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Die Blütenfreundinnen

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Es ist dem Zufall geschuldet, dass sich die Wege von Kristin, Lena und Nicole kreuzen. Vergeblich warten sie am Münchner Bahnhof auf den Zug, der sie nach Hamburg bringen soll. Letztlich schließen sich die drei zusammen und fahren im Mietwagen in Richtung Norden. Was als spontane Zweckgemeinschaft beginnt, entwickelt sich zu einer unerwarteten Freundschaft, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der malerischen Lüneburger Heide findet, in der Nicoles Schwägerin Antonia wohnt. Nach einer schmerzhaften Trennung braucht diese moralische Unterstützung. Mit ihr wird aus dem Trio ein unschlagbares Quartett.

Als Antonia erfährt, dass ihr untreuer Ex-Lebensgefährte in der Lotterie gewonnen hat, schmiedet sie einen kühnen Plan. Sie beschließt, den Gewinn für sich einzustreichen. Ob das gutgeht? Ein Roman über Freundschaft, Mut und die unvorhersehbaren Wendungen des Lebens.


  • Erscheinungstag: 23.07.2024
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008300

Leseprobe

Lüneburger Heide –
an einem Werktag im August

Antonia

Kalter Kaffee

Nicht alle Menschen können von sich behaupten, Erfüllung in ihrer Arbeit zu finden. Antonia gehört zu den Glücklichen, die diesen Luxus genießen können, doch bis es so weit war, musste sie einen langen und verschlungenen Weg zurücklegen.

Die erste Lehre, die sie in einer Konditorei begonnen hatte, brach sie ab, obwohl es für viele der Traumberuf schlechthin sein mag. Der Duft von frisch gebackenem Kuchen und die kunstvoll verzierten Torten lösten bei ihr nicht die erwartete Begeisterung aus. Auf der Suche nach ihrem Platz in der Berufswelt probierte sie es mit einer kaufmännischen Tätigkeit. Der Bürojob erwies sich ebenfalls nicht als das, was sie sich erhofft hatte. Die Monotonie und die fehlende Kreativität trieben sie schließlich dazu, ihre Anstellung zu kündigen und sich der Kunst zuzuwenden.

Im Gesang und Schauspiel sollten ihre Talente liegen, so dachte sie. Doch das war eine grobe Fehleinschätzung, denn der große Durchbruch blieb aus, und all ihre Träume zerplatzten wie Seifenblasen.

Antonias Familie schüttelte jahrelang fassungslos den Kopf über ihre Sprunghaftigkeit. »Wann wird sie endlich erwachsen?«, fragte ihr Vater mehr als einmal.

Mit Mitte dreißig war es so weit. Antonia fand ihre Berufung und ließ sich zur Altenpflegerin ausbilden. Endlich hatte sie eine Aufgabe gefunden, die Sinn und Struktur in ihr Leben brachten. Inzwischen blickt sie auf eine zwölfjährige Berufserfahrung zurück.

In der Seniorenresidenz, in der sie nach wie vor arbeitet, fand sie nicht nur ihre berufliche Bestimmung, sondern traf auch die Liebe ihres Lebens. Maik, ein Mann, den sie als Besucher kennenlernte, wurde zu ihrem festen Partner. Bereits nach vier Wochen zog er bei ihr ein. Seither gehen sie gemeinsam durchs Leben. Zwar können sie keine großen Sprünge machen, aber sie kommen finanziell über die Runden. Sobald seine Kinder aus erster Ehe volljährig werden und er keine Alimente mehr zahlen muss, wollen die beiden die Reisen unternehmen, von denen sie seit Jahren träumen.

Aktuell ist Maik ohne sie verreist. Beruflich. Als Anlagemechaniker für Heizungs- und Klimatechnik nimmt er seit einer Woche in Kassel an einer Produktschulung teil. Gerade erhält Antonia eine Nachricht von ihm.

Mir brummt der Schädel. Ich muss nur noch das Abendessen überstehen, dann lege ich mich sofort hin. Kusssmiley Maik.

Einen Moment bedauert sie ihn, doch dann denkt sie, dass ihm kein Zacken aus der Krone gefallen wäre, wenn er sie kurz angerufen hätte. Gern hätte sie seine Stimme gehört, ihm von Frau Kellermann, einer liebgewonnenen Heimbewohnerin, berichtet, die heute friedlich eingeschlafen ist. Nach all den Jahren nimmt es Antonia noch immer emotional mit, wenn einer ihrer Schützlinge das Zeitliche segnet.

Um sich abzulenken, beschließt sie hinauszugehen und den Rasen zu mähen, obwohl das eigentlich Maiks Part ist. Er ist für den Garten zuständig, sie kauft ein, sorgt für das leibliche Wohl, kümmert sich um die Wäsche und säubert das Haus. Während sie darüber nachdenkt, wird ihr schlagartig bewusst, dass sie einen wesentlich größeren Beitrag leistet als er. Sie nimmt sich vor, diesen Punkt anzusprechen, sobald er zurückkommt.

Mit ganzer Kraft schiebt sie den schweren Motormäher nebst Auffangkorb in geraden Bahnen über das Grundstück, als sich jemand der Gartenpforte nähert. Mit geschärftem Blick nimmt Antonia die Person ins Visier. Sie erkennt Muriel, Maiks Ex-Frau. Was will die denn hier? Die hat ihr gerade noch gefehlt.

»Er ist nicht zu Hause!«, ruft Antonia ihr zu.

»Das weiß ich. Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«

Verwundert stellt Antonia den Mäher aus. Ihr ist nicht klar, was sie mit dieser Frau zu besprechen hätte. Sollte es wieder um das leidige Thema Kindesunterhalt gehen, wird sie bei ihrem festen Vorsatz bleiben, sich auf gar keinen Fall in diesen Dauerstreit einzumischen.

