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Der Gesuchte

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Rokka jagt einen alten Freund

Kriminalinspektor Johan Rokka wird nach Stockholm beordert, um dort im Dezernat für Schwerverbrechen auszuhelfen. Die Stockholmer Polizei sucht einen Juwelendieb. Viktor Berger, ein Jugendfreund von Rokka, ist aus dem Gefängnis geflohen und wird verdächtigt. Der Ermittler hat ein Problem: Viktor hat ihm das Leben gerettet hat, als sie noch Kinder waren. Er muss Viktor finden, bevor die Polizei es tut.


  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Aus der Serie: Ein Johan Rokka Krimi
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000885

Leseprobe

Für Johan Viktor

für all das, was du gegeben hast

1

Vielleicht hätte ich doch jemandem von dem Paket erzählen sollen, denkt Linus Antonsson und schaltet die Scheibenwischer ein. Aber bei der Arbeit hätte mir sowieso keiner geglaubt, die hätten gedacht, ich bin durchgeknallt. Sogar Mama hätte gemeint, dass ich mich getäuscht habe, so krank war das.

Die nassen Schneeflocken verschmieren den Dreck auf der Windschutzscheibe des Lasters, und Linus starrt auf die einsame Autobahn. Das Licht der Scheinwerfer trifft auf den dichten, dunklen Wald dahinter. Es ist jetzt Mitte Dezember, und noch nicht einmal in Norrland ist es richtig Winter geworden.

Normalerweise macht er Kurierfahrten in Stockholm, doch auf diese Fernstrecke hat Linus sich gefreut. Hier in seinem Laster ist er ganz ungestört und kann seinen Gedanken nachhängen. Ist nicht ständig im Kundenkontakt. Small Talk ist überhaupt nicht sein Ding. Sobald er einem wildfremden Menschen Auge in Auge gegenübersteht, bringt er kein Wort mehr heraus und wird puterrot. Mitunter sind Kunden auch sehr unangenehm, einige jagen ihm sogar Angst ein. Wie der letzte Typ, bei dem er ein Paket abgegeben hat. Okay, das Paket war beschädigt, aber das war ja nicht Linus’ Schuld.

Er lässt sich tief in den Sitz sinken und lauscht dem monotonen Geräusch der Scheibenwischer. Wirft einen Blick auf das Navi. Es geht auf einundzwanzig Uhr zu, er hat nur noch ein paar Minuten Fahrzeit, dann muss er die Nachtpause beginnen. Im Rückspiegel blenden ihn zwei Scheinwerfer. Seit er Gävle hinter sich gelassen hat, ist der Verkehr dünn geworden, und auf den letzten Kilometern ist der Wagen hinter ihm der einzige, der in dieselbe Richtung unterwegs ist.

Es zischt, als Linus den Lastwagen abbremst und zum Parkplatz auf Höhe von Hudiksvall abbiegt. Ein Kollege hat ihm diesen Platz zum Übernachten empfohlen. Er hat gesagt, dass viele Fahrer hier ihre Pausen machen. Jetzt kann Linus nicht einen einzigen entdecken, und der kleine Laden an der Tankstelle ist auch schon zu. Linus zieht die Handbremse, löst den Sicherheitsgurt und blickt müde hinaus in die dunkle Nacht.

Dann tauchen die Scheinwerfer eines PKW die Umgebung in helles Licht. Wahrscheinlich will der Fahrer, der jetzt auf dem Parkplatz hält, tanken. Linus lehnt sich zurück, gähnt und spürt, wie sein Körper sich langsam entspannt. Doch bevor er Feierabend macht, muss er noch pinkeln. Er steigt aus. Eine Windböe erfasst ihn, und fast wäre er auf dem vereisten Asphalt ausgerutscht. Er streckt die Arme über den Kopf, dehnt und reckt sich. Hinter der Tankstelle erkennt er ein paar Industrieanlagen, auf der anderen Seite ist nur dichter, entlaubter Wald. Hudiksvall, denkt er. So weit im Norden bin ich noch nie gewesen.

Vor einem Busch am Rande des Rastplatzes öffnet er den Hosenstall, stellt sich breitbeinig hin und erschauert, als der Druck nachlässt. Er hofft, dass er hier gut schlafen kann. Seit der letzten Kurierfahrt ist ihm das schwergefallen. Das Paket hat ungefähr vier Kilo gewogen, und als er den beschädigten Karton überreichte, fiel er fast auseinander. Er konnte sogar ein bisschen vom Inhalt erkennen, langes blondes Haar kam zwischen der zerrissenen Pappe zum Vorschein. Dann ging alles ganz schnell. Der Kunde riss das Paket wütend an sich und schimpfte. Linus konnte nicht richtig sehen, was darin war, aber das, was ihm unter die Augen gekommen war, hatte seiner Meinung nach wie ein … wie ein menschlicher Kopf ausgesehen?

