte. Irgendwas war dort vorgefallen, doch sollte ihr Chef mehr darüber wissen, behielt er es für sich. Wolfgang hasste Tratsch.

Sie nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Kaum hatte sie den Gurt einrasten lassen, schoss das Auto nach hinten, nahm eine verwegene Rückwärtskurve und jagte über den Parkplatz zur Straße. Judith fuhr einen ziemlichen Stiefel, stellte sie überrascht fest. Zum Glück wurde Gudrun nicht schnell seekrank, auch nicht, wenn sie verkatert war.

»Also gut«, begann Judith, den Blick hoch konzentriert auf die Straße vor ihr. »Was weißt du heute noch über den Fall?«

»Du meinst Sanna Hansen? Nun …« Gudrun versuchte, die Sache von damals mit den Augen einer Polizistin zu sehen. »Sie wurde in einer Julinacht ermordet. Eine Abiturientin aus Kiel, achtzehn Jahre alt, allgemein sehr beliebt. Sie war mit Freunden in einer Disko in Holm, das ist eine Ferienanlage unweit vom Strand. Da steht so ein Apartmenthochhaus mit Blick auf die Ostsee. Damals waren da Kneipen und Bars drin und unten im Keller eine Disko. Gegen Mitternacht verabschiedete sich Sanna von ihren Freunden und ging alleine nach Hause. Die wenigen Zeugen, die sie dabei gesehen haben, sagten, sie sei nicht in Begleitung gewesen.«

Zwischen der Disko und dem Strand lagen nur wenige Hundert Meter. Gudrun wusste genau, wo man dort lauschige Ecken zum Knutschen fand. Wie die Salzwiesen in einer Sommernacht dufteten. Wie nah das dunkle Meer und das nächtliche Rauschen der Brandung waren.

»Beim Tatort handelte es sich um das Ferienhaus ihrer Eltern«, fuhr sie fort. »Der Täter hat sie erstochen und das Häuschen anschließend in Brand gesetzt. Dadurch sind viele Spuren vernichtet worden. Die Tatwaffe hat man später zwar am Strand gefunden, aber sie hatte tagelang im Wasser gelegen. Die Kollegen konnten das nicht zurückverfolgen.«

»Zwölf Messerstiche«, warf Judith ein. »In Brust und Bauch. Klingt für mich nach einem sexuellen Motiv.«

»Kann schon sein. Vergewaltigt worden ist sie nicht.«

»Nein, das nicht. Trotzdem.«

»Es gab einen Hauptverdächtigen«, sagte Gudrun. »Manfred Soundso, von allen Manni genannt. Das war ihr fester Freund, mit dem sie an dem Abend Schluss gemacht haben soll.«

»Sie konnten ihn nicht drankriegen«, fügte Judith hinzu.

»Nein. Gegen den Typen gab es eine Menge Indizien, aber für eine Anklage hat es nicht gereicht. Und ein weiterer, konkreter Verdächtiger war während der Ermittlungen nicht aufgetaucht.« Gudrun dachte darüber nach. »Ich fürchte, das war’s«, schloss sie. »Mehr weiß ich nicht. Ich müsste zuerst die Akten sehen.«

»Sie war sehr beliebt, sagst du?«

»Ja. Eher ein stilles Mädchen, sie ist nirgendwo angeeckt. Sehr hübsch war sie. Hat sich einfach mit allen verstanden. Viele in Kalifornien kannten Sanna Hansen persönlich. Du weißt schon, Kalifornien heißt das Strandbad. Ihre Eltern waren häufig dort in ihrem Ferienhaus.«

»Kalifornien«, wiederholte Judith nachdenklich. »Komischer Name, findest du nicht?«

»Man erzählt sich, dass mal ein Schiff vor der Küste gesunken ist, bevor der Ort entstanden ist. Eine Planke wurde angespült, auf der California stand, und so ist der Ort zu seinem Namen gekommen.«

Judith bremste ab, als sie die kleine Ortschaft in der Nähe des Campingplatzes erreichte. Gerade rechtzeitig, um einem Blitzer am Ortseingang zu entgehen.