Muriel streckt Zeige- und Mittelfinger in die Luft. Eigentlich bedeutet dieses Handzeichen Peace, aber daran, dass sie in friedlicher Absicht gekommen ist, glaubt Antonia nicht.

»Zwei«, blafft Muriel aufgebracht. »Seit zwei Monaten ist Maik mit seinen Unterhaltszahlungen im Rückstand. Ich bin es wirklich leid. Was denkt er sich? Es sind auch seine Kinder.«

Antonia ist um Contenance bemüht. »Halte mich bitte da raus. Damit habe ich nichts zu tun. Kläre das mit ihm.«

»Das würde ich gern, aber er reagiert nicht auf meine Mails.«

Noch immer ist Antonia die Ruhe selbst. »Vermutlich hat Maik deine Nachrichten noch gar nicht gelesen. Er ist auf einem Seminar in Kassel.«

Muriels Blick spricht Bände. »Seit wann liegt Kassel an der Ostsee?«

»Bitte? Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

»Ahnungslosigkeit scheint ein grundsätzliches Problem bei dir zu sein.«

Das war unverschämt und eindeutig unter der Gürtellinie. Doch Antonia lässt sich nicht beirren. Sie beherrscht sich und lächelt Muriel mit zusammengepressten Lippen an.

»Maik ist nicht in Kassel auf einem Seminar, wie er dir weisgemacht hat, sondern macht Urlaub an der Ostsee. Ich präzisiere: Er verprasst das Geld, das meinen Kindern zusteht, und macht Liebesurlaub in Timmendorfer Strand.«

Antonia schluckt. Einen Moment hat es ihr die Sprache verschlagen, doch sie fängt sich schnell. »Wie kannst du so etwas Ungeheuerliches behaupten? Was versprichst du dir davon? Hast du nach all den Jahren noch immer vor, einen Keil zwischen Maik und mich zu treiben? Lass es, bitte. Ich bin für diesen Zickenkrieg nicht zu haben.«

»Zickenkrieg? Mach endlich die Augen auf! Maik belügt und betrügt dich nach Strich und Faden. Eigentlich sollte es mir egal sein. Aber er lässt im Hotel Seemöwe die Puppen tanzen, während ich nicht weiß, wie ich meine Kinder satt bekomme.«

Antonia ist fest davon überzeugt, dass Muriel nur Ärger stiften will, denn sie gibt nicht auf und insistiert weiter.

»Wenn du mir nicht glaubst, werden dich bestimmt diese Fotos überzeugen.« Sie zückt ihr Handy aus der Hosentasche und stellt es an.

Antonia schaut sich Aufnahmen an, die Maik mit einer fremden Frau im Strandkorb zeigen, beim Essen in einem Restaurant und Arm in Arm auf der Promenade spazierend. Ihr wird sofort klar, dass es sich um aktuelle Aufnahmen handelt, denn Maik trägt das blaue Poloshirt, das sie ihm vor Wochen zum Geburtstag geschenkt hat. Ihr bleibt die Luft weg. »Woher hast du diese Bilder?«

»Von einer Freundin, die ihn erkannt hat. Sie ist davon ausgegangen, dass es sich bei seiner Begleitung um dich handelt und ihr beide eine feudale Auszeit genießt, während ich jeden Euro dreimal umdrehen muss. Die Fotos hat sie mir geschickt, um darzulegen, dass der Mistkerl sehr wohl solvent ist. Er könnte Unterhalt zahlen, wenn er nur wollte, aber er will nicht, weil ihm seine Kinder schnuppe sind. Maik Schneider ist ein Schuft der übelsten Sorte. Das sollte dir jetzt auch klar sein.«

Mit zittriger Stimme bittet Antonia ihre Besucherin zu gehen und sie allein zu lassen.

Als sich die Gartenpforte schließt, fühlt sie sich wie betäubt. Die Bilder auf dem Handy wirken wie ein Schlag ins Gesicht, und die Welt um sie herum beginnt zu verschwimmen. Kraftlos lässt sie sich auf die Gartenbank fallen, versucht die Gedanken zu ordnen, doch alles fühlt sich an wie ein wackeliges Kartenhaus, das gerade zusammenzustürzen droht.

Die guten letzten Jahre mit Maik, die Träume von gemeinsamen Reisen, die scheinbare Harmonie und Loyalität – all das wird von Muriels Enthüllungen überschattet. Antonia kann nicht fassen, dass sie so hintergangen wurde. Der Mann, den sie innig liebt und dem sie blind vertraut hat, zeigt auf den Fotos ein völlig anderes Gesicht.

Wut, Enttäuschung und Verzweiflung kämpfen in ihr um die Vorherrschaft. Wie konnte sie so naiv sein und nicht merken, was er hinter ihrem Rücken treibt?

Was soll sie jetzt tun? Ihn sofort mit den Bildern konfrontieren oder warten, bis er zurückkehrt? Der Tag, der normal begann, nimmt eine unerwartete Wendung. Antonia beschließt, nicht untätig zu bleiben. Sie steht auf, geht ins Haus und schnappt sich ihren Wagenschlüssel.

Als die Sonne langsam hinter den Häusern verschwindet, fährt sie auf die Autobahn in Richtung Norden.

Während der neunzigminütigen Fahrt stellt sie sich darauf ein, Maik in flagranti zu erwischen. Sollte er sagen: »Es ist nicht das, wonach es aussieht«, würde sie für nichts garantieren können.

Sie fährt auf den Hotelparkplatz und stellt ihren Wagen direkt hinter Maiks Firmenwagen ab. Die Blöße, sich an der Rezeption nach seiner Zimmernummer zu erkundigen, gibt sie sich nicht. Sie ruft ihn an.

Er meldet sich nach dem fünften Klingeln mit schlaftrunkener Stimme. »Was gibt es, Toni? Ich war gerade eingeschlafen.«

»Komm raus! Ich will mit dir reden«, antwortet sie in einer Selbstsicherheit, die keinen Widerspruch zulässt.

