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Die Vanderbeekers und der versteckte Garten

Als Buch hier erhältlich:

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Ein Gartenabenteuer in der Großstadt

Als ihr Lieblingsnachbar und Ersatzopa einen Schlaganfall erleidet, müssen die Vanderbeekers zusammenhalten und tun, was sie am allerbesten können: Pläne schmieden! Sie wollen einen Garten für Mr Jeet anlegen, der ihm beim Gesundwerden hilft. Nur noch 19 Tage haben die Geschwister Zeit, um das verlassene, mit Unkräutern überwucherte Grundstück in ihrer Straße zum schönsten Garten der ganzen Nachbarschaft zu machen. Aber Gärtnern ist gar nicht so einfach wie gedacht, vor allem ohne Geld und Erfahrung. Als dann auch noch ein Makler auftaucht und sich für den Garten interessiert, stehen die Geschwister vor ihrer bisher größten Herausforderung …


  • Erscheinungstag: 24.03.2020
  • Aus der Serie: Die Vanderbeekers
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • Altersempfehlung: 8
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850175

Leseprobe

Für Kaela und Lina.
Dieser Garten ist für euch.

»Und wenn ihr es richtig betrachtet, dann werdet ihr sehen, dass die ganze Welt ein Garten ist.«

(Aus dem Film Der geheime Garten, nach dem gleichnamigen Buch von Frances Hodgson Burnett)

EINS

Das ist der langweiligste Sommer in der ganzen Weltgeschichte«, verkündete Oliver Vanderbeeker. Er war neun Jahre alt, trug Basketballshorts und ein ausgeblichenes blaues T-Shirt. Sein Haar stand nach allen Seiten ab.

»Aber die Ferien haben doch gerade erst angefangen«, sagte Miss Josie. Sie lebte zusammen mit Mr. Jeet, ihrem Mann, im zweiten Stock eines Brownstone-Hauses in Harlem in New York. Die Familie Vanderbeeker bewohnte das Erdgeschoss und das erste Stockwerk des Hauses, und wenn die Mutter für ihre Kundschaft backte, verbrachten die fünf Kinder viel Zeit bei den Nachbarn im zweiten Stock. Miss Josie trug Lockenwickler und goss gerade die Pflänzchen in den zahlreichen Aussaatschalen, die auf dem Esstisch standen. Anschließend ging sie zum Blumenkasten am Fenster, schnitt einige violette Blumen ab und stellte sie in eine Vase. »Bringst du diese Nachtviolen bitte Mr. Jeet?«, sagte sie und hielt Laney die Vase hin. »Abends duften sie wunderbar.«

Laney war mit ihren fünfeinviertel Jahren die jüngste von Olivers vier Schwestern. Sie setzte ihr Kaninchen Paganini, dem sie gerade bunte Bänder um die Schlappohren gewickelt hatte, auf den Boden und stand auf. Laney trug einen silbernen Rock aus funkelndem Tüll, ein lila T-Shirt und rote Glitzerschuhe. Weil diese Schuhe eine ganz glatte Sohle hatten und sie auf keinen Fall Wasser verschütten wollte, schob sie ihre Füße vorsichtig über den Boden, hinüber zu Mr. Jeet. Paganini folgte ihr. Er schüttelte heftig den Kopf, sodass seine Ohren flogen und die Bänder in alle Richtungen flatterten.

»Wie kommt es, dass du dich jetzt schon langweilst?«, fragte Mr. Beiderman Oliver. Mr. Beiderman wohnte im dritten Stockwerk und war der Vermieter. Vor einem halben Jahr, kurz vor Weihnachten, hatte er sich geweigert, den Mietvertrag der Vanderbeekers zu verlängern. Aber mit vereinten Kräften hatten die Kinder ihn dazu bringen können, die Familie weiterhin in ihrem geliebten Brownstone-Haus wohnen zu lassen. Er selbst hatte seine Wohnung sechs Jahre lang nicht verlassen, doch am ersten Weihnachtsfeiertag hatte er sich dann zum ersten Mal nach unten getraut. Inzwischen besuchte er die Vanderbeekers und Miss Josie und Mr. Jeet fast täglich, aber das Haus hatte er bisher nicht verlassen, auch wenn die Kinder versuchten, ihn dazu zu bewegen.

Oliver ließ sich auf einen sonnengelben Stuhl am Küchentisch plumpsen. Er stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und legte den Kopf in die Hände. »Hier ist ja nix los. Ich weiß einfach nicht, was ich machen könnte.«

Er schaute zu, wie Miss Josie einen Schuhkarton vom Schrank nahm und den Deckel abhob. Der Karton enthielt mindestens ein Dutzend Fläschchen mit Tabletten. Miss Josie öffnete eine nach der anderen und zählte Tabletten in eine Tasse. »Was würdest du denn gern tun?«, fragte sie.

