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Die unendliche Reise der Aubry Tourvel

Als Buch hier erhältlich:

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Lassen Sie sich diese Chance nicht entgehen und erkunden Sie gemeinsam mit Aubry die Welt und das Leben. Dieses Buch ist das beste Beispiel dafür, dass Bücher jede Reise ermöglichen.

Ende des 19. Jahrhunderts: Die 10-jährige Pariserin wird plötzlich von einem mysteriöses Leiden heimgesucht. Sie kann nie länger als drei, in Ausnahmefällen fünf Tage, an einem Ort bleiben. Bis zu ihrem Tod mit 70 Jahren bereist sie die Erde jahrzehntelang zu Fuß. Dabei erlebt sie unendlich viele Abenteuer und trifft Menschen, die ihr sehr viel bedeuten.

Unter anderem durchquert sie die Wüste und lernt ihre erste Liebe kennen. Auf geheimnisvolle Weise bezwingt sie den Himalaya. Auf ihrer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn trifft sie ihre große Liebe, verliert sie und findet sie Jahre später wieder. Aubry tanzt mit den amerikanischen Ureinwohnern um das Feuer. Die Zeit mit dem indischen Prinzen Surasiva lehrt Aubry, dass es sich nicht lohnt, in der kurzen Zeit, die sie zusammen haben, unglücklich zu sein, sondern die Zeit, die ihnen bleibt, unvergesslich zu machen. Marta, die Aubrys Freundin wird und sie lange Zeit auf ihrer unendlichen Reise begleitet, kommt dem Geheimnis von Aubrys Leben sehr nahe, das am Ende jedoch nur von Aubry selbst entschlüsselt werden kann.

Dieses Buch ist eine einzigartige Abenteuerlektüre, Eskapismus vom Feinsten. Spannend bis zum Schluss mit einer sympathischen Protagonistin, deren Mut gepaart mit Klugheit zutiefst berührt und begeistert! Perfekte Sommerlektüre 2024!


  • Erscheinungstag: 25.06.2024
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004852

Leseprobe

1

Ein Marktplatz

sonne

Das Papier ist rein und weiß – sie hat noch keinen Strich gezeichnet –, und als der erste Tropfen Blut fällt und einen kleinen roten Fleck auf der Seite hinterlässt, erstarrt sie. Ihr Bleistift schwebt unschlüssig in der Luft. Ihr Herz versetzt der Brust einen zusätzlichen Schlag. Sie lässt den Bleistift fallen. Ihre Hand schnellt reflexhaft an die Nase. Sie spürt, wie ihr die Nässe in die Nebenhöhlen kriecht, schmeckt die salzige Flüssigkeit hinten in der Kehle. Noch ist es ein Tröpfeln, kaum mehr als normales Nasenbluten, doch in wenigen Momenten wird es ungleich schlimmer sein – und das ausgerechnet hier, nachdem sie sich gerade gesetzt hat.

Es ist zu früh. Es ist Pech. Sie hatte gehofft, heute in einem echten Bett zu schlafen, nicht in einer Hängematte oder auf dem harten Boden, und am Morgen ein Bad zu nehmen, ein anständiges Bad mit warmem Wasser und mit Seife. Sie hatte gehofft, noch mehr Dinge in ihr Buch zeichnen zu können, Zunder, Feuerstein oder Papier – aber wie soll das gehen? Ein Blatt Papier auf ein Blatt Papier zu zeichnen, sodass andere es sehen und sagen: »Aha, verstehe. Ein Blatt Papier.«

Sie hatte gehofft, etwas vom Essen kosten zu können. Schau dir diesen Markt an – eingelegter Taro, gedämpfte Krabbenscheren, Curry-Garnelen in einer Hülle aus Tofu. Nein, damit wird sie warten müssen, auf eine andere Gelegenheit, auf einen anderen Markt. Die Liste von Dingen, die sie nicht tun kann, ist noch viel länger – welche Liste ist das nicht? –, aber sie hat keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Das Bad kann warten. Ein Bett wird sich woanders finden. Die Liste ist verschwunden. Höchste Zeit, dass sie hier wegkommt.

Aber dieser Markt ist voller Leben, die Leute freundlich und der Fluss ganz nah, eine glänzende Tränenspur durchs Grün, es wimmelt nur so von bunten Skiffs und Fischerbooten, die sie rasch und völlig mühelos hier wegbefördern können. Schließlich ist sie in Siam, einem wasserreichen Teil der Welt, Dschungel überall, wo der Regenfall die Jahreszeiten vorgibt. Schon als sie zum ersten Mal einen Fuß in dieses Land gesetzt hatte, wusste sie, dass Flüsse ihre Fluchtwege sein würden.

Dieser alte Mann, der Fisch verkauft – ein so gütiges Gesicht, wettergegerbt, und doch noch Funkeln in den Augen. Er wird ihr helfen. Hastig schlingt sie ihre Tasche über die Schulter, klemmt sich ihr Buch in die Armbeuge. Schnappt sich ihren Gehstock, der so hoch ist wie sie selbst, und eilt durch die blauen Rauchfäden der Duftstäbchen und Holzkohle. Vorbei an Fischhändlern und Tuchverkäufern und Tischen aus Bambus. Der alte Mann raucht eine lange, dünne Opiumpfeife, und um ihn her sind Ständer voller Trockenfisch, luftgetrocknetem Kalmar und Tintenfisch – alles, was früher einmal nass war, hängt jetzt hier zum Trocknen, und der Alte hockt zwischen den Gestellen wie ein eingesperrter Vogel. Zwar spricht sie die Landessprache nicht, doch die Franzosen haben Kolonien im Norden und die Briten Einfluss weiter südlich.

»Bitte«, fragt sie in ihrem akzentschwangeren Englisch, »ein Boot? Wissen Sie, wo ich hier ein Boot finde? Ich brauche ein Boot.«

Der Alte versteht nichts. Er hatte sie zuvor gar nicht bemerkt, und als er aufblickt, steht sie plötzlich da, der größte Mensch auf diesem Markt, mit dunkelblondem Haar und blauen Augen, der nun jäh über ihm aufragt. Mit ihrem Gehstock in der Hand, lang und gerade, wirkt sie majestätisch, wie eine ehrwürdige buddhistische Nonne oder die Tochter eines Kaisers. Nichts an ihr deutet auf den Westen hin – kein Korsett, keine Schleifen, kein hoher Spitzenkragen, nur einheimische Stoffe und der Strohhut eines Arbeiters –, doch sie wird hier niemals in der Menge aufgehen, nicht auf diesem Markt und nicht in diesem Land, wo sie mindestens einen Kopf größer ist als alle anderen.

Sie sieht den verdutzten Ausdruck im Gesicht des Alten. Lächelt, um ihn aus der Deckung zu locken. Sie fügt sich nur selten irgendwo ein. Versucht es kaum noch. Ihr Äußeres zieht neugierige Blicke auf sich und Unmengen von Fragen. Das ist ihre beste Strategie, Leute kennenzulernen, doch bei diesem Alten funktioniert sie nicht.

Er fängt an, in einer Sprache, die sie nicht versteht, wild auf sie einzureden. Etwas an ihm ist plötzlich anders. Das passiert andauernd. Er hält sie für eine reiche Ausländerin statt für eine arme, erst recht nicht für jemanden, der in den letzten drei Wochen in den Baumkronen des Dschungels übernachtet und in abgelegenen Flüssen gebadet hat. Er will ihr einen Stock mit getrockneter Seebrasse verkaufen. So wie er herumfuchtelt, probiert er wohl, ihr seinen ganzen Stand anzudrehen. Beunruhigt zieht sie eine Braue in die Höhe. Sie hat sich in diesem Mann getäuscht. Ihr Instinkt hat sie im Stich gelassen. Das geschieht nur selten, aber wenn es passiert, dann ist es regelrecht verstörend. Ihrem Instinkt, ihrer Fähigkeit, einen Fremden mit einem oder zwei beiläufigen Blicken abschätzen zu können, verdankt sie, dass sie so lange überlebt hat.

Und dann bricht der Schmerz über sie herein – ein furchtbarer, bösartiger Schmerz, ein heulender Schmerz, wie wenn einem ein Nagel durch einen faulen Zahn getrieben wird. Er fährt ihr jäh durchs Rückgrat, von der Schädelbasis bis hinunter in den Steiß. Sie erschaudert wie durch einen Stromstoß, spannt den Rücken an, presst sich alle Schlaffheit aus den Knochen. Der Alte hört jetzt auf zu plappern, sieht ihre Züge kalt und blass werden, sieht, wie ihre Lippen stumme Wörter formen. Er hat Angst, dass sie hier vor ihm zusammenbricht. Aber sie bricht nicht zusammen. Schreit nicht einmal vor Schmerzen auf. Sie beißt die Zähne aufeinander, strafft den ganzen Leib und humpelt rasch zum nächsten Stand, ein kantiges Hinken ist jetzt unverkennbar.