»Wohin soll ich kommen? Wo bist du?«

»Ich stehe vor deinem Liebesnest und erwarte dich in spätestens fünf Minuten. Ich rate dir, pünktlich zu sein, andernfalls lasse ich meine Wut an deinem Benz aus.«

Er beendet das Gespräch vor ihr, versäumt es jedoch aufzulegen. Antonia wird Ohrenzeuge des nachfolgenden Wortwechsels.

»Verdammt. Meine Ex hat ihre Drohung tatsächlich in die Tat umgesetzt und Toni die Fotos von uns gezeigt. Jetzt ist sie hier und probt den Aufstand.«

»Ach, Schatz«, hört Antonia eine liebliche Frauenstimme säuseln. »Sieh es doch positiv. Jetzt haben die Heimlichkeiten ein Ende, und wir müssen uns nicht mehr verstecken.«

Antonia verspürt den dringenden Wunsch, dieser Tussi mit der lieblichen Stimme die Augen auszukratzen. Aber das ist nichts gegen ihr Verlangen, das Minuten später in ihr aufkeimt, als Maik ihr kaltschnäuzig im strömenden Regen erklärt, dass es aus und vorbei ist.

»Ich habe mich in Josephine verliebt und mich für ein Leben mit ihr entschieden. Das mit uns war doch schon lange nur noch kalter Kaffee. Fahr nach Hause, Toni. Wir reden morgen, wenn du dich beruhigt hast.«

Tegernsee –
an einem Wochenende im August

Kristin

Besichtigung

Nach dem Frühling ist der Herbst Kristins zweitliebste Jahreszeit. Unzählige Male hat sie davon geträumt, einmal im September an die Ostküste Kanadas zu reisen, um den spektakulären Indian Summer zu erleben. Aber daraus wird in diesem Jahr nichts. Wieder nichts, denn ihre Arbeit geht vor. Heutzutage kann es sich keine Freiberuflerin leisten, eine Anfrage auszuschlagen. Sogar für eine etablierte Innenarchitektin, wie Kristin Drescher es seit dreißig Jahren ist, sind die Zeiten härter geworden. Lohnende Aufträge sind rar geworden, und die Konkurrenz wird immer größer. Deshalb hat sie nicht gezögert, als ein Immobilienmakler ihr einen Kontakt vermittelt hat, der ihr ein lukratives Einkommen verspricht. Es geht um eine Villa am Tegernsee, die den Besitzer gewechselt hat. Der neue Eigentümer wünscht sich eine Umgestaltung.

»Dafür kommt nur die Beste infrage, und die bist du«, schmeichelte Holger ihr letzte Woche auf Skype.

»Spar dir deine Komplimente. Sag mir einfach, wann und wohin ich kommen soll. Ich werde pünktlich erscheinen.«

Mit der Bahn ist Kristin heute in der Früh von Hamburg nach Oberbayern gereist. Selbstverständlich hätte sie auch mit dem Auto fahren können, aber Ziele, die weiter als fünfhundert Kilometer entfernt sind, mutet sie sich nicht mehr zu. Lieber nutzt sie die Fahrtzeit, um sich im Zugabteil ungestört vorzubereiten.

Für den anstehenden Termin ist sie bestens präpariert. Farbkarten und alles, was sie für das Treffen benötigt, befinden sich in ihrem Musterkoffer. Wechselkleidung, Nachtwäsche und ein riesiger Kulturbeutel, der vornehmlich mit Hautpflegeprodukten befüllt ist, hat sie im kleinen Trolley verstaut. Kristin glaubt, dass eine Frau ihres Alters all das Zeug braucht, obwohl sie selbst bezweifelt, dass die Cremes, Seren und Gesichtsmasken den Altersprozess tatsächlich aufhalten können. Immerhin geben sie ihr das Gefühl, alles gegen den optischen Verfall unternommen zu haben.

Bevor sie das Haus verlässt, wirft sie einen letzten Kontrollblick in den Spiegel. Ihr Businesskostüm sitzt, was auf ihre halblangen, naturblonden Haare nicht zutrifft. Sie stehen hartnäckig ab, und lassen sich weder mit Bürste noch mit Spray bändigen. Kurzerhand streicht Kristin die widerspenstigen Haarsträhnen hinters Ohr.

In München angekommen, fährt sie vom Hauptbahnhof mit dem Taxi zu der besagten Adresse. Die Kosten für den Shuttle wird sie wie üblich auf die Rechnung schlagen.

Während der Fahrer eine Quittung ausstellt, wirft sie einen Blick auf den See, der ihr zu Füßen liegt. Durch die Spiegelung auf der Wasseroberfläche könnte man meinen, in den wolkenlosen Himmel zu sehen..

»Was für ein atemberaubender Ausblick«, schwärmt sie, als der Wagen das Anwesen im Schritttempo verlässt. Gemächlich schlendert sie um das herrschaftliche Gebäude und lugt durch die bodentiefen Fenster.

Wieder am Eingang angekommen, schaut sie auf die Uhr und denkt, dass Holger sich langsam blicken lassen könnte.

Nach zehn Minuten reißt ihr der Geduldsfaden. Sie ruft ihn an. »Wo steckst du?«

»Sag bloß, du bist schon da.«

»Seit einer Ewigkeit stehe ich vor dem Haus und warte auf dich«, übertreibt sie.

»Hast du meine Nachricht nicht erhalten? Ich habe den Schlüssel für dich unter dem rechten Blumenkübel vor der Treppe deponiert.«

Es stimmt, was er behauptet. Seine Kurzmitteilung wurde ihr tatsächlich während der Zugfahrt zugestellt, nur bemerkt hat sie es nicht.

Der versteckte Schlüssel ist rasch gefunden. Mit einer Hand schließt Kristin die Tür auf, mit der anderen hält sie ihr Handy ans Ohr. Bereits im Eingangsbereich verschlägt es ihr die Sprache.