»Mit meinen Freunden chatten«, sagte Oliver wie aus der Pistole geschossen. »Auf YouTube Basketballvideos gucken. Oder Minecraft spielen.«

Mr. Beiderman presste die Lippen zu einem geraden Strich zusammen. »Die Jugend von heute«, brummelte er. Dann las er Mr. Jeet weiter vor. Das Buch handelte von der Geschichte der englischen Rosen. Oliver bemerkte, dass Mr. Jeet die Augen zufielen, wahrscheinlich, weil auch er sich zu Tode langweilte.

Jessie Vanderbeeker saß draußen auf Miss Josies Feuertreppe. Sie war fast dreizehn und las gerade eine Biografie über die berühmte Physikerin Chien-Shiung Wu. Durch den Vorhang aus Efeuranken, die aus Mr. Beidermans Blumenkästen im obersten Stockwerk herunterhingen, streckte sie den Kopf zum Fenster herein. Dabei verfingen sich ihre Locken im Efeu, sodass sie aussah, als stünde sie unter Strom. »Also wirklich, Oliver«, sagte sie. »Du bist ja noch schlimmer als Herman Huxley.«

»Herman Huxley!« Oliver war entrüstet. Ebenso gut hätte Jessie ihn mit Kaugummi unter der Schuhsohle vergleichen können oder mit Quallen im Wasser, wenn man an einem schönen Sommertag nichts anderes wollte, als vom Steg aus eine Arschbombe zu machen. Herman Huxley beschwerte sich über alles, über kaltes Wetter, über warmes Wetter und sogar über seine nagelneuen Nikes, für die jeder andere seine kostbarsten Besitztümer hergegeben hätte.

»Genau«, sagte Jessie. Sie zog ihr Handy hervor, das sie letzte Woche neu bekommen hatte, und tippte mit den Daumen darauf herum.

Eine Welle aus giftgrünem Neid überflutete Oliver, als seine Schwester so stolz ihr Handy zur Schau stellte.

Ohne vom Display aufzusehen, redete Jessie weiter. »Du weißt ja, dass Mama und Papa mir das Teil hier besorgt haben, damit ich mit Isa Kontakt halten kann.« Sie verschwand wieder hinter dem Efeuvorhang.

Wütend sah Oliver ihr nach. Das war nicht fair. Isa, Jessies Zwillingsschwester, hatte einen Platz in einem dreiwöchigen Feriencamp speziell für junge Orchestermusiker ergattert. Es war zwar vier Autostunden entfernt, aber das hieß doch nicht, dass Jessie und Isa jetzt alles kriegen mussten, was sie haben wollten!

Über seine vierte Schwester, die siebenjährige Hyacinth, ärgerte Oliver sich am wenigsten. Sie saß auf der Armlehne von Mr. Jeets Sessel und strickte. Auf eine ganz besondere Art, nämlich ohne Stricknadeln, nur mit den Händen. Sie wickelte sich die Wolle um die Finger und legte sie in komplizierte Schlingen – so hatte sie eine Schlange gestrickt, die schon bis auf den Boden reichte.

»Schreib Isa, dass ich sie lieb hab«, sagte Hyacinth jetzt, »und dass ich sie millionenmal, nein, trillionenmal vermisse. Und zum Schluss musst du noch das Einhorn-Emoji dranhängen und ganz viele rosa Herzchen.«

Neben Hyacinth saß Franz, ihr Basset Hound. Er nieste dreimal und stupste dann mit der Schnauze Hyacinths Fuß an.

»Ha!«, sagte Oliver triumphierend, »mit ihrem bescheuerten Klapphandy kann sie ja gar keine Emojis verschicken.«

»Deine Sprache, Oliver«, ermahnte Miss Josie ihn. Sie reichte ihm die Tasse mit den Tabletten – es waren bestimmt hundert Stück! – und ein Glas Wasser. »Bringst du das bitte Mr. Jeet, mein Lieber?«

Oliver rappelte sich von seinem Stuhl hoch und schlurfte zu Mr. Jeet hinüber. Wie üblich trug er ein frisches Hemd, heute mit einer lavendelblauen Fliege, und dazu eine graue Hose mit Bügelfalten. Oliver verstand nicht, warum Mr. Jeet sich freiwillig Tag für Tag so in Schale warf. Er selbst fühlte sich in Jeans und T-Shirt am wohlsten; je schmutziger die Sachen waren, desto besser. Oliver stellte die Medikamente und das Wasser auf ein Tischchen neben Mr. Jeets Sessel, direkt vor das gerahmte Foto von Orlando. Orlando war der zwölfjährige Großneffe der Jeets, und auf dem Foto posierte er mit einer Trophäe, die er beim Science Fair, dem Schülerwettbewerb in Naturwissenschaften, gewonnen hatte. Oliver schleppte sich zu seinem Küchenstuhl zurück und ließ sich darauf fallen.