»Ein Boot!«, brüllt sie in die Menge. Viele drehen sich nach ihr um. Niemand versteht sie. »Ein Boot, ein Boot, ein Boot …« Fast singt sie die Worte, während sie vorbeihumpelt an Händlern und deren Ständen, als würde sie den an Land Gebliebenen von einem sinkenden Schiff aus Rettungsleinen zuwerfen. Wieder ein stechender Schmerz, und die ersten Funken Panik stieben ihr durchs Hirn.

Sie wendet sich an eine Frau an einer Feuerstelle, die in einem Eisenwok ein gelbes Curry rührt. Sie schlägt ihr Buch auf der frisch mit einem Blutstropfen verzierten Seite auf. Nicht einfach mit all den Muskelzuckungen.

Die Seiten wimmeln nur so von kleinen Zeichnungen, Hunderten davon, eine Sammlung nützlicher Dinge – Bananen, Betten, Sonnenschirme, Pferdekutschen, Nadel und Faden, Lokomotiven, Ziffernblätter und Kerzenleuchter. Mit bebenden Händen blättert sie die Seiten durch, bis sie eine kleine Bleistiftskizze eines Bootes findet, ja einer ganzen Reihe verschiedener Boote und Schiffe sogar – Segelboote, Dampfschiffe, Luxusliner und Kanus, damit ja keine Verwirrung aufkommt.

»Ein Boot? Bateau?«

Die Frau reagiert nicht. Spricht man hier womöglich Kantonesisch? China ist nicht weit entfernt. In China war sie erst vor einem Monat, jedenfalls kommt es ihr so vor, hat sich dort mit einer abgewetzten Machete durch den Dschungel geschlagen. Jetzt ist sie hier, im Süden, und bettelt am Ufer eines Flusses um ihr Leben.

»Chuan?«

Die Frau regt sich noch immer nicht, gafft sie nur an. Kennt sie das einheimische Wort? Sie hat schon ein paar Begriffe aufgeschnappt. So weit hat sie vorausgedacht. Touk? Oder etwa nicht?

»Touk?«

Doch statt zu antworten, statt irgendeine Art pantomimischer Unterhaltung mit ihr zu beginnen, wie die Leute es normalerweise tun, lässt die Frau ihren großen Holzlöffel ins Curry fallen und weicht schweigend zurück.

Jetzt weiß sie, dass sie wirklich übel aussehen muss. Schaut aufs Taschentuch in ihrer Hand. Es ist durch und durch rot. Die Marktgeräusche sind immer dumpfer geworden, nach und nach, wie unter Wasser, was nur heißen kann, dass sie nun auch aus den Ohren blutet, und natürlich ist ihr Mund schon voller Blut. Sie kann es schmecken, leckt sich über die Zähne, und es sammelt sich auf ihren Lippen. Dann, zu ihrer Schande, weiß sie, dass es ihr die ganze Zeit schon übers Kinn gelaufen ist. Sie muss einen grauenvollen Anblick bieten.

Der Schmerz wird heftiger, ihr ganzer Kopf ist jetzt ein frei liegender Nerv, eine schartige Klinge, die von innen ihre Schädeldecke ausschabt. Sie spürt einen furchtbaren Druck auf ihren Augäpfeln, und der lange Nagel, der sich durch ihr Kreuz bohrt, fährt ihr jäh ins linke Bein. Sie unterdrückt einen Schrei. Beim Gehen schleift sie ihr linkes Bein nun wie ein totes Tier hinter sich her.

Sie wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Schmiert sich dabei nur noch mehr Blut über die Wangen. Sucht das Marktgetümmel nach Fischern oder Fährleuten ab, nach irgendwem, der sie hier fortbringen kann. Reckt ihr Bild von einem Boot empor, sodass alle es sehen können.

»Boot! Bateau! Chuan!«

Niemand hilft ihr, aber sie starren sie an, gefesselt und verängstigt. Sie sieht tollwütig aus, rasend. Wie jemand, der nicht mehr zu retten ist. Wozu braucht eine Todkranke überhaupt ein Boot? Um darin zu sterben? Als schwimmenden Sarg, in den sie ihren Leichnam betten kann? Würden sie ihr Boot denn je zurückbekommen? Und sie kann es ihnen nicht erklären, denn das ist eine Sprache zu viel. Sie hat doch schon so viele gelernt – Hindi, Spanisch, Mandarin und Kantonesisch, sogar noch mehr, sogar ein paar Brocken Tscherkessisch, Herrgott noch mal –, aber sie kann sie nicht alle lernen.

Dann hört sie – ja, das ist es – Englisch hinter sich, irgendwo in der Menge, ein leises, helles Stimmchen.

»Mama, diese Lady braucht Hilfe!«

Sie fährt herum und sieht das Kind, ein kleines, goldblondes Mädchen oberhalb der Masse, über einem Meer aus schwarzem Haar und Kegelhüten, als würde es dort schweben, in einer strahlend weißen Bluse und einem Trägerkleidchen – aber nein, tatsächlich sitzt die Kleine auf jemandes Schultern, nah genug, um sie zu sehen, zu weit entfernt jedoch, um ihr zu helfen. Briten? Amerikaner? Die werden sie verstehen. Wie um ihr zu winken, hebt sie ihre rotfleckige Hand, doch einen Moment später hat das Marktgewirr das Mädchen schon wieder verschluckt.

Ein neuer Schmerz, ein Geier tief in ihrem Uterus, der sich ins Freie hackt. Sie krümmt sich zusammen, sinkt auf die Knie. Mit einem fürchterlichen Hustenkrampf speit sie so viel Blut zu Boden, dass die Menge ringsum schlagartig die Luft anhält und zurückweicht.

Der Hut rutscht ihr vom Kopf, ihr Gehstock fällt polternd zu Boden. Sie versucht, ihre Atmung in den Griff zu kriegen – vorsichtig, denn selbst der kleinste Atemzug löst in ihrer Kehle jetzt ein Würgen aus. Sie hebt ihr Buch und ihren Gehstock wieder auf, schmiegt beides eng an ihre Brust. Den Hut lässt sie liegen. Der Hut ist unwichtig. Sie kann sich einen neuen Hut besorgen. Sie müht sich auf die Beine, wischt den Mund ab, nähert sich den Männern in den Booten dort am Ufer, die gerade Fisch ausladen, Melonen und Kochbananen feilbieten. Sie sehen sie kommen, sehen das Blut, ihr Taumeln. Würden fliehen, können aber nicht, sind gefangen in der Masse aus verkeilten Booten.

»Je dois avoir un bateau, s’il vous plait …«, sagt sie.

Manche Fischer zeigen mit dem Finger auf sie. Andere scheuchen sie davon. So etwas haben sie noch nie gesehen, diese Krankheit. Sie torkelt am Flussufer entlang, und die Menge teilt sich vor ihr.

»Irgendjemand muss doch … bitte …«

Sie erzittert, ihr eigenes kleines Erdbeben. Menschen klettern fieberhaft die Uferböschung hinauf, um ihr aus dem Weg zu gehen. Manche flüchten in den Fluss, knietief im Schlamm, schenkeltief im Wasser. Jetzt ist niemand mehr vor ihr, und sie steht auf einem Steg, der sich an den Booten vorbei hinaus ins Wasser zieht.

Eine Fähre hat gerade abgelegt, tuckert flussaufwärts davon, dicke schwarze Rauchwolken quellen aus dem Schornstein. Und über dem Motorenlärm ist wieder diese Stimme, das Rufen eines kleinen Mädchens.

»Kommen Sie! Hierher!«

Sie schaut sich um und sieht zwei blonde Kinder, ganz in Weiß gekleidet – ausgerechnet Weiß, ein makelloses Lammwollweiß –, die ihr vom Heck der Fähre zuwinken.

»Hier!«, kreischen sie. »Wir helfen Ihnen!«

Sie schwankt und wäre fast wieder gestürzt, doch dann reißt sie sich zusammen, kämpft gegen den Schmerz an und bietet ihre letzten Kräfte auf. Prescht über den Steg, den Gehstock fest umklammert. Sie rennt, und als sie das Stegende erreicht, hält sie nicht an oder bremst ab, sondern hechtet in den trüben Fluss. Springt und schwimmt mit all der ihr verbliebenen Kraft los, um dieses Fährschiff mit dem mächtigen Dampfmotor noch zu erreichen. Und alle auf dem Marktplatz strömen zum Ufer, um ihr dabei zuzuschauen.

Die Menge hält den Atem an, die Kinder feuern sie an. Sie schwimmt und schwimmt und holt die Fähre ein, bevor sie richtig Fahrt aufnehmen kann, den Gehstock noch immer in der Hand, ihre Tasche hinter sich im Schlepptau. Verblüfft von ihrer Leistung, strecken die Leute auf der Fähre ihre Hände aus und zerren sie an den Achseln zu sich hoch aufs Schiff.

