×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Diabolisch«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Diabolisch« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Diabolisch

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

1995 macht sich der sechsjährige Alex in der Abenddämmerung mit seiner älteren Schwester Lotte allein auf den Heimweg, nachdem die beiden vergeblich darauf gewartet haben, dass ihr Vater sie abholt. Doch nur Lotte wird heil zu Hause ankommen. Auf Alex warten die Eltern vergebens.

Siebenundzwanzig Jahre später geschieht in diesem Dorf eine Reihe von blutigen Verbrechen. Ein Bewohner nach dem anderen muss auf grausame Weise sein Leben lassen. Oberkommissarin Larissa Flaucher versucht, einen Zusammenhang zwischen den Todesfällen zu rekonstruieren – und stößt auf nicht nur ein monströses Geheimnis.


  • Erscheinungstag: 25.04.2023
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003039

Leseprobe

27. Februar 1995

Liebes Tagebuch,

Alex ist nicht heimgekomen. Mama hat soo geschimpft. Aber ich kan nichts dafür, Alex wollte ja nicht. Papa hat mich gehauen. Ich spür es jezt noch ganz heis im Gesicht. Und neben meinem Auge ist die Haut aufgeplazt. Das war sein Ring. Ich hoffe, Alex kommt bald heim. Sonst haut mich Papa wieder. Und Mama hört dan entlich auf zu weinen …

0

4. Juni 2022

Kirsten Bergmann atmete flach. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von milder Hingabe. Tatsächlich hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt. Sie hob noch einmal die schweren Lider und blickte auf das Kruzifix in der Ecke, auf die Uhr über der Tür und auf ihre Tochter, die die ganze Nacht bei ihr gewacht hatte. Jetzt war es beinahe Tag. Die Dämmerung hatte schon ein milchiges Licht hinter die Fenster gezeichnet, erste Vögel zwitscherten. Es herrschte tiefer Frieden in dem Haus, in dem sie die letzten vierzig Jahre ihres Lebens zugebracht hatte und in dem sie dieses Leben nun bald aushauchen würde. Sie musterte ihre Tochter. Der Gram stand ihr ins Gesicht geschrieben. Noch einmal holte Kirsten Bergmann mühsam Luft, drückte die Hand ihres einzigen Kindes und flüsterte: »Ich verzeihe dir, hörst du?« Sie suchte Lottes Blick. »Ich verzeihe dir …« Dann ging ein Zittern durch ihren dürren Körper, und ihr Herz hörte auf zu schlagen.

»Ja«, sagte Lotte Bergmann. »Aber ich verzeihe dir nicht, Mutter.«

Samstag, 27.02.1995, 17.00 Uhr

Die Turnstunde war zu Ende. Lotte trieb ihren kleinen Bruder an, sich endlich zu beeilen. Wenn sie trödelten, gab es ein Donnerwetter, das wusste sie genau. Alex wusste es eigentlich auch, aber er brachte es einfach nicht fertig, sich schneller umzuziehen. Bei den Schuhen musste Lotte ihm helfen. Na gut, Alex war noch nicht in der Schule, da musste er das mit den Schnürsenkeln noch nicht beherrschen. Sie konnte das freilich super, sie war schließlich schon sieben, bald acht! Seufzend kniete sie sich vor ihn hin und half ihm, die Schuhe zuzubinden. »Komm, ich mach das«, sagte sie, während hinter ihr Herr Tersic auftauchte, der Sportlehrer.

»Beeilt euch mal ein bisschen, ich will absperren!«, scheuchte er die Kinder.

»Wir sind gleich fertig«, erwiderte Lotte. Tatsächlich waren die anderen alle schon weg. War auch keine große Gruppe gewesen heute. Kinderturnen. Sieben Mädchen und Jungen – und Herr Tersic. Heute hatten sie in der Halle auf dem großen Trampolin üben dürfen, das war toll gewesen. Lotte hätte stundenlang weiterhüpfen können. Na gut, auch deswegen waren sie jetzt ein bisschen spät dran: Sie war die Letzte, die aus der Turnhalle gekommen war. »Papa wartet bestimmt schon«, sagte sie und pfriemelte den Knoten auseinander, den Alex mal wieder in seine Schuhbänder gemacht hatte.

Ihr Bruder guckte unterdessen aus dem Fenster. »Ich seh ihn aber noch nicht.«

Hastig schnürte Lotte seine Schuhe und stopfte sein Zeug in den Beutel. »Da! Nimm! Wir sind fertig.«

Herr Tersic hatte im Vorraum gewartet und sperrte jetzt die Garderobe ab und dann – nachdem er den Kindern nach draußen gefolgt war – auch den Haupteingang. »So. Ich bin weg«, sagte er.

Lotte sah sich um. Papa war nicht da. Nur Frau Oppelt stand noch mit ihrem Auto auf dem Parkplatz. Lotte mochte die Supermarktmitarbeiterin nicht so gut leiden und guckte lieber in die andere Richtung. Frau Oppelt roch immer so komisch. Und sie hatte so komische Zähne. Das war Lotte ein bisschen unheimlich.

Papa war sonst immer pünktlich. Und meistens hatte er es eilig, denn er holte die Kinder nicht gerne vom Turnen ab. Aber seit das andere Auto kaputt war, das Mama immer benutzte, musste er die Geschwister fahren, denn es war ein langer Weg zwischen Holzhausen und dem Sportverein.

Herr Tersic stand jetzt neben Frau Oppelts Auto und sprach mit ihr. Er schien Witze zu machen, denn Frau Oppelt lachte immer mal wieder auf, und der Turnlehrer machte seltsame Bewegungen mit dem Oberkörper. Dann beugte er sich hinunter zu ihrem offenen Wagenfenster, und Lotte konnte nichts mehr verstehen, weil die beiden anscheinend flüsterten. Immer mal wieder guckte Frau Oppelt zu den Kindern herüber. Einmal traf ihr Blick den von Lotte, da schaute Lotte schnell woanders hin.

»Ich find es kalt«, sagte Alex.

Klar war es kalt. Es war ja Winter. »Du musst dich bewegen«, erklärte Lotte, die inzwischen selber fröstelte.

»Ich will mich nicht bewegen.«

»Dann musst du eben frieren.«

»Das find ich blöd. Wann kommt Papa?«

»Ich hab keine Ahnung, wann Papa kommt. Da vielleicht!« Lotte zeigte auf ein paar Scheinwerfer, die in einiger Entfernung zu erkennen waren. Inzwischen war es schon ziemlich dämmerig. Der Wagen gehörte aber nicht Papa, sondern fuhr vorbei. Herr Tersic klopfte auf das Dach von Frau Oppelts Auto und ging dann quer über den Parkplatz zu seinem eigenen. »Herr Tersic!«, rief Lotte.