»Geh doch Basketball spielen«, schlug Miss Josie vor.

»Ist doch keiner da«, grummelte Oliver. »Alle sind im Feriencamp. Im Basketballcamp.«

»Aber Angie ist nicht im Basketballcamp, oder?«, widersprach Miss Josie. Angie wohnte zwei Häuser weiter. Sie war nicht nur Olivers Freundin und Schulkameradin, sondern auch die beste Basketballspielerin von allen Kindern in der Grundschule.

»Aber Angie geht vormittags immer in die Sommerschule. In irgendeinen Mathe-Kurs für Fortgeschrittene, mit dem sie extra Punkte sammeln kann.« Oliver schüttelte sich.

Miss Josie machte einen neuen Vorschlag: »Ich bin sicher, dass deine Mutter sehr froh wäre, wenn du dein Zimmer putzen würdest.«

»Hab ich doch letzten Monat erst gemacht«, sagte Oliver.

»Du könntest lesen.«

»Onkel Arthur hat vergessen, mir Bücher mitzubringen, als er das letzte Mal hier war.«

»Ts, ts, ts«, machte Miss Josie mitfühlend. Sie wusste, wie wichtig Oliver die Bücherpakete waren, die er jeden Monat von seinem Onkel erhielt. Sie lieferten ihm alle Geschichten, die ein Junge sich nur wünschen konnte.

Mr. Beiderman erhob sich aus seinem Sessel. »Ich muss mal nach Prinzesschen schauen. Manchmal klettert sie an den Vorhängen hoch und kommt ohne Hilfe nicht wieder runter.« Prinzesschen war Mr. Beidermans Katze. Hyacinth hatte sie ihm geschenkt, und Laney hatte ihr den Namen gegeben.

»Ich kann dir Stricken beibringen«, bot Hyacinth ihrem Bruder an und hielt ihre gestrickte Schlange hoch.

»Wenn ich jemals anfange zu stricken, kannst du mir gern einen Dolch ins Herz stoßen!«, erwiderte Oliver.

»Du kannst Paganini und mich auf der Reifenschaukel anschubsen«, schlug Laney vor, und ihre Augen begannen zu leuchten.

Oliver gähnte. »Zu heiß draußen.«

»Isa würde es tun«, nörgelte Laney.

Miss Josie tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Jetzt hab ich’s!«

»Sie wollen uns doch hoffentlich nicht wieder vorschlagen, aus diesem scheußlichen Grundstück neben der Kirche einen Garten zu machen?«, fragte Oliver, und gleichzeitig rief Miss Josie: »Ihr könnt doch auf dem verwilderten Grundstück neben der Kirche einen Garten anlegen!«

Miss Josies Vorschlag stieß auf allgemeine Ablehnung.

»Da spukt es«, erklärte Laney. »Isa hat das gesagt.«

Hyacinth nickte. »Ich geh nicht gern da entlang. Isa hat gesagt, die Ranken, die von dem hohen Zaun runterhängen, können nach Menschen greifen und einen festhalten, wenn man vorbeigeht.«

»Da spukt es doch nicht!«, rief Jessie. »Die Existenz von Gespenstern ist wissenschaftlich nicht bewiesen.«

»Woher weißt du das denn?«, entgegnete Oliver. »Forschst du etwa auch über Gespenster?«

»Stellt euch mal vor, wie schön es wäre, wenn man sich mitten an einem heißen Tag in einem schattigen Garten ausruhen könnte«, führte Miss Josie ihren Gedanken weiter. »Und die Leute hier aus dem Viertel könnten dort in der Erde wühlen und sogar Gemüse pflanzen! Und da wäre auch genügend Platz für meine Setzlinge. Jotjot würde den Garten bestimmt genehmigen.« Jotjot war der Pfarrer der Kirche.

»Fehlt Ihnen die Arbeit im botanischen Garten, Miss Josie?«, fragte Jessie. Sie schob die Efeuranken zur Seite, sodass sie in die Wohnung hineinsehen konnte. Miss Josie war Pädagogin. Sie hatte im New York Botanical Garden in der Bronx Kindern die Pflanzenwelt erklärt.

