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Die Wachsflügelfrau

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Emily Kempin-Spyri (1853-1901) war die erste Juristin der Schweiz. Da sie dort jedoch nicht als Anwältin praktizieren durfte, wanderte sie in die USA aus, wo sie eine Rechtsschule für Frauen gründete und dort unterrichtete. Nach einigen weiteren Stationen und einer zerbrochenen Ehe bewirbt sich Emily Kempin-Spyri 1888, an ihrem Lebensentwurf gescheitert, um die Stelle als Magd bei einem Pfarrer. Zwar konnte sie in ihrem Leben nicht erreichen, wovon sie geträumt hatte, aber sie ebenete vielen Frauen nach ihr den Weg.

Eveline Hasler deckt in diesem packenden Roman ein Stück verschwiegener Geschichte auf. »Die Wachsflügelfrau« ist mehr als der Roman einer frühen Emanzipation, die tragisch endete. Wie in jedem von Eveline Haslers Romanen gibt es auch in diesem Buch etwas Immerwährendes, das sich auch auf die Gegenwart beziehen lässt.


  • Erscheinungstag: 20.08.2024
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013739

Leseprobe

Der grosszügigen Unterstützung durch die Pro Helvetia verdanke ich die Kontinuität, mit der ich an diesem Buch arbeiten konnte.

Basel, Sommer 1989.

Emily Kempin-Spyri? Die erste Juristin? Der Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik winkt ab: Wir haben Ihnen doch geschrieben: Es gibt keine Krankengeschichte.

Vor den Fenstern des Direktionsbüros liegt der Platz in nachmittäglicher Flaute, der Asphalt flimmert.

Die Sekretärin kommt aus dem Nebenraum: Wir können kein Dossier finden, nicht einmal eine Personalkarte.

Sie sehen, sagt der Chefarzt und blickt über den Rand seiner Halbbrille, diese Frau hat es nie gegeben, hier wenigstens nicht.

Ich habe aber Kopien von Briefen, insistiere ich. Emily Kempin hat sie geschrieben, sie datieren von 1899, aus der Friedmatt.

Der Psychiater erforscht mich mit seinem Blick.

Sie ist am 12. April 1901 in Ihrer Klinik gestorben, fahre ich fort. Ich vermute, Sie haben aus dieser Zeit ein Sterberegister? Der Chefarzt ist unruhig geworden; er geht ans Telefon, hat jetzt seinen Vorgänger am Draht.

Emily Kempin-Spyri? Der Name sagt auch dem Vorgänger nichts. Dafür erwähnt der Vorgänger seinen Vorgänger, der oft berühmte Persönlichkeiten aus der Kartei entfernt hat. Aus Datenschutzgründen. Ja, erzählen Sie das Ihren Lesern, sagt der jetzige Chef aufatmend, Sie müssen doch Ihren Lesern eine Erklärung geben können.

Er lässt seinen Blick von mir weg über die Wand schweifen, wo sich die Trostangebote der Welt darbieten: Jesus, Buddha, Kloster Neuburg.

Ich stehe auf. Sinnlos zu wiederholen, dass Teile eines Dossiers nach draussen gelangt sind, nicht zur Zeit des Vor-Vorgängers, später eben.

Besagte Dame war gar nicht an unserer Klinik, es findet sich weder eine Krankengeschichte noch eine Karteikarte, schrieb mir im Juni 1989 Professor W. P. Eine Frau stellt Nachforschungen an über eine Frau, die von ihrer Zeit nicht vorgesehen war und die es heute, hundert Jahre später, immer noch nicht geben darf.

Es gibt sie doch.

Im Park der Friedmatt, auf den Kieswegen auf und ab gehend, sehe ich sie aus dem Blattschatten auftauchen: schmal geworden, in helle Baumwolle gekleidet.

Es ist das Jahr 1899, Emily ist sechsundvierzig Jahre alt. Am 11. März hat man sie von der Klinik Berolinum in Lankwitz bei Berlin in die Irrenanstalt Basel, Friedmatt genannt, überführt. Ihr Wunsch, in die Anstalt Burghölzli in Zürich eingeliefert zu werden, ist überhört worden.

Ihre Schritte sind kaum vernehmbar im Kies. Sie ist aus einem der Pavillons mit den Laubsägeveranden gekommen; sie geht, als ziehe sie etwas im Leib zusammen, etwas Schweres, ein Gewächs. Ich weiss: Sie wird daran sterben am 12. April 1901. Unter einem Baum steht sie still. Langstielige, silbrig befilzte Blatthände, bewegt vom Wind. »Hängesilberlinde«, steht auf einer kleinen Tafel am Stamm, der Baum, eine Seltenheit, vom Kantonsgärtner sorgfältig registriert: Hängesilberlinde Nummer fünf, Stamm- und Kronenumfang vermessen und notiert, auch das Alter durch Expertise festgesetzt. Hundertfünfzig Jahre, schätzt man. Ich darf Emily also unbesorgt unter ihr spazieren lassen. Ich kann heute, im Jahre 1989, eine Broschur kommen lassen mit dem Titel »Bauminventar der Friedmatt«.

I am a restless woman. Almost all

my chosen companions are restless women.

Elinor Byrns

Der 18. Dezember 1899.

Sie sitzt am Mahagonitisch. Ein Tintenklecks wie ein Teufelskopf ist in den Lack der Tischplatte eingedrungen. Der Schatten einer Palme verfängt sich in ihrem matten, von Schwester Rosa geschnittenen Haar. Sie darf neuerdings zum Briefeschreiben in den Salon der Pensionäre kommen. Eine Gunst? Nein, sie habe diese Sonderregelung »verdient«. Mache Fortschritte. Keine Fluchtversuche mehr, keine Protestaktionen.

Dr. Wolff hat es nach seiner Morgenvisite gesagt, die schmalen Lippen unter dem Schnauzbart zu einem Lächeln verzogen. Sie hat ihn lange angeschaut.

Die alte Munterkeit ist in ihre Augen gekommen. Sie mag dieses Gesicht, so kultiviert, hätte man in Berlin gesagt. Ganz anders als das gerötete Gesicht des Direktors Wille. Sie hat seine Visitenkarte unter dem Kopfkissen aufbewahrt: Dr. med. et phil. Wolff. Aus Karlsruhe. Mitte dreissig, Sekundärarzt. Noch lässt ihn Dr. Wille wenig entscheiden. Dabei hätte er, was die Anstalt betrifft, Verbesserungsvorschläge. Sie ist mit seinen Gedanken vertraut, während seiner Arztvisite hat sie ihm den einen und andern Vorschlag entlockt.