»Was gibt’s?«

»Mein Bruder friert. Könnten wir vielleicht drinnen warten?«

»Tut mir leid, Mädchen«, erwiderte der Sportlehrer. »Ich muss jetzt weg. Ich kann nicht noch mal aufsperren.«

Ob sie doch Frau Oppelt fragen sollte? Die hatte gerade ihren Motor angelassen. »Frau Oppelt?«, rief Lotte. Das blaue Auto fuhr vor bis zur Straße. Lotte ließ ihren Sportbeutel fallen und rannte hin. »Frau Oppelt!«

Jetzt hielt sie doch an und ließ die Fensterscheibe herunter. »Was?«

»Unser Papa ist nicht gekommen«, erklärte Lotte. »Können wir … Können wir vielleicht bei Ihnen mitfahren?«

»Bei mir? Tut mir leid. Ich fahre woanders hin.« Sie kurbelte die Scheibe wieder hoch und setzte den Blinker.

Woanders hin? Aber das war die Richtung nach Holzhausen. Und vorher konnte man gar nirgends mehr abbiegen, oder?

Jetzt blieb die Frau vom Supermarkt noch mal stehen, machte wieder die Scheibe herunter, und Lotte dachte schon, sie könnten doch mitfahren. Aber dann sagte Frau Oppelt nur: »Euer Papa wird schon noch kommen. Seid mal nicht so ungeduldig. Erwachsene haben auch mal was anderes zu tun, als sich dauernd um die Kinder zu kümmern.« Dann gab sie Gas und war weg.

Als Lotte sich umdrehte, war auch Herr Tersic schon mit seinem Wagen an Alex vorbei und schlug Richtung Straße ein. Lotte winkte ihm, anzuhalten. Doch Herr Tersic gab ihr ein Zeichen, dass er keine Zeit hatte. Dann war auch er weg. Und sie und Alex waren allein auf dem Parkplatz vor dem Sportverein.

1

18. Juni 2022

Alles fing mit Ben an. Benjamin Keller. Ein lieber Junge. Er war drei. Und er sah wirklich entzückend aus auf dem Video – wenn man außer Acht ließ, dass er einen Kabelbinder um den Hals hatte und auf Zehenspitzen stand. Er zappelte schon etwas. Sobald er die Balance nicht mehr halten konnte, würde er heruntersinken und sich zwangsläufig strangulieren.

Peter Keller stockte das Herz, als er seinen Sohn in der kurzen Videosequenz sah, die ihm auf sein Handy geschickt worden war. Er war so schockiert, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Und dann, auf einmal, löste sich die Datei von selbst auf. »Martha?«, rief er. »Martha?« Er schrie es, außer sich, von einer Welle der Panik erfasst. »Martha!«

»Was ist denn? Ich bin gerade dabei …«, antwortete seine Frau aus der Küche, wo sie gerade den Abwasch machte.

»Martha, sie haben unseren Jungen!«

»Sie? Wer?« Martha Keller steckte ihren Kopf durch die Tür. »Und was heißt: haben?«

In dem Moment kam die nächste Nachricht: Wenn Eric tot ist, solange dein Kleiner durchhält, mache ich ihn los. Wenn nicht …

»Eric?«, keuchte Peter Keller. »Was hat Eric damit zu tun?« Irgendwer hielt Ben gefangen und hatte alles getan, was zu tun war, damit der Junge starb. Es sei denn, er wurde vorher losgebunden. Wenn Peter Keller seinen Sohn noch einmal lebend sehen wollte, musste Eric sterben, und zwar so schnell wie möglich.

»Gib her«, sagte er zu seiner Frau und nahm ihr das Messer aus der Hand.

»Aber es ist noch gar nicht abgespült.«

»Egal. Spül es hinterher.«

»Hinterher?«

»Hier!« Peter Keller hielt seiner Frau das Handy hin. Martha Keller trat hinter ihren Mann und blickte auf das Smartphone in seiner zitternden Hand. Sie sah die Nachricht – und sie sah, wie sie sich wieder auflöste.

»Was …?«, stotterte sie fassungslos.

»Ich muss … Ich soll …« Peter Keller starrte seine Frau mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich muss Eric töten. Sonst stirbt Ben.«

»Peter! Du kannst doch nicht … Bist du verrückt?«

»Willst du, dass er stirbt?«

»Du musst die Polizei rufen, Peter!«

»Die Polizei«, erwiderte Peter Keller höhnisch. »Die sind noch nicht mal losgefahren, bis …« Er wartete nicht länger. Es hatte keinen Sinn, mit seiner Frau zu diskutieren. Wenn er nicht sofort tat, was von ihm verlangt wurde, war sein Sohn tot. Sein einziges Kind. Er hatte das Bild gesehen. Ben würde das höchstens ein paar Minuten durchhalten. Bis die Polizei einträfe, wäre er längst tot. Und überhaupt: Wo war das gewesen? Wer hatte den Jungen in seiner Gewalt? »Mein Gott …« Er machte einen Schritt auf die Tür zu.

»Peter!«

»Lass mich!«

»Aber … Wer sagt denn, dass sie Ben freilassen, wenn du tust, was sie verlangen?«

»Niemand, Martha. Wir sprechen später darüber.«

»Später …« Martha Keller blickte ihrem Mann, gelähmt vor Angst, hinterher. Angst um Peter, ja. Vor allem aber Angst um Ben.

*

Der mutmaßliche Täter hatte sich ohne Widerstand festnehmen und abführen lassen. Allerdings hatte er sich mit keinem Wort geäußert. Offensichtlich stand er unter Schock. Polizeioberkommissarin Larissa Flaucher hatte bereits viele Tatorte von Gewaltverbrechen gesehen. Aber noch nie einen derart blutigen. Dem Opfer waren mit mehreren heftigen Hieben beide Halsschlagadern durchtrennt und beinahe der Kopf vom Leib getrennt worden. Die Blutlache, in der der Tote lag, füllte mehrere Quadratmeter. Das Messer lag darin. Ein gängiges Küchenmesser, gute Qualität, große Klinge, Larissa hatte selbst so eines bei sich zu Hause und benutzte es vor allem zum Kräuterhacken.

»Der Tod ist innerhalb von Sekunden eingetreten«, erklärte der Kollege von der Spurensicherung. Überflüssigerweise. Das hätte jeder gesehen. Die Tat war offensichtlich, der Täter auch – aber warum? Und warum so?