»Ja, sie fehlt mir sehr«, antwortete Miss Josie. »Immerhin habe ich da fünfundvierzig Jahre gearbeitet. Und dabei habe ich ja auch Mr. Jeet kennengelernt. Er war dort Gärtner und ist immer genau da aufgetaucht, wo ich mich gerade aufhielt. So lange kennen wir uns schon.« Sie lächelte Mr. Jeet zu. Er ließ sich gerade von Hyacinth eine Tablette nach der anderen reichen, schluckte sie einzeln mit Wasser und verzog dabei jedes Mal das Gesicht. Er musste wirklich viel Medizin nehmen.

»Wenn ihr einen Garten hättet, könntet ihr leckeres Futter für Paganini pflanzen«, sagte Miss Josie zu Laney.

»Ui, das fände er super!«, antwortete Laney. Paganinis Ohren zuckten, als er seinen Namen hörte; dann sprang er in einen Tontopf, in dem ein Ficus wuchs. Doch bevor er scharren und damit Erde über den ganzen Fußboden schleudern konnte, hob Miss Josie ihn behutsam wieder heraus und setzte ihn Mr. Jeet auf den Schoß.

Mr. Jeet kraulte dem Kaninchen mit der rechten Hand die Ohren. Seit er vor zwei Jahren einen Schlaganfall gehabt hatte, war seine linke Hand nur noch eingeschränkt beweglich. Er sprach jetzt auch langsam, immer ein Wort nach dem anderen mit Pausen dazwischen. »Du – hast – Glück – dass – du – niedlich – bist.« Er beugte sich zu dem Kaninchen hinunter, Paganini machte Männchen, und sie gaben sich einen Nasenkuss.

Oliver legte den Kopf auf die kühle Tischplatte. Es war angenehm, sie an der Wange zu spüren. »Ein Garten klingt nach ganz viel Arbeit.«

»Herman Huxley«, sang Jessie vom Fenster aus. »Du bist ganz genau wie er.«

Oliver hatte seine Schwester samt ihren blöden Bemerkungen und ihrem doofen Handy satt. »Sag das nicht noch mal! Du hast doch keine Ahnung!«

»Jetzt sei nicht gemein zu mir, bloß weil du wegen des Handys neidisch bist«, giftete Jessie zurück und kletterte durchs Fenster wieder in die Wohnung.

»Okay, Kinder«, unterbrach Miss Josie. »Ich könnte uns doch Tee machen, und Kekse gibt’s auch …«

Aber Oliver wollte weder Tee noch Kekse. Er wollte das letzte Wort haben: »Wozu brauchst du eigentlich ein Handy? Ist ja nicht so, als hättest du einen Platz in diesem naturwissenschaftlichen Feriencamp gekriegt und müsstest Kontakt zu Mama und Papa halten. Isa hat vermutlich eine superschöne Zeit ohne dich, während du bloß den ganzen Sommer hier rumhängst und gar nichts tust.«

»Oliver!«, rief Mr. Jeet so laut, dass Paganini von seinem Schoß auf den Teppich hinuntersprang und unter einen Sessel hoppelte. Mr. Jeet versuchte aufzustehen. Sein Gesicht war plötzlich kalkweiß, und seine Arme zitterten, als er sich auf den Armlehnen abstützte. »Bitte – Oliver – keinen – Streit –« Aber bevor Mr. Jeet seinen Satz beenden konnte, knickten seine Knie ein, und er sackte gegen Hyacinth.

»Miss Josie, Hilfe!«, schrie Hyacinth, während sie sich bemühte, den schweren Mr. Jeet zu stützen.

»Jeet!«, rief Miss Josie und eilte Hyacinth zu Hilfe.

Gerade als Mr. Jeet auf den Boden sank, kam Mr. Beiderman hereingestürzt. Hyacinth stolperte gegen den kleinen Tisch und stieß dabei die Tasse mit den Tabletten um. Sie kullerten auf den Fußboden und rollten in alle Richtungen.

ZWEI

Die nächste Stunde verging wie in einem Nebel. Mr. Jeet rührte sich nicht, auch nicht, als Miss Josie ihn schüttelte und ihm etwas ins Ohr schrie. Jessie rief den Krankenwagen. Oliver rannte nach unten in die Wohnung der Vanderbeekers, um Mama zu holen.

Mr. Beiderman deckte den reglosen Mr. Jeet zu. Jessie kam sich plötzlich vor wie in einer Filmszene. Wurde im Film nicht auch immer eine Decke über die Leiche gelegt? Sie fühlte sich zerbrechlich, und ihr war bitterkalt, aber sie zwang sich zu helfen, so gut sie konnte.

