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Die Ungeheuerlichen - Das Böse ist auf deiner Seite

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Manchmal kann dich nur das Böse retten

Düstere Legenden ranken sich um Rileys Heimatstadt. Eines Nachts erwacht eine von ihnen in Gestalt der totgeglaubten Nobolde wieder zum Leben. Die Einzigen, die die Stadt vor den Monstern aus den Sümpfen beschützen können, sind die Ungeheuerlichen. Doch die hat der Graf vor langer Zeit zu Aussätzigen erklärt. Wem kann Riley jetzt noch trauen? Soll sie sich an die Regeln halten, die ihr von klein auf eingebläut wurden, oder auf ihr Gewissen hören? Und ist es möglich, dass es manchmal die Bösen braucht, um die wahren Monster zu besiegen?


  • Erscheinungstag: 17.12.2019
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 11
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850090

Leseprobe

Für Caterina und Charlotte,
die so zauberhaft sind, dass Träume wahr werden.

Und für Wendy, die drangeblieben bin.

EIN PAAR WORTE ÜBER SCHURKEN …

Meine Mutter erzählte mir, die Finsterlinge kamen nach Mitternacht. Lautlos glitten sie die Dachfirste herab oder stiegen ungesehen in der Nacht des Schwarzen Mondes aus der Kanalisation empor. Die Ungeheuerlichen nannte meine Mutter sie – und sah sich rasch um, um sicherzugehen, dass sie uns nicht belauschten. Mein Vater sagte, die Ungeheuerlichen seien keine Monster. Gesetzlose, Kriminelle, Schurken, das schon. Aber sie seien doch Menschen, genau wie wir.

Ich weiß noch, wie die Armee des Grafen eines Abends durch das Dorf marschierte und sie Richtung Norden auf die gezackten Schatten des Waldes zutrieb. Die Soldaten wurden ihnen nachgeschickt. Keiner von ihnen kehrte je zurück. Nach und nach verblassten die Ungeheuerlichen in der Erinnerung der Dorfbewohner und wurden zu Geistern, zu einem Flüstern. Und schließlich, nach vielen Jahren, war es, als hätte es sie nie gegeben.

Anonymer Dorfbewohner

DER WASSERSPEIER

Riley und ihre beiden Freunde hatten nicht vorgehabt, das verbotene Buch aus dem Zornigen Dichter zu stehlen. Sie wollten es bloß lesen. Eigentlich hatten sie den wunderlichen kleinen Buchladen zwischen dem Grogverkäufer und dem Sargmacher nur aus Neugierde aufgesucht. Doch der Ladenbesitzer hatte sich so dermaßen aufgeregt, dass sie weggelaufen waren, ohne nachzudenken, und jetzt klemmte der gesetzeswidrige Band noch immer unter Rileys Arm.

Die Diebe wider Willen rannten auf die Marktstraße und rempelten ein paar Dorfbewohner an, die sich den gewundenen Kopfsteinpflasterweg mit Pferdekutschen und nach Essensresten wühlenden Schweinen teilten. Die enge Straße war während der Mittagszeit immer voll, und auch die von ihr abgehenden Gassen waren verstopft, was ihnen die Flucht erschwerte. Der Dichter selbst, korpulent und wild entschlossen, mähte alles nieder, was ihm in den Weg kam. Die Kinder nickten sich kurz zu – ihr stummes Signal – und änderten die Richtung. Sie stoben auseinander und suchten nach Vorsprüngen an den kaputten Ziegelsteinen und im abgebröckelten Putz der Geschäftsfassaden, um an ihnen hochzuklettern.

Riley hatte sich auf den Dächern noch nie besonders wohlgefühlt. Sie und ihre Freunde waren schon ein- oder zweimal hinaufgeklettert, aber nur, wenn es keinen anderen Ausweg gab. Sie kraxelte die steilen Giebeldächer hoch und schoss zwischen den schiefen Schornsteinen, den grimmig dreinblickenden Wasserspeiern und tropfenden Regenrinnen von Moderfurt hindurch. Von den Geschäften und Märkten stieg schwarzer Rauch auf, der sie mit dem starken Geruch von Räucherfleisch und Birkenrinde umhüllte. Riley hielt sich nicht damit auf, über die Schulter zu sehen und nach ihrem Verfolger Ausschau zu halten. Sie war schon oft genug gejagt worden, um zu wissen, dass das keine gute Idee war. Sie kletterte über den First eines Giebels. Als sie die andere Seite des Daches hinunterlief, bekam sie so viel Schwung, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Am Rand des Daches aus Stroh und Schindeln kam sie ruckartig zum Stehen und sah – an den Spitzen ihrer übergroßen Stiefel vorbei – auf das erbarmungslose Kopfsteinpflaster unter sich.

Vor ihr lag die Freiheit. Quinn Quartermast hatte sich bereits über einen Spalt auf das gegenüberliegende Dach gerettet. Es wirkte, als bestünde er nur aus Armen und Beinen. Der perfekte Körperbau für einen Springer.

Irgendwo, nicht weit hinter Riley, befand sich ein Dichter mit bösen Absichten, der sich – trotz seines massigen Körperbaus – als geschickter Kletterer erwies.

»Ich glaub, ich schaff das nicht«, sagte Riley.

»Klar schaffst du das«, rief Quinn und winkte sie heran.

»Nein, echt. Ich kann so was nicht.«

Riley schaute hinab aufs Dorf. Eigentlich war Moderfurt eher eine rasch wachsende Stadt als ein Dorf. Eine Stadt, die auf Geheimnissen, Regeln und Lügen gebaut war, aber hauptsächlich auf Morast. Sie erstreckte sich am Ufer des Flusses Moder, der hauptsächlich Brackwasser führte, und lag nahe genug am Meer, dass die Bewohner morgens die Flut riechen und die frechen Möwen dabei beobachten konnten, wie sie in den Laden des Metzgers watschelten und mit einem Schwanz oder einem Huf davonflogen. Nördlich des Flusses und der Stadtmauer lag das Moor, verborgen unter einer Decke aus Salz und Nebel. Dahinter erstreckte sich der unendliche Kiefernwald, in dem sich angeblich Wölfe, Banditen und unglückselige Gestalten tummelten. Die Dorfbewohner bezeichneten diese Gegend lediglich als Hinter dem Schiefer. Wem Aberglauben fremd war, der war längst nicht mehr überzeugt, dass in dem Wald verzauberte Wesen herumspukten. Doch alte Legenden sind schwer totzukriegen, und so hielt sich hartnäckig die Vorstellung, dass der große Wald von bösen Geistern und Reichtümern wimmelte, die man nur mutig oder verwegen genug sein musste zu erhaschen.

Hinter Riley erklangen Schritte auf dem Dach. Doch es war nicht der zornige Dichter, sondern eine kleine Gestalt mit Umhang und Kapuze, die mit schwingenden Armen an ihr vorbeistürmte. Sie sprang in die Luft und landete mit einem dumpfen Aufprall und einer anschließenden Rolle auf dem gegenüberliegenden Dach direkt neben Quinn. Die Gestalt stand auf und zog sich die Kapuze vom Kopf. Darunter wurde ein wirrer Strubbelkopf mit blondem Haar – so hell, dass es fast weiß war – sichtbar. Ihre großen blauen Augen glänzten wie Murmeln.