Gängige Lehrmeinung war, dass besonders blutrünstige Tötungen aus persönlichen Motiven begangen wurden. Nun, das schien bei Nachbarn ohnehin naheliegend. Der Täter, der von der Frau des Opfers als Peter Keller identifiziert worden war, lebte Wand an Wand mit Eric Hesse.

Larissa Flaucher hasste es, zu einem Tatort von Gewaltverbrechen gerufen zu werden. Und sie hasste es ganz besonders, wenn es sich um rohe Gewalt handelte. Aber wenn sie ehrlich mit sich selbst war, dann verspürte sie angesichts der exzessiven Brutalität dieses Verbrechens einen gewissen Kitzel. All das Blut, die grausam zugerichtete Leiche, die schreckensstarr geöffneten Augen des Opfers … Es wirkte beinahe surreal auf sie, was sich hier abgespielt haben musste und welche Bilder sich ihr dadurch boten. Wie viel bekam ein Mensch von seinem eigenen Sterben mit, der auf solche Weise niedergemetzelt wird? Spürt er noch einige Pulsschläge lang, wie sein Blut aus dem Hals schießt? Explodiert etwas in seinem Kopf? Konnte der wahnsinnige Schmerz, den er eigentlich fühlen musste, überhaupt noch bis ins Gehirn gemeldet werden?

Einer der Kollegen von der Spusi drängte Larissa beiseite. »Sorry Chef, wir brauchen noch ein paar Bilder aus diesem Winkel.«

»Machen Sie nur«, erwiderte sie und blickte sich um. Ein solcher Mord. Und das in einer solchen Idylle? Holzhausen. Der Ort hatte doch bloß ein paar hundert Einwohner, wenn überhaupt. Genau genommen war es überhaupt nur ein Ortsteil von Reichenberg. Aber ein hübscher. Die Vorgärten gepflegt, die Häuser in Schuss gehalten, die Straßen sauber und frisch geteert. Den Kreisverkehr am Ortsrand hatten sie mit immergrünen Bodendeckern bepflanzt, dazwischen ein paar Blumen gesetzt: Hortensien, Ehrenpreis, Phlox. Und die unvermeidliche Radarfalle. Biederer konnte ein Ort nicht sein.

Was um alles in der Welt war hier geschehen? Wie hatte es an einem solchen Ort zu einer solch schrecklichen Tat kommen können?

*

Samstag, 27.02.1995, 17.10 Uhr

Auf die Fastnacht in Holzhausen war die Gemeinde stolz. In diesem Ort verstand man zu feiern. Die Fastnacht von Reichenberg fand in diesem Ortsteil statt, und er hatte seinen guten Ruf in vielen Jahren erworben. Holzhausen begrüßte zur alljährlichen Feier mehr als tausend auswärtige Gäste, viel zu viele, um sie alle im Bürgerhaus unterzubringen. Was mit ein Grund dafür war, dass die beiden örtlichen Gaststätten, der Eberbräu und der Holzhauser, in dem es auch Fremdenzimmer gab, regelmäßig bis auf den letzten Platz besetzt waren und den Umsatz ihres Lebens machten, wenn Holzhausen die Jecken rief.

An diesem Tag liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Seit frühmorgens wurde dekoriert und organisiert, die Bühne aufgebaut, die Hauptstraße mit bunten Lampen geschmückt, und es wurden die letzten Arbeiten an den Kostümen und für den Einzug des Prinzenpaares vorgenommen. Und wieder würde es ein Triumph werden. Holzhausen hatte mit der Neue Chemie AG und den ehemaligen Südbadischen Versorgungswerken, die jetzt Best Energy GmbH hießen, reiche Sponsoren. Aber am wichtigsten waren natürlich die Holzhauser selbst. Sie waren das Herz und der Motor der Fastnachtsfeier.

»Rio ist ein Dreck dagegen«, erklärte Roland Weinberger stolz, als er den großen Gemeindesaal betrat, um die Arbeiten zu begutachten.

»Chef, ich war zwar noch nie dort. Aber ich weiß trotzdem, dass Sie recht haben«, bemerkte einer der Elektriker.

»Sieht aus wie der Friedrichstadt-Palast«, befand Richard Plötz, der gemeinsam mit einem von allen verachteten Flensburger die Polizeistation von Reichenberg bildete.

»Nu lass mal die Kirche im Dorf, Richie«, erwiderte der Elektriker. »Die haben da Technik, das kannst du dir erst vorstellen, wenn du da warst.«

Plötz zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Ich dreh dann noch eine Runde.«

Jeder wusste, dass ihn die Runde in den Eberbräu führen würde, wo er mit der Wirtin schäkerte und ein Bier trank. Mindestens. Aber an einem solchen Tag durfte ein bisschen Vorglühen schon sein. Und dem örtlichen Polizeibeamten konnte man nicht gut Vorschriften machen. Falls wirklich etwas zu regeln wäre, gab es ja noch den Flensburger, der mit Sicherheit nicht an der Fastnacht teilnehmen würde. Gerber.

Roland Weinberger, Rechtsanwalt und Notar, verwaltete ehrenamtlich für Reichenberg die Gemeindefinanzen und war Leiter des Festkomitees, das die Fastnacht ausrichtete. Er blickte Plötz hinterher und sah auf die Uhr. Die Band hätte längst da sein müssen. Dieses Jahr hatten sie eine Truppe aus Chemnitz gebucht, drei Jungs und eine ziemlich aufreizende junge Frau. Weinberger hatte sie mal bei einem Freiluftkonzert in Dresden gesehen. Außerdem kam natürlich die örtliche Blaskapelle. Aber die brauchte keinen »Soundcheck«, wie sie das neuerdings nannten. Denn die Reichenberger Bläser beherrschten ihr Repertoire im Schlaf. Vor allem sorgten sie immer für Bombenstimmung.

Auf der Bühne fiel ein Stück der Kulisse krachend in sich zusammen. Erschrocken fuhr Weinberger herum.

»Was für eine Scheiße!«, schrie Holger Bergmann, der beim Aufbau half. »Wer hat denn diese Dinger hier verschraubt?«

»Nu reg dich mal nicht auf, Holger«, versuchte Weinberger ihn zu beschwichtigen. »Das kann doch mal passieren.«

»Die Platte hätte mich fast geköpft«, bellte Bergmann, beruhigte sich aber dann wieder, vielleicht weil er seine Frau in der Tür entdeckt hatte. »Was?«

»Die Kinder«, sagte Kirsten Bergmann.