Sie schreibt an dem Brief.

Ach, immer noch derselbe? Die Stimme der Oberwärterin. Die ist so schrill, könnte Fensterglas schneiden.

Immer noch derselbe. Ich schreibe ihn ins Reine. Die Oberwärterin lacht.

Es passt ihr nicht, dass Emily eine Sonderbewilligung hat. Die Extrawurst, sich mitten in den Salon zu setzen. Hinter ihrem Rücken hat sie mit Dr. Wolff gestritten: Die Friedmatt, eine Welt in der Welt. Es muss, hier wie draussen, Klassen geben: Insassen dritter Klasse, Tagespreis ein Franken achtzig, Insassen zweiter Klasse, Tagespreis drei Franken fünfundsiebzig, Insassen erster Klasse sieben Franken und dann, für die Crème de la Crème, das kleine Hotel zwischen Bäumen, die hier aus und ein gehen, nennt man nicht Insassen, sondern Pensionäre. Von Preisen wird da nicht geredet. Nur betuchte Irre kommen in den Genuss der gedrechselten Mahagonisäulen, der Bücher hinter Glas, der Zeitungen an den mit Haken versehenen Holzstäben, nichts Aufregendes natürlich, nichts Brandaktuelles, nur Beschauliches, eine Prise Kultur. Hier hat Emily im Pfarranzeiger das Inserat gefunden. Hat es mit dem Fingernagel aus der Zeitung herausgetrennt.

Jetzt schreibt sie den Bewerbungsbrief ins Reine. Zum dritten Mal.

Reiner wird er nicht mehr.

Basel, Irrenanstalt, den 18. XII. 99

Herrn Pfarrer A. Altherr, Basel

Sehr geehrter Herr!

In No. 50 Ihres geschätzten Blattes suchen Sie für einen grösseren Haushalt ein Fräulein oder Witwe von zuverlässigem Charakter. Ich erlaube mir ergebenst, mich um diese Stelle zu bewerben. Ich bin seit Februar dieses Jahres in hiesiger Anstalt … Ich sehne mich nach nützlicher Arbeit und Bewegung, wie die mannigfachen Pflichten in einem Haushalt sie bieten. Dann aber bin ich noch vollkommen existenzlos, mein Bureau, das ich in Berlin gehalten habe, ist natürlich geschlossen, meine Clientel kennt mich nicht mehr, mein Name ist mit dem Odium der Geisteskrankheit behaftet. Ich bin vollkommen mittellos und alleinstehend; von meinem Manne schon seit Jahren getrennt, meine Kinder sind in der Welt herum zerstreut, meine Beziehungen zu Freunden und Verwandten abgebrochen. Die Letzteren haben sich meines Studiums der Jurisprudenz wegen schon seit fünfzehn Jahren von mir gewandt. Aus diesem Grund und weil ich mich von den extremen Frauenrechtlerinnen schon seit Jahren zurückgehalten resp. mich gegen ihre Forderungen auf dem Boden der Gesetze ausgesprochen hatte, ist es mir schon in Zürich und Berlin in der letzten Zeit nach meiner Ortsveränderung finanziell schlecht gegangen …

Was meine Befähigung für die nachgesuchte Stelle anbetrifft, so bitte ich Sie zu glauben, dass ich trotz meines Studiums die Künste und Fertigkeiten einer Hausfrau nicht verlernt habe. Meine selige Mutter hat uns darin für das ganze Leben lang tüchtig gemacht. Ausserdem habe ich erst studiert, als ich schon in höheren Jahren gestanden und eigene Kinder, damals von drei bis acht Jahren, gehabt habe. Ich kann daher auch kochen, kehren, nähen, aber auch ein wenig schneidern, namentlich aus alten Kleidern neue machen; ich liebe alle Kinder und beschäftige mich gern mit ihnen und bin überhaupt zu jeder Arbeit, auch Geschirrwaschen und Reinemachen, gerne bereit. Auf Verlangen werde ich mich auch mit Gartenarbeit, die ich verstehe, beschäftigen.

Meine Ansprüche sind von Hause und Natur aus sehr bescheiden, ausserdem aber sehe ich meine mittel- und existenzlose Lage zu klar ein, als dass ich mich nicht allem willig und fröhlichen Herzens unterziehen würde. Ich bin mit einem Monatslohn von 10 frs. zufrieden, halte aber eventuell auch daran nicht unter allen Umständen fest, wenn Ihre schutzbefohlene Familie vorziehen sollte, mich erst einen Monat auf Probe ohne Lohn zur Hülfe zu nehmen.

Wenn Ihnen, wie ich vermute, meine Abstammung und Herkunft nicht unbekannt sind, ich bin die Tochter des Herrn alt Pfarrer Spyri, so bitte ich Sie höflich, mich der betreffenden Familie zu empfehlen.

Hochachtungsvoll ergebenst

Frau Dr. Emily Kempin

Da steht schon wieder eine der Wärterinnen hinter ihr. Die Hügin hat eine Art, geräuschlos in Stoffschuhen sich hinterrücks zu nähern. Neugierig ist die, wittert mit der fleischigen Nase, beschnuppert die Dinge, lässt unter der faltigen Oberlippe die Zähne sehen.

Nein. Nicht lesen.

Emily zieht die Schulter hoch wie ein Schulkind, das sich gegen Abschreiben schützt.

Die Hügin kann unter dem abgewinkelten Arm Emilys Namenszug sehen: Dr. Emily Kempin.

Schwungvoll, diese Unterschrift!, lacht die Hügin. »Doktor« – klingt gut, was?

Die Schneidezähne sind immer noch zu sehen, obwohl die Hügin aufgehört hat zu lachen.

Emily richtet sich auf, dreht abrupt den Kopf: Ich habe den Doktortitel verdient. Kein Doktor Marriage.

Schon gut, Frau Kempin. Frau Doktor Kempin.

Nicht einmal die Rosa Clarissa, die ihr von den Wärterinnen noch die liebste ist, wird den Brief zu sehen bekommen. Nur Dr. Wolff. Direktor Wille wird ihn natürlich lesen, er, der alles, was hier geschieht, überblickt. Fast alles.

Bevor sie zum Pavillon zurückmuss, händigt ihr die Hügin die zerlesenen Zeitungen aus. Auch die Schere wieder? Ja, die Schere.