Sie brachte Hyacinth, Laney, Paganini und Franz ins Schlafzimmer von Miss Josie und Mr. Jeet. Kurz darauf kam auch Oliver herein. Während sie gemeinsam auf den Krankenwagen warteten, drängten die beiden kleinen Schwestern sich auf Jessies Schoß und weinten in ihr T-Shirt. Jessie war es gewohnt, Isa die Rolle der Trösterin zu überlassen, aber jetzt klopfte sie Hyacinth und Laney unbeholfen auf den Rücken und ertappte sich dabei, wie sie murmelte »Alles wird gut« und »Keine Angst, die Ärzte wissen, wie sie ihm helfen können« und andere beruhigende Sätze, die vielleicht gar nicht stimmten.

Die Sirene des Krankenwagens hallte durch die Straße, und dann wurde die Haustür aufgerissen. Das Brownstone-Haus ächzte unter den eiligen Schritten der Sanitäter.

»Stirbt er?«, schluchzte Laney, während Paganini sich zwischen Mr. Jeets Pantoffeln niederließ.

»Natürlich nicht«, sagte Jessie. Aber woher sollte sie das wissen?

Die Mädchen hörten, wie die Sanitäter in die Wohnung stürmten und wie Miss Josie mit zittriger Stimme Fragen zu Mr. Jeets Alter, zu seinem Gesundheitszustand und zu den Medikamenten beantwortete.

»Eins … zwei … drei!«, sagte eine Stimme. Jessie löste sich von ihren Schwestern und öffnete die Schlafzimmertür einen Spaltbreit. Die Sanitäter hoben Mr. Jeet auf eine Trage. Laney kam angekrabbelt, lugte auch durch den Spalt und brach erneut in Tränen aus. Mama kam herüber und strich ihr über den Kopf. »Ich fahre mit ins Krankenhaus«, sagte sie. »Macht euch keine Sorgen, alles wird gut!« Laney nickte tapfer, und Jessie schloss die Tür wieder. Sie hörte, wie die Sanitäter beim Hinuntergehen leise miteinander sprachen. Dann wurde die Haustür geöffnet und wieder zugeschlagen.

In der Wohnung war es nun sehr still.

Bis Franz zu bellen begann. Die tiefen, kummervollen Laute zerrissen die Stille im Raum, während in der Ferne die Sirenen des Krankenwagens verhallten.

***

Oliver konnte nicht schlafen. Auf seinem Wecker war es 23:03 Uhr. Er hatte ein komisches Gefühl im Bauch, so als hätte ein ruheloser Oktopus sich dort angesiedelt. Sein Kopf war voll mit Bildern von Mr. Jeet, wie er seinen Namen rief, wie er die Hand gegen seine rechte Seite presste und dann auf den Fußboden sackte. Mama war immer noch nicht aus dem Krankenhaus zurück. Das war ein schlechtes Zeichen, oder?

Der Wecker sprang um. 23:04 Uhr.

Mama hatte nur einmal angerufen, um zu sagen, dass die Ärzte immer noch Untersuchungen machten und dass Mr. Jeet in guten Händen war. Oliver hatte keine Ahnung, was da so lange dauerte. Etwa um sechs, als ihr Vater nach Hause gekommen war, hatte Mr. Beiderman Sandwiches mit Dosenfleisch zum Abendessen heruntergebracht, aber Papa und die Geschwister hatten die Sandwiches kaum angerührt. Schließlich hatte Mr. Beiderman den Vanderbeekers vorgehalten, sie würden »gutes Essen verschmähen« und war wieder abgezogen.

23:05 Uhr. Das Brownstone-Haus, das normalerweise fröhlich knackte und knarrte, war beängstigend still. Oliver wünschte, sein Zimmerfenster würde auf die Straße hinausgehen, damit er sehen könnte, ob Mama nach Hause kam. Aber er hatte nur den Blick auf das Nachbarhaus, wo die Jalousien immer heruntergelassen waren.

23:06 Uhr. Immer noch keine Spur von Mama.

Oliver sprang von seinem Hochbett herunter und verließ sein Kämmerchen. Unten im Erdgeschoss befanden sich Küche und Wohnbereich, und die Zimmer der Kinder und das Elternschlafzimmer lagen nebeneinander am Flur im ersten Stock. Das Zimmer mit dem Fenster zur 141. Straße teilten sich Jessie und Isa.

Oliver wandte sich nach rechts und schlich ins Zimmer der Zwillingsschwestern. Jessie schnarchte wie ein Bulldozer, das war typisch. Er nahm sich Isas Schreibtischstuhl, rollte ihn ans Fenster und zog leise den Vorhang auf. Dann hockte er sich vorn auf die Stuhlkante und stützte die Ellbogen auf die Fensterbank. So konnte er nach Mama mit ihrem glatten schwarzen Haar und ihrem zielstrebigen Gang Ausschau halten. Er dachte daran, wie er als kleiner Junge aus dem Fenster geguckt hatte, wenn Papa von der Arbeit nach Hause gekommen war. Allerdings hatte Papa strubbelige Locken, die nach allen Seiten abstanden, und er schlenderte, als hätte er alle Zeit der Welt.