»Was ist mit den Kindern?«

»Die müssen vom Sport abgeholt werden, Holger!«

»Wie spät ist es?«

»Fast Viertel nach fünf. Sie hatten um fünf Uhr Schluss.« Es war Kirsten Bergmann sichtbar unangenehm, das Thema vor den anderen besprechen zu müssen.

»Die müssen eben ein bisschen warten, ich kann jetzt nicht weg«, erklärte ihr Mann.

»Soll ich sie schnell holen?«, schlug Kirsten Bergmann vor.

»Nicht mit dem Firmenwagen, Kirsten.«

Die Frau blickte sich peinlich berührt um. »Aber … Der andere ist kaputt.«

»Ich hab ihn nicht gegen das Garagentor gefahren«, erklärte Holger. Es erklang ein dumpfes Lachen. Roland Weinberger drehte sich weg. Jemand rief leise »Tatä-tatä-tatä …«

»Es wird bald dunkel, Holger.«

»Ich kümmere mich schon darum. In ein paar Minuten kann ich hier weg. Wenn du mich das hier endlich in Ruhe fertig machen lässt.«

*

Samstag, 27.02.1995, 17.20 Uhr

Wenn sie noch länger hier stehen blieben, würden sie nur noch mehr frieren. Lotte wusste, dass man sich bewegen sollte, wenn einem kalt war. Sie hüpfte ein wenig von einem Bein aufs andere. »Du musst dich auch bewegen«, sagte sie zu ihrem Bruder.

Doch Alex war genervt. »Keine Lust.« Er setzte sich auf den Boden.

»Hey, das ist blöd!«, erklärte Lotte. »Der Boden ist kalt.«

»Mir doch egal. Ich friere auch im Stehen.«

Sie ja auch. »Weißt du was?«, sagte Lotte. »Wir gehen ein Stück. Wenn Papa kommt, sehen wir ihn ja und winken ihm. Dann hat er es auch nicht so weit.« Allerdings wusste sie, dass sie das eigentlich nicht durften. Allein auf der Landstraße laufen. Aber Papa kam ja nicht. Und Mama auch nicht. Und es war kalt. Und echt spät.

Alex sagte nichts, sondern stand nur auf, nahm ihre Hand und ging los. Lotte seufzte und marschierte neben ihm – auf der Seite zur Straße, sodass er außen ging. Das war sicherer. Sie hatte es von Mama gelernt. Wenn sie mit Mama ging, musste sie immer auf der Seite sein, die nicht an der Straße entlangführte.

Eine Weile marschierten sie schweigend nebeneinander her. Es war ganz ruhig auf der Landstraße. Holzhausen war eigentlich nur ein paar Minuten entfernt. Wenn man mit dem Auto unterwegs war. Aber wenn man zu Fuß ging, kam man irgendwie gar nicht vom Fleck. Und Alex war auch noch langsam. Schrecklich langsam! »Komm schon!«, mahnte Lotte ihn. »Wenn wir so trödeln, kommen wir nie nach Hause.«

»Ich denke, wir gehen bloß Papa entgegen.«

»Tun wir auch. Aber wir wissen ja nicht, wann er endlich kommt.«

»Hm.«

Wieder wanderten sie schweigend. Und dann, endlich, tauchten die Scheinwerfer auf. Lotte erkannte sie gleich! Sie hatte ein gutes Auge dafür. Es sahen nämlich längst nicht alle Scheinwerfer gleich aus. Das war genau der BMW von Papa.

Es war auch ein BMW. Aber als er näher kam, war es eben doch nicht der von Papa. Sondern der von Herrn Kramp. Der hatte an der Seite so komische schwarze Streifen und eine Nummer aufgemalt, eine Sieben. Dadurch sah er wie ein richtiger Rennwagen aus, auch wenn es fast das gleiche Auto war wie ihres. Lotte winkte und hüpfte am Straßenrand, damit er erkannte, dass sie ihn stoppen wollte. Doch Herr Kramp winkte nicht mal zurück. Und anhalten tat er auch nicht. Stattdessen gab er eher noch ein bisschen mehr Gas, um zu zeigen, was für einen tollen Flitzer er hatte, und dann war er auch schon vorbei, und Lotte ließ die Arme sinken.

»So ein Blöder«, maulte Alex.

»Er hatte es wahrscheinlich eilig.«

»Ich hab’s auch eilig«, erklärte der kleine Bruder. »Ich will endlich nach Hause.«

»Das will ich auch, Alex. Aber mit Jammern geht’s nicht schneller.«

»Du klingst wie Mama.«

Stimmt, sie klang wie Mama. Aber jetzt war sie ja auch gerade ein bisschen wie Mama für Alex. Schließlich musste sie auf ihn aufpassen, er war der Kleinere von ihnen. »Komm schon«, seufzte sie und zog ihn weiter. »Es wird bald dunkel.«

*

Samstag, 27.02.1995, 17.35 Uhr

Es war schon ziemlich schummerig, als Holger Bergmann vors Bürgerhaus trat. Na, jetzt würden die Kinder ja sicher sowieso zu Hause sein. Er überlegte gerade, ob er rasch hinübergehen und nachsehen sollte, da sprach ihn Gaby Deinhard an, eine Mitarbeiterin der Gemeindeverwaltung. »Guten Abend, Holger.«

»Hallo, Gaby. Hast du etwa gearbeitet heute?«

»Gibt doch immer was zu tun.« Sie lachte dieses Lachen, von dem sie genau wusste, wie es auf Männer wirkte – dass es auf Männer wirkte. Vor allem auf Holger Bergmann.

»Aber jetzt ist Feierabend, was?«

»Eigentlich ja«, erwiderte Gaby. »Nur dass ich ohne meine Handtasche leider nicht zu Hause reinkomme. Also … Ich bräuchte deine Hilfe.«

Holger Bergmann grinste. Ausgesperrte Frauen waren seine Spezialität. Schließlich arbeitete er beim Schlüsseldienst. »Soll ich mal dein Schloss knacken?«

»Wie du das sagst, Holger …« Gaby schien ein wenig zu erröten, und Holger Bergmann spürte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. »Nein. Ich … Also ich müsste noch mal ins Büro. Da hab ich sie nämlich gelassen.«

»Im Bürgerhaus?«

»Klar. Weißt ja, wo ich arbeite.«

Man hätte natürlich auch einfach Jutta Heinrichs fragen können, die Ortsvorsteherin, die sich irgendwo hier herumtreiben musste. Aber die war beschäftigt genug an diesem Tag. »Mach ich doch gerne«, erklärte Holger Bergmann deshalb. Nun, vielleicht nicht nur deshalb. »Gehen wir?«

»Ich weiß auch nicht, warum ich nicht besser aufgepasst habe. Sonst passiert mir so was nie.« Bergmann hörte nur mit halbem Ohr zu, weil Gaby vor ihm die Treppe zu den Büros hochging und er Schwierigkeiten hatte, sich auf etwas anderes als ihren Hintern zu konzentrieren. Wahrscheinlich wusste sie das sogar, denn sie bewegte ihn wirklich sehr aufreizend vor ihm hin und her. Aber gut, manchmal musste man die Dinge nehmen, wie sie kamen.