Dr. Wolff hat Emily eine der sonst streng gehüteten Scheren zugestanden, zweimal die Woche von drei bis fünf, speziell für ihre »Weltordnungen«. Um fünf sind alle geliehenen Gegenstände abzuliefern, das ist Vorschrift.

Aufrecht im Bett sitzend, schneidet sie ins Zeitungspapier. Die Spitze der Schere fährt Figuren aus dem Reklameteil entlang: Umrisse einer Frau im Pelzmantel, die Pelzmütze wie ein Schiff auf den Locken. Die Schere frisst sich weiter. Ein Mann mit Zylinder, der ausgestreckte linke Arm mit dem weissen Handschuh zeigt auf einen patentierten Eins-a-Aktenkoffer. Behutsam, nur behutsam, damit das zerknitterte Papier nicht reisst. Um deutlich zu sehen, muss sie den Kopf weit hinunterbeugen, längst bräuchte sie eine Lesebrille, es wird das Erste sein, was sie sich nach der Entlassung vom Lohn des Pfarrers leistet. Nun kommt das Zerschneiden der Figuren: Säuberlich den Kopf mit dem lächelnden Mund abtrennen, den linken Arm mit dem Pelzmuff.

Schweisstropfen sammeln sich über ihren Brauen. Ein Männerbein in gestreifter Hose, eine Damennase, ein Männerfuss im Lackschuh liegen auf ihrer Bettdecke.

Nun alles in die Schachteln geordnet: in eine Frauenschachtel, in eine Männerschachtel. Als es gegen fünf geht, will ihr die Clarissa Rosa beim Aufräumen helfen.

Schnell, Frau Kempin, alles muss weg bis zur Arztvisite.

Fort mit dem Spuk. Clarissa klaubt einen Männerarm aus dem Leintuch, wirft ihn in die Frauenschachtel.

Ein Schrei.

Emily fischt den Arm unter den weiblichen Einzelteilen heraus. Schaut Clarissa Rosa vorwurfsvoll an. Heute Morgen lag im Brief der Tochter Agnes eine Postkarte aus Amerika. Von Stanleyetta Titus, ihrer ehemaligen Schülerin an der Woman’s Law Class, der ersten Rechtsanwältin im Staat New York.

Emily zerschneidet mit Sorgfalt die Freiheitsstatue: Fackel, Krone, Kopf, das Gesetzbuch, die Brust des Riesenweibs. Dr. Wolff, der ausnahmsweise früher gekommen ist, schaut nachdenklich zu. Wissen Sie, wer die Statue geschaffen hat, Frau Kempin?

Bartholdy.

Es wundert ihn nicht, dass sie die Geschichte der Statue kennt. Sie verwechselt nichts. Weiss Einzelheiten, zum Beispiel, dass die Liberty in Paris im Hinterhof der Werkstatt von Gaget et Gauthier in 200 Einzelteile zerlegt und in Kisten verpackt worden ist für die Verschiffung nach Amerika.

Erinnern Sie sich an die Statue, Frau Kempin?

O ja. Sie lächelt.

Wie sollte sie je ihre Gefühle, die hoffnungsvolle Beschwingtheit vergessen, damals, beim ersten Anblick der »Liberty Enlightening the World«?

Herbst 1888.

Da ist sie im Morgenlicht.

Endlich sieht sie sie mit eigenen Augen. Liberty, Kolossalfrau des Rechts.

Ein bisschen entrückt, verhüllt von quer fliegenden Nebelstreifen.

Sie hört die Rufe der Passagiere. Das Schiff scheint zu schwanken, hat plötzlich Schlagseite, als erweise es der Lady seine Reverenz.

In Tag- und Nachtträumen hatte sie sich diesen Moment vorgestellt, in den unruhigen Nächten an Bord, wenn in der Kajüte das dröhnende Vibrieren der Maschinen das Wimmern der kleinen Tochter, die an Halsweh litt, übertönt hatte.

Eine kühle Brise weht, sie spürt sie nicht, so wenig wie die kleine Agnes, die an ihrem Rock zieht.

Das ist ein Moment, wo sie allein sein muss. Nur die Fremde, die sich durch die Menge ihr nähert, die will sie einbeschliessen. Fanny Weber aus New York: Sie haben sich auf dem Schiff kennengelernt. Gemeinsames entdeckt in den durchdiskutierten Nächten. Fanny Weber, Arztfrau in mittleren Jahren, hat Emily von ihrer Gründung erzählt, die den Armen ihr Recht verschaffen soll. Prominente Frauen hat sie für ihre Arbitration Society begeistern können. Seit vier Jahren bemüht sich Fanny Weber in Manhattan um die Besserstellung der Mittellosen, sie hat Hygiene- und Kochkurse organisiert und dabei einsehen müssen, dass die meiste Not aus der Unkenntnis der Gesetze herrührt. Die Arbitration Society will den Armen helfen, ihre Rechte wahrzunehmen. Noch sucht Fanny Weber nach einem Juristen, der ihr Hilfswerk leiten und die Mittellosen vor Gericht vertreten kann, wo die Anwälte der Reichen das Recht auf ihre Seite ziehen. Und jetzt hat sie auf der Heimreise von einem Italienurlaub auf dem Schiff die erste Juristin Europas kennengelernt. Emily Kempin, die man in Zürich zwar doktorieren liess, der man es aber nicht gestattet, mit dem erlernten Beruf Brot zu verdienen für sich, den arbeitslosen Ehemann, drei Kinder. In New York möchte sie werden, was man ihr in der Heimat verweigert: Anwältin, Dozentin.

Walter Kempin stand mit den zwei grösseren Kindern neben Dr. Weber in der Nähe des Steuerhauses. Die beiden Männer hatte man auf der Überfahrt oft zusammen gesehen, der ältere, ein Sechziger mit weissem Haarkranz, geröteten rundlichen Wangen, der jüngere hager, mit ängstlich besorgtem Blick. Der Arzt, in Bayern geboren, sprach Deutsch, gut für Kempin, der das Englische noch nicht beherrschte.

Die Männer hatten an der Reling ihre Frauen entdeckt: Emily, klein und mädchenhaft neben Fanny, Morgenwind im gekräuselten Nackenhaar. Man sah es ihnen an: Beiden Frauen war nicht nach Gesellschaft zumute, sie standen schweigsam, Emilys Blick auf die Statue gerichtet.

Die Freiheit – eine Frau, dachte sie.

So etwas kann nur den Franzosen einfallen.