Wegen der unterschiedlichen Herkunft ihrer Eltern sahen auch die Kinder recht verschieden aus. Obwohl keins dem anderen glich – die Zwillinge sahen sogar am unterschiedlichsten aus –, gab es doch eine gewisse Ähnlichkeit, die sie miteinander verband und sie alle unverwechselbar zu Vanderbeekern machte.

Trotz der Laternen wirkte die Straße düster und still. In dieser Atmosphäre konnten schlimme Dinge passieren, Worte konnten gesagt und nicht wieder zurückgenommen werden, oder ein Nachbar konnte im Krankenhaus sterben. Oliver schaute so lange auf die Straße hinaus, dass er allmählich alles nur noch verschwommen sah.

Das Geraschel einer Bettdecke und ein Freudenschrei auf der anderen Seite des Zimmers ließen ihn hochschrecken, sodass der Stuhl unter ihm wegrollte. Krachend plumpste Oliver auf den Boden. Dabei schlug er mit dem Kinn auf der Fensterbank auf.

»Isa!« Jessie stürzte zu ihm hin. »Ach«, sagte sie enttäuscht, als sie ihren Bruder erkannte. »Du bist es.«

»Keine Sorge, mir ist nichts passiert.« Oliver rieb sich das Kinn. »Brauchst mir nicht zu helfen oder so was.«

»Okay.« Jessie blinzelte dreimal und taumelte zurück ins Bett.

Die Zimmertür flog auf, und Hyacinth und Laney, gefolgt von Franz, stürzten herein. »Was ist passiert? Was hat da so laut gepoltert? Hat sich jemand wehgetan?«

»Nur ich«, rief Oliver unter dem Fenster.

Laney hüpfte zu ihm. »Was tut dir denn weh? Soll ich die Stelle gesundküssen?«

»Bloß nicht«, sagte Oliver.

Jessie setzte sich im Bett auf. Sie sah jetzt viel wacher aus. »Was macht ihr denn alle um sieben Minuten nach halb zwölf in meinem Zimmer?«

Laney sprang auf Isas Bett und wälzte sich in dem weichen Kissenberg. »Ich bin nicht müde«, erklärte sie. »Ich bin schon ewig auf. Wie viele Punkte sind auf einem Würfel? Warum heißen Babyschweine Ferkel? Und warum haben sie so kringelige Schwänze?«

Oliver ignorierte sie und rappelte sich hoch. »Ich warte auf Mama. Sie ist noch nicht zu Hause.«

Ärgerlich sah Jessie ihn an. »Ich will euch nicht in meinem Zimmer haben. Ich versuche zu schlafen.«

»Aber du hast ein Fenster zur Straße«, protestierte Oliver.

»Nichts da.« Jessie sprang aus dem Bett, packte ihn an den Schultern, drehte ihn zur Tür und schob ihn raus auf den Flur. Mit Hyacinth machte sie es genauso. Nur Laney blieb zurück.

»Darf ich in Isas Bett schlafen?«, fragte sie und drückte Isas einziges Stofftier, einen flauschigen Wombat, fest ans Herz.

»Nichts da«, antwortete Jessie. Sie nahm Laney den Wombat aus den Armen, warf ihn auf Isas Bett zurück, hob ihre kleine Schwester hoch, trug sie auf den Flur und setzte sie neben Oliver, Hyacinth und Franz ab. Dann schloss sie energisch ihre Zimmertür.

Hyacinth sah Oliver an. »Bist du dir sicher, dass Mama noch nicht zu Hause ist?«

»Ich bin aufgeblieben, weil ich auf sie warten will. Papa ist schon vor einer Stunde ins Bett gegangen. Ich hab gehört, wie er mit ihr telefoniert hat. Mr. Jeet bleibt über Nacht im Krankenhaus.« Oliver ging zur Treppe, die ins Erdgeschoss hinunterführte, und setzte sich auf die oberste Stufe. Von dort aus hatte man die untere Wohnungstür perfekt im Blick. Laney, Hyacinth und Franz hockten sich links und rechts neben ihn auf die Stufe, und ausnahmsweise fand Oliver ihre Gesellschaft tröstlich. Es war eine jener seltenen Nächte, in denen er sein Zimmer gern mit jemandem geteilt hätte. Er sehnte sich nach menschlichen Geräuschen.

»Wird Mr. Jeet wieder gesund?«, fragte Hyacinth und lehnte sich an ihren Bruder.

»Natürlich wird er wieder gesund«, sagte Oliver rasch. »Wieso sollte er es denn nicht werden?«

»Weil er so krank aussah.« Hyacinth legte einen Arm um Franz und kraulte ihn hinter dem Ohr.