»Er war direkt hinter mir«, rief Folly Flood zwischen zwei Atemzügen.

»Nimm Anlauf und spring«, sagte Quinn zu Riley. »Der Spalt ist gar nicht so breit.«

»Unten bist du schon hundertmal so weit gesprungen«, fügte Folly hinzu.

»Ja, aber das ist was anderes«, erklärte Riley und schaute wieder in die Tiefe. »Irgendwas wird passieren. Das ist immer so.«

»Du schaffst das. Jetzt mach schon!«, rief Quinn.

»Ich bin eben ein bisschen tollpatschig.«

»Quatsch«, sagte Quinn ohne große Überzeugung.

»Albern«, brummte Folly, ebenfalls wenig überzeugend.

»Jetzt spring endlich!«

»Er ist Dichter«, sagte Riley. »So schlimm wird das schon nicht werden.«

»Aber er ist sauer«, sagte Quinn.

»Und riesig wie ein Elefant«, fügte Folly hinzu.

Als hätte er auf seinen Einsatz gewartet, zog der Dichter seinen voluminösen Bauch genau in diesem Moment auf die andere Seite des Daches. Er wirkte tatsächlich ziemlich sauer. Und zwar, wie Riley vermutete, aus mehreren Gründen. Erstens wurde Dichtern zurzeit nicht mehr viel Beachtung geschenkt. Die Dorfbewohner zogen es vor, Geschichten in Form von Liedern mit Harfenbegleitung zu hören oder als Theaterstücke anzuschauen, von lauten Schauspielern in Strümpfen und mit Federhüten auf die Bühne gebracht. Soweit Riley wusste, wurden die Bücher den Händlern von Moderfurt nicht gerade aus den Händen gerissen. Die Bewohner verbrachten ihre Zeit lieber mit Angeln, Prügeleien oder der Jagd nach dem Glück. Der Graf, der Moderfurt regierte, hatte nicht nur ein Leseverbot für Frauen und Mädchen ausgesprochen. Gewisse Bücher waren sogar ganz verboten. Und das verbotenste von allen war das Buch, das Riley sich gerade an den Körper presste: Tams Buch der Lügen rund um die Moder-Mündung, Teil II, ein Geschichtsbuch, das weitgehend unbeachtet geblieben war. Bis der Graf es als niederträchtige Sammlung unerhörter Beschuldigungen, gefährlicher Unwahrheiten und frecher Lügen bezeichnete. Selbst eine Elfjährige war in der Lage, daraus zu schließen, dass das Buch zumindest ein Fünkchen Wahrheit enthalten musste.

Die Soldaten des Grafen hatten jedes Exemplar, das sie finden konnten, beschlagnahmt und zerstört. Riley hatte Gerüchte gehört, dass der Dichter eine Ausgabe von Tams Buch in einem Hinterzimmer versteckte. An manchen Abenden veranstaltete er Privatlesungen für rebellische Edelleute mit neugieriger Veranlagung. Riley und ihre Freunde hatten keine Silbermünzen, um sich den Zugang zu diesen Veranstaltungen zu erkaufen. Also hielten sie ihre eigenen geheimen Lesungen in der Besenkammer des Buchladens ab. Leider hatte der Dichter einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt, um die Buchhandlung zu fegen. Und er schien nicht sehr erfreut zu sein, dass sie mit Tams Buch abgehauen waren, böse Absicht hin oder her.

»Jetzt komm schon, Riley«, riefen Quinn und Folly im Chor. »Los!«

Riley holte tief Luft. »Dann wollen wir mal.«

Sie trat fünf Schritte zurück, um genug Anlauf nehmen zu können, zog ihre Leggings hoch, holte tief Luft, klatschte in die Hände und machte dann einen entscheidenden Fehler.

Sie sah über ihre Schulter.

Der Dichter war über den First hinter ihr gestiegen. Das Dach vibrierte unter seinen schweren Schritten, während er auf sie zustapfte. Als er ausholte, um sie zu packen, entging Riley seinem Griff nur knapp. Er taumelte und segelte mit Schwung an ihr vorbei. Riley riss entsetzt die Augen auf, während der kräftige Mann auf die Dachkante zustolperte und mit den Armen wedelte, um das Gleichgewicht zu halten. Er kam auf seinen Zehenspitzen zum Halten und konnte den Sturz in die Tiefe gerade noch verhindern. Vorwurfsvoll starrte er sie an.

Riley drehte sich um und kletterte über den nächsten Giebel zum höchsten Glockenturm des Dorfes. Die verrostete Wetterfahne in Gestalt eines Wals ragte über ihr auf, als sie sich zwischen den Wasserspeiern und grotesken Figuren aus Stein hinhockte, um sich im Schatten des Turms zu verstecken.

Quinns und Follys Rufe wurden übertönt vom lauten Pochen in ihren Ohren. Die Wasserspeier starrten sie mit aufgerissenen Mäulern an und warteten, was sie als Nächstes tun würde. Eine Krähe saß auf der Schulter eines Wasserspeiers und putzte ihr pechschwarzes Gefieder mit ihrem spitzen grauen Schnabel. In diesem Versteck konnte Riley nicht lange bleiben.

Sie hörte den näher kommenden Dichter japsen und wusste, dass sie weiterlaufen musste. Sie wischte sich die Hände an ihren Leggings ab, doch ihre Muskeln versagten ihr den Dienst.

Die einsame Krähe drehte ruckartig den Kopf zu ihr und machte ein klickendes Geräusch mit dem Schnabel. Riley verzog wütend das Gesicht und zeigte der Krähe ihre Faust, um sie zum Schweigen zu bringen. Ganz Moderfurt war bevölkert von den hässlichen schwarzen Vögeln. Die Bewohner nannten sie die Ratten der Lüfte.

In diesem Moment fiel Riley auf, dass der Wasserspeier, auf dem die Krähe hockte, sich von den anderen unterschied. Es sah aus, als hätte er anstelle von Flügeln einen Umhang, der ihm über die Schultern fiel. Seine eckigen schwarzen Augen, die lange Nase, die zwischen seinen Wangen hervorragte, und sein Gesicht, das eher aussah wie aus Leder und nicht wie aus Stein, wirkten … wie eine Maske.

Bei Riley zu Hause gab es nicht viele Regeln. Doch die wenigen Regeln, nach denen sie lebte, waren unverhandelbar und in jedem Fall einzuhalten. Ihr ging die erste Hausregel durch den Kopf.

Hausregel Nr. 1: Bring dich nicht um Kopf und Kragen, meide Männer, die Masken tragen.

Riley schluckte. Die Krähe krächzte aufgeregt. Da hob der Wasserspeier unerklärlicherweise einen behandschuhten Finger und hielt ihn an seinen maskierten, lippenlosen Mund, als wollte er den Vogel zum Schweigen bringen.

Plötzlich konnte Riley sich wieder bewegen.

Sie stürzte aus dem Schatten hervor und raste auf den Dichter zu, der vor Schreck zusammenzuckte. Sie warf ihm Tams Buch vor die Füße, rannte an ihm vorbei und rief ihren Freunden zu: »Folly! Quinn! Ich komme. Fangt mich auf!«

Riley hörte Follys Kreischen und das kehlige Krächzen der Krähe. Sie passte ihre Schritte ab, rannte los, und voller Konzentration und Kraft … blieb sie mit dem Stiefel hängen und fiel das Dach hinunter.