»Wow. Das ist wirklich heftig. Die Vorbesitzer hatten wohl ein Faible für kräftige Farben«, spottet sie und stellt ihr Gepäck in der dunkelroten Diele ab.

Neugierig erkundigt sie sich bei Holger, zu welchem Kurs er dieses hundert Jahre alte Anwesen verkauft hat.

»Bitte was?«, entrüstet sie sich, nachdem ein Betrag in zweistelliger Millionenhöhe gefallen ist. Im Laufe ihrer Selbstständigkeit hat Kristin schon viele Nobelvillen eingerichtet. Auf Sylt, in Florida, Spanien, Italien und an der französischen Riviera, aber so eine horrende Preisforderung ist ihr bisher noch nie untergekommen.

»Der Wert richtet sich stets nach der Lage.«

Als ob Kristin das nicht wüsste. Dennoch hält sie den Kaufpreis für völlig überzogen. Ein Objekt in dieser Preisklasse könnte sie sich niemals leisten. Ohnehin würde sie viel lieber am Meer leben. Vorzugweise am Atlantik. Als Norddeutsche liegt ihr die Brandung im Blut. Sie mag den Wind, der über die flache Ebene weht, den Salzgeschmack, der in der Luft liegt, und den Sand, der unter den Füßen knirscht, wenn man barfuß am Strand spaziert. Aber bis Kristin diesen Traum verwirklichen kann, muss sie mindestens noch fünf Jahre arbeiten. Frühestens dann wird sie sich in den wohlverdienten Ruhestand begeben können.

Holger holt sie mit einer Frage ins Hier und Jetzt zurück. »Treffen wir uns später im Hotel?«

Verwirrt antwortet sie. »Im Hotel? Bedeutet das etwa, du kommst gar nicht her?«

»Wozu? Ich kenne das Haus in- und auswendig.«

»Aber es war doch vereinbart, dass wir beide uns hier mit dem Käufer treffen. Schließlich gibt es einiges zu besprechen.«

Sein leises Stöhnen entgeht ihr nicht. »Ähm«, beginnt er zögerlich, bevor seine Antwort ins Stocken gerät. »Daraus wird nichts. Er ist bereits abgereist.«

»Bitte? Mister Ich-stinke-vor-Geld hat doch ausdrücklich darauf bestanden, mich persönlich kennenzulernen, bevor er mir den Zuschlag erteilt.« Kristin reagiert stinksauer. »Wenn das so ist, hätte ich mir die weite Anreise sparen können.«

»Aber dann wäre mir das Vergnügen entgangen, dich leibhaftig zu sehen anstatt nur auf dem Bildschirm.«

Holger spricht von Vergnügen. Kristin nennt es ein notwendiges Übel. Dafür, dass sie nach all den Jahren noch immer Kontakt halten, gibt es ihrer Ansicht nach nur einen Grund, und der ist rein geschäftlicher Natur.

»Hallo? Kannst du mich hören, Kristin? Der Empfang ist unterirdisch.«

Zack. Weg ist er. Sie schickt ihm eine Textnachricht, die sogleich zugestellt wird.

Ja, wir sehen uns später im Hotel.

Sie beginnt ihre Begehung im Erdgeschoss. Von außen betrachtet, wirkt das historische Haus beeindruckend, doch der aktuelle Zustand des Inneren ist schlichtweg eine Katastrophe. Dem vorherigen Eigentümer mangelte es eindeutig an Geschmack. Kristin hat nichts gegen Stilmix, doch dieses Mobiliar sieht aus, als handle es sich um eine Ausbeute vom Sperrmüll. Die Wandfarben sind eine Beleidigung fürs Auge. Die schweren Stoffe lassen die Innenräume wie ein Museum wirken. Hier ist keine Umgestaltung, sondern eine komplette Neugestaltung nötig.

Als sie die Küche betritt und eine Präsentationsmappe auf dem Tisch liegen sieht, die offensichtlich von einem Mitbewerber stammt, ist ihre Neugierde geweckt. Sie nimmt die angeheftete Visitenkarte vom Deckblatt.

»Lucie Wellenberg – Home Staging – München«.

Eine Konkurrentin, deren Name Kristin nichts sagt, hat bereits vor ihr eigene Entwürfe präsentiert. Interessiert blättert sie darin herum. Diese Newcomerin hat allen Ernstes vorgeschlagen, das denkmalgeschützte Gebäude im Industrialstyle einzurichten, amüsiert Kristin sich. Sie hebt die Brauen, als sie liest, welche Materialien die Mitbewerberin empfiehlt. Gebürsteter Stahl, Backstein und Beton. Ist das zu fassen? Im ersten Moment ist Kristin versucht, diese Entwürfe verschwinden zu lassen. Aber dann kommt sie zu der Einsicht, dass Lucie Wellenberg mit diesen absurden Vorschlägen ohnehin chancenlos ist und sie sich die Mühe umsonst gemacht hat. Kristin ist sich sicher, den Auftrag zu erhalten. Daran besteht für sie kein Zweifel.

Im Anschluss begutachtet sie das Wohnzimmer und spricht ihre Eindrücke laut aus. »Auf jeden Fall müssen die alten, verblassten Tapeten weichen. Ich stelle mir helle und frische Töne vor, um den Raum zu öffnen und die natürliche Schönheit der Umgebung hereinzulassen. Die schweren Vorhänge und die dunklen Möbel würde ich durch leichtere, unaufdringliche Alternativen ersetzen, die den Seeblick und die malerische Umgebung betonen.«

Auch in der oberen Etage nimmt sie jeden Raum mit kritischen Augen unter die Lupe. Ihr ist bewusst, dass es eine Herausforderung sein wird, den Charme des historischen Gebäudes zu bewahren und gleichzeitig in ein frisches Design zu überführen. Aber sie ist fest entschlossen, diesem alten Juwel neues Leben einzuhauchen, und beendet den Rundgang.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit lässt sie sich zum Hotel bringen. Es dauert nur einen Moment, bis die Rezeptionistin ihre Reservierung im Computer findet. Kristin erhält eine Schlüsselkarte und die besten Wünsche für einen angenehmen Aufenthalt.