»Kanntest du das Opfer?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Gudrun reflexhaft und ärgerte sich sofort, gelogen zu haben. »Nur vom Sehen«, fügte sie hinzu.

»Warst du damals oft in Kalifornien?«

»Manchmal. Meistens sind wir zu den verschwiegenen Strandabschnitten gefahren, wenn wir ans Meer wollten. Nicht zu den Touristenorten. Aber so ein Sommer kann sehr lang sein, und in Kalifornien gab es eine Disko.« Gudrun wusste selbst nicht, warum sie zögerte, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Es ergab keinen Sinn. Zögernd fügte sie hinzu: »Ich kannte ihren älteren Bruder.«

»Den von Sanna? Wie hieß er noch? Bernd oder …«

»Björn. Er war in meinem Abi-Jahrgang in Kiel. Aber nahe standen wir uns nicht, wir hatten kaum Kurse zusammen. Außerdem habe ich zu der Zeit eh eine Menge geschwänzt.« Sie lachte, um zu überspielen, dass sie wieder nicht ganz die Wahrheit sagte. »Schule hat mich damals echt nicht interessiert. Ein Wunder, dass ich überhaupt das Abi gepackt habe.«

»Hier ist es«, sagte Judith und bremste hart vor der Bäckerei ab. Gudrun, die erleichtert war, nicht länger über Sanna und Björn befragt zu werden, sprang aus dem Wagen und lief in die Bäckerei. Erst da wurde ihr klar, dass sie ihrer Kollegin die wichtigste Frage noch gar nicht gestellt hatte. Es zeigte nur, dass sie dringend einen Kaffee brauchte. Mit dem heißen Becher und einer Plastikflasche Wasser kehrte sie zurück und nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz.

»Wer ist das, den wir im Hospiz besuchen?«, fragte sie.

Judith zog ihr Smartphone, das sie statt eines Notizblocks benutzte, aus der Anzughose und ging ihre Aufzeichnungen durch.

»Heinz Wullrecht.«

»Onkel Heinz?«

Der Ausruf bescherte ihr einen fragenden Seitenblick.

»So haben ihn die Kinder früher genannt. Heinz Wullrecht hatte einen Kiosk am Strand. Schon als ich noch ein Kind war.«

Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Pommes rot-weiß, heimliche Zigaretten, Schnapstrinken in den Dünen. Onkel Heinz war eine feste Größe in Kalifornien gewesen. Wie alt mochte er heute sein?

»Hat er etwas gesehen in der Tatnacht?«, fragte sich Gudrun. »Wieso fällt ihm das erst jetzt ein?«

»Im Angesicht des Todes wollen sich viele erleichtern«, meinte Judith. »Eine Art Beichte ablegen. Er wäre nicht der Erste.«

»Aber das ergibt keinen Sinn. Er war die gute Seele von Kalifornien. Warum sollte er etwas verheimlicht haben?«

»Das werden wir sehen.«

Der Verkehr verdichtete sich, als sie Kiel erreichten. Gewerbehallen und schäbige Mietshäuser tauchten neben der Straße auf, dahinter glitzerte im Sonnenlicht das Wasser der Förde.

»Bist du deshalb bei der Polizei gelandet?«, fragte Judith unvermittelt.

Gudrun sah sie verständnislos an. »Du meinst, wegen des ungeklärten Mordfalls in meiner Jugend?«

»Wieso nicht? Das muss dich doch geprägt haben. Hast du nicht ein Jahr später mit der Polizeiausbildung in Hamburg angefangen?«

Meine neue Kollegin ist gut informiert, dachte Gudrun. Nicht nur über den Fall.

»So romantisch war das nicht«, erwiderte sie. »Ich hab in Hamburg ein Semester Sinologie studiert. Eine ziemlich bescheuerte Idee. Dann gab es da so ein Programm zur Anwerbung von Frauen im Polizeidienst, und ich dachte, na, dann werd ich halt Schimanski.«

»Verstehe«, sagte Judith.