DER WEIDENLADEN

Rye war Expertin, wenn es ums Fallen ging. Beim Landen sah das anders aus. Da konnten schon mal Knochen brechen, wenn man rückwärts fiel und auf gefrorenem Boden aufkam. Oder es konnte ganz schön stechen, wenn man kopfüber in einen Dornenbusch fiel. Weiche Landungen waren selten. Da sie diesmal aus großer Höhe fiel, ging Rye davon aus, dass dies ihr letzter Sturz sein würde. Doch zu ihrer großen Überraschung fühlte es sich nur nass an.

Rye holte tief Luft, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch heil war, verschluckte sich aber und spuckte aus. Ihr Mund war voller Schmutzwasser, das übler schmeckte als Moorbrack. Sie schleppte sich zum Ufer und raffte ihr triefendes Kleid hoch bis zur Brust. Die Wäscheleine hatte einen flammend roten Striemen auf ihrem Bauch hinterlassen. Sie sah rasch nach oben. Bisher kamen weder der Dichter noch der Wasserspeier hinter ihr her.

»Riley, zieh bitte dein Kleid wieder herunter«, hörte sie eine scheltende Frauenstimme. »Das ganze Dorf kann deine Unterhose sehen.«

Rye hatte Glück gehabt, denn ihr Sturz vom Dach war durch mehrere dicht behängte Wäscheleinen aufgefangen worden, bevor sie in dem übel riechenden Kanal gelandet war, in dem das Dreckwasser des Dorfes in den Fluss geleitet wurde. Was nicht so gut war: Mrs. O’Chanter hatte sie gefunden. Rye ließ ihr Kleid wieder herunter und versuchte zu lächeln, während sich zu ihren Füßen eine grüne Pfütze bildete.

Mrs. O’Chanter runzelte die Stirn und streckte die Hand aus. Sie war davon überzeugt, dass Rye als Baby ein Hufeisen verschluckt haben musste. Hätte sie nicht immer so ein unverschämtes Glück, wäre sie schon zehnmal zum Krüppel geworden. Auf dem Weg zurück zum Weidenladen nutzte sie die Gelegenheit, Rye das zum wiederholten Male zu sagen. Rye behielt derweil die Dächer im Auge.

Nachdem Rye sich umgezogen hatte und wieder schön trocken war, glaubte sie schon, das Schlimmste überstanden zu haben. Da schickte Mrs. O’Chanter sie in den Kriechzwischenraum unter dem Laden, um die Wirre zu fangen, die dort ihr Unwesen trieb. Rye glaubte nicht an Wirren und Mrs. O’Chanter auch nicht, soweit sie das beurteilen konnte. Trotzdem teilte sie Rye diese Aufgabe ein- bis zweimal in der Woche zu. Meistens nachdem diese entweder gegen ein Regal mit Glaswaren gestolpert war oder einmal zu oft nach dem Johannisbeerwein gefragt hatte, der unter der Theke stand. Händler aus dem Dorf zu bestehlen und von Dächern zu fallen schien in die gleiche Kategorie zu fallen.

Rye ließ ihr Kleid ordentlich zusammengefaltet zurück und hob die Falltür zum Kriechzwischenraum unter den Holzdielen. Sie trug ihr ärmelloses Unterhemd und die engen schwarzen Leggings, um ihre ohnehin schon arg ramponierten Schienbeine zu schonen. Damit sie sich die Haare nicht aus Versehen an der Laterne versengte, machte sie sich einen Zopf und stopfte ihn unter ihre Kappe. Mehr als einmal sollte einem das nicht passieren. Sie hatte die klammen Lederstiefel ihres Vaters an, die er getragen hatte, als er in ihrem Alter war, für den Fall, dass sie auf etwas Spitzes trat oder auf etwas, das Hunger hatte. Sie waren ihr viel zu groß und wohl verantwortlich für einige der Narben auf ihren Knien. Aber sie stopfte jeden Tag frisches Stroh vorne in die Stiefel und trug sie immer, wenn sie das Haus verließ. Sie setzte sich – mit einem eisernen Schürhaken bewaffnet – an den Rand der Falltür und ließ ihre Füße als Köder in der Dunkelheit baumeln. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass tatsächlich ein scheußliches Viech da unten herumlaufen würde, hatte sie die Absicht, den kleinen Störenfried aufzuspießen.

Rye verbrachte die meisten Nachmittage damit, Mrs. O’Chanter im Weidenladen zu helfen, dem schönsten Schmuckladen in ganz Moderfurt. Es war auch der einzige Schmuckladen im Dorf und eigentlich mehr ein Kuriositäten-Geschäft. Hier würde man keine Adeligen antreffen, die prächtigen Goldschmuck oder silberne Hochzeitskelche kaufen wollten. Die wenigen Adeligen, die sich nach Moderfurt verliefen, waren in der Regel auf der Flucht vor irgendjemandem, der sie in ein Verlies sperren oder ihnen den Kopf abschlagen wollte. Moderfurt zog eher Streuner, Lumpen, Gauner oder andere abenteuerlustige Gesellen an, denen es zwar nicht an Mut fehlte, aber dafür oft an Verstand. Im Weidenladen bekamen sie die Glücksbringer und Talismane, die sie brauchten – oder zu brauchen glaubten.

Nach einer Stunde hatte Rye vier Spinnen gefangen, eine blinde Ratte und etwas, das aussah wie ein Wurm mit Zähnen, aber keine Wirre. Doch mit ihrer Langeweile war es zu Ende, als sie über sich Schritte hörte. Sie legte ihre Jagdutensilien beiseite und beschloss, Nachforschungen anzustellen. Die Kunden des Weidenladens hatten immer spannende Geschichten über ihre schiefgelaufenen Abenteuer zu erzählen oder zumindest den neuesten Klatsch und Tratsch.

Aber der Mann mit der Hakennase, den triefenden Augen und den strähnigen Haaren, der im Laden stand, sah nicht besonders abenteuerlustig aus. Eher wie jemand, der die meiste Zeit in einem Raum voller Bücher verbrachte. Und er hatte sogar eins dabei. Er beugte sich über die in schwarzes Leder gebundene Kladde, die er auf eine Werkbank gelegt hatte, und hielt eine Feder in der Hand. Die beiden Soldaten, die mit ihm gekommen waren, gingen im Laden umher – eine Hand auf dem Knauf ihres Säbels, der in der Scheide steckte – und betrachteten misstrauisch die Kuriositäten auf den Regalen.

»Und wie heißt du, Junge?«, fragte der Mann mit einer Stimme, die knarrte wie eine alte Eisentruhe.

»Ich bin ein Mädchen, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte Rye. Sie trug immer noch ihre Leggings, und ihre Arme, Beine und ihr Gesicht waren schmutzig von der Wirrenjagd im Keller.

»Oh. Tatsächlich«, sagte er und musterte sie missbilligend.

»R-y-e«, buchstabierte sie. »Reimt sich auf Blei

Mrs. O’Chanter runzelte die Stirn und sah sie streng an.