Bei der Erinnerung bekommt er eine Gänsehaut und versucht, dieses Bild schnell wieder zu verdrängen. Er knöpft seine Hose zu und schlittert so schnell wie möglich über den spiegelglatten Boden zurück zu seinem Fahrzeug. Das Gewicht des Pakets entsprach sogar ungefähr dem eines Kopfes, denkt er, als er die Fahrertür zuzieht.

Aber wenn es wirklich der Kopf eines Menschen gewesen ist, dann hätte er doch auch eine Menge Blut und andere Körperflüssigkeiten bemerken müssen?

Danach hatte Linus seinen Chef gebeten, keine weiteren Kurierdienste mehr übernehmen zu müssen.

Der Schneefall hat kurz vor Hudiksvall zugenommen. Linus schaut hinüber zu dem PKW. Wenn er sich nicht täuscht, ist das ein BMW. Ein kühles, blaues Licht erhellt das Coupé, vermutlich von einem Smartphone, und der Fahrer hat seinen Sitz nach hinten gekippt. Wenigstens ist außer mir noch einer hier, der Pause macht, denkt Linus.

In seiner Fahrerkabine knipst Linus nun die Leselampe über der Pritsche an und zieht alle Vorhänge zu. Der Wind frischt auf und pfeift, als er am Fahrzeug vorbeiweht. Linus zieht sich eine Jogginghose an und krabbelt unter die Decke. Er setzt Kopfhörer auf und klickt sein Hörbuch an. Eine Liebesgeschichte. Niemals würde er zugeben, dass ihn so was interessiert. Er macht das Licht aus. Starrt in die Dunkelheit um sich herum. Die angenehme Frauenstimme versetzt ihn unmittelbar in eine andere Welt, doch die Müdigkeit ist trotzdem stärker. Er drückt auf Pause und setzt die Kopfhörer wieder ab, sein Körper fühlt sich immer schwerer an.

Er hat noch nicht lange geschlafen, da weckt ihn ein lautes Geräusch. Hat er das nur geträumt? Sein Körper steht unmittelbar unter Hochspannung. Das Geräusch ertönt wieder, ein ungeduldiges, kräftiges Klopfen. Es kommt von der Beifahrerseite. Linus steht auf und versucht leicht taumelnd, nach vorn zwischen die Sitze zu klettern. Da draußen erkennt er einen Mann. Ob das der Fahrer des BMWs ist? Vielleicht braucht er Hilfe?

Linus tastet nach dem Türgriff und macht auf. »Ja?«, sagt er und fährt sich durchs verstrubbelte Haar. Doch der dunkel gekleidete Mann vor ihm antwortet nicht. Er macht nur eine Armbewegung, und Linus ist wie gelähmt, als der Mann plötzlich eine Waffe auf ihn richtet.

So wollte ich nicht sterben, denkt Linus noch, da knallt es auch schon. Er spürt einen unfassbaren Druck im Brustkorb. Etwas Heißes, das explodiert. Dann fällt er auf den Fahrersitz und rutscht nach unten. Sinkt immer tiefer.

2

Es spannt und wird eng in der Luftröhre. Mit jeder Sekunde nimmt der Druck an den Schläfen zu. Als er jung war, konnte Kriminalinspektor Johan Rokka noch mehrere Minuten lang unter Wasser bleiben. Doch seitdem sind ein paar Jährchen vergangen.

Er hockt unten auf dem Boden des Beckens. Sieht die Abendbeleuchtung des Hudiksvaller Schwimmbads gebrochen durch die Wasseroberfläche. Die Sekunden werden zu einer weiteren Minute. In seinem Kopf beginnt es zu dröhnen, sodass er schließlich hochschießt und dabei eine Fontäne von Wassermassen hochkatapultiert.

»Was machst du denn da?« Seine Kollegin Janna Weissmann krault auf ihn zu.

»Ich halte mich für dich in Form«, sagt er und grinst.

Sie schnaubt, setzt die Hände auf den Beckenrand und schwingt sich mit einer einzigen Bewegung hinauf. »Ich habe ernsthaft geglaubt, du ertrinkst!«

Rokka legt sich im Wasser auf den Rücken und sieht ihr zu, wie sie sich das Handtuch umwickelt. Seit sie zusammenarbeiten, hegt er Gefühle für Janna, aber was sie empfindet, ist ihm ein Rätsel. Einige Male ist sie aus der Deckung gekommen, und er hat sogar geglaubt, sie würde seine Gefühle erwidern, doch dann kam alles ganz anders.