»Es war eher ein Vorwand, um das Studium zu schmeißen. Ich hatte damals überhaupt keinen Plan, was ich aus meinem Leben machen soll.«

Doch stimmte das auch? Gudrun hätte nicht sagen können, wie sehr dieses Verbrechen unterbewusst ihre Berufspläne geprägt hatte. Sie hatte nie darüber nachgedacht.

»Und?«, fragte Judith. »Hast du es bereut?«

Irgendwie wünschte sich Gudrun, sie wüsste, ob in Rostock etwas vorgefallen war. Ob Judith nach Kiel gekommen war, weil sie in ihrer letzten Dienststelle verbrannte Erde hinterlassen hatte. Es hätte ihr ein wenig das Gefühl der Unterlegenheit genommen.

»Nicht die Spur. Ich liebe meinen Job. Was ist mit dir? Hast du es je bereut, zur Polizei gegangen zu sein?«

Judith wirkte überrascht. Dann setzte sie den Blinker, sah in den Rückspiegel und bog von der Straße ab. Vor ihnen tauchte ein einstöckiges Flachdachhaus auf, aus Holz und warmem Naturstein, das von einer hübschen Parkanlage umgeben war. Judith schoss in die Auffahrt und bremste scharf ab. »Da sind wir«, sagte sie, ohne die Frage zu beantworten. »Das Hospiz. Wir werden erwartet.«

3

Sie traten in die gedämpfte Atmosphäre des Hospizes, dessen Inneneinrichtung von Holz und Erdtönen dominiert wurde. Es war nicht Gudruns erster Besuch im Haus. Die Mutter einer Freundin hatte hier vor Jahren ihre letzten Wochen zugebracht, und schon damals hatte sie dieses stille Haus, in dem die Hektik des Alltags ausgeschlossen schien, als tröstend empfunden. Der Tod verlor hier ein wenig von seinem Schrecken.

Am Empfang saß eine Frau in den Sechzigern, offenbar eine der Ehrenamtlichen, von denen Gudrun wusste, dass sie den Laden schmissen. Eine Strickjacke spannte über ihrem großen Busen, und ein goldenes Kreuz glänzte auf dem Dekolleté. Da sie die beiden Frauen offenbar für Besucherinnen hielt, legte sie ein mitfühlendes und unerschütterliches Lächeln auf.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.

»Engster von der Kripo Kiel«, stellte Judith sich vor. »Und meine Kollegin Möller. Wir werden erwartet.«

»Die Kriminalpolizei?« Das souveräne Lächeln der Frau bekam Risse. »Ist denn was passiert?«

»Schon gut, Rita«, drang eine Stimme von hinten. Eine junge Schwester in weißem Kittel steckte den Kopf durch die Tür. »Ich war das«, sagte sie zu Judith. »Ich habe Sie angerufen. Danke, dass Sie gekommen sind. Es hat alles seine Ordnung, Rita. Herr Wullrecht erwartet die Herrschaften. Würdest du die beiden zu ihm führen?«

»Zu Heinz?«, fragte die Frau jetzt verwirrt, fasste sich jedoch, stand auf und zupfte die Strickjacke zurecht. »Aber ja. Folgen Sie mir bitte.«

Gudrun konnte sich nicht erinnern, dass Bewohner mit Vornamen angesprochen wurden, deshalb fragte sie die Frau: »Sind Sie mit Herrn Wullrecht näher bekannt?«

»Ich kenne seine Tochter. Wir sind befreundet.«

»Brigitte.«

Die Frau hielt verwundert inne. »Sie kennen Brigitte?«

»Nicht richtig. Eigentlich gar nicht, um ehrlich zu sein. Ich war nur früher oft in Kalifornien.«

»Der Kiosk!« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Stimmt, daher kennen viele Heinz und Brigitte. Sie haben ihn gemeinsam geführt.«

»Führt sie denn den Kiosk heute nicht mehr?«

»Ach was. Nein, das ist ewig her. Sie arbeitet in einem Optikergeschäft in der Innenstadt. Zweiter Bildungsweg. Das ist tausendmal besser, als einen Kiosk zu betreiben. Das würde ich keinem wünschen.«

»Rund um die Uhr arbeiten, niemals frei und ein schmaler Lohn«, mutmaßte Gudrun.