»Entschuldigung«, sagte Rye. »Reimt sich auf frei

Das gefiel Mrs. O’Chanter noch weniger, und sie warf Rye einen bösen Blick zu, während der Mann etwas in sein Buch kritzelte.

Dann hob er eine Augenbraue und sah hoch. Seine Augenbrauen erinnerten Rye an die Staubflusen, die unter ihrem Bett lagen.

»Das Mädchen kann buchstabieren«, bemerkte er. »Interessant.«

»Natürlich kann ich buchstabieren«, sagte Rye.

»Aha«, sagte er und machte noch mehr Notizen.

»Sie meint nur«, warf Mrs. O’Chanter ein, »dass sie ihren Namen buchstabieren kann. Sie wissen ja, wie neugierig Kinder heutzutage sind, Wachtmeister Boil. Wenn man ihnen nicht ab und zu einen Brocken hinwirft, hat man keine ruhige Minute.«

»In meinem Haus«, sagte der Wachtmeister, »greife ich in solchen Fällen zur Rute. Eine kräftige Tracht Prügel kann wahre Wunder bewirken.«

Mrs. O’Chanter schien nicht erfreut über den Verlauf der Unterhaltung. Sie stand da und starrte die Soldaten unter ihrem dichten, schwarzen Haar an. Es war mit einem blauen Band und zwei Holzklammern hochgesteckt, die sie im Laden verkaufte. Einer der Soldaten befummelte eine Reihe von Glücksbringern aus Bienenwachs und Alligator-Haut. Dabei war er alles andere als vorsichtig. Rye wusste, dass Mrs. O’Chanter es hasste, wenn Leute in ihrem Laden die Ware anfassten, ohne etwas kaufen zu wollen. Das gab sie ihnen meist deutlich zu verstehen. Doch diesmal hielt sie sich zurück.

»Mrs. O’Chanter«, fuhr der Wachtmeister fort und hielt dann inne, um sie zu mustern. »Soll ich noch ›Mrs.‹ sagen oder bevorzugen Sie inzwischen ›Miss‹?«

»›Mrs.‹, bitte.«

»Wie geduldig von Ihnen. Na gut. Heute gab es einen gehörigen Tumult beim Zornigen Dichter

»Hat er wieder seine schlüpfrigen Limericks vorgelesen?«

»Nein, Mrs. O’Chanter. Er wurde bestohlen. Und zwar von Kindern.«

»Du meine Güte«, sagte Mrs. O’Chanter ohne große Anteilnahme.

»Nicht wahr?«, sagte Wachtmeister Boil. »Sie haben zwei Beutel mit Goldstücken und zwei Flaschen mit seltenem Wein mitgehen lassen.«

Ryes Ohren wurden ganz heiß. Das war gelogen. Sie knibbelte an ihren Fingernägeln, während sie weiter zuhörte.

»Goldstücke?«, fragte Mrs. O’Chanter. »Ich wusste gar nicht, dass der Buchladen so gut läuft. Ich habe noch nie gesehen, dass irgendjemand sein Geschäft betreten hat.«

Mrs. O’Chanter legte Rye eine Hand auf die Schulter, und Rye hörte auf, an ihren Nägeln zu knibbeln.

»Ja, wie dem auch sei«, sagte der Wachtmeister, wobei er Rye betrachtete. »Graf Longchance nimmt die Erziehung der Dorfjugend sehr ernst. Ungeratene Kinder müssen früh in die Schranken gewiesen werden. Gezähmt werden. Das Jugendlager des Grafen ist eine gute Einrichtung, um eigensinnigen Kindern den Kopf zurechtzurücken.«

Mrs. O’Chanter sah den Wachtmeister an, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Dieses Kind …«, fuhr der Wachtmeister fort. »Wo hat es sich heute aufgehalten?«

Rye fing wieder an, hinter ihrem Rücken an den Nägeln zu knibbeln.

»Sie ist seit Sonnenaufgang hier bei mir und hilft mir im Laden.«

Rye hielt den Atem an.

»Den ganzen Tag, sagen Sie?«

»Ganz recht.«

»Verstehe«, sagte der Wachtmeister und tippte sich an das knochige Kinn.

»Halten Sie die Augen offen, Mrs. O’Chanter. Umherziehende Kinderbanden sind für uns alle eine Plage. Ich werde Ihren Laden jedenfalls im Auge behalten.«

»Danke, aber das ist nicht nötig.«

»Kein Problem. Es wird mir ein Vergnügen sein«, fügte er mit einem anzüglichen Grinsen hinzu.

Dann drehte er sich um und ging hinaus. Rye wollte schon erleichtert aufatmen, als der Wachtmeister innehielt und sich auf dem Absatz umdrehte.

»Ach ja«, sagte er noch. »Wo ich schon mal hier bin. Die Begutachtung fängt zwar offiziell erst nächste Woche an, aber ich kann mich ja jetzt schon mal umsehen. Dann muss ich nicht noch einmal wiederkommen. Sie haben sicher keine Einwände, Mrs. O’Chanter.«

Der letzte Satz konnte unmöglich als Frage missverstanden werden.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Mrs. O’Chanter.

»Hervorragend.«

Der Wachtmeister schlenderte mit den Händen hinter dem Rücken durch das Geschäft, als würde er etwas kaufen wollen. Vor der Tür blieb er stehen und sah auf die Straße.

»Wie Sie wissen, ist es verboten, die Schweine auf der Marktstraße zu füttern. Darauf steht eine Strafe von zehn Bronzestücken.«

»Das ist Vogelfutter«, flüsterte Rye Mrs. O’Chanter ins Ohr.

Doch diese gab ihr zu verstehen, dass sie lieber still sein sollte.

Wachtmeister Boil lehnte sich hinaus und blickte mit seinen tränenden Augen über die Tür. Die anderen Geschäfte, die die Marktstraße säumten, waren verwittert und grau, mit langweiligen, nichtssagenden Schildern. Der Weidenladen war der einzige mit einer farbenprächtigen Fahne. Farben waren früher von gewissen skrupellosen Gestalten als Signale eingesetzt worden, und inzwischen sah es der Graf gar nicht gerne, wenn jemand anders als seine Schneider sie benutzten. An diesem Tag hing vor dem Laden eine tiefgrüne Fahne mit der weißen Silhouette einer Libelle.

»Die Fahne ist zu bunt«, sagte der Wachtmeister und zeigte auf die grüne Fahne über der Tür. »Fünfzig Bronzestücke.«

Fünfzig Bronzestücke! Ryes Ohren wurden wieder heiß.

Wachtmeister Boil kam zurück in den Laden. Er näherte sich Mrs. O’Chanter und betrachtete sie von Nahem, wobei er seine Staubflusen-Augenbrauen zusammenzog.

»Keine Frau darf ohne die ausdrückliche Erlaubnis des ehrenwerten Graf Longchance etwas Blaues tragen.«

Rye blickte auf das Band im Haar von Mrs. O’Chanter.

»Zwei Münzen«, sagte der Wachtmeister in strengem Ton. Dann lächelte er und entblößte seine stummeligen, gelben Zähne. »Und entfernen Sie es bitte.«

»Das hat er sich gerade ausgedacht«, flüsterte Rye wieder, ein wenig zu laut diesmal.