Sie hatten gerade anstrengende Ermittlungen in einem Mordfall hinter sich, als er ihrem Drängeln nachgab und anfing, mit ihr gemeinsam Sport zu machen. Er würde es niemals zugeben, aber er war nun über vierzig Jahre alt und begriff langsam, dass er sich auf der Kraft und der Schnelligkeit, die er von Natur aus besaß, nicht mehr länger ausruhen konnte. Janna hatte vorgeschlagen, ein paar Abende in der Woche nach der Arbeit joggen zu gehen. Aber schon aus Prinzip rennt Rokka nur, wenn er Verbrecher verfolgt. Deshalb schob er den Winter in Hälsingland vor, schließlich konnten sie hier, wenn es hart auf hart kam, bis zu minus dreißig Grad haben. Gleichzeitig führte er an, dass die Wassertemperatur in einem Hallenbad konstant bei fünfundzwanzig Grad liege. Die Wahrheit war, dass Schwimmen als einzige Sportart übrig blieb, bei der Janna ihm nicht haushoch überlegen ist.

Der Typ, der die Schwimmhalle verwaltet, ist ein alter Klassenkamerad von ihm, und deshalb hat Rokka ihn überreden können, ihm eine exklusive Trainingszeit außerhalb der regulären Öffnungszeiten einzuräumen. Nach intensiven Diskussionen erklärte sich Janna zu diesem Kompromiss bereit. Bis zum Frühjahr, hat sie gesagt.

Rokka bewegt seinen fast zwei Meter langen Körper mit ein paar Zügen zum Beckenrand, dann klettert er die Leiter hoch. Eine Weile sitzen sie beide auf ihren Kunststoffstühlen in der Halle. Rokkas Puls powert noch von der Anstrengung. Auf seinem rasierten Schädel bricht Schweiß aus und vermischt sich mit den restlichen Chlorwassertropfen.

»Was hast du da gemacht?«, fragt Janna und zeigt auf Rokkas Hüfte.

Rokka fährt sich über die zehn Zentimeter lange Narbe direkt über dem Hüftknochen. »Als ich klein war, bin ich mal unter einen Badesteg getaucht. Ich bin mit der Badehose an einer Schraube hängen geblieben und nicht mehr losgekommen. Damals wäre ich wirklich fast ertrunken.«

Janna sieht ihm ins Gesicht, zwischen ihren dunklen Augenbrauen bildet sich eine Falte. »Mein Gott, was für ein Glück, dass du überlebt hast.«

»Ja, mein Freund hat mich gerettet.«

»Ein wahrer Freund«, sagt Janna, und Rokka denkt, wie recht sie hat. Genau genommen wäre er ohne ihn nicht mehr am Leben.

Er wirft einen Blick auf die Wanduhr, es ist halb zehn. Heute Nacht wird er schlafen wie ein Murmeltier. Aus seiner Sporttasche holt er ein Handtuch und trocknet sich ab. Sein Blick bleibt an dem gelb-blauen Polizeiabzeichen mit den drei Kronen hängen. Es erinnert ihn daran, wie sein Leben sich dadurch verändert hat. Johan Rokka, Polizist. Was für ein langer Weg es bis dahin gewesen ist. Von einer schwierigen Kindheit in Hudiksvall zu einem noch wilderen Leben in Stockholm. Bis er eines Tages die Entscheidung traf, sich an der Polizeiakademie zu bewerben.

Ein Wagen fährt vorbei, und das Licht seiner Scheinwerfer dringt durch das Betonglas, das die Hallenwand zur Kungsgata hin schmückt. Um diese Tageszeit tauchen hier gerade mal ein paar Autos pro Stunde auf. Kleines Hudik, denkt er und legt sich das Handtuch über den Nacken. Vor vier Jahren ist er in seine Heimatstadt zurückgezogen. Hat er schon wieder genug von ihr?

»Du grübelst«, sagt Janna und streicht sich das schwarze nasse Haar hinter die Schultern.

»Stimmt«, sagt er und zwinkert ihr zu.

Sie werden jäh unterbrochen, als in Jannas Tasche das Handy klingelt und gleichzeitig aufdringlich vibriert. Sie nimmt das Gespräch an und lauscht, während sie Rokka ansieht. Ihre schönen braunen Augen mit den dichten Wimpern verändern ihren Ausdruck, der vertrauensvolle und warme Blick wird mit einem Mal der einer knallharten Kriminaltechnikerin.