Delacroix hat die Freiheit mit entblösster Brust und Trikolore auf der Barrikade gemalt, und die hier trägt Gesetzbuch und Fackel. Schau sie dir an: Diese Frau, von Männern erdacht, von Männern errichtet, hält Wind und Wetter und der Geschichte stand, weil sie keine Madame Lafayette oder Frau Kempin ist oder sonst eine Frau aus Fleisch und Blut, die nach der Fackel, nach dem Gesetzbuch greifen könnte.

Ich habe es in Zürich erfahren: Man hält die Frauenhand für zu zart, um ein Gesetzbuch zu halten. Auch die Unterscheidung von Gut und Böse, das Urteil über Richtig und Falsch gilt seit jeher als Männersache. Zwar halten in der Bibel ein paar Jungfrauen Lampen in der Hand, aber ihnen sind ebenso viele Törichte zugesellt, die den Spiegel hochhalten, um darin zu lesen, wie die Männer sie sehen wollen: sanft, gut und ein Teil ihrer Geschichte.

Man vergisst, dass die Hälfte der Menschheit aus Frauen besteht und dass der neue Mensch, nach dem die Welt sich sehnt, eine Menschin sein könnte.

In der »Züricher Post« waren in den letzten zwei Jahren vermehrt Berichte erschienen über die Frauen in den Vereinigten Staaten: Ganz selbstverständlich wirken und bestimmen sie in allen öffentlichen Bereichen mit. Redaktor Curti hatte ihr einen Artikel zugeschickt über die Juristin Belva Lockwood, die gegen Widerstand sich ihr Recht erkämpft hatte und nun Zugang bekam zum Obersten Gerichtshof im Staat Iowa. Eine Notiz war beigelegt mit der Bemerkung, in der Neuen Welt seien die Strukturen offener, Vorurteile weniger erhärtet, er wünsche, es werde dort auch Platz sein für sie, Emily …

Die Strahlen der Morgensonne, kräftiger schon, wärmten ihr Rücken und Nacken, während das Schiff an Geschwindigkeit gewann und sich von der Liberty entfernte.

Sie wandte sich um, sah Manhattan, durchsichtig, blau umflossen. Die Häuser stiegen gegen den Horizont an wie eine Woge. Ein Brocken schimmerndes, driftendes Eis.

Durch die Narrows fuhr das Schiff Hoboken zu, bewaldete Hügel, am Ufer zog eine Villa mit Badehaus die Blicke der Einwanderer an, das Sternenbanner über kurz geschnittenem Rasen, blonde Kinder winkend am Strand, der erste amerikanische Traum.

Das Schiff müsse eine Weile im Hudson vor Anker liegen, könne noch nicht am Pier anlegen, gab der Kapitän durch das Sprachrohr bekannt. Ohne den Fahrtwind wurde es drückend schwül, Unruhe breitete sich unter den Passagieren aus. Die amerikanischen Heimkehrer dachten an den berüchtigten Zoll, die Einwanderer an die Formalitäten, noch einmal, so kurz vor dem Ziel, sahen sie sich zu Geduld gezwungen.

Zwar wurden die Kajütenpassagiere nicht, wie die Reisenden im Zwischendeck, mit Booten nach Castle Garden zu der gefürchteten Immigration Station gebracht. Die Personalkontrolle in Hoboken arbeitete schnell und human. Dies und die Aussicht auf eine komfortablere Überfahrt, interessante Reisegefährten hatten die Kempins bewogen, die Mehrausgabe für die fünfköpfige Familie mit Dienstmädchen auf dem Erstklassschiff zu riskieren.

Die Kempins hatten sich nahe der Ausstiegsrampe auf die kleineren Gepäckstücke gesetzt. Die Kinder waren unruhig, dies und das wurde ihnen verwehrt zu tun, damit nicht die Kragen, die Seidenschleifen der Hemden im letzten Moment noch beschmutzt würden. Im Sonntagsstaat wollten sie die Neue Welt betreten, hatte ihnen Emily gesagt. Agnes schaute blass aus all der weissen, mit Spitzen verzierten Baumwolle, das Halsweh hatte sie geschwächt, und der Schreck der letzten Sturmnächte sass ihr noch in den Knochen, wo alles in der Koje geklappert hatte: Türen, eine lose Holzbohle in der Wandverkleidung, sogar die Zahngläser in ihrer Halterung.

Bald ist alles überstanden, Agnes. Emily versetzte der Jüngsten, um Farbe in ihre Wangen zu bringen, mit den Fingerspitzen kleine Klapse, wie einem Neugeborenen, das in der Neuen Welt Mühe hat zu atmen.

Nie mehr übers Meer, nie mehr … Die belegte Kinderstimme klang jammervoll.

Ich schon! Gertrud protestierte. Zürich will ich wiedersehen, die Grossmutter, die Freundinnen!

Dann müssen wir fliegen wie die Vögel, sagte Robert und blickte fragend zu seinem Vater auf: Können Menschen denn nicht fliegen?

Zwei haben es versucht, Dädalus und Ikarus. Walter hatte abwesend geantwortet, sein Blick war schon über Masten und Segel vorausgeeilt über den Hudson, Manhattan versuchte er auszumachen hinter Schwaden von Dunst.

Als die grösseren Kinder darauf beharrten, dass er erzähle – jetzt sofort –, fing Walter widerstrebend an: Dädalus, ein kunstfertiger Grieche, Baumeister oder Steinmetz, hat eines Tages mit Flügeln über Land und Meer fliegen wollen. Vogelfedern hat er genommen, erst kleine, dann grössere, hat sie mit Fäden verknüpft, in Wachs getaucht und miteinander verbunden. Mit der Hand hat er sie gebogen, ihnen Schwung gegeben, wie gewachsen haben sie ausgesehen, die Flügel.

Dann hat er ein zweites, kleineres Paar gemacht für Ikarus, seinen Sohn. An einem Morgen am Strand hat er Ikarus gesagt: Fliege nicht zu hoch und nicht zu tief, immer mir nach! Keine neuen Luftbahnen, keine Kapriolen, keine Luftsprünge …

Ein Freudenschrei liess Walter abbrechen. Der Anker war gelichtet worden, das Schiff nahm Kurs auf den frei gewordenen Pier.