»Riley«, wies Mrs. O’Chanter sie flüsternd zurecht.

Rye kochte vor Wut. »Das ist –«

»Riley«, unterbrach Mrs. O’Chanter sie. »Bitte geh nach hinten und mach dort sauber, bis ich hier fertig bin.«

»Aber …«

»Sofort.«

Rye spürte, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Also drehte sie sich um und stapfte in Richtung Abstellraum. Als sie durch den Vorhang nach hinten ging, sah sie Boil und die Soldaten böse an. Aber kaum war sie draußen, drehte sie sich wieder um und lugte hinter dem Vorhang hervor.

Normalerweise schickte Mrs. O’Chanter sie nur nach hinten, wenn sie etwas vorhatte, das Rye nicht sehen sollte. Vielleicht würde sie den Wachtmeister und die Soldaten so zusammenstauchen, dass jeder auf der Marktstraße hören konnte, was sie in ihrem Laden trieben. Rye hoffte, dass sie sie auf die Straße jagen würde. Obwohl es gegen das von Longchance eingeführte Gesetz verstieß, wusste Rye, dass Mrs. O’Chanter unter ihrem Kleid ein Stiefelmesser an den Oberschenkel gebunden hatte. Sie nannte es Letzte Warnung. Rye hatte einmal zugesehen, wie sie eine Diebesbande damit in die Flucht geschlagen hatte. Einer von ihnen hatte dabei fast seinen Daumen verloren. Das war sehr lustig gewesen.

Doch stattdessen hörte sie Mrs. O’Chanter sagen: »Natürlich, Wachtmeister Boil.«

Rye runzelte die Stirn, als Mrs. O’Chanter das blaue Band entknotete und dem Wachtmeister reichte. Sie entfernte auch die Klammern, und ihr schwarzes Haar fiel ihr auf die Schultern, während Boil das Band in seine Jackentasche stopfte. Dann schloss Mrs. O’Chanter eine kleine Schatulle auf, nahm ein Säckchen heraus und ließ die Bronzestücke in seine Hand fallen.

Rye trat vom Vorhang weg und hockte sich frustriert in eine Ecke. Sie verschränkte die Arme, und ihre Ohren wurden vor Wut scharlachrot.

Ihre Mutter überraschte sie immer wieder.

DIE O’CHANTERS AUS DEM SCHLAMMTÜMPELWEG

Das Haus der O’Chanters war das größte im Schlammtümpelweg, was nicht hieß, dass es besonders geräumig oder schick war. Nur dass es drei Zimmer hatte anstatt zwei und einen Dachboden, den Rye nicht mehr betreten durfte, seit sie einmal durch die Falltür geplumpst war und beinahe ihre kleine Schwester zerquetscht hatte. Dort befand sich auch eine geheime Werkstatt, von der Rye eigentlich nichts wissen durfte, aber sie wusste es trotzdem.

Der Schlammtümpelweg lag am nördlichsten Zipfel der Stadt, recht weit von der Marktstraße und dem Weidenladen entfernt. Von hier aus konnte man das Salzmoor sehen und vom Dach, wo Ryes Taubenschlag stand, den Rand von Hinter dem Schiefer, wo sich hoch aufragende, jahrhundertealte Kiefern im Wind wiegten. Der Schlammtümpelweg war die einzige Straße außerhalb der schützenden Stadtmauern. Der Teil der Mauer, der sie eingeschlossen hatte, war vor Jahren bei einem Unfall zerstört und nie wieder aufgebaut worden. Aber Ryes Mutter hatte Mauern ohnehin noch nie ausstehen können.

Nicht vielen Menschen gefiel der Ausblick aufs Moor, und die meisten hätten lieber so weit wie möglich vom Waldesrand entfernt gelebt. Der Schlammtümpelweg galt als erste Anlaufstelle für hungrige Bestien, die zwischen den Bäumen hervorgekrochen, – geschlüpft oder – geschlängelt kamen. Die Nobolde waren die übelsten und bösartigsten unter ihnen. Von ihren zerklüfteten Zähnen und scharfen Krallen tropfte krank machender Eiter, der ihre Bisse vergiftete. Sie waren drei Köpfe größer als ein ausgewachsener Mann, hatten hervortretende, triefende Augen und verlauste, orangerote Haare, die überall dort wuchsen, wo sie nicht hingehörten. Wenn es im Winter am kältesten war, vergruben sie sich tief im Moor oder im Wattenmeer und konnten mehrere Monate ohne Nahrung auskommen. Im Frühling jedoch begann ihre Jagdsaison, zum Leidwesen von Moderfurt und seinen Bewohnern.

Rye war zu jung, um sich daran zu erinnern, wie das letzte Mal ein Nobold durch das Dorf gelaufen war, aber sie hatte die Geschichten gehört. Erst waren ein paar zurückgezogen lebende Waldbewohner und verirrte Reisende verschwunden, wofür man zunächst einen hungrigen Bären oder eine Meute Wölfe auf der Jagd verantwortlich gemacht hatte. Als Nächstes kam das Vieh von außerhalb liegenden Bauernhöfen an die Reihe, gefolgt von den Bauern selbst. Schließlich verschwanden Kinder aus dem Dorf, manchmal sämtliche Kinder aus einem Stadtteil. Keins von ihnen war je wieder aufgetaucht.

Zum Glück war das alles schon lange her. Trotzdem fragte Rye einmal, nachdem ihre Freundin Folly Flood ihr ein paar haarsträubende Geschichten erzählt hatte: »Mama, was ist eigentlich Hinter dem Schiefer? Können da keine Ungeheuer herkommen?«

Darauf hatte Abby O’Chanter geantwortet: »Riley, hast du jemals ein Ungeheuer aus dem Wald kommen sehen?«

»Äh, nein.«

»Siehst du«, hatte Abby gesagt und augenzwinkernd hinzugefügt: »Und wenn doch, würdest du nicht die Erste sein wollen, die es sieht?«

»Ja, stimmt«, hatte Rye zugegeben und war erst einmal beruhigt gewesen.

Als sie an diesem Abend beim Essen zusammensaßen, war Rye allerdings nicht sehr froh darüber, wo sie lebten. Sie war insgesamt eher unzufrieden. Mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Lottie saß sie an dem großen Tisch am Kamin und stocherte in dem weißen Fleisch zwischen den Krustentierschalen auf ihrem Teller herum. Ihr Platz war ungewöhnlich sauber. Wenn Rye hungrig war, sahen Tisch und Boden für gewöhnlich aus wie eine Speisekammer, die von Eichhörnchen geplündert worden war.

»Schon wieder Seespinnen?«, stöhnte Rye. »Können wir nicht mal was anderes essen?«

Seespinnen wurden jeden Morgen massenweise ans Ufer geschwemmt. Sie waren braun und grau, bis man sie in einen Topf mit kochendem Wasser warf. Dann kreischten sie, wurden rot und versuchten verzweifelt, aus dem Topf zu springen. Rye konnte nicht behaupten, dass sie der geisteskranken Person dankbar war, die die Seespinnen zum ersten Mal am Ufer erblickt und sie zu einer Moderfurter Spezialität erklärt hatte.