»Zwei Tote auf dem Rastplatz an der E4«, teilt sie mit, während sie das Smartphone wieder in der Tasche verschwinden lässt.

»Gleich zwei? Scheiße.«

»Wir müssen sofort los.«

***

Die weißen Kristalle schmelzen im Topf und verbinden sich zu einer dickflüssigen Masse, die nach und nach eine braune Farbe annimmt. Der süße Duft des Zuckers dringt Viktor Berger in die Nase, als er in der Kochzeile der Abteilung B von Hall steht, einer Haftanstalt am Rande von Södertälje. Im Topf daneben kocht das Wasser jetzt, und Viktor zieht reflexartig die Hand zurück, als sie von heißen Spritzern getroffen wird.

Auf seiner Stirn bilden sich immer mehr Schweißperlen. Jetzt laufen sie ihm die Schläfen hinab. Krampfhaft hält er den Topf fest, bis die Knöchel ganz weiß werden. Er atmet durch die Nase ein und lässt die Luft zwischen den Zähnen der aufeinandergepressten Kiefer wieder ausströmen.

»Darf ich bitten?«, fragt Domingo, ein großer Argentinier, der bald entlassen wird, nachdem er schon neun Jahre wegen schweren Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz einsitzt. Viktor wirft Domingo einen kurzen Blick zu und nickt.

Die Uhr auf der Mikrowelle zeigt Viertel vor zehn. Stene schläft um diese Zeit immer, daher ist der Zeitpunkt gut. Viktor nimmt den Wassertopf in die eine Hand und den mit dem köchelnden Zucker in die andere. Er schielt hinüber zum Dienstzimmer. Im Moment ist da nur ein Wärter, und der ist schon eine ganze Weile mit seinem Handy beschäftigt.

»Ich leg los«, sagt Domingo und geht ein paar Schritte über den grauen Linoleumboden zu Stenes Zelle. Viktor folgt ihm mit weichen Knien. Domingo lässt die Türen offen stehen, um dem Wachmann im Dienstzimmer die Sicht zu nehmen. Der wird sich zwar fragen, ob da irgendetwas läuft, doch da er allein im Zimmer ist, wird er es nicht verlassen, bevor Verstärkung da ist.

Domingo hat ein paar der Jungs von der Abteilung mit Schokolade in ihre Zellen gelockt.

Stenes Zelle ist die vierte von rechts. Die Geräusche aus dem Fernsehzimmer am Ende des Flurs werden immer lauter, je näher sie kommen. Viktor geht an der zweiten Tür vorbei. Es dampft aus beiden Töpfen.

Viktor und Stene verbindet eine gemeinsame Geschichte, sie sind sich von einer Haftanstalt in die andere gefolgt. Viktor muss an ihre Gespräche denken, an freundschaftliche Handschläge und mitfühlende Blicke. Erst in Kumla, dann in Tidaholm. Viktor kam dann nach Hall, und Stene blieb noch, doch er wurde ein paar Monate später auch in die Anstalt bei Södertälje verlegt, sogar in Viktors Abteilung. Die anderen Häftlinge waren skeptisch, als sie davon hörten, sie kannten Stene wohl noch von früher. Viktor hat ein gutes Wort für ihn eingelegt, doch jetzt hat Stene es gründlich versaut. Einer hat ihn provoziert, und dann hat er im Fitnessraum mit Hanteln zugeschlagen, sodass jetzt keiner von ihnen mehr reindarf, eine ganze Woche lang. Das war unverzeihlich. Stene muss seine Strafe bekommen, und Viktor ist dafür zuständig. Wenn nicht, wird er selbst bestraft.

Dritte Tür. Zuerst muss er ihn mit dem Wasser überschütten, dann mit dem Zucker. Das kochend heiße Wasser wird die Haut verbrühen, aber abperlen. Die hundertdreißig Grad heiße Zuckermasse hingegen wird an der Haut festkleben, sich von einer Schicht zur nächsten brennen, bis der Schmerz keine Grenzen mehr kennt.

Die vierte Tür ist in Sicht. Viktor spürt, dass seine Beine fast nachgeben. Domingo geht weiter zum Fernsehraum, aber Viktor bleibt stehen und schluckt, ihm ist speiübel. In der Zelle gibt es keine Überwachungskameras, und die auf dem Flur werden nur die geöffnete Zellentür filmen. Keiner wird mit Sicherheit sagen können, dass Viktor der Täter war, und jetzt muss er es hinter sich bringen. Es gibt kein Zurück mehr.