»Also, ich weiß ehrlich gesagt gar nicht …«, plapperte sie weiter, während sie vor ihrem Büro stehen blieben.

»Lass mal sehen.« Bergmann kniete sich hin, um das Schloss zu begutachten. »Wie hast du dich überhaupt ausgesperrt, wenn deine Schlüssel in der Tasche sind?«, fragte er und drückte die Klinke – nur um festzustellen, dass die Tür keineswegs verschlossen war. Vielmehr schwang sie auf, und die überraschte Gaby stieß einen kleinen Schrei aus und griff nach Bergmanns Schultern. »Wie hast du das denn angestellt, Holger?«

Bergmann lachte heiser. Ihr Parfüm machte ihn leicht schwindlig. »Ich würde ja gern eine Heldengeschichte erzählen. Aber die Tür war nun mal nicht abgesperrt.«

»Nicht abgesperrt? Das kann doch nicht sein. Dann habe ich dich ganz unnötig hier hoch gebeten?« Sie beugte sich ihm entgegen. »Das tut mir leid.« Und küsste ihn unvermittelt auf den Mund.

Bergmann wollte etwas sagen, aber es fiel ihm nichts ein. Stattdessen ließ er sich von ihr hineinziehen und auf den Besucherstuhl platzieren.

»Jetzt sperre ich aber wirklich ab«, sagte Gaby, angelte nach ihrem Schlüsselbund und machte die Tür von innen fest zu. »Nicht dass uns jemand stört.«

*

Samstag, 27.02.1995, 17.40 Uhr

Wenn Alex nicht gewesen wäre, hätte sie längst geweint. Aber Lotte wollte nicht, dass ihr kleiner Bruder sah, wie schlecht sie sich fühlte. Dann hätte er auch weinen müssen, und alles wäre bloß noch schlimmer geworden. Vor allem war Alex die letzten paar Meter immerhin klaglos neben ihr hergelaufen. Bis jetzt. Auf einmal aber blieb er stehen. »Ich geh nicht mehr«, erklärte er und riss seine Hand von ihr los.

»Jetzt komm schon, Alex«, sagte Lotte. »Ich find’s ja auch blöd. Aber wir können doch nicht hier stehen bleiben.«

»Doch. Können wir.«

»Nein, können wir nicht. Das ist die Straße.«

»Wieso kommt Papa nicht?«

»Ich weiß es nicht, Alex.«

»Ich geh jedenfalls nicht mehr.«

Lotte musste schlucken. Es war jetzt richtig schwer, nicht zu weinen. Wenn Alex nicht mehr auf sie hörte, dann … Dann … Verzweifelt sah sie sich um – da entdeckte sie die Bushaltestelle. Die, von der ihre Mutter immer sagte: Wieso baut man eine Haltestelle mitten ins Nirgendwo?

Genau so fühlte sich das hier an: wie das Nirgendwo. Jetzt wusste Lotte, was Mama damit meinte. Aber heute war das mal eine tolle Sache, dass diese doofe Bushaltestelle da war. »Guck mal«, sagte sie. »Da kannst du dich hinsetzen.«

Alex schwankte. Eigentlich wollte er nicht mehr weitergehen. Aber sich auf eine Bank setzen, das wäre vielleicht ganz gut.

»Da zieht der Wind auch nicht so hin«, erklärte Lotte und nickte bekräftigend.

»Hm. Gut.«

Endlich konnten sie weitergehen. Lotte atmete auf. Am liebsten hätte sie sich auch an die Haltestelle gesetzt. Da war es vielleicht wirklich nicht so kalt. Außerdem gab es da eine Laterne. Und langsam wurde es wirklich dunkel …

*

2

18. Juni 2022, 22.10 Uhr

Peter und Martha Keller hatten das Mobiltelefon mitgenommen. Natürlich. Aber dieses kurze Video, auf dem Benjamin mit einem Kabelbinder um den Hals zu sehen gewesen war, hatte sich ohnehin von selbst aufgelöst. Die Polizei würde nichts finden – und sie würde ihnen nicht glauben, dass Peter den Nachbarn hatte umbringen müssen, wollte er nicht den Tod seines kleinen Sohnes riskieren.

Martha konnte es ja selbst kaum glauben. Immer wieder fragte sie sich, ob das alles nicht ein irrer Traum war, aus dem sie irgendwann endlich aufwachen würde. Doch sie wachte nicht auf. Und wenn sie sich an die Stimme erinnerte, mit der ihr Mann geschrien, mit der er sie angeherrscht hatte, ihr das Messer zu geben, und an den Blick, mit dem er nach nebenan gerannt war, um Eric zu töten … Nein, sosehr sie sich wünschte, in einem Albtraum zu leben, sie wusste, dass es die Wirklichkeit war – und dass die Geschichte von dem Video die Wahrheit war.

Dass die Polizei die Geschichte dennoch nicht glaubte, das konnte sie sogar verstehen. Martha Keller war sich sicher, dass die Beamten sich auch hier im Haus heimlich umgesehen hatten, ob der Junge nicht doch da war – oder ob ihn womöglich seine Eltern gefangen hielten oder ihm wer weiß was angetan hatten. Klar, wer den Nachbarn absticht wie eine Sau, der brachte wahrscheinlich auch seine Kinder um.

Im Dunkeln saß Martha Keller in ihrem Wohnzimmer und starrte in ihre Erinnerungen. Versuchte, allem einen Sinn zu geben. Vergeblich. Sie schluchzte laut auf. Selbst wenn Peter wieder rauskam, selbst wenn ihr Junge wieder auftauchte, nichts würde mehr werden wie zuvor. Nichts.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Vielleicht gab es eine Nachricht von Benjamin! »Keller?«

»Frau Keller, guten Abend«, meldete sich eine weibliche Stimme. »Röschitz mein Name. Badische Zeitung.«

Schnell legte sie auf. Nein, mit der Presse wollte sie nicht sprechen. Woher hatte die überhaupt ihre Nummer?

Es klingelte abermals.