»So ist es.«

Sie führte die beiden Polizistinnen in einen Seitenflügel des Hauses.

»Früher habe ich Ihre Freundin beneidet«, gestand Gudrun. »Ich dachte, das muss der schönste Job der Welt sein. Den ganzen Tag am Strand, Pommes und Eis verkaufen, Meerluft atmen. Ein Traum.«

»Ich weiß, was Sie meinen. Aber die Realität sieht anders aus. Es ist ein Knochenjob. Und man stinkt ständig nach Frittierfett.«

»Wo ist nur die Romantik hin?«, scherzte Gudrun und entlockte der Frau damit ein Lächeln.

»Hier ist das Zimmer«, sagte sie und fügte besorgt hinzu: »Ist denn alles in Ordnung mit Heinz? Ich meine, weil Sie von der Polizei sind. Es ist doch nichts passiert?«

»Danke«, sagte Judith. »Wir kommen dann allein zurecht.«

»Schweigepflicht, Sie kennen das ja«, fügte Gudrun freundlich hinzu. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nichts Schlimmes.«

Erleichtert nickte die Frau, fasste Gudrun an die Schulter, als wollte sie eine Angehörige trösten, dann machte sie kehrt und ging zurück zu ihrem Tresen.

Judith klopfte sacht an und drückte die Tür auf. Sie betraten ein helles und großzügiges Zimmer, in dessen Mitte ein Pflegebett stand. Heinz Wullrecht hob den Kopf. Von dem kräftigen, kugelrunden Mann mit den roten Wangen, den Gudrun aus ihrer Kindheit kannte, war kaum etwas geblieben. In dem Bett lag ein zum Skelett abgemagerter Mensch, kaum mehr als Haut und Knochen, und aus den tiefen Augenhöhlen blickte ihnen ein erschöpfter Geist entgegen. Nachdem die Kommissarinnen sich vorgestellt hatten, richtete er sich mühsam auf und stöhnte unter der Anstrengung. Gudrun machte Anstalten, ihm zu helfen, doch er wedelte sie mit der Hand fort.

»Mir geht es gut«, sagte er. »Den Umständen entsprechend. Ich bekomme Medikamente. Gegen den Krebs können sie zwar nichts mehr tun, aber ich habe keine Schmerzen mehr.«

Die Frauen warteten höflich, bis er sich in den Kissen aufgerichtet hatte. Dann kam Judith auf den Mordfall Sanna Hansen zu sprechen und auf seine Bitte, eine Aussage in der Sache zu machen.

Statt darauf zu antworten, fiel er in Schweigen. Er sah zum Fenster, das in den sonnendurchfluteten Garten führte. Gräser bewegten sich im Wind, Insekten schwirrten durch die Luft und Vögel zwitscherten. Das Bild strahlte nichts als Frieden aus. Die beiden Frauen warteten geduldig, bis er das Wort ergriff.

»Man muss sagen, wenn man etwas gesehen hat«, sagte er wie zu sich selbst. »Man darf das nicht für sich behalten. So ist es doch?«

Kein Wort darüber, dass der Fall dreißig Jahre zurücklag, was eine lange Zeit war dafür, dass er, was immer ihm auf der Seele lag, eben doch für sich behalten hatte.

»Alles, was hilft, den Täter zu finden, ist wichtig«, sagte Judith. »Mord verjährt nicht.«

Herr Wullrecht schwieg, den Blick weiter auf den Garten gerichtet. So, als grübelte er darüber nach, ob er seine Aussage wirklich machen sollte.