Stenes lautes Schnarchen ist durch die angelehnte Tür zu hören. Sein kräftiger Rücken hebt und senkt sich im Takt seiner Atemzüge. Viktor schluckt, immer wieder. Muss an Stenes fröhliches Lachen denken, wie er den Kopf in den Nacken wirft und sich ausgelassen auf die Oberschenkel schlägt, wenn etwas zum Umwerfen komisch ist.

Mensch, Kumpel, verdammt noch mal, denkt Viktor, doch jetzt muss er diese Bilder beiseiteschieben.

Viktor zählt bis drei und geht in die Zelle. Dann tut er es wirklich. Das Wasser fliegt in hohem Bogen. Dann segelt die Zuckermasse hinab, zähflüssig und schwer landet sie auf Stenes Rücken. Viktor lässt die Töpfe fallen, die laut scheppernd auf dem Boden landen, und rennt zum Fernsehraum. Sein Kopf droht zu platzen. Die folgenden Sekunden kommen ihm wie eine Ewigkeit vor. Das Gebrüll, das nun zu hören ist, übertönt jeden Gedanken.

Wo sind denn bloß die Wachen?, denkt Viktor.

Es dauert mindestens zwei Minuten, bis sie kommen. Ein Wachmann rennt in Stenes Zelle hinein und schreit in sein Funkgerät, dass er Verstärkung braucht.

Stenes Schmerzensschreie hallen von den Wänden wider und verklingen bei Viktor und den anderen, doch in Viktors Innerem hält der Schmerz an. Schneidet durch Mark und Bein.

»Wer hat das getan, verflucht noch mal?« Einer der Strafvollzugsbeamten stürmt ins Fernsehzimmer, hochrot im Gesicht.

Totenstille im Raum. Alle starren stur geradeaus.

»Ihr seid vier Leute«, brüllt er. »Ich weiß genau, dass einer von euch was gesehen hat!«

Noch immer Schweigen, doch Viktor spürt seinen Herzschlag bis in den Schädel. Domingo sieht ihn kurz an. Keiner wird ein Sterbenswörtchen von sich geben, egal, auf wessen Seite er steht. Jetzt wen zu verpfeifen kann auf lange Sicht böse Folgen haben. Was Stene getan hat, hat Viktor gerächt. Seine Schuld ist damit aus der Welt.

Die Verstärkung ist inzwischen gekommen, sie nehmen Viktor und die anderen grob in Gewahrsam. Führen sie ab, bringen sie in Isolierzellen.

Viktor geht als Erster. Er kann die Blicke der anderen auf seinem Rücken spüren. Er hat seinen Teil beigetragen, sich seinen Respekt zurückerkämpft. Doch als die Tür der Einzelzelle hinter ihm zuschlägt, bricht er auf der Pritsche zusammen, lässt alles raus. Die Angst, die Panik, die Einsamkeit. Alle Gefühle kommen jetzt hoch. Doch er gibt keinen Mucks von sich, so viel hat er in fünf Jahren gelernt. Im Gefängnis weint man leise.

***

»Scheiße, was ist denn hier passiert?«

Rokka schlittert vorsichtig über den vereisten Asphalt vor der Tankstelle auf dem Rastplatz Hudiksvall vorwärts, um nicht auszurutschen. Bis er zu einem Mann kommt, der neben einem Auto in einer Blutlache auf dem Rücken liegt.

»Überfahren«, sagt der Kollege von der Schutzpolizei, der als Erster vor Ort war. »Die Frau, die an der Tankstelle angehalten hat, weil sie zur Toilette musste, hat zugegeben, dass sie zu schnell gefahren ist und auf dem vereisten Untergrund nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Der Typ kam aus dem Nichts, hat sie gesagt.«

»Wie geht es ihr?«

»Sie steht unter Schock und ist mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht worden.«

»Und weiter?«

»Ein paar Meter entfernt von dem Toten lag eine Waffe«, fährt der Beamte fort. »Vermutlich hat er sie fallen lassen, als er überfahren wurde.«

»Was für eine Waffe?«

»Eine MP5

»Okay.«

Der Polizist schiebt seine Mütze gerade. »Der Typ hat keine Papiere bei sich, nur ein Smartphone.«

Rokka geht zu dem Lastwagen, an dem Janna bereits steht.

»Der Fahrer müsste so Mitte zwanzig sein«, sagt sie und dreht sich zu Rokka um. »Er ist noch warm.«

Rokka wirft einen Blick in die Fahrerkabine des Lastzugs. Der blonde junge Mann hängt zusammengesackt neben der Fahrertür, er trägt ein grünes Polohemd mit dem Logo der Spedition auf der Brust. Er sieht ganz winzig aus in diesem großen Fahrzeug.