»Gackerball!«, rief Lottie aus und schlug mit dem Löffel auf den Tisch. Rye fragte sich, ob Lottie nach ihrem dritten Geburtstag wohl mit dem Wirbel, Lärm und Geschrei aufhören würde. Bis dahin war es nicht mehr lang, aber für Ryes Geschmack immer noch zu lang.

»Eier gibt es nur morgens«, klärte Abby sie auf. »Außerdem wirken die Hühner unruhig. Sie haben die ganze Woche keine Eier gelegt.«

»Oh-oh«, sagte Lottie, beugte sich über die große Krebsschere auf ihrem Teller und stocherte darin herum. Ihr wuscheliges rotes Haar stand in alle Richtungen ab wie die Flammen bei einem Scheunenfeuer. Es war ganz anders als das braune, kinnlange Haar von Rye oder das Haar ihrer Mutter, das dicht und schwarz war und ihr in langen Locken über den Rücken fiel.

»Und was dich betrifft …«, sagte Abby und zeigte mit dem Löffel auf Rye. »Sei froh, dass wir Seespinnen und Brot haben. Wir können es uns nicht leisten, jeden Abend Rindfleisch oder Huhn zu essen.«

»Könnten wir wohl«, murmelte Rye.

»Was soll das denn heißen?«

Rye biss sich auf die Lippe. »Gar nichts.«

Abby schien immer zu wissen, wenn Rye etwas auf der Seele lag. Und anstatt ihr eine Ohrfeige zu verpassen oder ihr zu verbieten, Widerworte zu geben, war Abby stets bemüht, ihr zu helfen. Es war nicht leicht, in Ryes Haut zu stecken. Abby schien das zu verstehen.

»Was ist los, Rye? Du bist schon den ganzen Tag schlecht gelaunt.«

»Es ist … wegen des Wachtmeisters. Er hat uns angelogen. Du wusstest genau, dass er sich die Hälfte der Gesetze bloß ausgedacht hat, und du hast nichts gesagt.«

Ihre Mutter nickte.

»Aber warum nicht?«, fragte Rye. »Er hat uns behandelt, als wären wir blöd.«

»Ich nicht blöd, ich Lottie«, sagte Lottie. Sie machte ein zorniges Gesicht und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Natürlich, Lottie«, sagte Abby und tätschelte ihren roten Schopf.

Dann sah sie Rye wieder an. »Das sind die Gesetze von Longchance, Riley. Du weißt genau, dass wir – Frauen und Mädchen – diese Dinge nicht wissen dürfen. Wir sollen weder lesen noch schreiben können.«

Es sei denn, man ist die Tochter von Longchance, dachte Rye. In dem Fall gelten die Gesetze nicht. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass an anderen Orten Mädchen und Frauen tun und lassen konnten, was sie wollten. Abby war an solch einem Ort aufgewachsen. Als Rye sie fragte, warum sie nicht dorthin zurückziehen konnten, antwortete Abby, dass das nicht so einfach wäre. Als sie sie erneut fragte, sagte Abby, dass es schlimmere Dinge gäbe, als nicht lesen und schreiben zu können. Beim dritten Mal schickte Abby sie weg, um die Wirre unter dem Weidenladen zu fangen.

»Dämliche Gesetze«, brummelte Rye, während ihre Ohren rosa anliefen.

»Die Gesetze sind dumm, altmodisch und grauenvoll und müssen geändert werden«, pflichtete Abby ihr bei. »Und wie du weißt, weigere ich mich, sie zu be–«

»L-O-T …«, fing Lottie an, ihren Namen zu buchstabieren. Abby zeigte auf sie, als wollte sie sagen: Siehst du?

»Aber«, fuhr Abby fort, »das heißt nicht, dass wir damit angeben sollten. Es nützt uns nichts, wenn der Wachtmeister oder irgendjemand sonst weiß, was wir wissen.«

»Aber du musstest Strafe zahlen.«

»Für die Begutachtung, Rye. Das Strafgeld wird für das Wohl des Dorfes eingesetzt«, sagte Abby, doch es klang, als würde sie selbst nicht daran glauben.

Auch Rye hatte den Eindruck, dass das Wohl des Dorfes vor dem Schlammtümpelweg haltmachte. Sie hatten nachts nicht mal Straßenlaternen wie in den anderen Teilen der Stadt.

»Es waren doch bloß ein paar Bronzestücke, Riley. Es könnte viel schlimmer sein. Denk daran, warum der Wachtmeister eigentlich in den Laden kam.«

Rye verschränkte die Arme. Ihre Mutter hatte absolut recht.

»Und jetzt hör auf, vor deiner Schwester über solche Dinge zu reden«, sagte Abby.

»Na gut. Aber wenn ich noch ein Stück von dieser Seespinne essen muss, wachsen mir selbst Scheren.« Rye runzelte die Stirn und schaute auf den hässlichen Schalentierkopf mit den Knopfaugen auf ihrem Teller.

»Wie du willst«, sagte Abby. »Dann gib es Shady.«

Shady Pelzpopo O’Chanter war das dicke schwarze Fellknäuel, das eingerollt neben dem Kamin lag. Aber alle nannten ihn nur Shady, weil das kürzer war. Er schlief so nahe beim Feuer, dass Rye Angst hatte, dass ein Funke überspringen und seinen buschigen Schwanz entzünden könnte. Zusammengerollt konnte man ihn leicht mit einem kleinen Bären verwechseln. Doch Shady war ein Kater, der größte und pelzigste Kater, den je ein Mensch gesehen hatte. Sein Fell war von solch einem satten Schwarz, dass es wie Samt glänzte, und er war so warm wie eine Wolldecke, wenn er sich an einem kalten Winterabend auf dem Schoß der Mädchen zusammenrollte. Shady war sich seiner eigenen Stärke nicht bewusst und steigerte sich oft so ins Spielen hinein, dass es wehtat. Alle Mitglieder der O’Chanter-Familie hatten Narben, um das zu belegen.

»Shady raus?«, fragte Lottie.

Beim Klang ihrer Stimme machte Shady ein großes gelbes Auge auf und war ganz Ohr, als hätte er verstanden, was die jüngere O’Chanter-Tochter gesagt hatte.

»Nein, nein, Lottie«, verneinte Abby und hob warnend den Finger. »Denk an Hausregel Nr. 2: Shady darf das Haus nicht verlassen

»Warum? Katzen gehen spielen«, sagte Lottie.

Und das stimmte. Die meisten Katzen streiften nachts durch die Straßen und Gassen des Dorfes und jagten Mäuse und Ratten.

»Zu gefährlich«, sagte Abby. »Nein, nein.«

»Nein, nein, nein«, ahmte Lottie sie nach und drohte Shady mit dem Finger. Dieser gab sich geschlagen, streckte sich und verschwand im Schatten.

»Ganz recht, Mädchen. Wie heißt die Regel? Sagt sie mit mir auf«, forderte Abby sie auf. Und das taten sie.

»Hausregel Nr. 2: Shady darf laufen, schlafen, prassen, aber nie das Haus verlassen.«

»Gut«, lobte Abby. »Shady, nimm deine Schnurrhaare aus meinem Wein.« Sie schob sein buschiges Gesicht von ihrem Glas weg.

Dann hoben sie ihre Gläser zum allabendlichen Trinkspruch.

»Nehmen wir an, was der Tag morgen bringt«, sagte Abby.