»Es hat Bedeutung, wenn Gerechtigkeit entsteht«, fügte Gudrun hinzu. »Auch nach so vielen Jahren. Damit sich die Wunde schließen kann, die das Verbrechen gerissen hat. Für die Angehörigen ist das wichtig.«

Der alte Mann nickte. Schließlich sagte er gedankenverloren: »Sie war so ein hübsches Mädchen. Und sie nannte mich Onkel Heinz. So wie die Kinder aus dem Dorf. Sie war nicht wie ihresgleichen. Nicht wie die anderen reichen Gäste, die Wert legen auf die Distanz zwischen ihnen und uns. Sie war anders.«

Plötzlich rang er um Atem. Die Frauen wechselten einen beunruhigten Blick. Judith wollte eine Schwester holen, doch der alte Mann hielt sie davon ab. Es ginge ihm gut, wiederholte er, und die Atemnot sei in einer Sekunde vorbei.

Womit er recht behielt. Dennoch schien ihm die Sache mit der Aussage zuzusetzen. In dem großen Bett wirkte er verloren und überfordert. Gudrun setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, und da er sie hilfesuchend ansah, nahm sie einem Impuls folgend seine Hand. Sein Atem beruhigte sich daraufhin wieder vollständig.

»Das Mädchen wollte nach Kanada«, sagte er zu Gudrun. »Man hat ein Flugticket gefunden. Keiner wusste davon, dass sie fortwollte.«

»Denken Sie, das hat mit ihrem Tod zu tun?«, versuchte sie ihn zum Weiterreden zu bewegen.

»Ich weiß nicht. Aber … ob hier oder in Kanada. Sie hätte verdient zu leben. Glücklich zu sein. Kinder zu bekommen. Alt zu werden.« Er wirkte mit einem Mal unendlich erschöpft. »Sie hätte verdient, eine Zukunft zu haben.«

»Sollen wir nicht doch eine Schwester holen?«, fragte Judith besorgt. »Wir haben es nicht eilig.«

»Gleich.« Er holte Luft. »Ich möchte dies hier zuerst zu Ende bringen.« Jetzt klammerte er sich an Gudruns Hand, als wollte er, dass sie ihn aus einem Abgrund herauszog.

»Was haben Sie auf dem Herzen?«, fragte sie. »Was ist es, das Sie uns sagen wollen?«

Er schloss die Augen und begann: »Ich hatte einen Benzinkanister in der Garage. Damals. Für meinen Rasenmäher. Der Kanister … er ist in dieser Nacht verschwunden.«

Die Frauen sahen sich an. Der Benzinkanister, der am Tatort gefunden wurde und mit dessen Hilfe das Haus in Brand gesetzt worden war, konnte damals keinem Besitzer zugeordnet werden. Es war ein handelsüblicher Kanister, und die Spurensicherung konnte keine verwertbaren Spuren daran sicherstellen.

»Wieso haben Sie das damals nicht gemeldet?«, fragte Gudrun. »Es wäre ein wichtiger Hinweis gewesen.«

»Ein paar Tage später war der Kanister wieder da. Er sah aus wie der alte. Es war ganz einfach, so zu tun, als wäre er nie weggewesen.«

»Wissen Sie, wer den Kanister aus Ihrer Garage genommen hat?«, fragte Judith.

Er schloss die Augen. Sein Totenschädel sackte zwischen seine Schultern. Gudrun spürte den klammernden Griff.

»Herr Wullrecht«, drängte sie sanft.

Er holte zitternd Luft. »Ich bin wach geworden in der Nacht. Bevor das Feuer ausgebrochen ist. Da war ein Geräusch, das aus der Garage kam. Ich bin zum Fenster, habe die Gardine zur Seite geschoben, und …« Er stockte.

»Was haben Sie gesehen?«, fragte Judith.

»Ich habe …«

Wieder blieb ihm der Atem weg. Er riss die Augen auf, Panik trat in seine Züge. Es schien, als würde er ersticken. Diesmal fragte Judith nicht lange nach, sondern beugte sich kurzerhand über ihn und drückte den roten Knopf, der mit dem Schwesternzimmer verbunden war. Ein toter Zeuge würde ihnen nicht weiterhelfen.

»Es kommt gleich jemand«, sagte sie.

Der alte Mann schluckte und keuchte, dann zog er mit letzter Kraft Gudruns Hand zu sich. Er kämpfte mit jedem Wort, fest entschlossen, über die Klippe zu springen und die Wahrheit zu sagen.