Seine Arme sind blass und schmal und hängen schlaff herunter. Das Einschussloch ist auf seiner Brust erkennbar, und die Scheibe hinter ihm ist über und über rot von dem vielen Blut.

»Es ist anzunehmen, dass der Typ, der draußen liegt, den Mann im Laster erschossen hat und dann selbst überfahren wurde«, fährt Janna fort.

Rokka stimmt ihrer Hypothese nickend zu. »Die reinste Hinrichtung«, sagt er und betrachtet das Opfer. »Was hast du angestellt, dass du so was verdienst?«

Er wendet sich ab und rutscht wieder über den Asphalt zurück zu dem überfahrenen Mann. »Habt ihr den Wagen schon untersucht?«, fragt Rokka und zeigt auf den BMW, der ein Stückchen entfernt von ihnen parkt.

Der Polizeibeamte schüttelt den Kopf. »Noch nicht.«

Der Mann in der Blutlache trägt eine schwarze Lederjacke. Sein Schädel ist rasiert, quer über eine Wange verläuft eine rosafarben schimmernde Narbe, und seine dunklen Augen blicken geradeaus ins Nichts.

Wer bist du?, denkt Rokka. Und warum warst du hier in Hudiksvall, so spät an einem Winterabend? Denn das hier ist kein zufälliger Mord, kein spontaner Raubüberfall, an diesem Tatort spricht gar nichts für eine Handlung im Affekt. Rokka sinkt neben dem Toten auf die Knie. Fast noch ein Junge, denkt Rokka, als er in die leeren Augen des Opfers blickt. Hattest du mit dem Fahrer noch eine Rechnung offen? Oder hast du für jemand anders getötet?

3

Mira Varjala zieht den wollweißen Mantel enger um den Körper, als sie mit ein paar schnellen Schritten die Rolltreppe an der U-Bahn-Station Östermalmstorg hinaufsteigt. Die feuchtkalte Dezemberluft dringt in jede Ritze und bringt ihren Körper zum Frösteln. Lieber Schnee und zehn Grad minus als solch ein Wetter, denkt sie.

Eine junge Frau mit einem schmuddeligen, ehemals gelben Schal und einer übergroßen Jacke hockt auf dem Gehweg weiter vorn und hält ihr einen Pappbecher hin. Neben ihr liegt ein Stück Pappe, darauf kantige Buchstaben, mit Filzstift geschrieben. Mira überfliegt die falsch geschriebenen Worte, versteht, dass die jüngeren Geschwister der Frau zu Hause in Rumänien auf der Straße leben und dass sie Geld braucht, um ihnen warme Kleider kaufen zu können.

»Bitte«, fleht die Frau mit heiserer Stimme.

Mira vermeidet den Blickkontakt zu ihr und geht vorbei, ihre Absätze klackern laut auf dem Asphalt. Sie versucht, den Anblick der Bettlerin zu vergessen. Doch dann stoppt sie abrupt und holt, während sie sich umdreht, ihr Portemonnaie aus der Handtasche, nimmt einen Zweihundertkronenschein heraus und hält ihn der jungen Frau hin. Denn Mira kann den Gedanken nicht ignorieren, dass auch diese Frau eine Geschichte hat, dass in ihrem Leben Dinge geschehen sind, die sie hierher, auf die Straße, auf diese dreckige Decke gebracht haben, und das in einem der vornehmsten Wohnviertel Stockholms.

»Frohe Weihnachten«, wünscht ihr die Bettlerin in gebrochenem Schwedisch.

Mira setzt eilig ihren Weg fort, überquert die Birger Jarlsgata und läuft auf dem Bürgersteig weiter, wo ihr gestresste Banker, Mädels mit aufgespritzten Lippen, in der Hand dampfende To-go-Becher, und Börsenmakler in Designerklamotten mit Galoschen über den Lederschuhen entgegenkommen. Alle konzentrieren sich auf ihre Smartphones, auf denen die Kommunikation des Arbeitstages bereits begonnen hat. Aber ein Mann sieht auf, als er ihr begegnet. Er hält inne und blickt ihr bewundernd hinterher.

Der Weg über die Treppe in den sechsten Stock ist schneller als der Fahrstuhl, und Mira ist außer Atem, als sie die Tür zum Büro hinter sich schließt.

»Viel Glück heute«, sagt eine Kollegin, die schon auf dem Weg zu ihrem Meeting ist.