»Hören Sie!«, sagte Martha Keller mit rauer Stimme. »Lassen Sie mich in Ruhe, ja? Ich werde Ihnen nichts sagen. Wenn Sie sich noch einmal bei mir melden, werde ich die Polizei rufen!«

»Hier spricht die Polizei, Frau Keller«, hörte sie am anderen Ende eine ganz andere Stimme. »Wir wollten nur sichergehen, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist. Falls Sie psychologische Hilfe brauchen …«

»Nein«, stotterte Martha Keller. »Nein. Danke. Brauche ich nicht.«

»Werden Sie belästigt? Ich meine, weil Sie sich eben so gemeldet haben …«

»Ja. Nein. Eine Journalistin. Aber ich will keine Presse.«

»Das ist gut, Frau Keller. Sprechen Sie besser mit niemandem über die Ereignisse.« Ein Zögern. »Ja dann, gute Nacht.«

»Hallo?«

»Ja?«

»Und Sie suchen weiter nach meinem Jungen?«

»Aber natürlich, Frau Keller. Die Suche läuft auf Hochtouren.«

»Danke«, erwiderte Martha Keller und legte auf.

Es machte »Pling«, und auf ihrem Handy ging eine Nachricht ein. Ein Foto. Mit zitternden Fingern öffnete Martha Keller es und blickte in die großen Augen ihres Sohnes: auf Zehenspitzen stehend, mit einer Schlinge um den Hals … Aber da war nicht nur ihr Junge auf dem Hocker. Da war auch noch etwas anderes zu sehen. Eine Lampe. Und ein seltsamer Hintergrund, wie … Sie kannte das. Sie wusste, wem diese Lampe gehörte. Sie wusste, wo dieses Bild entstanden sein musste. Und damit wusste sie, wer dafür verantwortlich war, dass Eric Hesse nun tot war und Marthas Mann im Gefängnis. Und Benjamin … Benjamin …

*

Die Praxis lag im Dunkeln. Dr. Georg Wacker, Allgemeinarzt stand auf dem weißen Schild neben der Eingangstür unten – und oben noch einmal genauso neben der Praxistür. Für die Niederlassung eines Arztes war Holzhausen oder auch Reichenberg eigentlich zu klein. Aber angesichts der Landflucht der Mediziner war sein Einzugsgebiet wesentlich größer. Womöglich betreute er längst den halben Landkreis und konnte sich deshalb über mangelnden Patientenzulauf nicht beklagen.

Die Arzthelferin Charlotte Gerstner arbeitete oft länger. Sie war pflichtbewusst, fleißig, engagiert, stets liebenswürdig. Sie hätte sehr beliebt sein können, wäre sie weniger verschlossen gewesen. An Sonntagen war sie dennoch selten in der Praxis, schon gar nicht so spät. Doch sie hatte sich bereit erklärt, den Verwaltungskram am Wochenende zu erledigen – und es war dann doch später geworden als geplant. Damit, dass so spät am Sonntag noch jemand klingelte, musste sie nicht rechnen. Allerdings machen Krankheiten nun einmal keinen Unterschied zwischen Werk- und Sonntagen. Und wer leidet und in der Praxis Licht sieht, würde vielleicht sein Glück probieren.

Also stand Charlotte Gerstner auf und öffnete die Tür. Sekunden später wusste sie, dass es kein medizinischer Notfall war.

»Sie sind das?«

»Ich bin es, ja …«

*

Von Ermittlungen konnte man kaum sprechen. Polizeioberkommissarin Larissa Flaucher blickte auf ihre vor sich ausgebreiteten Notizen, die ein Bild vermittelten, das nicht den geringsten Sinn ergab: Zwei völlig unbescholtene Männer, die keinen Streit miteinander hatten, lebten seit Jahren friedlich nebeneinander – und dann geht einer von ihnen nach nebenan und metzelt den anderen in einer absurden Orgie der Gewalt nieder.

Natürlich gab es das, dass ein Psychopath seinen Wahn unauffällig füttert, bis er schließlich aus ihm hervorbricht und aus dem Menschen ein Monster wird. Aber ohne jedes leiseste Anzeichen? Ohne Warnungen, die übersehen worden waren? Leider waren weder der Täter noch seine Frau vernehmungsfähig. Beide standen unter Schock. Das Kind, Benjamin, drei Jahre alt, war spurlos verschwunden. Die örtlichen Kollegen suchten nach ihm, alle Polizeistationen im Landkreis waren informiert.

»Also«, murmelte Larissa Flaucher. »Peter Keller, vierundfünfzig. Lkw-Fahrer. Zwei Einträge wegen Alkohol am Steuer, einmal mit Entzug der Fahrerlaubnis für vier Monate. Aber seit vier Jahren nicht mehr auffällig. Vielleicht, weil seine Frau schwanger geworden ist? Kriminalpolizeilich niemals auffällig geworden … Und dann bringt er den Nachbarn mit einem Küchenmesser um. Die Frau sagt aus, jemand habe den Sohn bedroht. Jemand werde den Sohn töten, wenn ihr Mann nicht den Nachbarn umbringe. Das Kind bleibt trotzdem verschwunden. Der Mörder schwört Stein und Bein, er habe keine andere Wahl gehabt…«

Inzwischen schwiegen beide. Und Larissa konnte sie sogar verstehen. Mit der Geschichte würden sie nie durchkommen, egal ob sie stimmte oder nicht.

Sie fuhr ihren Rechner herunter und schob die Notizen, die sie sich auf etlichen Blättern gemacht hatte, zu einem Stapel zusammen. Sie würde sich mit den Kollegen vom Dezernat Freiheitsberaubung austauschen müssen. In dem Fall griffen die Aufgabenbereiche ineinander, auch wenn nicht klar war, ob das Kind wirklich entführt worden war oder das bloß eine irre Story war, die sich die Kellers ausgedacht hatten.

Ein Blick zur Uhr besagte, dass es bald Mitternacht war. Der Tag war verflogen, und der nächste würde nicht weniger anstrengend werden. Sie sollte versuchen, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, auch wenn sie Angst davor hatte, dass sie die grausamen Bilder vom Tatort in ihren Träumen wiedersehen würde. Dafür hatte sie ein verdammtes Talent. Und auch dafür, noch viel grausamere Bilder daraus zu erzeugen.