Hinter einem Wald von Masten, im Morgenlicht leuchtender Segel, sah die Neue Welt eher ernüchternd aus. Buden aus Holzbrettern, wie Schorf über die Anlage verstreut, ein Verhau aus Draht, hinter dem Freunde und Bekannte den Rückkehrern zuwinkten. Im Gewoge der Menge versuchte ein uniformierter Träger, sich Emilys Handkoffer zu bemächtigen, dabei ging Agnes verloren. Emily suchte das Kind zwischen den zweirädrigen, mit Gepäckstücken beladenen Karren, fand es endlich in der Schlange vor der Immigration Station. Die Kempins stellten sich hinter den Wartenden an, nur langsam rückte man vor. Die Luft war feucht und stickig, es roch nach brackigem Wasser. Hinter den Masten zogen sich Wolken zusammen.

Schwüle, Wetterleuchten des Neuen.

Als die Kempins an die Reihe kamen, verstand Walter die Frage des Beamten nicht, ob er noch Pfarrer sei. Emily drängte sich neben ihn, antwortete, als die Frage wiederholt wurde, mit einem Nein.

Was denn?

Journalist.

Bei welcher Zeitung?

Das wird sich ergeben.

Also arbeitslos. Kurz entschlossen drückte er einen Stempel auf das Papier. Der Beamte, in Hemdsärmeln, ohne Uniform, fragte nicht nach Emilys Beruf, mit gerunzelter Stirn schaute er auf die Abkürzung Dr. jur. vor ihrem Namen.

Was heisst das?

Es ist mein Titel, sagte sie. Und leise, als müsste sie sich dafür entschuldigen: Ich habe an der Universität Zürich in Jurisprudenz doktoriert.

Der Beamte sah erstaunt zu ihr hoch: Sie sah klein aus, fast kindlich. Er lächelte, wollte etwas sagen, aber die Schalterlücke war jetzt grau ausgefüllt von der nachdrängenden Menge. Kinder?

Ja, drei: Gertrud, Robert Walter, Agnes.

Go ahead, sagte der Beamte, winkte ihnen zu.

Vor den alphabetisch geordneten Gepäckräumen warteten sie auf ihr Frachtgut.

Nach drei Stunden waren die zweiundzwanzig Kempin-Kisten immer noch nicht vollständig beieinander für die Zollkontrolle.

Elsbeth, das sechzehnjährige Dienstmädchen, war mit den Kindern zu den Piers geschickt worden, nun standen ihm die Tränen zuvorderst; die Kinder wollten nicht mehr spazieren. Durst, stöhnte Robert. Hunger, widersprach Gertrud.

Der Vater mahnte zur Geduld, während Emily in ihrem seltsamen Englisch auf einen der Zollbeamten einsprach. Die zwei grösseren Kinder sahen eine Weile gebannt zu, wie ihre Mutter den Mund verrenkte, um die noch ungewohnte Sprache zu sprechen. Scheu wiederholten sie das eine oder andere ihnen bekannte Wort, das ihnen die Mutter auf dem Schiff beigebracht hatte: How long, where, oh, I see. Als die restlichen Kisten immer noch nicht kamen, fing Robert zu quengeln an, er wolle mit einer der Fähren hinüber nach Manhattan.

Was man denn hier so lang mache?

Geduld, wiederholte der Vater. Er ging mit den Kindern und dem Dienstmädchen zu einer der Buden, an denen es Getränke gab, auch mächtige mit Fleisch belegte Brote. Preise, doppelt so hoch wie in New York, schimpfte ein Landsmann neben ihm.

Ein fliegender Händler bot Stellmesser an: Schutz vor dem lichtscheuen Gesindel nachts in New York. Er selbst war lichtscheu. Als einer der Hafenpolizisten nahte, liess er seinen Bauchladen in einem Sack verschwinden.

Ein Mann von der »New Yorker Bibelgesellschaft« wollte Walter bekehren: Mit Gott in die Neue Welt, sagte er in rollendem Deutsch. Walter versuchte den Eifrigen loszuwerden: Er sei selbst Pfarrer, glaube, was in der Bibel stehe.

Alles?, fragte der Mann mit dem blonden Schnauzbart. Als Walter nickte, machte er lachend eine Handbewegung, als schliesse er dieses »alles« ein, dann beugte er sich zu Agnes hinunter und schenkte ihr eine nur fingergrosse Bibel.

Emily erfuhr unterdessen in der Gepäckhalle, warum immer noch einige der Kisten fehlten: Sie waren aus Versehen mit anderem Frachtgut nach Castle Gardens transportiert worden. Leider Ihr Fehler, sagte der Beamte, Ihre Kisten sind nur mit Nummern, nicht mit Buchstaben bezeichnet gewesen.

Man habe den Irrtum aufgeklärt. Die Kisten kämen noch heute aus Castle Gardens zurück.

Sie sagte Walter, der eben mit den Kindern von den Piers zurückgekommen war, Bescheid; ihre Stimme klang dünn, übertönt von den spitzen Schreien der kleinen Agnes, eine Wespe hatte sie beim Siruptrinken gestochen. Walter hörte sich ihre Erklärung an, sein Gesicht war blass geworden. Er presste die Hände zusammen, und Emily schaute auf seine Knöchel, die vom Pressen weiss erschienen. Sie kannte das: sein Ausrasten in Engpässen. Es spielte sich immer gleich ab, er verlor den Boden unter den Füssen, ruderte mit den Armen, warf mit Vorwürfen um sich:

Klimbim, Spyri-Kram, unnötiger Mist …

Sie blieb ruhig, bis auch er jäh verstummte, erschöpft, mit verlorenem Blick.

Er schaute an sich hinunter, als müsse er feststellen, ob es ihn noch gebe.

Wortlos sah er auf sein Schuhwerk, er sah es zum ersten Mal so glänzend, so geschniegelt. Auf der Landebrücke hatte sich ein kleiner Junge mit einer Bürste auf seine Schuhe gestürzt und von unten, vom Staub der Neuen Welt aus, immer wieder gerufen: Schön in die Neue Welt, Mister, kostet zwei Pennys, schön in die Neue Welt für zwei Pennys.

Ein neues Schiff war angekommen, gegen achthundert Passagiere im Zwischendeck, in Booten mussten sie weiter nach Castle Gardens. Grau, eine breiige Masse, entquollen die Menschen dem Schiff.

Gegen Abend kamen die Kempin-Kisten endlich nach Hoboken zurück, nun war aber die Zollkontrolle geschlossen, erst in der Morgenfrühe, vor Ankunft des ersten Schiffes, sollte sie wieder öffnen. Die Kinder lehnten an den Gepäckstücken, übermüdet. Am Quai brannten schon Laternen. Walter hatte die Adresse des von Schweizern geführten Hotels Naegeli in Hoboken bekommen.