Ein Page schnappt sich ihre beiden Koffer und marschiert voraus zu den Fahrstühlen. Auf dem Weg dorthin spricht Kristin ihn an. »Einen schönen Arbeitsplatz haben Sie nach dem Umbau bekommen. Ich kenne das Hotel noch von früher, als es in seinem Urzustand war. Zu der Zeit war ich häufig hier zu Gast.«

Er nickt nur stumm, und Kristin fragt sich, ob es den Mitarbeitern wohlmöglich untersagt ist, mit Gästen zu plaudern, oder ob er lediglich mundfaul ist.

»Suite 205«, vermeldet er wenig später, stellt das Gepäck auf den dafür vorgesehenen Hocker und deutet eine leichte Verbeugung an. Kristin versteht, greift in ihre Manteltasche, zückt einen Geldschein heraus und reicht ihm fünf Euro Trinkgeld.

»Vielen Dank, Frau Drescher«, bedankt er sich und meidet noch immer direkten Augenkontakt.

In dem Moment, als die Zimmertür hinter ihm ins Schloss fällt, wirft Kristin sich rücklings aufs Bett. Eine hervorragende Matratze, befindet sie, auf der sie jetzt liebend gern einschlafen würde. Doch daraus wird nichts, denn ihr steht noch das Treffen mit Holger bevor.

Sie öffnet die Balkontür und setzt einen Schritt hinaus ins Freie. Der sich bietende Panoramablick auf den See und die umliegende Bergwelt wecken Erinnerungen in ihr. An diesem Ort begegneten Holger und sie sich zum ersten Mal. Es stand außer Frage, dass sie füreinander bestimmt waren. Zwei Jahre später wurde in diesem Hotel ihre Hochzeit mit vierzig Gästen gefeiert. Rückblickend war es der glücklichste Tag in Kristins Leben.

Bereits nach einer Minute wird ihr gedanklicher Ausflug in längst vergangene Zeiten jäh unterbrochen. Im Nebenzimmer telefoniert eine Frau. Sie spricht derartig laut, als wolle sie, dass sie auch im achthundert Meter tiefer gelegenen Tal noch jeder hören kann.

»Bisher war es ein Horrortrip. Die Bahn hatte Verspätung, das Hotel, in dem ich ein Zimmer gebucht hatte, steht unter Wasser. Jetzt bin ich in einer exklusiven Nobelherberge gelandet. Immerhin war der Hotelier so fair und übernimmt die Preisdifferenz.«

Nett wäre es von ihr, wenn sie ihre Balkontür schließen würde, denkt Kristin, als die Zimmernachbarin ungeniert fortfährt.

»Ich muss mich kurzfassen, mein Großer, denn bevor ich abgeholt werde, möchte ich unbedingt noch duschen. Er hat mich in ein typisch bayerisches Wirtshaus eingeladen. Lass uns doch morgen ausführlich telefonieren, wenn ich wieder zu Hause bin. Okay? – Bussi.«

Kristin hat genug gehört, sie kehrt ins Zimmer zurück, schnappt sich eine Birne aus dem Obstkorb, der auf dem Tisch steht, und beißt genüsslich hinein.

Zur selben Zeit am selben Ort

Lena

Eine ganz neue Erfahrung

Eigentlich gilt Lena als ehrliche Haut. Schwindeln und Tricksen liegen ihr nicht. Es sei denn, ihr Sohn Moritz ruft sie aus Paris an und erkundigt sich nach ihrem Befinden. Dann greift sie gelegentlich zu einer Notlüge und behauptet, sie fühle sich super und alles sei fein. Ihr einziges Kind studiert seit einem Jahr in Frankreich an der Sorbonne Rechtswissenschaft. Es hat Lena große Überredungskunst gekostet, ihn zu diesem Schritt zu bewegen. Moritz meinte, er könne nicht fortgehen und seine Mutter allein zurücklassen. Nicht nachdem sie sich ihr halbes Leben für ihn aufgeopfert hat. Ihn ohne Vater großzuziehen, stellte für Lena zwar eine Herausforderung dar, aber sie hat es nie als eine Last empfunden. Nach zwanzig Jahren hielt sie jedoch die Zeit für gekommen, dass ihr geliebter Sohn sich auf eigene Füße stellt. Schließlich wollte sie sich nicht nachsagen lassen, ihn zu einem Muttersöhnchen erzogen zu haben. Obendrein ermöglicht ihr die neue räumliche Distanz, all das zu tun, wozu sie bisher nicht den Mut aufgebracht hat. Sie datet. Seit seinem Auszug trifft sie sich mit Singlemännern und welchen, die vorgeben, einer zu sein. Hach, was hat sie schon für Reinfälle erlebt. Aber Lena nimmt es mit Humor und verbucht es unter Erfahrung.

»Ich heiße es gar nicht gut, dass du durch die Lande tingelst und dich wildfremden Kerlen an den Hals wirfst«, hielt ihre erzkonservative Mutter ihr jüngst vor. »Wieso machst du es nicht wie anständige Frauen und lernst jemanden auf der Arbeit kennen?«

»Ich bin Apothekerin, Mama«, erwiderte Lena. »Männer, die ich dort treffe, sind entweder erkältet, ernsthaft erkrankt oder bereits dem Tode geweiht.«

Gottlob sieht Moritz es nicht so kritisch wie seine Oma. Er selbst hat seiner Mutter geraten, sich auf die Suche zu begeben, und ihr sogar einige Portale empfohlen. Um sein Gewissen zu beruhigen, käme es ihm sehr gelegen, wenn Lena so bald wie möglich einen geeigneten Partner fände. Aber so schnell, wie er es sich wünscht, funktioniert das nicht, denn seine Mutter ist wählerisch. Gutes Aussehen ist ihr wichtig, aber der Mann an ihrer Seite sollte auch etwas im Kopf haben. Schließlich will sie ihn nicht nur stumm betrachten, sondern sich auf Augenhöhe mit ihm unterhalten.