Sie hatte gerade die Schreibtischlampe gelöscht, als der Anruf kam: »POK Flaucher? Wir haben leider eine Tote.«

»Toller Tag«, erwiderte die Oberkommissarin. »Wo?«

»Holzhausen …«

»Nicht Ihr Ernst.« Sie atmete tief durch. »Kann mich jemand abholen?«

»Die Kollegen sind schon auf dem Weg.«

Seufzend griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer ihrer Nachbarin, zu Hause in Wolfach. »Aisha. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt … Oh, das tut mir leid. Hör mal … Ja, ein Einsatz … … Du bist die Beste. Danke!« Sie wusste nicht, was sie ohne ihre Nachbarin gemacht hätte, die immer wieder als Ersatzmama für Sara einsprang, wenn Larissa kurzfristig zu einem Einsatz gerufen wurde. Nach der Schule war Sara zur Nachbarin gegangen, weil niemand zu Hause war. Und dort schlief sie jetzt. Morgen früh würde sie Frühstück bei Aisha bekommen, dann in die Schule starten – und dann sah man weiter. Larissa konnte nur hoffen, dass es mit dem Einsatz hier nicht allzu lange dauerte.

*

Polizeihauptkommissar Hegel war schon vor Ort, als Larissa mit der Streife eintraf. Er schien sie nicht weiter zur Kenntnis zu nehmen, sondern studierte mit großer Neugier die Blutspur, die von der Tür durch das Treppenhaus verlief. Blutspritzer, zum Teil von offenbar taumelnden Schritten verwischt. Hegel ging – mit größtmöglichem Abstand – daran entlang, während Larissa ihm folgte. An der Tür zum Hinterausgang war noch einmal einiges verschmiert, draußen indes verlor sich die Spur etwas. Aber da würden die Kollegen von der Spurensicherung bei optimaler Ausleuchtung noch jede Menge weiterer Spuren finden. Wer so blutete, hörte nicht nach einer Minute damit auf.

Jemand hatte sich offenbar schwer verletzt aus der Praxis über den Hof geschleppt und war dann … Ja was? In den Büschen am Kanal verschwunden?

»Wurde das Opfer im Gebüsch gefunden?«, fragte Larissa.

»Wer sagt, dass das Blut von einem Opfer stammt?«, erwiderte Hegel, den die junge Kommissarin bisher noch nicht persönlich kennengelernt hatte und dessen Stimme überraschend hoch war.

»Natürlich«, erwiderte Larissa und verfluchte sich innerlich. Anfängerfehler, verdammt. »Die Person, die das Blut verloren hat«, korrigierte sie sich.

»Fragen Sie die Kollegen hier.« Er nickte in Richtung der örtlichen Polizisten, die etwas unbeholfen ihre Polizeiabsperrung aufstellten, während vor dem Haus das Blaulicht dafür sorgte, dass trotz der Uhrzeit immer wieder Neugierige scheinbar zufällig vorbeikamen. »Ich sehe mir die ganze Situation hier einmal an.«

Die Kommissarin wandte sich an die uniformierten Kollegen. »Offenbar ein Kapitalverbrechen, was?«, versuchte sie es zugleich offensiv, aber unangreifbar. »Wo ist die Leiche?«

Die Männer in Blau blickten einander an. »Welche Leiche?«, sagte der eine. »Haben wir was verpasst?«

»Ich dachte, es wurde eine Tote gefunden.«

»Uns ist nichts bekannt. Was wir gefunden haben, ist diese Damenhandtasche, das Jäckchen da … Na ja, und jede Menge Blut.« Der Mann deutete auf die geöffnete Heckklappe eines Zivilfahrzeugs, das unschwer als Dienstwagen zu erkennen war, mit dem Hegel gekommen sein musste.

Larissa dankte und trat an das Auto, um sich über den Kofferraum zu beugen. Braune Ledertasche. Massenfabrikat. Gepflegt. Seit ein paar Jahren aus der Mode …

Endlich fuhr die Spurensicherung auf den Hof.

»Dietek!«, rief die Kommissarin, als sie den Fahrer, der aus dem Wagen stieg, erkannte.

»Oh, Frau Flaucher. Sie schon wieder.«

»Wow, klingt aber nach maximaler Freude, mich wiederzusehen.«

»Nichts für ungut, Frau Flaucher. Aber maximale Freude über das Wiedersehen mit einer Polizeioberkommissarin, das ist ja quasi ein Widerspruch in sich. Also zumindest dienstlich.«

»Hm«, erwiderte Larissa. »Und ich dachte, das kann man nur umgekehrt so betrachten.«

Werner Dietek lachte. »Klar. Gilt für uns genauso. Keiner will unsereinen sehen. Haben wir mit Kardiologen, Totengräbern und Gerichtsvollziehern gemeinsam, was?«

»Vermutlich, Dietek. Ich bin trotzdem froh, dass Sie die Sache hier übernommen haben. Da weiß ich wenigstens, dass wir super Arbeit geliefert bekommen.«

Mit einem geschulten Blick hatte Werner Dietek die Szenerie erfasst und erklärte: »Zumindest das generelle Bild ist nicht besonders schwer zu analysieren.« Er schüttelte den Kopf. »Bei dem Blutverlust bin ich mal gespannt auf die Leiche.«

»Gibt keine«, erklärte Larissa.

»Wie? Gibt keine?«

»Wir haben nur ein paar Sachen gefunden. Bisher. Die Leiche fehlt noch. Falls es eine gibt.«

»Haha«, lachte Dietek und hievte seinen Koffer aus dem Wagen. »Müsste dann ein Zombie sein. Die Menge Blut würde auch für zwei Leichen reichen. Dann ziehe ich mich mal um und bereite alles vor, bis die Kollegen da sind.« Er blickte über den Hof. »Können wir die Absperrung weiter ziehen?«

»Klar«, erwiderte Larissa Flaucher. »Bis wohin?«

»Am besten sperren wir das ganze Grundstück einschließlich Gehweg vor dem Haus. Und die Kollegen …« Dietek nickte zum Einsatzwagen der Streife hin, während er ihr ein Paar Plastiküberzieher für die Schuhe reichte. »Die sollten wieder vom Hof fahren. Das war gar keine gute Idee.«

Die Kommissarin seufzte und schlüpfte hinein. »Sie haben recht.«

»Bitte rückwärts. Wäre gut, wenn sie möglichst exakt auf ihren eigenen Spuren zurücksetzten.«

Wobei es natürlich auf dem Pflaster keine mit bloßem Auge sichtbaren Spuren der Reifen gab. Aber der Mann von der Spusi hatte natürlich recht.