Sie trank Johannisbeerwein aus ihrem Lieblingskelch. Rye und Lottie tranken aus kleineren Bechern, die ähnlich aussahen wie ihrer, und hatten danach dicke Ziegenmilchbärte über den Lippen.

Lottie O’Chanter ins Bett zu bringen war kein leichtes Unterfangen. Es gab Geschrei und Wutausbrüche – und zwar in erster Linie von ihrer Mutter. Schließlich zog Lottie ihr Nachthemd an und kletterte in das Bett, das sie sich mit Rye in ihrem kleinen Zimmer hinten im Haus teilte. Aber sie wäre nie einverstanden, schlafen zu gehen, wenn sie wüsste, dass Rye noch aufblieb, also musste Rye ebenfalls ihr Nachthemd anziehen, zu ihr ins Bett steigen und so tun, als würde sie schlafen gehen.

Abby beugte sich über sie und gab jedem ihrer Mädchen einen Gutenachtkuss.

»Mona, Mona«, sagte Lottie und hielt ihr die abgenutzte Puppe hin, mit der sie jede Nacht ins Bett ging. Mona Monster war ein kleiner pinkfarbener Kobold mit roten Tupfen. Abby hatte sie selbst genäht und mit Stroh gefüllt, nachdem Lottie geboren worden war. Seitdem waren Mona und Lottie unzertrennlich.

Abby gab Mona einen Kuss auf den rosafarbenen Mund mit den großen Zähnen. »Zeit zu schlafen, Lottie.«

Lottie wollte, dass Rye Mona auch einen Kuss gab.

»Und jetzt schlaf schön«, sagte Abby. »Lass dich nicht von den Wanzen beißen.«

Lottie biss die Zähne zusammen und griff nach dem dünnen Lederband um ihren Hals. Daran hingen ein Glücksbringer in Form einer Libelle und ein paar Runensteine.

Dann berührte sie das Lederband, das ihre Mutter um den Hals trug und das genauso aussah wie ihres.

Abby lächelte. »Ja, ich habe auch eins«, sagte sie.

Rye trug ebenfalls ein identisches Lederhalsband. Tagsüber waren die Bänder unter der Kleidung der Mädchen versteckt. Sogar Shady hatte solch ein Band, und auch zu den Halsbändern gab es eine Hausregel.

Hausregel Nr. 4: Ob am Tag oder bei Nacht, nie wird das Halsband abgemacht.

»Pass gut darauf auf«, sagte Abby immer zu Rye. »Es ist der Glücksbringer der Familie O’Chanter und unserer Vorfahren. Es wird uns in finsteren Zeiten beschützen.«

»Zeit zu schlafen«, flüsterte Abby nun und legte Lotties Arm um Mona Monster.

Dann beugte sie sich zu Riley hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich muss noch mal raus und etwas erledigen. Du passt auf Lottie auf.«

»Gut, Mama«, sagte Rye. Abby blies die Bienenwachs-Kerze aus, und das Feuer im Kamin verbreitete gedämpftes Licht im Zimmer.

Lottie wälzte sich noch ein paarmal herum, trat Rye mit dem Fuß in den Bauch und streckte ihr ihren runden Po ins Gesicht, bevor sie endlich einschlief. Leise schlüpfte Rye aus dem Bett, ging in den Hauptraum des Hauses und setzte sich neben dem Ofen auf die angenehm duftenden Kräuter und Gräser, die ihre Mutter auf den Holzdielen verteilt hatte, um Insekten fernzuhalten.

Shady setzte sich auf ihren Schoß, und Rye kraulte seine großen Ohren, die sowohl außen als auch innen mit Fellbüscheln bewachsen waren. Diese ruhigen Zeiten, wenn sie alleine im Zimmer saß, nachdem Lottie eingeschlafen und Abby weg war, um irgendwelche Sachen zu erledigen, waren für sie am schwersten. Soweit Rye sich erinnern konnte, hatte Abby sich schon immer alleine um die Mädchen gekümmert. An ihren Vater konnte sie sich nicht erinnern. Abby hatte erzählt, dass er ein Soldat im Dienste des Grafen gewesen war. Vor zehn Jahren war er mit der Armee in das Gebiet Hinter dem Schiefer gezogen. Ein paar Monate lang hatten sie noch Nachrichten und Briefe von dort erhalten, doch irgendwann kam nichts mehr. Abby hatte nie mehr darüber erzählt, aber Rye war alt genug, um zu wissen, was das bedeutete.

Lottie war eine ganz andere Geschichte. Niemand schien zu wissen, wer ihr Vater war. Niemand außer ihrer Mutter natürlich. Und die sprach nicht darüber.

Sich allein um die Mädchen und das Geschäft zu kümmern war schwer, und Rye machte sich Sorgen um ihre Mutter. Abby verließ immer öfter nachts das Haus. Vielleicht half ihr die Nachtluft, ihre Gedanken zu ordnen. Abby sah es nicht gerne, wenn Rye nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumstreunte. Aber vielleicht hätte ihre Mutter gerne ein bisschen Gesellschaft. Rye gab Shady einen Kuss und setzte ihn auf den Boden.

»Du riechst nach Wein«, sagte sie und wischte ihm die Schnurrhaare ab. »Bleib hier.«

Sie warf ihren Umhang über und zog sich die Kapuze über den Kopf. Dann öffnete sie die knarrende Tür und schaute hinaus. Ihr Haus war umgeben von trostlosen grauen Gebäuden, aus denen ihre glänzende lila Tür herausstach. Die eingeschnitzte Libelle wechselte je nach Lichteinfall und Tageszeit die Farbe. Jetzt war sie schwarz, denn bis auf das schwache Licht, das die hauchdünne Mondsichel verbreitete, lag die Straße im Dunkeln.

»Du bleibst hier, Shady«, sagte Rye noch einmal und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Und weck Lottie nicht auf.«

Sie schloss vorsichtig die Tür hinter sich und schlich um das Haus. Die Ziege und die Hühner schliefen in ihrem Gehege. In der Ferne wurde das Moor lebendig, Nebelschwaden stiegen vom Wasser auf wie Geister. Doch ihre Mutter war nicht hinter dem Haus.

Rye stieg die Leiter zu ihrem Taubenschlag hinauf, um zu schauen, ob sie eine Nachricht bekommen hatte. Rye und Folly hatten den Tauben beigebracht, zwischen ihren Häusern hin- und herzufliegen, und manchmal schrieben sie sich gegenseitig Briefe, die sie den Vögeln an die Füße banden. Doch nach ein paar Stufen hielt sie mit klopfendem Herzen inne. Da oben war schon jemand.

Leise stieg sie die Leiter herunter und drückte sich an die Hauswand. Dann sah sie wieder hoch. Die Person trug einen Umhang, der so aussah wie ihrer. Es war ihre Mutter. Sie stand ganz still und sah zum Wald hinüber, der Hinter dem Schiefer lag. Es sah aus, als würde sie etwas beobachten … oder auf jemanden warten.