»Jemand kam aus meiner Garage«, sagte er. »Mit dem Kanister unterm Arm. Hat abgeschlossen und den Schlüssel zurück unter die Fußmatte gelegt. Ich habe das im Schein der Laterne gesehen. Ich habe gesehen, wie die Gestalt mit dem Kanister zur Ferienhaussiedlung gegangen ist«

»Haben Sie die Gestalt erkannt?«, fragte Gudrun.

Er nickte. »Sie war der Mörder von Sanna Hansen.«

»Wer war es, Herr Wullrecht?«, drängte sie. »Wer ist in dieser Nacht aus Ihrer Garage gekommen?«

Er sog rasselnd die Luft ein. Judith warf einen ungeduldigen Blick zur Tür. Auch Gudrun sorgte sich zunehmend, dass sich der Zustand ihres Zeugen ernsthaft verschlechterte. Doch er sah sie so flehentlich an, als suchte er bei ihr nach Vergebung. Gleichzeitig schien es ihm unmöglich, seine Beichte abzuschließen.

»Wer war es?«, insistierte sie.

Tränen traten in seine Augen. Mit einem finalen Seufzer sagte er: »Es war meine Tochter.«

Seine Hand wurde schlaff und zog sich zurück. Er sank entkräftet in die Kissen. Erst da bemerkte Gudrun, dass die Tür zum Flur offen stand. Sie rechnete mit einer Schwester, doch stattdessen stand Rita in der Tür, die Freundin von Brigitte Wullrecht, die alles mitangehört hatte. Sie wirkte wie in der Bewegung erstarrt und sah fassungslos zu dem alten Mann.

»Es war Brigitte«, flüsterte der mit letzter Kraft. »Sie hat Sanna Hansen ermordet.«

4

»Und du denkst, das ist jetzt eine gute Idee?«, fragte Gudrun mit Blick auf den Bahnhofsvorplatz. »Überstürzen wir hier nichts?«

»Ach, Quatsch. Komm, steig schon aus.«

Schräg gegenüber des Bahnhofs ragte das Shopping-Center in den Himmel, in dem Brigitte Wullrecht – oder Winter, wie sie seit ihrer Heirat hieß – in einem Optikergeschäft arbeitete.

»Ich meine nur, vielleicht wäre es besser, zuerst die Akten zu durchforsten«, wandte Gudrun ein. »Ohne die Feinheiten von damals sind wir hier ziemlich im Blindflug.«

»Ich will sie ja nicht überführen! Nur sehen, wie sie reagiert. Ich möchte ihr ins Gesicht schauen können, wenn sie erfährt, dass ihr Vater sie in dem Mordfall belastet.« Judith stieß die Tür auf und schwang sich aus dem Wagen. »Das Nötigste wissen wir, das muss reichen. Den Rest machen wir später.«

Auf dem Weg zum Bahnhof hatten sie von Wolfgang einen knappen Überblick über die entsprechende Befragung aus dem Jahr 1992 bekommen. Brigitte war in den damaligen Ermittlungen nicht mit der Tat in Zusammenhang gebracht worden. Sie galt nur deshalb als Zeugin, da sie sich in der Tatnacht in der Ferienanlage in Holm befand, wo sie mit Freunden Darts spielte. Außerdem half der damalige Freund von Sanna Hansen, der Hauptverdächtige in den Ermittlungen, von Zeit zu Zeit in dem Kiosk aus, den sie und ihr Vater betrieben. Brigitte sei an dem Abend gegangen, kurz nachdem das Opfer die Diskothek verlassen hatte. Andere Zeugen bestätigten das. Zu Manfred, dem potenziellen Täter, konnte sie keine Angaben machen. Sie habe ihn ein paar Tage nicht in Kalifornien gesehen. Er sei zu seiner Schicht im Kiosk nicht aufgetaucht, und ihr Vater habe überlegt, ihn zu feuern. Sie sei müde gewesen und früh zu Bett gegangen. Von dem Brand und der Toten habe sie erst am nächsten Morgen erfahren. Das war schon alles.