Geh du mit den Kindern schlafen, sagte er zu Emily.

Nein, du, sagte Emily. Im Notfall kann ich Englisch sprechen. Er gab nach. Versprach noch, nach drei Stunden Schlaf zurückzukommen, sie abzulösen.

Schon waren fünf Stunden vergangen.

Unter dem Vordach des Gepäckraums sass Emily im schwachen Licht der Laternen auf einer der Kisten. Sie trug noch immer den Strohhut mit dem karierten Band, das aus dem Saum ihres karierten Reisekleids geschnitten worden war; als sie zu frieren begann, legte sie sich den wollenen Umhang über und presste ihn über der Brust zusammen. Wachen patrouillierten vorbei, sie ertrug ihre Blicke, Fragen, Witze. Sie sass und behielt die zweiundzwanzig Kisten im Blick, voller Spyri-Klimbim, wie Walter sagte: zwei Bündel reinleinene Betttücher, das silberne Teeservice der Tante Johanna, das vierundzwanzigteilige Essgeschirr mit Goldrand.

Sie braucht einen standesgemässen Hausstand, hörst du, hatte ihre Mutter damals zu Vater gesagt, wenn du ihr schon die Mitgift verweigerst, so soll sie doch diese Dinge bekommen. Sie ist eine Spyri, Johann Ludwig, du kannst doch dein eigen Fleisch und Blut nicht so behandeln. Ja, nimm sie, Emily. Dein Ehemann und deine Kinder sollen sich wohlfühlen. Halte die Dinge in Ehren …

Noch hat Emily keinen Schritt in die Neue Welt gemacht, und schon spürt sie das Gewicht der Dinge aus den Zürcher Spyri-Stuben. Schlimmer noch: diese Mutterwörter, Muttertexte im Blutstrom. Man bringt sie nicht aus sich heraus, wenn auch der Kopf tausendmal sagt: Vergiss sie. Lass alles hinter dir.

In die Neue Welt gehen und die Alte mittragen: zweiundzwanzig Kisten aus Zürich, einen brotlosen Ehemann, drei kleine Kinder, ein heimwehkrankes Dienstmädchen. Ohne Anhang könnte sie sich frei bewegen, sich hinüberschwingen in dieses Zukunft versprechende Manhattan. Aber das ist nun einmal ihr Leben: in herkömmlichen Verflechtungen stehen und doch diesen Drang nach vorne, ins Offene spüren.

Die Schritte eines Hafenpolizisten näherten sich, verhallten auf dem Kopfsteinpflaster hinter dem Schuppen.

Hinter den Quadern der Quaimauer ahnte sie diese zuckende, fühlige, sepiabraune Masse; Ozean, du löschst meine Spuren aus.

Ein Meer zwischen uns, Vater.

Ich bin weggegangen aus deinem Leben, fort von deiner Eisenbahn, deinen Planungen, Statistiken, Schienen. Ich muss keine Angst haben, dass du mir nachkommst, du Liebhaber des sicheren Bodens, schon eine kleine Schifffahrt auf dem Zürichsee bringt dich aus der Fassung.

Jenseits des Hudson, grünlich phosphoreszierend, Manhattan. Tausende vor mir sind hier angekommen, vaterlos, vaterlandslos, den alten Mustern entronnen. Eine Insel. Kein Fluchtweg zurück ins Immerschongehabte.

Eine Bühne, wo das bessere Ich, erlöst vom Vaterschatten, auf seinen Auftritt wartet: Vorhang auf, Scheinwerfer auf die Bühne: New York.

Keine Regieanweisungen mehr.

Da ist keine Schwester, keine Mutter, die diesen Weg schon einmal gemacht hätte. Keine Vorgängerin, in deren Windschatten sich leichter gehen liesse. Kein Vater, der Ikarus Tiefen und Höhen verbietet, nur Mittelmass zulässt.

Emily, erste europäische Juristin. Nach ihr werden andere Frauen kommen, Schwestern. Breiter wird mit der Zeit der Pfad, Frauen werden sich eines Tages bewegen können in voller Natürlichkeit. Wie ein Mann? Nein, wie eine Frau.

Es dämmerte. Im Schein der Laterne Nieselregen. Walter kam mit offenem Hemdkragen, wehendem Mantel. Er habe sich verschlafen. Seine Augenlider flatterten, sein Blick suchte den ihren. Gestern habe er, um Agnes zu beruhigen, noch lange an ihrem Bett sitzen müssen. Ja, Halsweh, schon wieder. Auch diese aggressiven Anfälle, wohl eine Form von Heimweh.

Sie ist klein, braucht Zeit, sich umzustellen, warf Emily ein, zuckte dabei die Achseln, als stelle sie ihre eigenen Worte infrage.

Aus dem Lichtkegel trat ein uniformierter Beamter auf sie zu. Er wünschte guten Morgen. Das Zollamt werde gleich öffnen, das nächste Transatlantikschiff habe schon in Sandy Hooks signalisiert. Sie kämen als Erste dran, die junge Lady hätte das verdient, nach so einer Nacht …

Willst du dich nicht ins Bett legen? Walter legte in einer Aufwallung von reumütiger Zerknirschung den Arm um ihren Hals.

Sie schüttelte den Kopf: Jetzt bin ich hellwach.

So warten wir gemeinsam.

Er wollte sich auf die nächste Kiste setzen, aber sie verwehrte es ihm mit einem kleinen Aufschrei: Nein, nicht auf diese! Sie wies auf den roten Streifen: fragile, zerbrechlich.

Was ist drin?

Das Hochzeitsgeschenk der Kirchenpflege Enge. Er lachte. Erinnerte sich, wie sie die Lampe aus weissem Opalglas in Lagen von Seidenpapier und Sägespänen verpackt hatten. Im Schein dieser Lampe hatte Emily Latein gelernt, Römisches Recht, Englisch; sie braucht die Lampe, es wird genug zu lernen geben in der Neuen Welt.

Mit der Pferdedroschke waren sie zu der Pension in der Nähe des Washington Square gefahren.

Die Lage des Hauses war ideal, nah der Universität.

Die kleinen schäbigen Zimmer sahen sie nur abends spät, da die noch sommerlich hellen Tage ausgefüllt waren mit der Wohnungssuche und den Gängen zu Ämtern und Behörden. Mitte September mussten die Kinder für die Schulen angemeldet werden. Emily hatte eine Besprechung auf dem Universitätssekretariat am Washington Square, bis zum Jahre 1894 hiess sie noch »University of the City of New York«.