Abby schien sie nicht zu sehen. Rye hielt den Atem an und schlich auf Zehenspitzen zum Haus zurück, ganz langsam und leise. Da erklang plötzlich ein lautes, schreckliches Geräusch. Es war wie der Schrei eines wilden Tieres, aber auch wie das Wimmern eines Babys. Rye zuckte zusammen und hielt nach einem Versteck Ausschau. Das Geräusch war weit weg, aber nicht weit genug. Sie sah hoch. Ihre Mutter hatte es auch gehört. Sie beugte sich fast unmerklich nach vorne und spähte durch den Nebel.

Da erklang das Geräusch von Neuem. Rye hatte das Gefühl, als würden tausend Ameisen ihre Wirbelsäule entlangkrabbeln. Sie stolperte ins Haus, so schnell sie konnte, und knallte die Tür hinter sich zu.

GEREDE UND GEHEIMKAMMER

Rye und Quinn saßen auf dem Holzzaun vor Ryes Haus und sahen dem Treiben im Schlammtümpelweg zu.

»Hast du so was schon mal gesehen?«, fragte Rye und schlang die Beine um die Zaunlatten.

»Nicht seit dem Haifischschwarm im Fluss vor ein paar Jahren.«

Als die Dorfbewohner an diesem Morgen aufgewacht waren, lief ein Haufen wilder Truthähne durch die Straßen. Hunderte von Vögeln, mindestens sechs Schwärme, waren über Nacht aus dem Moor gekommen. Der Schlammtümpelweg wimmelte nur so von Menschen, die – mit Netzen und Äxten bewaffnet oder mit bloßen Händen – die durcheinanderstolpernden gefiederten Geschöpfe jagten. Solch eine Chance auf ein Festmahl ließ sich im Schlammtümpelweg keiner entgehen.

Die Krähen aus der Nachbarschaft schauten dem Treiben vom Dach eines Hauses aus missbilligend zu, als würden sie sich des unwürdigen Gebarens schämen.

»Glaubst du, sie werden was fangen?«, fragte Quinn.

»Ich glaub schon. Früher oder später«, antwortete Rye. Sie ließ sich nach hinten fallen und hing jetzt an Armen und Beinen am Zaun wie ein exotisches Tier, das sie einmal im Hafen gesehen hatte. Der Matrose, dem es gehörte, hatte Faultier dazu gesagt.

»Sollen wir es auch versuchen?«

»Meine Mutter hat gesagt, wir sollen es lassen. Sie ist heute Morgen schon früh in den Laden gegangen und hat Lottie mitgenommen. Irgendwas scheint sie zu beschäftigen.«

Rye fragte sich, wie viele Nächte ihre Mutter wohl schon auf dem Dach verbracht hatte. Hatte sie das gruselige Heulen aus dem Moor auch so erschreckt? Den Morgen über war Rye durch ihre häuslichen Aufgaben abgelenkt gewesen, aber die Nervosität ihrer Mutter und der Aufruhr auf der Straße hatten sie wieder an das unheimliche Geräusch erinnert.

»Hast du letzte Nacht was gehört?«, fragte sie Quinn.

»So laut, wie mein Vater schnarcht?«, fragte dieser spöttisch. »Ich kann nicht mal die Hähne krähen hören. Warum? Hast du was gehört?«

»Ich dachte, ich hätte einen Schrei gehört. Oder ein Weinen. Schwer zu sagen.«

»War das nicht Lottie?«

»Diesmal nicht.«

Einer von Ryes Nachbarn wollte sich auf einen Truthahn stürzen und fiel vornüber in den Matsch. Der große, ungelenke Vogel flatterte mit den Flügeln und landete auf dem Dach seines Hauses. Rye und Quinn prusteten los. Rye verlor vor Lachen den Halt, schlug mit den Beinen aus und trat Quinn gegen die Rippen, sodass sie ebenfalls beide auf dem Boden landeten.

»Hast du dir wehgetan?«, fragte Quinn und rieb sich die Seite.

Rye rollte herum und schnappte nach Luft. »Alles gut«, keuchte sie.

Die beiden sahen sich an, schauten dann zu den Truthahnjägern hinüber und fingen wieder an zu lachen.

Doch Rye wurde ernst, als sie darüber nachdachte, was die Truthähne wohl dazu gebracht hatte, aus dem Moor zu fliehen und stattdessen lieber zu riskieren, von den Dorfbewohnern verspeist zu werden.

»Die schaffen das nie«, sagte Quinn. »Komm, wir gehen was lesen. Ich hab eine Überraschung für dich.«

Neben dem Kamin hingen Bilder von Meerjungfrauen, Abenteurern und Ungeheuern an der Wand. Zwar war Abby sehr stolz auf ihre talentierten Töchter, doch ihre Kunstwerke hatte sie aus einem anderen Grund aufgehängt. Sie verdeckten eine Geheimtür, die sich öffnete, wenn man an der richtigen Stelle drückte. Diese Tür führte über ein paar flache Stufen in Abby O’Chanters geheime Werkstatt. Jedenfalls nahm Rye an, dass sie geheim war, denn ihre Mutter hatte sie ihr gegenüber noch nie erwähnt und sie hatte sie auch noch nie hineingehen sehen. Abby hatte Rye auch nie verboten, die Werkstatt zu betreten, theoretisch verstieß sie also nicht gegen irgendeine Hausregel. Trotzdem würde Rye ihrer kleinen Schwester nichts davon erzählen. Lottie machte die besten Verstecke kaputt.

Rye und Quinn saßen an dem schweren Holztisch, der fast den gesamten winzigen, eingesunkenen Raum ausfüllte, und bemühten sich, weder die Werkzeuge noch die halb fertiggestellten Schmuckstücke in Unordnung zu bringen. Shady lag zu einem großen schwarzen Knäuel zusammengerollt unter dem Tisch. Ohne ihn hätte Rye niemals von der Werkstatt erfahren. Eines Tages hatte sie nämlich gesehen, wie Shady am Boden schnüffelte und mit der Pfote an Lotties Bild von Mona Monster in einem Prinzessinnenkleid kratzte. Und plötzlich war er vor ihren Augen in der Wand verschwunden, als hätte sie ihn verschluckt. Erstaunlich, welche Überraschungen das eigene Zuhause bereithalten konnte.

Rye und Quinn saßen im Laternenschein und hatten die Köpfe in ein dickes Buch gesteckt, in Tams Buch der Lügen rund um die Moder-Mündung, Teil II. Quinn erzählte, dass der zornige Dichter den Band nach der Verfolgungsjagd aufgehoben hatte, ihn aber in einem Schornstein verstecken musste, bevor er hinunterkletterte und die Fragen des Wachtmeisters beantwortete. Quinn hatte es auf sich genommen, das Buch vor brütenden Vögeln und Kaminfeuer zu retten. Rye war beeindruckt. Sonst taten so was nur Folly und sie selbst.

»Was macht der Dichter wohl, wenn er merkt, dass das Buch nicht mehr da ist?«, fragte Quinn.

»Keine Ahnung«, sagte Rye. »Er hat uns sicher nicht erkannt, deshalb wird er kaum an unsere Tür klopfen. Und er wird es nicht riskieren, das Buch als vermisst oder gestohlen zu melden. Deshalb glaube ich nicht, dass er es irgendwem erzählen wird.«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Quinn und kaute auf der Lippe.

»Wir sollten es sicher aufbewahren«, sagte Rye. Und so viel darin lesen wie möglich, dachte sie.

»Kann sein«, sagte Quinn.

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