Dann liegt sie rücklings auf dem Deck, klatschnass, in einer Pfütze aus Flusswasser und dünnem Blut. Presst ihren Gehstock fest an sich, so wie Nonnen ihre kleinen goldenen Kreuze. Schaut empor zu ihren Rettern, ihren Mitreisenden. Keuchend fragt sie: »O mon dieu … Fahren wir? Sind wir in Bewegung?«

Die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, starren auf sie herab, und deren Vater, ein Berg von einem Mann mit neuseeländischem Akzent, kniet neben ihr. Er sagt: »Jaja. Wir fahren schon.«

Erleichterung. Entspannung. Kein Blut mehr, nicht aus ihrer Nase, den Lippen oder Ohren. Der Schmerz ist schon verflogen. Sie kann wieder atmen.

»Dieu merci«, sagt sie und lächelt. »Ich bin unterwegs.«

2

Ein Flussschiff in Siam

sonne

Die Holcombes haben schon viel gesehen auf ihren Reisen – Seen aus Säure, Narbentätowierungen, ganze fermentierte Schwalben auf dem Boden ihrer Suppenschüsseln –, doch diese kranke Frau ist ganz oben auf der Liste der Geschichten, die sie zum Besten geben werden, wenn sie wieder heimkommen. Keine dreißig, doch ihrem Aussehen nach schon viel gereist, ist sie blutüberströmt über einen Markt getaumelt, dann in voller Montur in einen Fluss gesprungen, nur um wundersam geheilt wieder herauszusteigen, jede Krankheit, die sie womöglich in sich trug, wie weggewaschen.

Jetzt lehnt sie über Bord, zieht ihre Kleidung durchs Wasser, schrubbt das Blut heraus, bevor sie sie zum Trocknen über die Reling hängt. Wie durch ein Wunder sind die Sachen in ihrem Rucksack völlig trocken. Ein Kniff, den sie einmal aufgeschnappt hat, erzählt sie, es liege an der Art und Weise, wie man den Beutel aus Robbenfell zusammenfalte und verschließe. Doch sie denken: Das ist gewiss kein Trick, den man in Indochina aufschnappt. Wo sollte man in Siam denn schon Robbenfell bekommen?

Ihr Buch ist ganz durchnässt. Man hatte es zwar aus dem Fluss gefischt, doch die Seiten waren aufgeweicht und nicht mehr zu retten. Wie traurig, war es doch voller kostbarer kleiner Zeichnungen, für die sie so lange gebraucht hat, kleine Skizzen von Scheren und Briefen, Schuhen und Eiern. Die Kinder sind besorgt, doch sie seufzt nur auf und tut es achselzuckend ab. Es ist nicht das erste Mal, sagt sie. Sie wird oft nass, wie es scheint. Sie sagt, dass sie ein neues Buch anfängt, sobald sie das Papier dafür bekommt.

»Kommen Sie aus Neuseeland?«, fragt sie Emily Holcombe, die Mutter der Kinder. Ihr Mann ist mit den Kindern zum Teeverkäufer hinab in die Kajüte gegangen, um etwas zu trinken zu besorgen. »Ich liebe Neuseeland. Das war ein Land, von dem ich wünschte, ich hätte es nie verlassen müssen.«

Emily ist jung für eine zweifache Mutter, viel jünger als ihr Ehemann. Ihre Kleidung – langes Kleid, lange Ärmel, hoher Kragen – ist für das Wetter mehr als ungeeignet, modisch jedoch der letzte Schrei. Sie ist ein Produkt der westlichen High Society, und dennoch reist sie hier auf einem ganz normalen Fährschiff, zusammen mit den Einheimischen, schippert mit ihnen durch den Dschungel.

»Was führt Sie nach Siam?«, fragt die Frau in ihrem akzentbeladenen Englisch.

Emily starrt sie wortlos an, weiß nicht recht, was sie erwidern soll.

»Ich … Mein Mann ist hier geschäftlich unterwegs. Textilien …«

»Ist das ein guter Ort dafür?«, fragt sie, als wäre nichts gewesen.

»Sie waren voller Blut.«

»Das war ich.«

»Ich … wir alle dachten, dass Sie sterben würden, dort mitten auf dem Markt.«

»Ich bin aber nicht gestorben.«

»Aber Sie hätten sterben können.«

»Ja, das hätte ich wohl, schätze ich. Die Sache kommt und geht. Ich muss Sie fürchterlich erschreckt haben.«

»Nun ja, mit anzusehen, wie jemand vor einem verblutet, ist tatsächlich etwas Furcht einflößend.«

»Aber nun sitze ich in einem Schiff, das den Fluss hinunterfährt, und alles ist gut.«

»Ist es das?«

»Ja.«

Da fallen Emily diese Artikel in der Zeitung ein. Denn wie alle Briten, die im Ausland leben, liest sie bei jeder Gelegenheit in ihrer Muttersprache – Zeitungen von zu Hause, die London Times, Zugfahrpläne, alles, was sie in die Finger bekommt. Als sie die Frau erkennt, stockt ihr unwillkürlich kurz der Atem.

»Sie … Sie sind diese … Sie sind diese Lady aus Frankreich … Audrey …«

»Aubry Tourvel.«

Aubry reicht ihr die Hand, und als Emily Holcombe sie ergreift, erschaudert sie vor Aufregung ein wenig, dem Nervenkitzel, jemandem die Hand zu schütteln, über den die London Times und der New Zealand Herald schon geschrieben haben. Sie kann kaum erwarten, es den Kindern zu erzählen, oder besser noch ihrem Mann, der es wahrscheinlich mehr zu würdigen weiß.

Aber gerade als Emily noch etwas sagen möchte, findet ihre Unterhaltung ein abruptes Ende. Ihr Mann und die zwei Kinder kehren zurück, in den Händen Tee und Teller mit Schalottenpfannkuchen.

Die Kinder heißen Sophie und Somerset. Aubry hat sich bei allen an Bord dafür bedankt, dass sie sie aus dem Fluss gezogen haben. Hat dem Kapitän den vollen Fahrpreis gezahlt. Doch zweifellos waren es im Grunde diese beiden, die ihr das Leben gerettet haben. Es sind entzückende Kinder – höflich, warmherzig –, Kinder, die auf ihre Eltern hören und dennoch nicht so folgsam sind, dass sie nicht gebrüllt und ihr gewunken hätten. Obwohl Aubry sie nicht für Zwillinge hält, vermag sie kaum zu sagen, wer von ihnen älter ist – älter als acht oder neun Jahre kann keiner von beiden sein. Sie kommen strahlend auf sie zu.

»Bitte sehr! Wie haben Ihnen etwas mitgebracht«, sagt Somerset.

»Geht es Ihnen gut? Sie sehen gut aus! Viel besser als vorher«, sagt Sophie.

Die Kinder sind so hingerissen, dass sie ihr, so scheint es, am liebsten auf den Schoß klettern würden. Ihr Vater bellt: »Zurück! Zurück, habe ich gesagt! Ihr seid zu nah! Alle Mann fünf Schritte zurück!«

»Aber Vaughan«, sagt Emily, »das ist diese französische Lady, die aus den Zeitungen.«

»Wer?«

»Die Lady, von der wir gelesen haben. In der Zeitung.«

Doch das verwirrt ihn nur. Sein Kopf schnellt hin und her, als wüsste er nicht, welchem Übeltäter er sich zuerst zuwenden soll. »Alle … alle … zurückbleiben!«

Vaughan Holcombe ist ein großer Mann mit breiten Schwimmerschultern und kurz geschorenem, grau meliertem Haar. Äußerst gut aussehend, denkt Aubry, in seinem etwas abgewetzten Tweedanzug. Sie kann unmöglich etwas gegen einen so attraktiven Mann haben, der seine Kinder derart gut erzogen hat. Er stellt eine Tasse Tee und einen Teller Pfannkuchen neben ihr auf die Bank, und erst hält sie es für eine zuvorkommende Geste, doch als sie den Kopf hebt und ihm ins Gesicht schaut, sieht und spürt sie nur noch die rohe Kraft seines wutfunkelnden Blickes.

»Die anderen hier mögen ja Ihre Bewunderer sein, aber ich weiß nicht das Geringste über Sie«, blafft er. »Was war das da vorhin? TB

»Nein.«

»Malaria? Diphtherie? Typhus?«

»Nichts in der Art.«

Sie hört, wie die Geduld aus seiner Stimme weicht. »Wie genau hat es sich denn angefühlt?«

Aubry will seine Geduld nicht strapazieren. Sie möchte ihm nur ehrlich antworten, also sagt sie: »Es war, als wäre eine riesige Hand herabgefahren und hätte mir das Leben aus dem Leib gequetscht«, was es gut trifft, sich aber dumm anhört. Das ist nicht, was er hören will. Sie weiß es schon, als sie es sagt.

Er stiert sie eine Weile an, stumm und ungerührt. Sie fragt sich, was man mit Verrückten hier in Siam anstellt.

»Ich habe es dir doch erzählt, Vaughan«, sagt Emily. »Die französische Dame aus der Zeitung. Seit Sie ein junges Mädchen sind, bereisen Sie die Welt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Sie sind schon einmal um die Welt …«, spornt Emily sie an.

»Ja.«

»Um die ganze Welt?«, hakt Sophie nach.