Erst nach dem Abendessen fand sich die Familie wieder zusammen, sie sassen auf den Betten, die wie Schleppkähne die kleinen Zimmer füllten, Koffer verstellten die schmalen Zwischengänge. Emily war als Einzige nach dem Herumhasten noch munter, sie blätterte im Wörterbuch, machte sich Notizen für Vorträge, die sie vielleicht, irgendwo, in englischer Sprache halten würde. Gertrud und das Dienstmädchen waren in einem nur durch eine Luke erhellten Abstellraum auf der anderen Seite des Korridors untergebracht. Agnes und Robert Walter schliefen. Ehemann Walter hatte den linken Arm als Stütze unter den Kopf gelegt, die rechte Hand hielt das Wörterbuch, durch halb geschlossene Lider nahm er die schäbige Tapete wahr, Ranken auf lila Grund, über dem Kopfende der Betten war das Muster wie ausradiert. Die elektrifizierte Lampe an der Deckenmitte streute dottergelbes schwaches Licht. Die Lampe aus der Enge war auf Fanny Webers Rat zum Elektrifizieren in ein Geschäft am unteren Broadway gebracht worden. Walter legte das Wörterbuch offen auf seine Brust, er mochte die Wörter, die vor seinen Augen tanzten, nicht mehr sehen.

Emily schaute herüber. Lernst du?

Er nickte schwach, unterdrückte ein Gähnen.

Sie lachte, rutschte von ihrem Bett, kam über einen unausgepackten Koffer zu ihm herüber. Sie schlang ihre Arme um ihn, kam nahe mit ihrem Gesicht, er blickte in ihre Augen, die plötzlich wieder lebendig waren, knisternd wie in der ersten Zeit ihrer Ehe. New York macht dich wach? Ist es so?

Sie lachte, küsste ihn.

Eine Aufwallung von Zärtlichkeit überkam sie, sie fühlte sich glücklich, voll neuer Kraft, die ihr Geduld verlieh mit Walters Art, sich nur zähe in Neues einzufügen. Auch mit den Kindern hatte sie diese Lammsgeduld, als fühle sie sich verantwortlich, als schulde sie allen, Ehemann und Kindern, in der Neuen Welt Glück.

Alles hat so gut begonnen, Walter.

Schau, wie uns die Webers unter ihre Fittiche nehmen. Als Walter den Lichtschalter ausgedreht hatte, lag Emily stundenlang wach in der Dunkelheit. Seit ihrer Ankunft in New York konnte sie kaum schlafen. Szenen des Tages liefen noch einmal vor ihrem inneren Auge ab.

Sie ging neben Fanny Weber, Agnes an der Hand, den Broadway hinauf. Mit jedem Schritt registrierte die Netzhaut neue Ausschnitte: sechs- und siebenstöckige Gebäude, dazwischen, wie Zahnstummel, niedrige Holzhäuser. Droschken. Pferdetramways. Gesichter in allen Hautfarben.

Eindrücke, die durcheinanderfallen, farbige Glasstücke in einem sich drehenden Kaleidoskop.

Die Fifth Avenue als Kontrast. Efeubewachsene Villen aus braunem Sandstein. Equipagen mit fast geräuschlosen Gummirädern. In den Vorgärten herbstlich gefärbte Ahornblätter, Durchblicke auf spitzbogige Fenster, neugotische Türmchen.

Downtown, Broadstreet. Pferdewagen vor den Bankgebäuden, den Fassaden mit den gelb-weissen Markisen.

Männer tragen schwarze zylinderartige Hüte, ihre Beine wie verkürzt, abgehackte, überdrehte Bewegungen.

Alles rennt, drängt, der Tag hat eine Stossrichtung. In der Neuen Welt vergehen die Tage schneller, als habe die Weltkugel Blei im Bauch, drehe sich um eine Spur zu schnell. Man muss sich hier, um etwas erreichen zu können, stromlinienförmig machen.

Schnell, Agnes, beweg die kleinen Beinchen, das Büro schliesst bald.

Gespenstisch: Nacht für Nacht kein Auge zuzutun.

Sie liegt im Dunkeln, der Kopf bleibt hell, als leuchte ihr jemand ins Gehirn mit einem irren, schieren Licht.

Sowie Dr. Wille bei der allmonatlichen Untersuchung in ihre Augen leuchtet mit einem grellen Lämpchen, ihr nah kommt, allzu nah mit den von Altersflecken übersäten Händen, dem zittrigen gelblichen Bocksbärtchen.

Haben Sie meinen Brief weiterbefördert, Herr Direktor Wille?

Welchen Brief?

Den Brief an den Pfarrer, in dem ich mich für die ausgeschriebene Stelle als Haushaltshilfe bewerbe.

Viele Briefe gehen hier aus und ein, Frau Kempin. Frau Dr. Kempin.

Sie haben ihn also nicht abgeschickt?

Das habe ich nicht gesagt, unterstellen Sie mir das nicht, Frau Kempin.

Begehrt sie auf, droht ihr die Versetzung zu den »Unruhigen« hinten im Park. Zwei Pavillons in der Friedmatt für »Ruhige«, zwei für »Unruhige«. Dr. Wille würde, wenn er könnte, ganz Manhattan einfrieden. Die Unruhigen voller Zukunftsvisionen, die Erfinder, die Dichter, die von Dingen faseln, die es noch nicht gibt, die Frauen, die an die Zellenwände des Frauenloses klopfen, ja, sie auch. Die Erfinderischsten kämen in die Tobzellen mit den Waschschüsseln und Trinkbechern aus Papiermaschee. Alle Rastlosen eingefriedet, alle Pavillons für »Unruhige« übervoll, die Unruhigen sprengen die Mauern, schnappen sich draussen vor der Friedmatt die Ruhigen, versorgen sie, wo sie ihren Frieden haben und den Rasen pflegen und irische Schafe züchten. Die Abnormalen draussen, die Normalen in der Friedmatt.

So sind alle Dinge auf der Welt wieder dort, wo sie hingehören.

Weltordnungen, Frau Kempin, aha, so heisst das Spiel mit den Zeitungsausschnitten, den Schachteln.

Die Clarissa Rosa tut, als habe sie Verständnis für all die irren Dinge innerhalb der Mauern.