Die Tür zum Zimmer der Zwillinge öffnete sich wieder, und Jessie kam heraus. »Jetzt kann ich nicht schlafen«, brummelte sie. Sie gab Laney einen Stups mit dem Fuß. »Rück mal ’n Stück.«

DREI

Laney kuschelte sich noch dichter an Oliver, und Jessie quetschte sich zwischen Laney und das Treppengeländer. Sogar George Washington, der sonst eher träge Kater, kam aus dem Wohnzimmer, sprang in großen Sätzen die Treppe herauf und rollte sich vor Olivers Füßen zusammen.

»Also, ich hab mir das mal überlegt, und ich finde«, setzte Jessie an, und im selben Moment begann Oliver: »Findet ihr nicht –«

Dann sagten beide wie aus einem Mund: »Du zuerst.«

Plötzlich kam Oliver sich blöd vor. »Ist eigentlich dumm. Bloß ’ne Idee.«

»Es gibt keine dummen Ideen.« Hyacinth sagte den Satz genau so, wie Miss Josie das immer tat.

Oliver rieb sich die Augen. »Weiß nicht … Ich hab bloß mal darüber nachgedacht, was Miss Josie heute Vormittag gesagt hat. Vielleicht sollten wir das doch machen? Was sie vorgeschlagen hat? Keine Ahnung.«

Ein langes Schweigen entstand.

Dann fragte Jessie vorsichtig: »Heißt das, dass du dein Zimmer putzen willst?«

»Nein. Hört zu.« Jetzt sprudelten die Worte nur so aus Oliver heraus. »Ein Garten. Das wäre etwas, was wir für Miss Josie und Mr. Jeet tun könnten. Miss Josie bittet sonst nie um irgendwas, aber sie redet jetzt schon seit Jahren von diesem Garten. Und Mr. Jeet fehlt es, dass er draußen sein und sich mit seinen Freunden treffen kann, das weiß ich. Wir könnten ihn mit dem Garten überraschen, wenn er aus dem Krankenhaus zurückkommt. Das wäre doch perfekt.« Oliver verschwieg, dass sich in seinem Kopf eine Angst eingenistet hatte, die wisperte: falls er aus dem Krankenhaus zurückkommt.

Er wartete ab, was die Schwestern von seiner genialen Idee hielten.

Hyacinths Augen wurden groß und rund. »Auf dem Grundstück spukt es, da gehe ich nicht hin.«

»Ich auch nicht«, erklärte Laney. Sie schaute zur dunklen Wohnungstür hinunter und fröstelte. »Außerdem hängt am Zaun ein Schild, da steht drauf: ›Kein Durchgang‹. Das bedeutet, wenn man doch durchgeht, wird man in einen Kobold verwandelt.«

Oliver verdrehte die Augen. »Ich hab dort noch nie ein Schild gesehen. Und überhaupt, du kannst doch noch gar nicht lesen.«

»Kann ich wohl!«, sagte Laney. »Das steht da drauf!«

Jessie mischte sich ein. »Ich hab dort noch nie ein Tor oder eine Pforte gesehen. Und ich bezweifle, dass die Kirche uns reinlässt. Wer weiß, wie es hinter dem Zaun aussieht?«

»Miss Josie kann uns bestimmt helfen, die Leute zu überreden. Sie geht doch schon hundert Jahre da in die Kirche«, sagte Oliver unbeirrt.

»Hundert Jahre?«, rief Hyacinth.

»Er übertreibt«, erklärte Jessie. »Aber sie geht wirklich schon ganz lange da hin.«

»Wenn wir jetzt gleich mit der Arbeit anfangen«, nahm Oliver den Faden wieder auf, »können wir am Ende der Ferien ein großes Gartenvergnügen veranstalten.« Oliver liebte das Wort Vergnügen. Die Bibliothek benutzte es auch für ihren alljährlichen Bücherflohmarkt. Es hatte etwas so Spielerisches und Unbeschwertes, und er sprach es einfach gern aus. »Ja, ein Gartenvergnügen. In ein paar Wochen, wenn Isa wiederkommt, gleich am Tag danach!«

Jessie war immer noch skeptisch. »Das ist doch schon in achtzehn Tagen. Außerdem haben wir null Ahnung von Gärten.«

»Aber Mama hat uns Der geheime Garten vorgelesen«, sagte Oliver. »Gärtnern ist bestimmt nicht so schwer. Und du bist hier doch die Naturwissenschaftlerin. Ein Garten ist für wissenschaftliche Experimente perfekt geeignet, oder?«

»Das wäre Botanik, also Pflanzenkunde – eine Wissenschaft, die mich weniger interessiert«, erklärte Jessie.