»Mehrmals.«

»Allein?«, fragt Somerset.

»Nein, nicht allein. Nicht immer. Gerade reise ich mit euch.«

Mr. Holcombe schüttelt den Kopf. Er weiß nicht recht, was er von alldem halten soll. Schlimmer noch, seine Empörung wurde durch harmloses Geplauder ausgebremst. Emily fährt unverdrossen fort. »Ich bin Emily Holcombe, und das ist mein Mann Vaughan, und das hier sind meine Kinder, Sophie und Somerset …«

»Das reicht, aufhören! Alle aufhören!«, unterbricht sie Vaughan mit einer Stimme wie ein knirschendes Getriebe. Er müht sich nach Kräften, keine Szene zu veranstalten. »Drei Dörfer weiter wütet eine Choleraepidemie, und ihr schnattert hier herum wie Schulkinder auf einem Pulverfass. Was ist das für eine … eine Sache, die Sie haben?«

Plötzlich schämt sie sich. Aubry senkt den Blick, starrt hinunter auf die Planken. Sie ist ausgedeutet und gescholten worden, als wäre sie wieder ein Schulmädchen, und auch andere Passagiere gaffen sie jetzt an. Doch was noch schlimmer ist: Sie hat es sich mit ihrer Sorglosigkeit selbst eingebrockt.

»Ich weiß es nicht«, antwortet sie ihm.

»Sie wissen es nicht?«, fragt er mit großen Augen.

»Niemand weiß es.«

»Dann sollten Sie verdammt noch mal nicht in der Öffentlichkeit damit herumrennen, oder?«

»Es ist meine Krankheit«, erwidert sie leise mit gesenktem Kopf. »Allein meine. Ich habe noch nie jemanden angesteckt, und niemand hat mich angesteckt.«

Das – diese Erklärung, diese Unterwerfung, was immer es auch sein mag – raubt Vaughans Stimme jede Feindseligkeit. Stille breitet sich aus. Man hört immer noch das Rattern des Motors, das Geschwätz der Einheimischen, das Brodeln und Grollen der Schiffsschraube unter ihnen – doch in ihrer kleinen Gruppe ganz hinten auf dem Deck Stille. Emily und ihre Kinder würden gerne Aubrys Hand halten und sie trösten. Selbst Vaughans breite Schultern sind erschlafft. Doch Aubry traut sich nicht, ihnen ins Gesicht zu schauen.

»Oh, Vaughan«, rügt ihn Emily. »Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast.«

Sophie beugt sich vor, so tief, dass Aubry sie gar nicht übersehen kann, dort an ihrem Ellbogen, von wo sie zu ihr hoch lugt wie eine kleine Gartenfee. »Waren Sie auf Tahiti?«

Sie hebt Aubrys Laune, dieses kleine Mädchen, dem es gleich ist, wer hier auf wen wütend ist, das nur einfach etwas wissen möchte. Aubry ist so froh, von so aufgeweckten Kindern gerettet worden zu sein.

»Ja.«

»Haben Sie schon mal irgendwelche Berge bestiegen?«, will Somerset wissen.

»Ich habe viele Berge bestiegen.«

»Haben Sie schon mal eine Wüste durchquert?«

»Ja, und auch Prärien und Meere und Sümpfe und Urwälder.«

»Außerordentlich«, staunt Emily Holcombe.

»Aber ist das nicht überaus gefährlich?«, fragt Sophie.

»O ja. Überaus gefährlich.«

»Wieso machen Sie es dann?«

Sie wirft Mr. Holcombe einen zaghaften Blick zu, will ihn nicht erneut in Rage bringen, doch er steht nur da wie eine Marmorstatue, mit verschränkten Armen, als erwarte er von ihr eine Erklärung. Wenn er eine Erklärung will, denkt Aubry, dann verdient er sicherlich auch eine. Aber die Kinder haben sie noch mehr verdient.

»Nun, ich könnte es euch erzählen, aber wie ich sehe, interessiert es euch gar nicht.«

Die Kinder protestieren: »Nein, nein! Es interessiert uns! Es interessiert uns!« Und das in einem derart lauten, einstimmigen Chor, dass sie ihre Stimmen gar nicht auseinanderhalten kann.

»Aber es interessiert euch gar nicht wirklich«, wiederholt sie mit gespielter Enttäuschung.

»Doch, doch! Es interessiert uns wirklich.«

»Nun, immerhin habt ihr mich ja aus dem Fluss gezogen. Vielleicht nach einem Schluck von meinem Tee.«

Die Kinder beugen sich gespannt nach vorn. Aubry greift nach ihrer Tasse und nimmt einen übertrieben langen Schluck.

»Hmm, das war gut«, schwärmt sie. »Vielleicht noch einen.«

Sie nimmt einen weiteren, diesmal noch viel größeren Schluck. Den Großteil ihres Lebens über ist sie allein, folgt einem schmalen, einsamen Pfad durch unbewohnte Steppen, an Küstenlinien entlang oder über karge Berggipfel. Aber hin und wieder hat sie das Glück, ein wenig Zeit mit einer Familie zu verbringen, einer Sippe Anverwandter, die sie an zu Hause erinnern. Gespannt warten sie auf ihre Geschichte, flehen sie mit ihren Blicken an. Selbst Vaughan setzt sich auf die Bank neben seine Frau, um sie ausreden zu lassen.

Als sie ihren langen, theatralischen Schluck genommen hat, schaut sie sich verschmitzt um und sagt: »Ich bin für immer von zu Hause fortgegangen, als ich neun war.«

Was sie auch tatsächlich getan hat – an der Hand ihrer Mutter, in Begleitung ihrer ganzen Familie, die sie mit hängenden Köpfen in ein Hotel brachte, weil sie nie wieder eine Nacht zu Hause schlafen konnte.

»Wo ist Ihr Zuhause?«, fragt Somerset.

»Paris.«

»Haben Sie es sich dort geholt?«, will Vaughan wissen.

»Von einem Brunnen.«

»Einem Brunnen?«

»Ich glaube schon. Genau kann ich es zwar nicht sagen, aber ich glaube, es war ein Brunnen.«

»Verunreinigtes Wasser«, merkt Vaughan an.

»Man darf kein dreckiges Wasser trinken«, kommentiert Somerset kopfschüttelnd.

»Nein, ich habe nicht daraus getrunken«, widerspricht sie.

Sie schauen sie verdutzt an. »Was haben Sie denn dann gemacht?«, fragt Sophie.

Also erzählt sie es ihnen.

3

Zu Hause

sonne

Der Brunnen war kein gewöhnlicher Brunnen. Er war aus glattem grauem Stein gehauen, kein wahllos gesammelter und aufgetürmter Haufen wie bei einem Dorfbrunnen, sondern er bestand aus wenigen großen Steinen, so glatt gemeißelt wie ein Flussbett und so dicht gemauert, dass keine Nähnadel dazwischenpassen würde. Doch sie waren nicht nur so behauen, dass sie aneinanderpassten. Die Brunnenkante war, von oben betrachtet, zu einem Gesicht geformt – mit zwei weißen, gemeißelten Augen auf der einen und einem winzigen Bärtchen auf der anderen Seite, und der runde Brunnenrand bildete den Mund, komplett mit Lippen und mit Zähnen. Dieser Mund formte ein perfektes »O« – ein Schrei? Ein Hilferuf? Ein Ungeheuer aus der Tiefe, das emporspringt, um kleine Kinder mit Haut und Haaren zu verschlingen? Der Anblick war schrill, wenn nicht skurril, und vielleicht sogar ein wenig teuflisch – doch die Schwestern liebten ihn.

Jede von ihnen hielt ein kostbares Geschenk in den Händen. Pauline, die älteste der Schwestern, hatte eine Goldkette, die sie sich mit acht von ihrer Mutter geliehen hatte. Wie alles, was sie sich von ihrer Mutter borgte, war es mit der Zeit zu ihrem Eigentum geworden. Sie hatte die Kette zu einem eleganten Fest getragen, das ihre Eltern einst gegeben hatten, dann zur Kirche in der darauffolgenden Woche und dann wieder zur Hochzeit ihrer Cousine. Sie hielt sich für eine Belle-Époque-Schönheit und verehrte die Mode ihrer Zeit. Höchstwahrscheinlich bestand sie nicht aus echtem Gold – ihre Mutter hätte ihr kaum etwas Wertvolleres anvertraut als einen guten Hut –, und doch war sie Pauline ans Herz gewachsen, und nun hielt sie die Kette zum letzten Mal in Händen.

»Das ist dafür, dass die Sozialisten endlich aufhören, in Amtsgebäuden Bomben zu legen«, sagte Pauline und streckte die Hand aus. Sie warf einen letzten Blick auf ihre Kette, die in der Sonne funkelte, dann ließ sie los.

Die Kette fiel hinab, vorbei an den Lippen und den Zähnen, verschwand lautlos in dem langen schwarzen Schlund. Sie spitzten die Ohren. Das Platschen war kaum hörbar. Hatte es überhaupt geplatscht? Selbst als sie es zu hören glaubten, waren sie sich nicht sicher.