»Eine Bitte, Dietek.«

»Ja?«

»Könnten Sie sich möglichst schnell die Handtasche vornehmen, die wir gefunden haben? Ich will wissen, was darin ist.«

»Klar. Vielleicht erfahren wir ja, nach wem wir suchen.«

*

Sie erfuhren es. Mit dem ersten Griff seiner behandschuhten Finger holte Werner Dietek eine Geldbörse aus der Tasche, in der neben einigen Scheinen auch eine Bankkarte, ein Führerschein und ein Personalausweis steckten. »Charlotte Gerstner«, las Larissa Flaucher. »Geboren am 12. Oktober 1987.« Einem ersten Impuls folgend, wollte sie schon einem der hiesigen Polizeibeamten zurufen, ob er die Frau kenne. Doch bevor der Kollege noch eilfertig über den Hof zu ihr lief und mögliche Spuren zerstörte, hielt sie sich zurück und machte nur rasch ein Foto des Ausweises mit ihrem Smartphone.

Das Passbild zeigte eine völlig durchschnittliche Frau. Brauner Kurzhaarschnitt, wenig Make-up, kein Schmuck. »Rückseite?«

Die Adresse. Klick. Larissa kannte die Straße.

»Danke.« Das war hier im Ort. Sie war irgendwann im Laufe des Tages schon daran vorbeigekommen. Die Person, deren Tasche und Jacke und vielleicht auch Blut hier gefunden worden war, kam demnach aus Holzhausen. Was war hier verdammt noch mal los? Und was hatte es mit dem Anruf auf sich gehabt? Hilfe! Hier wird jemand ermordet! In Holzhausen, in der Praxis Dr. Wacker, kommen Sie schnell!

Anonyme Rufnummer, aber das musste nichts bedeuten, das hatten schließlich viele. Larissa Flaucher hatte sich die Aufnahme vom Notruf vorspielen lassen, während die Kollegen von der Streife sie hierhergebracht hatten. Eine weibliche Stimme. Kein Name. Nichts weiter. Eigentlich gab es ganz genaue Regeln, was bei einem Anruf der 110 zu sagen war. Nur dass sich in Ausnahmesituationen sowieso kaum jemand daran hielt. Wie auch. Deshalb waren sie ja Ausnahmesituationen. Und deshalb musste die Polizei auch solche Notrufe ernst nehmen, bei denen nicht klar war, ob sich hier nur jemand einen schlechten Scherz erlaubte.

Es wäre allerdings ein sehr schlechter Scherz gewesen, bei all dem Blut. Nein, hier war schon ganz eindeutig etwas Schreckliches geschehen. Und es gehörte kein außergewöhnlicher kriminalistischer Scharfsinn dazu, ein Kapitalverbrechen zu erwarten. Die Frage war nur, ob sie es mit einem Todesfall zu tun hatten oder nur mit einer schweren Verletzung.

»Dietek?«

»Ja, Frau Flaucher?«

»Was denken Sie, wie viel Blut die Person auf der Strecke von der Hintertür über den Hof verloren hat.«

»Schwer zu sagen«, erwiderte der Spurensicherer. »Könnte schon ein Liter gewesen sein. Aber bitte, das lässt sich ohne genauere Untersuchung kaum sicher sagen.«

»Verstehe. Danke.«

Wenn es auf dieser Strecke ein Liter war, dann waren es oben und im Treppenhaus sicher auch noch einmal ein bis anderthalb Liter. Alles in allem zweieinhalb Liter Blut. Ab drei Litern wird es verdammt gefährlich. Die Frau konnte doch kaum noch bei Bewusstsein gewesen sein, als sie hier über den Hof getorkelt war.

»Wo bleiben denn die Kollegen, die das Gebüsch durchkämmen sollen?«, rief Larissa den Einsatzbeamten von der Streife zu, allerdings in dem Moment, in dem der Mannschaftswagen vorfuhr.

»Halten Sie die mal lieber zurück!«, rief Dietek und wedelte mit den Händen, um klarzumachen, dass er Angst um seine Spuren hatte.

Die Kommissarin lief vors Haus, hielt den Kollegen ihre Marke hin und erklärte: »Danke, dass Sie da sind. Wir haben jede Menge Blut und einen unspezifischen Notruf. Die Anruferin behauptete, es würde jemand ermordet. Im Moment müssen wir mindestens mit einer schwer verletzten Person rechnen. Wir müssen die nähere Umgebung schnell und sorgfältig nach ihr absuchen. Möglicherweise ist sie nicht tot, wir brauchen also auch einen Rettungswagen …«

»Ist schon auf dem Weg«, warf ein noch sehr junger Kollege ein, der offenbar die Einsatzleitung der Einheit hatte.

»Danke. Wir haben schon die Spusi hier, das heißt, Sie müssen bitte extrem vorsichtig sein, damit so wenige Spuren wie möglich vernichtet oder unbrauchbar werden.«

Das alte Dilemma: Du kannst keine möglicherweise noch Lebenden finden, ohne sie zu suchen – und du kannst sie nicht suchen, ohne Spuren zu zerstören.

Ihr Handy klingelte. »Ja?«

»Kommen Sie rauf. Wir haben vielleicht die Tatwaffe.«

*

Dr. Georg Wacker hatte nicht geschlafen, als das Telefon klingelte. Er war immer noch aufgedreht – daran hatte der Sex nichts geändert. Auch wenn der Junge sich gut reingehängt hatte. Aber das taten sie ja meistens, wenn man ihnen ein bisschen half. Und sich selbst auch. Er war das Zeug einfach zu sehr gewöhnt. Vor allem war es diese Leere hinterher. Nein, genau genommen war es die Angst vor der Leere. Wenn die Wirkung nachließ. Dann war da einfach nur ein großes Nichts. Scheiße.

Er war gerade auf dem Weg ins Bad gewesen, als das Telefon geläutet hatte. Ein Blick zur Uhr hatte besagt, dass es fast halb drei war. »Oh Gott.« Kurz hatte er überlegt, gar nicht ranzugehen. Hausärzte müssen keine Notrufe entgegennehmen. Er wäre auch gar nicht auf Hausbesuch gegangen. Nicht einmal, wenn er nüchtern gewesen wäre. War er aber nicht. Nicht in dem Sinne jedenfalls. »Ja?«

»Herr Doktor Wacker?«

»Ja. Wer spricht denn bitte? Was ist so wichtig, dass Sie mich mitten in der Nacht anrufen müssen?« Aber er fühlte sich nüchtern, und zwar auf eine Weise, dass er jedes Staubkorn, das im Schein der kleinen Lampe beim Telefon in der Luft schwebte, wie durch ein Mikroskop betrachten konnte, mit allen Kanten und Scharten. So ähnlich mussten Asteroiden durchs Weltall schweben.

Autor