Brigitte stand in keiner Beziehung zu Sanna Hansen, und sie konnte kaum sachdienliche Hinweise zu Manfreds möglicher Verstrickung in die Tat geben. Unterm Strich war sie nur eine von zahllosen unauffälligen Zeugen gewesen. Und jetzt das: Ihr eigener Vater beschuldigte sie des Mordes.

»Es gibt überhaupt kein Motiv«, meinte Gudrun etwas ratlos. »Jedenfalls ist damals nichts aufgetaucht, was Brigitte betrifft. Sie kannte Sanna kaum.«

»Tja, dafür sind wir da, oder? Wir werden es schon herausfinden.« Judith marschierte im Stechschritt auf den gläsernen Eingang des Shopping-Centers zu. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Und beeil dich. Ich will nicht, dass uns diese Rita zuvorkommt.«

Gudrun hatte Mühe mitzuhalten. Der Verkehr donnerte über die Hauptstraße, Menschenmassen strömten aus dem Bahnhof, und Möwen flatterten kreischend über Mülleimern, um Essensreste zu erbeuten. Gudrun bemerkte, wie Männer auf der Straße Judith hinterhersahen. Natürlich war sie ein Hingucker, keine Frage, mit ihrem Hüftschwung, dem figurbetonten Hosenanzug und den hochhackigen Schuhen. Sie musste um die fünfzig sein und hatte sich dabei extrem gut gehalten. Trotzdem wunderte Gudrun sich, dass selbst junge Männer sich nach ihr umdrehten.

Ein unscheinbarer Typ in Sportkleidung, mit Bierflasche und Fischbrötchen in der Hand, pfiff ihr laut hinterher, machte ein paar lahme Kommentare über ihren Hintern und lachte selbstzufrieden. Judith schien das nicht zu bemerken, sie steuerte unbeirrt auf die Eingangstüren zu. Dort angekommen hielt sie jedoch inne, ließ den Blick schweifen, als hinge sie einem Gedanken nach, dann legte sie unvermittelt die Finger an den Mund und pfiff quer über den Platz. Der Mann sah verwundert herüber, sein Blick traf auf den von Judith, er schien kurz etwas verwirrt, dann stürzte von oben eine Möwe herab und schnappte sich sein Fischbrötchen. Völlig verdattert wirbelte er herum, brüllte der Möwe hinterher und fluchte wie ein Rohrspatz. Judiths Gesicht deutete ein Lächeln an, dann wandte sie sich ab und betrat das Shopping-Center.

Gudrun konnte sich kaum von dem fluchenden Mann abwenden. Hatte Judith die Möwe etwa kommen sehen? Hatte sie gewusst, was als Nächstes passiert?

»Gudrun!«

»Ja doch. Ich komme.«

Sie folgte ihrer Kollegin in das Shopping-Center, und kurz darauf betraten sie das Optikergeschäft, in dem an diesem Vormittag nur wenige Kunden waren. Gudrun sah sich um. Neben den jungen modisch gekleideten Mitarbeitern gab es eine Frau in den Sechzigern. Das musste sie sein. Gudrun hätte Brigitte kaum wiedererkannt. Damals, mit Mitte dreißig, war sie drahtig gewesen. Eine Schwimmerin mit breitem Kreuz, die problemlos einen Kasten Bier in den Kiosk tragen konnte. Heute, kurz vor ihrem Renteneintritt, wirkte sie unscheinbar und stark übergewichtig. Breite Hüften, eine schlechte Körperhaltung, biedere Klamotten und ein Gesicht, das man sofort wieder vergaß. Selten wurde Gudrun die Vergänglichkeit des Lebens so bewusst wie im Fall dieser Frau, die sämtliche Attribute ihrer Jugend verloren zu haben schien.

Judith trat auf sie zu. »Guten Tag, sind Sie Frau Winter? Wir kommen von der Kripo Kiel. Mein Name ist Engster, das ist meine Kollegin Möller. Haben Sie vielleicht einen Moment?«

Das aufrichtige Überraschen in ihrem Gesicht sprach Bände. Die Freundin aus dem Hospiz schien sie noch nicht angerufen zu haben. Judith hatte dieser Rita ziemlich zugesetzt. Etwas von Behinderung der Polizeiarbeit gefaselt und von möglicher Schutzhaft, was alles völliger Unsinn war, der Frau aber ausreichend Angst gemacht zu haben schien.