Als Nächstes war Sylvie an der Reihe, die mittlere Schwester, in deren schlaffer Hand eine zerlumpte Stoffpuppe baumelte. Sie besaß andere Puppen, mit denen sie mehr spielte, doch dies war ihre allererste. Sie war so alt, dass Sylvie sich nicht erinnern konnte, wo die Puppe einmal hergekommen war. So wie ihre Eltern, ihr Schlafzimmer oder ihre Zehen unten an den Füßen war sie einfach immer da gewesen. Aber jetzt war sie zehn Jahre alt. Die Puppe saß schon so lange auf ihrem Schlafzimmerregal und setzte Staub an. Sie würde sie vermissen, gewiss, doch sie wusste auch, dass die Puppe eine gute Opfergabe abgeben würde.

»Die ist dafür, dass Dr. Homais endlich sein Heilmittel gegen Syphilis findet«, sagte Sylvie. Sie streckte die Hand aus, brachte es aber nicht übers Herz, die Puppe loszulassen. Die Puppe erwiderte ihren Blick. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Aber sie würde Dr. Homais nicht enttäuschen. Und was noch wichtiger war, sie würde sich von ihren Schwestern bestimmt nicht übertrumpfen lassen.

Sie schloss die Augen, wandte den Kopf zur Seite. Ihre Finger lösten sich, und die Puppe schwebte sanft wie Schnee hinab. Sie lauschten. Diesmal gab es ein Geräusch, doch nicht das, was sie erwartet hatten – es klang nicht nach Wasser, sondern eher wie ein Bündel Federn, das auf einen großen Gong prallte. Was war eigentlich auf dem Grund dieses Brunnens? Und wieso stand er überhaupt hier, versteckt in einem Hinterhof zwischen leer stehenden Pariser Mietshäusern? Es war reiner Zufall gewesen, dass sie ihn eines Tages auf dem Heimweg von der Schule hier entdeckt hatten – und Sylvies Puppe hatte nun den Preis dafür gezahlt.

Als Letztes war Aubry an der Reihe, die Jüngste von den dreien. Reglos stand sie da, ihre Gabe fest an die Brust gepresst, und starrte hinunter in den Schlund des Brunnens. Sie sagte kein Wort.

»Hallo?«, drängte Sylvie.

Aubry rührte sich noch immer nicht.

»Was wünschst du dir?«, wollte Pauline wissen.

»Dass Madame von Binghams Baby nicht an seiner Krankheit stirbt«, erklärte Aubry ihnen.

»Ooooh. Das ist gut«, sagte Sylvie.

»Aber ich will meinen Rätselball nicht wegwerfen.«

Erst vor einer Woche hatte sie ihn gefunden. Er hatte auf dem Gartenweg eines Toten gelegen. Als sie von der Schule heimgelaufen war, hatte sie ein Pferdefuhrwerk vor dem Haus stehen sehen, von dem sie stets geglaubt hatte, dass es schon seit Langem leer stand. Aber es hatte gar nicht leer gestanden – zwei Männer trugen jemanden auf einer Bahre heraus, zugedeckt mit einem weißen Tuch. Eine Kinderschar aus ihrer Schule hatte sich auf der anderen Straßenseite versammelt, und Aubry gesellte sich zu ihnen.

»Wer war das?«, fragte sie.

»Meine Mama sagt, es war ein alter Mann, der nie das Haus verlassen hat«, antwortete ein Klassenkamerad. »Sie sagt, dass er kein Französisch konnte und deshalb nie rausgekommen sei.«

»Er kam aus Afrika«, erwiderte ein anderer.

»Woher in Afrika?«

»Keine Ahnung. Afrika eben.«

»Du Knallkopf«, blaffte eins der älteren Mädchen. »Er war aus Amerika.«

»Da habe ich aber was anderes gehört«, entgegnete das älteste der Kinder, ein Junge, der sonst für seine Schweigsamkeit bekannt war.

»Was hast du denn gehört?«

»Dass er irgendwo anders herkam.«

Eins der kleinsten Kinder zuckte die Achseln und sagte: »Jetzt ist er tot.«

Sie standen da und schauten zu, bis der Wagen mit dem Leichnam weggefahren war.

Am nächsten Tag, als sie den gleichen Weg nach Hause nahm, fiel ihr das Haus wieder ins Auge. Alles war verriegelt, die Gardinen zugezogen, es schien so leer und leblos wie ein ausgenommener Fisch.

Dann sah sie den Ball. Er lag reglos auf dem Weg vor den paar Stufen, die zur Haustür führten, als wäre er ganz von selbst herausgerollt. Sie hatte von diesen Holzschuhen gehört, die man in Holland trägt, und dachte sich, wer will denn schon so ungemütliche Dinger anziehen? Doch da stand sie nun und starrte auf den Holzball und wunderte sich, was irgendjemand wohl mit einem Ball aus Holz anfangen würde?

Es war ein windiger Tag, mit Böen, die das Sonnenlicht in Fetzen durch die Bäume flackern ließen. Der Wind fegte über die Straße, und ein Stoß musste den Ball erfasst haben, denn er rollte auf sie zu, nur einen Zentimeter oder zwei. Aubry stand wie angewurzelt da und sah etwas verwundert zu.

Der Wind schien ein- und wieder auszuatmen. Der Holzball rollte erst ein kleines Stückchen und dann noch eins. Bald war er durch den halben Vorgarten gekullert und steuerte direkt auf ihre Füße zu. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es kam ihr falsch vor, den Ball einfach an sich zu nehmen. Es fühlte sich wie Diebstahl an, auch wenn sein Besitzer – wer auch immer er gewesen war und von welchem Erdteil er auch stammte – nicht mehr lebte. Doch der Ball rollte auf sie zu, ganz von allein. Es war eine Einladung, wie sie im Buche stand. Sie spähte die Straße auf und ab, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete, und schnappte sich den Ball.

Unschlüssig, was sie mit einem Holzball anfangen sollte, kugelte sie ihn über den Boden und kickte ihn die Straße entlang. Es war ein schmutziges, verstaubtes Ding, doch nachdem sie ihn einmal ins nasse Gras geschossen hatte, sah er anders aus. Gesäubert und von Nahem betrachtet, konnte man eine ganze Reihe flacher Holzplättchen erkennen, glatt geschliffen, glänzend lackiert und mit Rillen, entlang derer sich die Kugel in jede Richtung drehen ließ. Sie war eigentlich ganz hübsch.

Doch hübsche Sachen hatten Aubry noch nie sonderlich beeindruckt. Da sie immer noch nicht wusste, was sie mit dem Ding anstellen sollte, versetzte sie ihm einen Tritt, pfefferte es in Madame Roussels Hinterhof und vergaß es auf der Stelle wieder.

Am nächsten Morgen, als sie gerade Richtung Schule aufbrach, lag der Ball am Rande ihres Vorgartens, an der Ecke zwischen Gartenweg und Gehsteig, als hätte er die ganze Nacht auf sie gewartet. Irgendjemand musste ihn in ihren Vorgarten geschossen haben, so wie sie es bei Madame Roussel getan hatte. Sie hob ihn auf und nahm ihn mit zur Schule. Dort angekommen, warf sie ihn auf den Spielplatz. Er schien eher für einen Spielplatz gemacht als für Straßen und Trottoirs.

Auf dem Heimweg kam ihr Ranzen ihr ein wenig schwerer vor als sonst – nicht viel –, vielleicht lag es auch gar nicht am Gewicht, sondern an der ungewohnten Wölbung, die sie spürte. Sie hielt an, um nachzuschauen.

Der Rätselball. In ihrem Ranzen. Wer hatte ihn da reingetan? Was für einen Streich wollte man ihr spielen?

Sie wandte sich an Sylvie. »Warst du das?«

»Was soll ich gewesen sein?« Sie schien tatsächlich von nichts zu wissen. Dann ging Aubry zu Pauline und zeigte ihr den Ball.

»Und du?«

»Wovon redest du?«

»Irgendjemand hat den in meinen Schulranzen gesteckt.«

Sie kamen näher, um ihn sich in Aubrys ausgestreckter Hand genauer anzusehen.

»Er ist hübsch«, sagte Pauline. »Behalte ihn doch.«

Aubry aber meinte nur: »Du kannst ihn haben«, und legte ihn, als sie nach Hause kamen, auf Paulines Fensterbank.

Als sie an jenem Abend schlafen ging, lag er wieder da, mitten in ihrem Zimmer auf dem Boden. Sie zerrte alle in ihr Zimmer – erst Sylvie, dann Pauline, dann auch ihre Eltern. Deutete auf einen nach dem anderen, drohte mit dem Finger. Alle beteuerten ihre Unschuld. Keiner wusste, wie der Ball dorthin gekommen war. Irgendjemand wollte sie hereinlegen, ganz sicher. Die anderen jedoch schienen zu glauben, dass es Aubry war, die ihnen einen Streich spielte.