Beide Kriterien könnte Benno aus Bad Wiessee erfüllen. Er ist mit einundfünzig fünf Jahre älter als Lena. Zunächst haben sie sich geschrieben. Zwei Wochen später hat sie ihm erlaubt anzurufen. Seine Stimme klang angenehm, und das, was er zu sagen hatte, brachte sie mehrmals zum Lachen. Kurzum stimmte sie seiner Einladung, nach Bayern zu kommen, zu.

Ihr Treffen findet mit einer halben Stunde Verspätung statt, denn der Zug war nicht pünktlich. Benno wartet geduldig auf dem Bahnsteig. Lena erkennt ihn sofort und freut sich, endlich auf einen Mann zu treffen, der tatsächlich ein aktuelles Foto von sich gepostet hat. Er umarmt sie ein wenig unbeholfen, was darauf hindeutet, dass auch er aus der Übung gekommen ist. Benno überreicht ihr einen Blumenstrauß. Keinen, der kunstvoll von einer Floristin in einem Blumenladen gebunden wurde, sondern einen, wie man ihn an Tankstellen kaufen kann. Lena freut sich trotzdem über die Geste, obwohl es ihr lieber wäre, er würde ihr die schwere Reisetasche abnehmen. Aber die schleppt sie allein zum Parkplatz.

Sie lächelt ihn an und fragt: »Wohin entführst du mich?«

Benno deutet auf ihre Füße. »Hast du noch andere Schuhe dabei? Ich würde dir gern bei einer Wanderung die Gegend zeigen.«

»Ich habe vorsorglich meine Trekkingstiefel eingepackt«, antwortet sie und stellt ihr Gepäck auf die Rückbank seiner Limousine. Seine Idee findet zwar Anklang bei ihr, aber ihr knurrender Magen erinnert sie daran, zuerst das Hotel aufzusuchen. Erst einchecken, einen Happen essen, und danach würde sie sich ins Vergnügen stürzen. So lautet ihr Plan.

Benno fährt sie zur Unterkunft, die Lena zuvor online gebucht und bezahlt hat. Das dreistöckige Haus entspricht exakt der Beschreibung aus dem Internet. Es verfügt über klassische, braun lasierte Holzbalkone, die von üppigen, tiefrot blühenden Geranien geschmückt werden. Lenas anfängliche Begeisterung verfliegt schnell, als ihr am Empfang mitgeteilt wird, dass das reservierte Zimmer aufgrund eines Wasserrohrbruchs nicht bezogen werden kann. Die Option, die Übernachtungskosten erstattet zu bekommen, steht im Raum, aber Lena ist nicht bereit, die wenigen Stunden ihres Aufenthalts mit der Suche nach einer Ersatzunterkunft zu verbringen. Hartnäckig besteht sie darauf, dass der Hotelier sich darum kümmert. Benno schlägt ihr vor, die Nacht bei ihm zu verbringen, doch das lehnt sie entschieden ab. Für wen hält er sie? So einfach wird sie es ihm nicht machen. Lena ist fest entschlossen, dem Hotelier die Verantwortung zu überlassen. Nach ihrer Auffassung obliegt es ihm, ein Ausweichquartier für sie zu organisieren. Nachdem er schließlich einwilligt, bittet er um ein wenig Zeit und klemmt sich sofort ans Telefon.

Ohne zu essen, brechen Lena und Benno zu einer Wanderung auf. Der Aufstieg zum Wallberg soll sie mit einem atemberaubenden Ausblick hinunter ins Tegernseer Tal und hinüber zu den umliegenden Bergen belohnen. Die asphaltierte Panoramastraße führt durch romantische Wälder, vorbei an wuchtigen Felswänden. Bennos überlegene Kondition wird schnell offensichtlich. Er legt ein Tempo vor, dem sie bei einer Steigung von zwölf Prozent kaum folgen kann.

Bisher haben sie noch nicht einmal ein Drittel der Strecke zurückgelegt, als ihr die Puste ausgeht. Ihr Mund ist staubtrocken, und ihr Puls klopft rasend schnell im Hals. Lena bittet um eine Pause und schlägt vor, irgendwo einzukehren. Zwar ist Benno wenig begeistert, aber schließlich willigt er ein.

Nach weiteren zwanzig Minuten kommen sie an der Moosalm an, die sie auch bequem mit dem Auto hätten erreichen können. Gerade nehmen sie im sonnigen Außenbereich Platz, als Benno es sich nicht verkneift, ihr vorzuwerfen, erschreckend unsportlich zu sein.

»Ich wandere täglich mindestens zehn Kilometer. Egal ob es regnet oder stürmt. Wandern ist das Beste, um fit zu bleiben. Ein Blick auf deine Hüften und deine Oberschenkel zeigt mir deutlich, dass auch dir mehr Bewegung nicht schaden würde.«

Lena lässt seine uncharmante Bemerkung unkommentiert, bestellt sich ein Radler gegen den stechenden Durst und wirft einen Blick in die Speisekarte.

»Mich lachen Schnitzel mit Kartoffelsalat oder Gulasch mit Semmelknödel an. Was nimmst du?«

Benno möchte nichts bestellen. Er erklärt ihr wie ein Oberlehrer, dass er am Tag prinzipiell nur zweimal isst und sich Zwischenmahlzeiten grundsätzlich verbietet. Wiederholt fällt das Wort: Hüftspeck. Danach hält er einen Vortrag über gesunde Ernährung.