»Oh, vielen Dank, das kann ich brauchen«, erwidert Mira etwas nervös. Mira zieht ihre Schuhe aus und schlüpft in Louboutin-Pumps, streckt den Rücken durch und streicht das hellblonde Haar hinter die Schultern. Den Gedanken, dass nicht jeder mit Glück gesegnet ist, hat sie verdrängt. Jetzt ist sie bereit für ihren Arbeitstag und die Präsentation für den wichtigsten Kunden ihrer Agentur, ein Unternehmen in der Security-Branche.

Sie kommt an der Wand vorbei, an der die diversen hochkarätigen Marketing-Auszeichnungen der Agentur prangen. In der Mitte, eingerahmt von all den Urkunden, hängt das Bild des Gründers der Agentur, Mikael Strand. Selbstbewusst blickt er direkt in die Kamera. Die schwarze Brillenfassung verleiht ihm den typischen Agentur-Look.

Mira arbeitet seit einem halben Jahr für Dacton, eine der erfolgreichsten PR-Agenturen der Branche. Die Boni, die einmal jährlich gezahlt werden, bewegen sich auf einem Level, von dem sie niemals zu träumen gewagt hätte. Voraussetzung ist, dass sie liefert. Bei dem Gedanken, wie sie an den Job gekommen ist, fliegt ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie hatte an einem Fenstertisch in einem Café am Odenplan gesessen und eine Wirtschaftszeitung gelesen. Sie war so vertieft in den Artikel gewesen, dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, wie jemand auf der anderen Seite der Glasscheibe stehen blieb. Als sie den Mann schließlich wahrnahm, erkannte sie ihn gar nicht auf Anhieb. Seit der Zeit auf der Wirtschaftshochschule, wo sie beide denselben Kurs belegt hatten, waren fünfzehn Jahre vergangen. Als ihr klar wurde, dass das Mikael Strand war, der ihr von draußen zuwinkte, war sie so überrascht, dass sie aus Versehen ihren Latte macchiato umkippte und ihre Zeitung ertränkte.

»Jetzt schulde ich dir einen neuen Kaffee«, sagte er, nachdem er hineingekommen war. Er gab dem Barista ein Zeichen, der kurz darauf mit einem zweiten Becher an ihrem Tisch erschien. Dann unterhielten sie sich ganze zwei Stunden lang. Erst später am Abend, als sie längst zu Hause war, fiel ihr auf, dass er vermutlich eine Kieferumstellung hatte vornehmen lassen. Denn sein deutlicher Unterbiss war kaum mehr erkennbar.

Mira hatte ihm erzählt, dass sie seit Jahren zu ihrer Arbeitsstelle nach Genf pendelte. Er wiederum war von New York nach Stockholm zurückgekehrt, um Dacton zu kaufen, und nun prahlte er damit, dass sich die Bonuszahlungen verdoppelt hatten, seit er die Firma übernommen hatte.

So hatte sie ihn von der Wirtschaftshochschule gar nicht in Erinnerung – als erfolgreichen Unternehmertypen. Doch nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, erkannte sie die Chance: Mit einem Mal bot sich ein Weg direkt in die Agentur. Sie erzählte ihm, dass sie sich durchaus vorstellen könne, den Ort zu wechseln, wenn der richtige Job auftauchte.

Da hatte er gegrinst und sie eindringlich angesehen. »Du hast exakt das Profil, das ich suche«, hatte er gesagt und sie gefragt, ob sie Interesse an einer Stelle als Key Account Managerin bei ihm habe.

Das Bewerbungsverfahren dauerte einen Monat. Langwierige, verhörartige Vorstellungsgespräche. Drei Persönlichkeitstests, bei denen dieselben Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven gestellt wurden, um jeder Schummelei vorzubeugen. Alles verlief strikt nach Dactons Personalpolitik und wurde von den Personalberatern der Agentur, die vorher beim Nachrichtendienst gewesen waren, abgewickelt. Aber glücklicherweise bekam sie den Job.

»Oh là là!« Die Stimme holt sie zurück in die Gegenwart. Ihr Kollege Peter, der sie von oben bis unten mustert. »Manchmal wünschte ich, ich wäre hetero.« Mira bricht in Lachen aus und drückt ihn herzlich. Sie mag Copy-Peter, wie er scherzend genannt wird, er ist eine der tragenden Säulen in der Agentur und ihrer Meinung nach der beste Copywriter in der ganzen Stadt.

Sie zieht ihr Kleid gerade, das top aussieht, sich aber nicht gerade angenehm trägt, und setzt sich an ihren Schreibtisch. Sie hat gerade erst ihren Computer hochgefahren, da hört sie schon vom Eingangsbereich die wohlbekannte tiefe, energiegeladene Stimme herüberdringen. Ihr ganzer Körper kribbelt vor Nervosität.