Da sie das Ding nicht loswerden konnte, versuchte sie stattdessen, es zu öffnen. Sie gab sich wirklich Mühe, drehte und zerrte an den verschiedenen Ebenen, schob Rille gegen Rille. Aubry drosch den Ball aufs Kopfsteinpflaster und probierte, ihn mit einem Küchenmesser aufzubrechen. Die ganze Woche über plagte sie sich ab, doch was immer sie auch anstellte, er wollte partout nicht aufgehen.

Eines Morgens fand Pauline die Zeitung ihres Vaters auf dem Frühstückstisch und fing an zu lesen. »In der Welt passieren so viele schreckliche Dinge«, sagte sie, tief bestürzt über die Schlagzeilen. »Es ist 1885! Man würde meinen, die Menschen müssten es besser wissen! Wir müssen tun, was wir können, um all das aufzuhalten.«

»Wie denn?«, wollte Sylvie wissen.

Pauline dachte darüber nach. Sie war die älteste der Schwestern und auch die schlauste. Wenn jemand eine Antwort darauf wusste, dann sie. »Erinnert ihr euch noch an den Brunnen, den wir gefunden haben?«

»Ja.«

»Das ist ein Wunschbrunnen, nicht wahr? Wir könnten ihm ein Opfer darbringen.«

Aubry war von der Idee begeistert. »Ja!«, rief sie und wusste auch sofort, was sie weggeben würde.

»Sie meint dich!«, kreischte Sylvie.

»Ich meine nicht sie!« Pauline funkelte Sylvie böse an. »Das ist abscheulich! Ich meine … so wie früher. Ich meine, wir sollten Dinge opfern, die uns wichtig sind, jede von uns, um zu zeigen, dass wir die Zukunft sehr, sehr ernst nehmen.«

»Aubry ist uns wichtig«, erwiderte Sylvie, die nicht ganz verstanden hatte, was Pauline eigentlich sagen wollte.

»Wir opfern Aubry nicht!«, stellte Pauline mit Nachdruck klar.

Am Tag des Opfers brachte Aubry ihren Rätselball mit, den Rätselball, der sich noch nicht geöffnet und seine Geheimnisse preisgegeben hatte, aber nun, als sie vor dem offenen Mund des Brunnens stand, war es eben dieses Nichtwissen, das den entscheidenden Unterschied machte.

»Wir haben alle zugestimmt, Aubry«, sagte Pauline. »Es muss etwas Wichtiges sein, sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung.«

Das ergab Sinn. Irgendwelchen Plunder in den Brunnen zu schmeißen, würde gewiss nicht funktionieren. Es musste etwas von Wert sein. Genau das war der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Opfer. Frag Kain. Frag Abel. Und was könnte wertvoller sein als Paulines Goldkette oder Sylvies älteste Puppe oder – wie sich nun herausstellte – Aubrys Rätselball?

Wie war er in ihren Ranzen gekommen? Und in ihr Zimmer? Sie war sich sicher, dass er ein Geheimnis barg, das sie noch lüften musste. Wenn sie ihn jetzt fortwarf, würde sie es nie herausfinden. Plötzlich wünschte sie, sie hätte irgendetwas anderes mitgenommen – ihre Spielzeugmaus, ihr Lieblingskleid, ihr kleines Fernglas –, nur nicht das hier. Sie hatte das Gefühl, als wäre die ganze Sache hier nur eine Falle, in die man sie gelockt hatte, so wie dieses alberne Ding sie zu verfolgen und ihr ständig Ärger zu bereiten schien.

Pauline und Sylvie starrten sie an. Sie hatten ihren Beitrag geleistet. Es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Sie erwarteten Großes von Aubry oder zumindest nicht so etwas Kindisches.

»Aber … das ist Unsinn!«, platzte Aubry heraus und stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Mein Rätselball fällt in den Brunnen, verrottet da unten, und ihr Baby wird trotzdem sterben! Das ergibt keinen Sinn!«

»Es ist ein Wunschbrunnen!«, schrie Pauline. »Es muss in Erfüllung gehen!«

»Ein Wunschbrunnen, du weißt schon«, wiederholte Sylvie leise.

Aubry spürte, wie ihr die Tränen kamen, den Kloß in ihrem Hals, die Mischung aus Scham und Wut. »Nein! Das ist unsinnig!« war alles, was sie herausbrachte. Es war unentschuldbar, aber sie rannte davon, den Rätselball noch immer eng an ihre Brust geschmiegt.

4

Ein Flussschiff in Siam

sonne

»Ist das Baby gestorben?«, fragt Sophie.

Aubry antwortet nicht, eine ganze Weile lang. Sie ist nicht mehr auf diesem Fährschiff mit den Holcombes, sondern weit weg in ihrer Kindheit, die lange vergangen ist. Die Holcombes drängen nicht auf eine Antwort. Sie warten geduldig, wissen, dass manche Dinge ihre Zeit brauchen, um ausgesprochen zu werden – sofern sie überhaupt jemals ausgesprochen werden.

»Ja.« Das Wort scheint ihr ganz beiläufig herauszurutschen, leise, abwesend, als wäre es gar nicht gesprochen worden. Die Holcombes schweigen weiter.

Sie holt Luft, strafft den Rücken, ohne auch nur einmal von den Planken aufzublicken.

Noch ein Schluck Tee, dann spricht sie weiter. »An diesem Abend bin ich zum ersten Mal krank geworden.«

5

Zu Hause

sonne

»Ich glaube, ich kann das nicht essen«, sagte sie.

Ihre Mutter warf einen Blick auf Aubrys Teller. Die Zubereitung dieser Zwiebelsuppe hatte sie fast den ganzen Tag gekostet. Sie gab sich große Mühe mit dem Abendessen. Das tat sie immer, und wie immer hatte ihr jüngstes Kind darüber nur die Nase gerümpft.

Einige Monate zuvor hatte man ihre Mutter in die Schule einbestellt, weil Aubry einen Streit mit ihrem Lehrer angefangen hatte. Ihre arme Mutter hatte noch nie von einer Neunjährigen gehört, die sich mit einem Erwachsenen anlegte – geschweige denn mit einem Lehrer –, Aubry jedoch war das gelungen. Sie hatte ihn unfähig genannt, es ihm offen ins Gesicht gesagt. Alle würden schummeln, hatte Aubry ihm erklärt, und irgendwie schaffte es dieser unfähige Lehrer, die herumgereichten Spickzettel nicht zu sehen oder die Schüler, die anderen mit stummen Lippenbewegungen die Antworten vorsagten. Mindestens fünf Mitschülerinnen und Mitschüler, die sich die Lösungen auf ihre von Röcken und Hemdsärmeln verdeckten Oberschenkel und Arme gekritzelt und ständig abgeschrieben hatten, waren völlig unbehelligt geblieben. Aubry war die Einzige, die nicht betrogen hatte – und war dafür mit der schlechtesten Note bestraft worden. Wie könne er das rechtfertigen, wollte Aubry mit einer gelupften Augenbraue von ihm wissen. Sie verlangte eine Erklärung. Sie forderte Gerechtigkeit!

Der Lehrer hatte sich in einer Weise an die Mutter gewandt, die im Grunde sagen sollte: Bitte unternehmen Sie etwas wegen Ihres Kindes. Sie entschuldigte sich für Aubrys Unverfrorenheit. Was hätte sie sonst sagen sollen? Es war höchste Zeit für Aubry, zu lernen, dass sie es mit Aufsässigkeit im Leben nicht weit bringen würde.

Es dauerte Monate, bis Aubry ihr verziehen hatte.

»Gütiger Gott«, konnte man ihre Mutter sagen hören. »Und das schon mit neun Jahren.«

Als ihr Vater sah, wie sie den Teller von sich wegschob, war er sogar noch wütender. Drei Töchter, doch immer war es Aubry, die Scherereien machte. Pauline, die Älteste, war gewissenhaft und fleißig, die beste Schülerin der Klasse. Sie hatte Ziele, die für ihr Geschlecht recht ungewöhnlich waren, und sogar gute Chancen, diese zu erreichen. Sylvie war still und weichherzig. Schon bevor sie laufen lernte, hatte sie gewusst, dass man mit anderen teilen sollte. Lieber würde sie ihr Lieblingsspielzeug wegschenken, als zuzusehen, wie ein Klassenkamerad ganz leer ausging. Sie war am leichtesten großzuziehen und, offen gesagt, auch das liebenswerteste der Kinder.

Doch Aubry war ein Albtraum. Wenn auch die hübscheste der Schwestern, so war sie doch ebenso die starrköpfigste und stolzeste. Alles, was sie besaßen – das Haus, die Möbel, die Fülle von Essen auf edlem Porzellangeschirr –, erschien ihr völlig selbstverständlich. Noch vor wenigen Tagen hatte sie in einem Warenhaus einen Aufstand gemacht, weil ihre Mutter sich geweigert hatte, ihr ein Kleid zu kaufen.

»Aber du hast mir ein Geschenk versprochen!«, schrie Aubry.