»Nach dem Aufstehen frühstücke ich einen fettarmen Joghurt mit frischen Früchten, um Punkt sieben gibt es Abendessen. Vornehmlich bereite ich mir gedünstetes Gemüse zu. Manchmal gönne ich mir auch ein Stück Fisch wegen der wichtigen Omega-3-Fettsäuren. Aber heute Abend werde ich mal ein Auge zudrücken und Fünfe gerade sein lassen. Ich habe einen Tisch für uns in einem urigen Wirtshaus bestellt. Besser, du wählst jetzt nur eine kalorienarme Kleinigkeit, sonst hast du später keinen Appetit.«

Besser, du hältst jetzt den Mund, liegt Lena auf der Zunge. Aber sie sagt: »Keine Sorge. Bis Punkt sieben habe ich wieder Hunger.«

»Beabsichtigst du tatsächlich, dich mit vollem Magen bis zum Gipfelkreuz zu quälen?« Er schüttelt verständnislos den Kopf.

Indes hebt sie die Brauen. »Davon, dass wir bis zum Gipfel kraxeln, war nie die Rede.«

»Aber deswegen kommen die Leute doch her.«

»Ich nicht! Ich bin angereist, um dich kennenzulernen.«

Missmutig verzieht er das Gesicht. »Wenn du keine Lust hast, werde ich dich nicht zu deinem Glück zwingen. Trotzdem halte ich deine Einstellung für sehr bedauerlich. Ich hatte dich für agiler und unternehmungslustiger gehalten.«

Lena holt tief Luft. Just in dem Moment, als sie ihm Paroli bieten will, klingelt ihr Handy. Es ist der Hotelier, der inzwischen ein Ersatzzimmer gefunden hat. Er nennt die Adresse und betont, dass es sich um eine Unterkunft der höheren Kategorie handelt, er jedoch aus Kulanzgründen bereit ist, die Mehrkosten zu übernehmen.

»Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank.« Lena legt auf und schaut Benno prüfend an. Augenblicklich kommt sie zu dem Schluss, es besser an Ort und Stelle zu beenden. Das mit ihnen passt einfach nicht. Lena braucht keinen Besserwisser, der sie unverfroren kritisiert und ihr ständig sagt, was ihr guttut und was nicht. Aber weil sich ihr Gepäck in seinem Wagen befindet, bleibt ihr keine andere Wahl, als ihn zu bitten, mit ihr zurückzugehen.

Sie verzichtet darauf, auf der Alm zu speisen. Als sie ihr Portemonnaie zückt, um die Zeche zu begleichen, wiegelt er ab. »Ich bitte dich, selbstverständlich übernehme ich dein Radler. Du hattest schließlich auch Kosten für deine Anreise.«

Bis zum Parkplatz wechseln sie kein Wort. Erst als sie vor seinem Wagen stehen, erkundigt er sich nach der Adresse der neuen Unterkunft.

»Wow, das nenne ich ein Upgrade. Das Hotel zählt zu den besten am Platz. Deine resolute Art, auf dein Recht zu pochen, hat sich tatsächlich ausgezahlt.«

»Wärst du trotz meiner ›resoluten‹ Art bereit, mich hinzufahren?«

»Ja, sicher. Ich bringe dich hin und hole dich später ab.«

Zwar hat Lena nach dem holprigen Start wenig Hoffnungen, dass der Abend doch noch harmonisch verlaufen wird, dennoch möchte sie Benno nicht vor den Kopf stoßen und nimmt seine Einladung an.

Lenas Suite ist ein Traum. Das Hotel bietet sogar eine Saunalandschaft und ein Schwimmbad. Beides können die Gäste kostenfrei nutzen. Aber Lena steht nicht der Sinn nach einem Besuch im Dampfbad. Geschwitzt hat sie bereits hinreichend während der anstrengenden Wanderung. Nachdem bereits mehrere Nachrichten mit Fragen zu ihrem Date eingegangen sind, ruft sie ihren Sohn an. Lena hält das Gespräch bewusst kurz, denn sie möchte dringend duschen.

Nach dem Besuch im Bad verspürt sie Lust auf eine Erfrischung. Da sie nicht im Zimmer auf Benno warten möchte, begibt sie sich an die Hotelbar und bestellt ein Gingerale.

Der Mann neben ihr schaut ständig rüber.

Noch bevor das Getränk serviert wird, spricht er sie an. »Warten Sie auch auf jemanden?«

»Ja, ich überbrücke die Wartezeit mit einem Drink.«

»So wie Sie schauen, scheinen Sie sich nicht sehr auf Ihre Verabredung zu freuen. Mir wäre es auch lieber, ich hätte das Abendessen bereits hinter mir. Vermutlich wird mir nach meiner Beichte der Kopf abgerissen.«

»Was haben Sie denn Schlimmes angestellt?«

Er bleibt die Antwort schuldig, hopst vom Hocker und geht in kerzengerader Körperhaltung auf eine elegant gekleidete Frau zu. Nach einer kurzen Umarmung verlassen sie die Bar.

Eine Viertelstunde später kehrt er allein an den Tresen zurück. »Ich habe es geahnt«, stöhnt er und winkt den Barkeeper heran. »Einen Scotch auf Eis, bitte.«

»Immerhin ist Ihr Kopf noch dran.«

Er schmunzelt. »Ja, was das angeht, habe ich Glück gehabt.«

Seit einer geschlagenen Stunde nippt Lena an ihrem Glas, während er ununterbrochen auf sein Handy tippt. Wo bleibt Benno? Sie kann es kaum erwarten, abgeholt zu werden, um endlich etwas essen zu können.

Es vergehen weitere dreißig Minuten, und er ist noch immer nicht aufgetaucht. Mittlerweile machen sich Zweifel in ihr breit. Lena fragt sich, ob Benno überhaupt noch erscheinen wird. Sie braucht Gewissheit und ruft ihn an, doch er drückt ihren Anruf dreist weg.

»Offensichtlich wurde ich versetzt«, bricht es verärgert aus ihr heraus. »Das ist mir bisher noch nie passiert.«

Der Sitznachbar schaut auf. »Ihr Treffen findet nicht statt?«

»Was für ein ungebührliches Benehmen«, regt sie sich auf.