»Was ist denn passiert?«, fragte Brigitte Winter besorgt. »Warum wollen Sie zu mir? Ist bei mir eingebrochen worden?«

»Nein. Wir würden gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Gibt es einen Pausenraum oder etwas in der Art, wo wir ungestört sind?«

Gudrun bemerkte, dass sie von den jungen Kollegen neugierig beobachtet wurden, die nebenher Brillen sortierten oder im Kundengespräch waren.

»Es dauert höchstens fünf Minuten«, sagte Judith.

Brigitte Winter wandte sich an einen blutjungen Mann im Anzug. »Ich bin kurz nebenan, ja?« Er nickte, und sie führte die Kommissarinnen durch eine unscheinbare Tür in eine Art Werkstatt. Brillen stapelten sich in Kisten auf Tischen, daneben Reinigungsmittel, eine Miniatur-Schleifmaschine, kleine Zangen und Schräubchen. In der Mitte ein Gruppentisch, auf dem Brottüten lagen und Kaffeetassen übereinandergestapelt waren, und ein Fenster, das in den Lichtschacht des Shopping-Centers führte. Offenbar die einzige Quelle für Tageslicht, wie Gudrun bemerkte. Eine bedrückende Vorstellung, hier den ganzen Tag zu arbeiten.

»Da wären wir.« Brigitte knetete sorgenvoll ihre Hände. »Was kann ich für Sie tun?«

»Frau Winter, wir sind von der Cold Case Unit der Kripo Kiel«, begann Gudrun. »Vielleicht haben Sie in der Presse schon von uns gehört. Wir rollen ungelöste Kriminalfälle auf. Altfälle, die routinemäßig neu bearbeitet werden.«

»Ach so?« Der Groschen schien immer noch nicht zu fallen. Rita hatte definitiv dichtgehalten. »Und was hat das mit mir zu tun?«

»Es geht um den Fall Sanna Hansen«, sagte Judith.

Die beiden Kommissarinnen beobachteten genau, wie Brigitte die Enthüllung auffasste. Sie wirkte betroffen, ein dunkler Schatten legte sich über ihr Gesicht. Es schien, als würde die Erwähnung dieses Namens viele Erinnerungen in ihr auslösen. Aber nicht so, als fürchte sie die Polizei.

»Gibt es denn etwas Neues?«, fragte sie. »Wieso nimmt man die Ermittlungen wieder auf? Hat das einen Grund?«

»Frau Winter«, übernahm Judith, »Sie waren damals in Holm, in der Tatnacht. Sie besuchten die Dartskneipe über der Disko. Sie haben Sanna gesehen, kurz bevor Sie gegangen sind.«

»Ja, das stimmt. Sanna war auf dem Weg nach Hause. Sie war allein. Ich hatte ja keine Ahnung … Aber das habe ich damals alles schon gesagt.«

»Was haben Sie danach gemacht, nachdem Sie Ihre Freunde zurückgelassen haben?«

Sie schien verwirrt. »Ich bin nach Hause gegangen. Ich war müde. Ich hatte meinem Vater versprochen, in der Früh den Kiosk aufzumachen. Aber ich verstehe nicht … Was wollen Sie ausgerechnet von mir?«

»Manchmal erinnert man sich später an etwas, das einem zunächst entfallen ist«, sagte Gudrun. »Sie würden sich wundern, wie vielen Menschen das passiert.«

»Lassen Sie sich alles durch den Kopf gehen«, fügte Judith hinzu. »Gibt es irgendwas, das Sie Ihrer Aussage von damals zufügen möchten? Und sei es noch so unbedeutend?«

»Nein.« Irritiert sah sie von einer zur anderen. »Dann hätte ich mich doch gemeldet, wenn mir etwas eingefallen wäre.«

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