»Aber muss es genau hier sein? Und genau jetzt?«

»Du hast es mir versprochen!«

Oder in der Kirche, wo Aubry immer auf der Bank herumwippte, zappelte und seufzte, um selbst dem Letzten noch zu zeigen, wie gelangweilt sie war. Ihren Eltern war die Schamesröte ins Gesicht gestiegen.

Doch dann waren ihre Schwestern heute Nachmittag auch noch wütend heimgekommen, weil Aubry eine Abmachung nicht eingehalten hatte. Ihr Vater hatte endgültig genug. Sie war verzogen – keine Frage –, und er musste unbedingt etwas dagegen tun.

Er spannte den Kiefer an und sagte: »Aubry, es reicht! Das ist das letzte Mal, dass du …«

Doch ein Blick in ihr Gesicht genügte, und seine Wut erlosch wie Funkenschlag im Wasser. Sie war kreidebleich. Ihre Hände zitterten, und sie konnte nichts dagegen tun.

»Was ist los?«, fragte er.

»Es geht mir nicht gut« war alles, was sie herausbrachte.

Ihre Eltern sahen erst einander an und dann wieder Aubry.

»Ist es dein Bäuchlein?«, erkundigte sich die Mutter.

»Es ist alles«, sagte sie.

Erst ächzte sie, dann stöhnte sie auf. Ihre Schultern zuckten, ein Arm schlug auf den Tisch und brachte das Besteck zum Klirren. Sie erzitterte, wurde stocksteif, erbebte abermals. Alles ging so schnell, war derart unerwartet. Und alles, was ihre Familie tun konnte, war, zuzuschauen.

Sie fiel vom Stuhl. Ihr Vater, der die Notlage zuerst begriff, hechtete hinüber und fing sie auf, bevor sie auf den Boden schlug. Ihre Mutter und Schwestern fuhren wie vom Blitz getroffen hoch. Aubry lag in den Armen ihres Vaters, ihr kleiner Körper wand sich in Krämpfen.

»Papa, darf ich mich irgendwo hinlegen?«, fragte sie mit leiser und bebender Stimme, als wäre sie wieder drei Jahre alt.

»Ja, gewiss doch«, antwortete der Vater. Da trug er sie bereits ins Nebenzimmer.

»Pauline«, sagte die Mutter, »zieh dir die Schuhe an. Beeil dich und hol sofort Dr. Homais.«

Die Luft selbst schien erfüllt von Panik. Pauline wirbelte herum, bis ihr einfiel, dass ihre Schuhe immer an der Tür standen. Laut vor sich hin murmelnd und fahrig mit den Händen rudernd, folgte die Mutter Aubry und dem Vater ins Zimmer nebenan.

Sylvie, noch immer am Esstisch, stand einfach da, völlig überfordert.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie in den leeren Raum hinein.

Ihr Vater bettete Aubry aufs Sofa im Salon und strich ihr liebevoll durchs Haar. Maman eilte an ihre Seite.

»Ist es im Liegen besser?«, fragte die Mutter.

»Ein bisschen«, sagte sie, doch dann durchfuhr sie ein erneuter Krampf. Ihr Vater strich ihr weiter durch die Haare. Er streichelte sie zur Beruhigung, sagte zärtlich »Schsch!«, denn im Grunde seines Herzens war er ein sehr sanfter Mensch – doch der Schmerz sah furchtbar aus. Aubry wand sich wie ein Seil, trat wahllos um sich.

»Mal sehen, was sich finden lässt«, sagte er und hastete zum Küchenschrank, um nach Medizin zu suchen.

Pauline stand noch immer in der Tür und schaute zu, wie ihre Schwester sich vor Krämpfen krümmte, so verstört, dass sie ihren Auftrag längst vergessen hatte. Dann, als wäre sie geohrfeigt worden, riss sie sich los und rannte jäh hinaus, um Dr. Homais zu alarmieren.

Aubry rang nach Luft. So viel Kraft für derart flache Atemzüge, als läge ein tonnenschwerer Amboss auf ihrer kleinen Brust. Ihr Körper krampfte sich so heftig zusammen, dass man befürchtete, ihre Knochen würden brechen. Mit Tränen in den Augen eilte die Mutter zu ihr, barg sie fest in ihren Armen, damit sie nicht in Stücke riss.

Dann hörte es plötzlich auf. Aubry war ganz steif, aber die Krämpfe waren verschwunden. Sie konnte sie hören, rings um sich herum, all diese von Angst erstickten Stimmen.

»Mutter«, flüsterte sie mit großen, bangen Augen, »was ist das?«

Doch ihre Mutter konnte sie nur an sich drücken, ihr beruhigend zuraunen und ihr Dinge versprechen, von denen sie hoffte, dass sie sie auch würde halten können.

»Schsch … Das werden wir herausfinden und dich wieder gesund machen. Schsch!«

Eine weitere Abfolge von Zuckungen suchte sie heim, und Aubry stöhnte auf. Ihre Luftröhre schien wie zugeschnürt, die Lunge ohne Luft. Ihre Arme und Beine krümmten und verrenkten sich, die Finger krampften sich zu Klauen. Ihre entsetzte Mutter hielt sie fest im Arm und weigerte sich, sie loszulassen, spürte, wie ihr kleines Mädchen bebend gegen ihre Brust schlug, hörte, wie es ihr so lange die Kehle zuschnürte, bis ihre Augen sich verdrehten und sie das Bewusstsein verlor.

6

Zu Hause

sonne

Als Aubry aufwachte, lag sie in einer Kutsche, in Decken gewickelt und in den Armen ihrer Mutter. Die Nachtluft fühlte sich kühl an. Sie vernahm das Hufgeklapper auf der Pflasterstraße. »Fahren wir irgendwohin?«, fragte sie ihre Mutter. Oh, wie ihre Mutter plötzlich lächelte. »Wir bringen dich zu Dr. Homais’ Praxis.«

Aubry sah auf, und da war er, saß ihnen in der Droschke gegenüber, Dr. Homais persönlich, ein beleibter Herr mit Brille, roten Wangen und ein paar letzten grauen Haaren auf dem sonst schon kahlen Schädel.

»Hallo, Aubry«, sagte er. »Ich bin Dr. Homais. In meiner Praxis habe ich alle nötigen Instrumente und Medikamente. Ich werde mich sehr gut um dich kümmern.«

»Es geht mir schon besser«, sagte sie. Wenn jemand anderes das gesagt hätte, wäre es wohl reine Höflichkeit gewesen, aber Aubry meinte es ernst. Es ging ihr schon besser, sogar ohne Dr. Homais’ Instrumente und Medikamente.

»Das ist gut, Aubry«, sagte ihre Mutter, die es nicht verstand. »Sehr gut.«

Als sie in Dr. Homais’ Praxis ankamen, ging es Aubry gut. Der Arzt untersuchte sie gründlich und konnte nichts Ungewöhnliches finden. Für den Fall, dass die Symptome wiederkehrten, warteten sie noch eine Stunde ab. In der Zwischenzeit schlug Dr. Homais in seinen Büchern nach, und Aubry saß beinebaumelnd auf dem Untersuchungstisch und las ebenfalls in seinen Fachbüchern, deren grausige Abbildungen sie faszinierten. Ihre arme Mutter saß in einer Ecke und ließ den Blick schweifen – musterte erst Aubry und spähte dann aus dem Fenster im dritten Stock hinaus aufs nächtliche Paris, das sanft im Schein der Gaslaternen dalag.

»Ihre Symptome waren also … mal sehen …« Dr. Homais sah in den Notizen nach, die er sich gemacht hatte, blickte zwischen ihnen und seinen Lehrbüchern hin und her. »Unkontrollierte Muskelspasmen … Kurzatmigkeit … unmäßiges Schwitzen, war das auch dabei?«

»Oh, es war furchtbar, Doktor«, klagte ihre Mutter. »Wir sind in Panik geraten!«

»Ja, verstehe.« In seiner Stimme lag ein Hauch von Skepsis, der auch den Tourvels nicht ganz verborgen blieb. Doch das war kaum von Belang. Schließlich wussten sie, was sie gesehen hatten, und es war grauenvoll gewesen.

Eine Stunde später, noch immer auf dem Untersuchungstisch, langweilte sich Aubry. Sie ließ die Beine nicht mehr baumeln, stattdessen begutachtete sie Dr. Homais’ medizinische Gerätschaften.

»Die Sache ist die«, sagte Dr. Homais, der neben ihrer Mutter saß, ganz leise, damit Aubry sie nicht hören konnte, was sie dennoch gut vermochte, »insofern sie diese Symptome nicht hier an Ort und Stelle zeigt, habe ich im Grunde nichts zu untersuchen, keine Möglichkeit, eine Prognose zu stellen. Verstehen Sie?«

»Das verstehe ich«, versetzte ihre Mutter resigniert.

Also zogen sie ihre Mäntel an, bestiegen eine Kutsche und wurden wieder heimgeschickt. Dr. Homais begleitete sie, misstrauisch, aber zurückhaltend. Aubry war weder in Decken gehüllt, noch lag sie in den Armen ihrer Mutter. Es ging ihr gut, und ja, in Anbetracht der späten Stunde und allem, was sie durchgemacht hatte, war sie nicht einmal sehr müde.