Das gehört zu ihrem Beruf. Sie sitzt am Tischchen vor der Türschwelle, strickt an einem Jäckchen für das noch nicht geborene Kind ihrer Nichte. Die Frau muss ihre Grenzen sehen, sonst stösst sie an Mauern, ja, nun sind wir halt hier, Frau Kempin, aber wir sind daran, vieles einzusehen, nicht? Ihre drei Kinder …

Sie blickt Emily an, wartet, bis auf dieses Stichwort hin die Augen in dem eigenwilligen, schmalen Gesicht feucht werden.

Nickt dann, presst die Strickarbeit an ihren jungfräulichen, nie mit Kindern gefüllten Bauch.

Eine unruhige Nacht.

Die Wache ist im Flur eingenickt.

Jede vierte Nacht, wenn Clarissa Rosa Wache hält, lässt sie Emilys Tür offen, rückt den Tisch nahe an die Schwelle.

Dr. Wille drückt ein Auge zu, seit ihm die Clarissa Rosa erklärt hat, sie mache das, weil sie eher wach bleibe, wenn sie mit der Patientin Kempin ein vernünftiges Wort reden könne. Nach zehn Arbeitsstunden noch Nachtwache, das geht dem stärksten Pfleger, der stärksten Pflegerin ans Mark.

Die Gespräche weben sich, das ist ein solider Teppich, aber so gegen Mitternacht macht der Wein die Clarissa Rosa müde.

Jeder Wärter erhält täglich einen halben Liter Wein als Ration zugeteilt, verheiratete Wärter einen ganzen Liter, das ist Teil des Lohns. Ein anderes Getränk gibt es nicht. Dr. Wolff ist dagegen, die Ausgaben für die übrigen Speisen seien in der Friedmatt gering gegen die Rechnungen für alkoholische Getränke, aber Dr. Wille sagt, das Abstinentenzeug überlasse er Dr. Forel im Burghölzli, seit altersher wisse man, dass Wein stärke.

Emily kann Dr. Wolff nur unterstützen.

Mit Forel hat sie damals an der Universität Gespräche geführt über Psychiatrie und Abstinenz. Sie hat Dr. Wille davon erzählt. Mit welchem Ergebnis?

Er hat gelacht. Sie hasst dieses aus dem geröteten Gesicht polternde Lachen.

Draussen ist es windig.

Vereiste Äste schaben am Fenster.

Sie denkt an den Brief. Sie will es dem Pfarrer recht machen. Meint es ernst mit dem Probemonat. Kann sie wohl die französische Zwiebelsuppe noch, die sie in der Haushaltsschule in Neuenburg gelernt hat?

In Zürich, in New York, in Dresden, in Berlin hat sie damit ihre Gäste überrascht. Nun lebt sie seit zwei Jahren ohne Küche, ist das noch ein Leben? Fünfzehn Monate in der Klinik Berolinum in Lankwitz. Und hier schon wieder ein paar Monate, seit dem 10. März.

Sie geht in Gedanken im Haus des Pfarrers auf und ab, staubt die Möbel ab mit dem Federwisch. Nein, Emily, nimm lieber ein Staubtuch. Mutters Stimme.

Mutter hat im Haushalt alles genau genommen. Eine Spyri halt. In den bürgerlichen Spyri-Häusern ist alles stets wie aus der Schale gepellt.

Ausgenommen bei der strengen Tante Johanna. Die dichtet vormittags lieber.

Emily lacht.

Clarissa Rosa schaut erschrocken auf. Reisst die entzündeten blauen Augen auf. Veilchen-am-Waldrand-Augen. Was ist?

Nichts, nichts. Erinnerungen.

Die Wärterin nickt neben der Weinkaraffe wieder ein.

Die offene Gasflamme russt.

Eine Auerlichtbeleuchtung müsse installiert werden, schlägt Dr. Wolff vor, man mache gute Erfahrung damit in der Anstalt in Dresden. Dr. Wille ist mit seinen fünfundsechzig Jahren nicht für diese Art von Fortschritt.

Sie will demnächst wieder energisch auf ihr Recht pochen, dass sie ins Burghölzli eingeliefert wird. Sie gehört nach Zürich, wenigstens ins Zürcher Irrenhaus. Sie ist Zürcherin, eine geborene Spyri, es ist ihr Recht.

Recht. Poch nicht immer auf dein Recht. Da kommt sie wieder aus der Ecke, aus dem gebauschten Vorhang: Mutters leicht wehleidige Stimme. Sie pocht nie auf ihr Recht, muckt nicht auf, wenn Vater redet, dabei hat sie als Mädchen Wild geheissen: Ich habe mir eine Wilde gezähmt, pflegte Vater im Freundeskreis scherzend zu sagen.

Wie der Pfarrer Altherr wohl aussieht?

Sie schaut zur Wand, projiziert das Gesicht: ein kräftiger Kopf mit spärlichem grauem Haar, ein Kinn, das sich reckt und den Worten beim Sprechen Nachdruck verleiht, ein kräftiges Kinn, ein Kinnwulst, Nährboden für Barthaare. Auch eine Halbbrille gehört in das breitflächige Gesicht …

Sie lacht plötzlich glucksend, hat sich ertappt:

Das ist ja Vaters Nase! Vaters Bart! Vaters Brille!

Sie schrumpft.

Wird noch einmal klein.

Der Himmel ist gestürzt,

der Abgrund ausgefüllt,

Und mit Vernunft bedeckt,

und sehr bequem zu gehen.

Karoline von Günderode

Eine Kindheit unter Vaters Bart.

Da sitzen sie um den Tisch.

Johann Ludwig Spyri, Pfarrhelfer in Altstetten bei Zürich, löffelt seine Backerbsensuppe. Die Kinder löffeln, man hört es auf dem Tellerrand klingeln, Schweigen lastet über der Szene.

Der Vater, die Steilfalte zwischen den Brauen, zieht die Brühe ein, schluckt, kaut die Backerbsen, kaut an den Wörtern, an den Sätzen der angefangenen Sonntagspredigt.

Die Mutter hält die Kinder mit Blicken in Schach. Zugleich hat sie, mit hochgezogenen Schultern, den Ehemann im Augwinkel, ängstlich bereit, auf jeden Wink zu achten.

Da wirft die kleine Emily ein paar Wörter in die Stille.

Der Pfarrhelfer erwacht aus seinem Brüten, fängt den schalkhaften Blick des Kindes auf.

Sein Gesicht entspannt sich.

Er ist plötzlich da, schaut über den Teller in die Essrunde.

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