»Bitte, Jessie. Tu es Mr. Jeet und Miss Josie zuliebe.« Und dann spielte Oliver sein Ass aus: »Hör auf, dich wie Herman Huxley zu benehmen.«

»Herman Huxley!«, rief Jessie wütend. Sie senkte die Stimme. »Ich warne dich.«

Oliver verbiss sich ein Grinsen. »Also? Sind wir Mäuse oder Männer? Frösche oder Frauen? Ravenclaws oder Hufflepuffs? Machen wir jetzt einen Garten oder nicht?«

Jessie seufzte. »Das war gerade ziemlicher Unsinn, klar? Also gut. Ich bin dabei, aber nur, weil ich Miss Josie und Mr. Jeet so gern hab.«

Oliver schaute Hyacinth an. Sie sah aus, als würde sie lieber Voldemort gegenübertreten, als sich in den Spukgarten hineinzuwagen. »Also, was hältst du von einem Garten?«

»Da mach ich nicht mit, niemals«, sagte Hyacinth und vergrub den Kopf in Franz’ Nackenfell.

Mit einem Seufzer sah Oliver zu Laney hinüber. »Na los, Laney. Das macht doch großen Spaß. Wir können Mary, Dickon und Colin aus Der geheime Garten spielen. Du findest das Buch doch so toll. Und stell dir mal vor, wie viel frisches Futter für Paganini in dem Garten wachsen kann!«

Laney schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die Zöpfe ums Gesicht flogen. »Paganini kann Kobolde auch nicht leiden.«

***

Kurz darauf sank Laneys Kopf in Jessies Schoß, Hyacinth legte ihren Kopf in Olivers Schoß, und im Nu schliefen die beiden kleinen Schwestern fest. Nach langem Schweigen seufzte Oliver dreimal. Bei jedem Seufzer warf er Jessie einen Blick zu.

»Was hast du denn?«, fragte Jessie.

Oliver zögerte. »Was ich heute zu dir gesagt hab – also, das tut mir leid«, sagte er schließlich.

Jessie war überrascht. Ihr Bruder entschuldigte sich nur ganz selten.

Oliver verzog das Gesicht. »Erinnerst du dich, wie ich gesagt hab, dass Isa in diesem Sommer auch ohne dich vermutlich eine superschöne Zeit hat?«

Jessie hob die Augenbrauen. »Ach so, das.«

»Also, das tut mir leid, okay? Das war nicht besonders nett von mir.«

Jessies Gedanken wanderten zu einem Abend im April zurück. Beim Essen hatte Isa die Familie mit der Nachricht überrascht, dass sie einen Platz im Orchester-Feriencamp und dazu auch ein Stipendium für den Unterricht dort bekommen hatte. Sie hatte den Brief mit der Zusage geschwenkt und war vor lauter Aufregung herumgehüpft, ein Verhalten, das für die zurückhaltende Isa ganz untypisch war. Doch beim Durchsehen der restlichen Unterlagen waren Mama und Papa ganz still geworden. Da hatte Jessie ihnen über die Schultern geschaut und gesehen, dass der Unterricht zwar kostenlos sein würde, dass Isa aber für Unterkunft und Verpflegung selbst aufkommen musste. Eine Woche später hatte Mama einen Teilzeitjob angenommen. Sie machte abends für einen Coffeeshop in der Nähe die Buchhaltung.

Jessie sah Oliver an. »Und mir tut es leid, dass ich dich mit Herman Huxley verglichen hab.«

Oliver zuckte mit den Schultern. »Ist schon okay.«

Lange Zeit saßen sie schweigend auf der Treppe, bis Mama endlich zurückkam. Jessie hatte ihre Mutter noch nie so erschöpft gesehen. Ihre Kleidung war zerknautscht, auf ihrer Bluse war ein Kaffeefleck, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie schaute nach oben, wo die Kinder sich in Schlafanzügen mit Franz und George Washington auf der obersten Stufe zusammengedrängt hatten, und lächelte ihnen müde zu.

»Mr. Jeet geht es den Umständen entsprechend gut«, sagte sie leise, bevor jemand etwas fragen konnte. Sie kam die Treppe herauf und gab jedem Kind einen Kuss auf die Wange. »Die Ärzte machen ganz viele Untersuchungen. Miss Josie bleibt heute Nacht bei ihm. Die Krankenschwester hat in seinem Zimmer ein Klappbett für sie aufgestellt.«

»Was ist denn eigentlich passiert?«, flüsterte Oliver.

Mama setzte sich auf die zweitoberste Stufe und nahm George Washington auf den Schoß. »Er hatte einen zweiten Schlaganfall.«

»Ist seine linke Seite wieder gelähmt?«, fragte Jessie.

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