Doch als die Kutsche in die altbekannten Gassen ihres Viertels bog, begann ihre Haut plötzlich zu kribbeln. Ihr Magen fing an zu rumoren – nicht schlimm, doch ihr Körper zog sich bereits zusammen, und sie machte sich insgeheim auf Schlimmeres gefasst, nur für den Fall.

»Fahren wir nach Hause?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ihre Mutter.

»Ich kann es spüren.«

Als die Kutsche vor dem Haus zum Stehen kann, wollte sie nicht aussteigen.

»Komm schon«, drängte ihre Mutter. »Freust du dich denn nicht, wieder daheim zu sein?«

Ihre Mutter nahm sie an die Hand.

Aubry hatte Angst, sagte aber nichts. Hätte die Mutter im trüben Schein der Gaslaternen Aubrys Augen sehen können, sie hätte ihre Tochter wohl nie hinter sich hergezogen, sie niemals an der Hand herausgezerrt, den ganzen Pflasterweg entlang zur Haustür, die schon offen stand und wo der Vater und die Schwestern bang auf sie warteten. Die Mutter ging voraus, zerrte an ihr, doch Aubry war schwer wie ein Sack, es war, als zöge sie einen Schlitten.

»Was ist denn los?«, wollte sie wissen.

Aubry sträubte sich wie ein angsterfüllter Hund, und als der flackernde Laternenschein sie einfing, konnte ihre ganze Familie sie auf einmal sehen.

»O mein Gott!«, rief ihr Vater.

Sylvie schrie auf.

Ihr Gesicht war überströmt von Blut. Es lief ihr aus der Nase, aus den Ohren, aus dem Mund. Ihre Mutter stöhnte auf – sie hatte es noch nicht gesehen. Als sie ihre Hand losließ, brach Aubry zusammen, hielt sich den Bauch, fing an zu würgen und spie einen Schwall aus Blut und Erbrochenem über die Eingangstreppe.

»Dr. Homais! Dr. Homais!«, kreischte die Mutter, doch Pauline war ihr bereits zuvorgekommen und sauste Richtung Kutsche. Aubry kauerte auf allen vieren zitternd über einer schwarzen Pfütze, rote Speichelfäden hingen ihr vom Kinn herab. Ihr Vater packte sie, sodass zwei kleine blutige Handabdrücke auf den Pflastersteinen blieben. Dann trug er sie zur Kutsche, wo Dr. Homais mit ungläubigem Staunen zusah. Ihre Eltern zwängten sich mit Aubry in die Kabine, und Dr. Homais trieb den Kutscher an, rasch aufzubrechen. Aubrys Schwestern, die noch immer in Nachthemd und Pantoffeln im Vorgarten standen, hatten sie völlig vergessen. Doch die weigerten sich, zurückzubleiben, wo ihre kleine Schwester doch so krank war. Also jagten sie der Kutsche hinterher. Bevor das Gespann in den Galopp fallen konnte, sprang Pauline auf den Kotflügel, klammerte sich an die Heckstange und zog Sylvie hinter sich nach oben.

Gemeinsam rasten sie wortlos durch die Pariser Nacht und sahen ihr Zuhause hinter sich entschwinden.

7

Zu Hause

sonne

Selbst mit vereinten Kräften gelang es Dr. Homais und ihrem Vater nicht, Aubry zu bändigen. Sie warfen sich mit ihrer ganzen Masse auf sie, als wollten sie das Mädchen zerquetschen, dennoch zuckten ihre Arme, trat sie wie eine Furie um sich, bog und wand sich unter ihnen. Ihre Schuhe flogen weg, doch ihren Mantel konnten sie ihr nicht entreißen, so heftig drosch sie um sich. Sie schrie, keuchte und spie. Der Untersuchungstisch war vom Blut ganz rutschig, die Kleider und Anzüge der Umstehenden rot eingefärbt.

Es waren nicht allein die Krämpfe. Es war auch Aubry selbst, schlüpfrig wie Seetang, die sie von sich wegstieß und zu fliehen versuchte. Ihr Vater sah es zwar, begriff es aber nicht. Er glaubte, die Krankheit hätte nun auch ihren Geist erfasst. Dachte, ihre aufsässige Ader würde just zu dieser Unzeit aufflammen.

In einer Zimmerecke kauernd, hielt Aubrys Mutter ihre Schwestern Sylvie und Pauline, alle drei in Tränen aufgelöst, fest umklammert in den Armen. Pauline fürchtete sich, und doch beobachtete sie alles. Sie musste es sehen. Musste es einfach wissen, wie sie Aubry später erzählte. Auch ihr Nachthemd war voller Blutspritzer. Sylvie jedoch, zu empfindsam für den Anblick, barg den Kopf in den Kleidern ihrer Mutter und hielt sich die Ohren zu.

Aus Angst, sie könnte ihre Zunge verschlucken, klemmte Dr. Homais Aubry ein Stück Holz zwischen die Zähne. Sie schlug um sich, als würden die Männer versuchen, sie in einer Badewanne zu ertränken. Ihre Muskeln krampften, ihr Rückgrat bog und senkte sich, wieder und wieder. Und noch immer hielten sie das Mädchen fest. Es konnte sich nicht rühren, vermochte nicht zu sprechen, suchte aber immerzu nach einem Weg hinaus. Ihr Blick fiel auf das Fenster hinter Dr. Homais. Dort, hinter fernen Turmspitzen und Dächern, erhellte der Sonnenaufgang allmählich die Nacht. Sie streckte die Hand danach aus, doch ihr Vater presste ihre Arme zurück auf den Tisch.

Ohne zu wissen, woher sie die Kraft nahm, schöpfte Aubry einmal tief Luft und machte sich bereit. Sie spannte jeden einzelnen Muskel an, ihr ganzer Leib straff wie eine Ankerkette. Dann, noch immer auf dem Tisch, hielt sie ihren Körper ruhig, verdrillt in seiner grauenhaft verrenkten Form, mit gewundener Wirbelsäule, die Finger gekrümmt zu einer Krallenhand – doch sie hatte den Kampf kurz unterbrochen, die Krämpfe, die Zuckungen.

Wenige Momente lang war ihr Körper eine Faust, die Atmung flach, aber beherrscht. Stille senkte sich über den Raum, nichts war mehr zu hören außer dem Gurgeln des Blutes in ihrer Kehle. Ihr Vater und Dr. Homais wechselten argwöhnische Blicke, trauten dem Frieden noch nicht ganz. Dann hastete der Arzt zu einem Medizinschrank, stöberte durch Arzneifläschchen, Klammern und Spritzen.

Aubry schaute ihrem Vater in die Augen und anschließend zum Fenster hin, erneut zum Vater, dann wieder zum Fenster.

»Was?«, fragte er sie, versuchte zu verstehen, was sie sagen wollte. »Was?«

Er folgte ihrem Blick, spähte über die Schulter zur anbrechenden Morgendämmerung.

Noch bevor irgendjemand reagieren konnte, riss Aubry sich von ihrem Vater los und rannte zur Tür.

»Aubry!«, brüllte ihre Mutter.

»Packen Sie sie!«, dröhnte Dr. Homais.

Aber da hatte sie längst die Tür aufgerissen und flitzte die Treppe hinunter. Sylvie – das würde Aubry nie vergessen – stand auf der Schwelle und schrie ihr hinterher: »Lauf, Aubry! Lauf!«

8

Zu Hause

sonne

Sie rannte durch die Straßen, als der Himmel noch zartrosa war und die Stadt noch immer schlief, als der Tau sich noch immer auf dem Gras niederschlug und die Pflastersteine so feucht machte, dass es das Blut von ihren nackten Füßen wusch. Bog scharf um eine Ecke, spurtete durch eine Gasse, Gesicht und Hände noch immer blutverschmiert. Aubrys rot gefärbter Mantel und blutstarrende Bluse waren nicht mehr zu retten, aber das machte ihr nichts aus, denn sie war frei und rannte, streifte ihre Krankheit ab und ließ sie hinter sich zurück. Mit jedem Schritt konnte sie freier atmen, glitt der Schmerz ein bisschen weiter von ihr fort. Sie wusste, dies würde fortan ihre Strategie sein. Sie würde ihr davonlaufen. Würde dieser Krankheit immer einen Schritt voraus sein und sich niemals wieder von ihr einholen lassen.

Sie rannte bis zu einem breiten Boulevard in einer Gegend, wo sie noch nie gewesen war, und jagte ihn entlang. Sie war allein, ihre Atemwege waren frei, die Blutung war versiegt. Ihre Glieder kamen ihr mit jedem Meter leichter vor. Sie lachte unter Tränen, fühlte sich besser als je zuvor, rannte schneller, als sie jemals gerannt war.

Doch dann vernahm sie hinter sich die Stimme ihrer Mutter, die ihr hinterherrief. »Aubry! Aubry! Wo willst du hin?«

Man hatte sie gesehen, aber das w...

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