»Was halten Sie davon, mir beim Abendessen Gesellschaft zu leisten? Das Restaurant genießt einen ausgezeichneten Ruf.«

Der gehobenen Küche kann Lena nichts abgewinnen. Kleine Portionen zu hohen Preisen sind nicht ihr Fall.

Sie lehnt sein Angebot ab, wünscht ihm einen schönen Abend und zieht sich zurück.

Hätte Benno abgesagt, wie man es von jemandem erwarten darf, der über ein Mindestmaß an Benehmen verfügt, hätte Lena sich auf den Weg in den Ort gemacht und wäre ohne ihn in ein Gasthaus eingekehrt, statt wie bestellt und nicht abgeholt am Tresen zu hocken. Vielleicht wäre noch Zeit geblieben, um auf der Hotelterrasse mit einem Glas Wein in der Hand den Sonnenuntergang zu bewundern. Dafür ist es aber längst zu spät. Es ist bereits stockfinster, und Lena ist stinksauer.

Wutentbrannt marschiert sie zu den Fahrstühlen. Als vor ihr jemand in den Lift steigt, legt sie einen Zahn zu. Es gelingt ihr im letzten Moment einzutreten, bevor sich die Tür schließt.

»Guten Abend«, grüßt eine Frau, die Lena sogleich als die Dame identifiziert, die vorhin in der Bar erschienen ist. Was sie wohl hinter ihrem Rücken versteckt? Lenas ausgeprägter Geruchssinn verrät ihr, dass es sich um etwas Essbares handeln muss. Sie tippt auf Pizza, denn diesen Duft kennt sie nur zu gut. Einmal pro Woche lässt sie sich eine nach Hause liefern, weil es sich für sie nicht lohnt, lediglich für eine Person einzukaufen und selbst zu kochen.

Wie Lena steigt auch die elegante Dame in der zweiten Etage aus. Im Gang folgt sie ihr auf Schritt und Tritt. Doch kurz bevor Lena ihre Suite erreicht, öffnet die Dame die Tür zur 205.

In der 206 begibt Lena sich auf die Suche nach der Minibar. Doch so etwas gibt es hier nicht.

»Room-Service«, flüstert ihre innere Stimme. Rasch greift sie zum Telefon und erkundigt sich nach Gerichten, die auf dem Zimmer serviert werden.

»Ach, wissen Sie was?«, unterbricht sie die freundliche Angestellte, die nicht müde wird, inakzeptable Vorschläge von der Abendkarte zu unterbreiten. »Ich nehme nur eine Flasche trockenen Weißwein.«

Danach durchforstet sie ihre Reisetasche. Lena ist sich absolut sicher, heute Morgen einen Schokoriegel eingepackt zu haben.

Gesucht – gefunden. Kauend tritt sie auf den Balkon.

Draußen ist leises Fluchen zu vernehmen. Die elegante Zimmernachbarin ist nicht zimperlich, was ihre Wortwahl betrifft. Als sie schimpft, dass sie sich diese unnütze Reise hätte sparen können, mischt Lena sich ein.

»Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.«

Die Nachbarin lugt beschämt über die Brüstung und entschuldigt sich sogleich. »Tut mir leid, ich bin nicht davon ausgegangen, dass man mich hören kann.«

»Machen Sie sich keinen Kopf. Sie haben mir aus der Seele gesprochen. Ich wäre auch besser zu Hause geblieben. Dieser Trip war der reinste Reinfall. Sieben Stunden Bahnfahrt für die Katz.«

»Sieben Stunden? Woher kommen Sie denn?«

»Gestartet bin ich in Hamburg.«

Sie lacht. »Was für ein Zufall. Ich auch.«

»Um sechs Uhr morgens habe ich auf nüchternen Magen das Haus verlassen. Ich hatte die Absicht, im Bordbistro zu frühstücken. Aber das war mal wieder geschlossen.«

»Dann waren wir wohl im selben Zug unterwegs.«

Lena wird die Pappschachtel über die Brüstung gereicht. »Mögen Sie auch ein Stück Pizza? Ich schaffe ohnehin nicht die ganze Portion. Greifen Sie zu, bevor sie ganz kalt und ungenießbar wird.«

Obwohl Lena sich auf die Zehenspitzen stellt und sich streckt, kann sie den Karton nicht greifen. »Kommen Sie doch rüber zu mir«, bietet sie spontan an. »Ich habe gerade eine Flasche Wein bestellt. Die könnten wir uns auch teilen.«

Sekunden später klopft es an die Tür von Zimmer 206.

Bei fruchtigem Weißburgunder und einer pappigen Pizza verbringt Lena den Abend mit einer Hamburger Innenarchitektin, die ihren Aufenthalt doch noch zu einem Erlebnis macht. Obwohl die Frauen zehn Jahre Altersunterschied trennt, hatte sie seit langer Zeit nicht so viel Spaß wie mit Kristin, wie der Vorname der Hamburger Lady lautet. Obgleich die Dame über einen herzerfrischenden Humor verfügt, bleiben beide beim Sie.

Die Stimmung kippt erst, als Lena fragt, warum Kristin dem netten Herrn aus der Bar am liebsten den Kopf abgerissen hätte.

»Holger hat über mich gesprochen?«

»Nein, so war das nicht!«, stellt Lena sofort klar. »Er hat nur eine vage Andeutung gemacht.«

Kristins ohnehin großen Augen öffnen sich. »Was hat er sonst noch über mich erzählt?«

»Nichts!«, beteuert Lena wiederholt. »Aber eine Sache interessiert mich brennend. Was musste er Ihnen gestehen?«

Erneut wird ihre Neugierde nicht gestillt. Kristin mauert und bedankt sich für den Wein.

»Dito. Danke für die Pizza.«

Kristin verabschiedet sich und wünscht Lena eine gute Nacht.

»Schlafen Sie gut. Vielleicht sehen wir uns morgen beim Frühstück.«

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