»Sie ist jetzt da«, sagt der Assistent der Geschäftsleitung, Douglas, ein Typ Mitte zwanzig mit Hornbrille und einem T-Shirt, das vermutlich ein Vermögen gekostet hat. »Ich bringe sie schon mal zum Konferenzraum.«

Die Marketingleiterin von Scandsec ist in Miras Alter und lacht viel zu oft und dies viel zu laut. Emmanuelle Pira. Eine blasse, kurvige Blondine, die noch höhere Absätze trägt als Mira selbst. Mira zieht einen Kosmetikspiegel aus der Handtasche, frischt ihren Lipgloss auf und presst die Lippen kurz aufeinander. Ihr steht die erste große Präsentation für einen Kunden bevor, jetzt muss sie sich beweisen. Sie setzt ein professionelles Lächeln auf, geht hinüber zum Konferenzzimmer und schiebt die Tür auf.

»Frau Varjala«, sagt Emmanuelle Pira, erhebt sich und kommt auf sie zu. »Was für ein großartiges Kleid, ist das Max Mara?« Dann folgen die Luftküsschen rechts und links, und Mira wird in eine Dunstwolke aus exklusivem Parfüm getaucht.

Mikael kommt hereingeschlendert, umarmt Emmanuelle Pira flüchtig, und dann nehmen sie Platz. Er zieht an den Ärmeln seines Oberhemdes, um die Manschetten zurechtzuzupfen, und Mira bemerkt, dass es ihm schwerfällt, den Blick vom Dekolleté der Blondine abzuwenden.

»Jetzt wollen wir dir gern unser Konzept vorstellen«, beginnt er.

Unser ist gut, denkt Mira säuerlich. Für diese Präsentation hat Mikael keinen Finger krumm gemacht, Tatsache ist, dass sie sich schon manches Mal gefragt hat, was er eigentlich den ganzen Tag lang treibt. Er delegiert fast alles. Aber dafür wird sie auch sehr gut bezahlt und erhält viele Zusatzleistungen, daher kann sie sich nicht beschweren.

Douglas stellt den Laptop auf den Tisch und ruft die Präsentation auf, dann reicht er Mira die Fernbedienung. Sie tritt an die Leinwand. Scandsec bietet Privatpersonen mit hohen Ansprüchen Alarmanlagen und Überwachungssysteme auf dem neuesten Stand der Technik an. Im kommenden Jahr soll ein Premiumprodukt auf den Markt kommen, und die Agentur stellt nun die Kommunikationsstrategie für die Lancierung vor. Der Kunde ist äußerst anspruchsvoll. Miras Vorgängerin hatte nicht ohne Grund einen Burn-out.

»Du bist die Einzige, die ich auf diesen Etat setzen kann«, hatte Mikael sich ausgedrückt, als er sie gefragt hatte, ob sie den Kunden übernehmen wolle. »Hier gilt nur hop oder top.« Mira fühlte sich geschmeichelt, aber spürte gleichzeitig den enormen Druck, immerhin wusste sie, wie wichtig Scandsec als Kunde für Dacton war. Nachdem Mikael Strand Mira der Marketingleiterin vorgestellt hatte, war diese bereit, Dacton noch eine Chance zu geben.

Als Mira begonnen hatte, auf dem Etat zu arbeiten, hatte sie sich eine ganze Woche Zeit genommen, sich in die Hintergrundinformationen des Unternehmens einzulesen, und das Einzige, woran sie hakte, war, dass dieses neue Premiumprodukt bei der Kameraüberwachung einen Fehler in der Programmierung hatte: dass die Synchronisation zwischen App und Serverdaten noch nicht einwandfrei funktionierte. Sie hatte Mikael sofort in Kenntnis gesetzt, und der hatte behauptet, dass der Bug in dieser Phase noch keine Rolle spiele.

Ein nervöses Kribbeln durchfährt ihren Körper. Jetzt ist es so weit.

»Okay«, sagt sie und sammelt sich. »Dann legen wir mal los.« Alle Anwesenden lauschen gespannt, als Mira ihre Präsentation beginnt. Sie erklärt, motiviert und argumentiert. Ihr Hals wird trocken, es fällt ihr schwer, konzentriert zu bleiben. Sie nickt Douglas zu, der ihr ein Glas Wasser einschenkt.

Emmanuelle Pira hat sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt, die Arme verschränkt und lauscht nun aufmerksam. Ihre eine Augenbraue ist hochgezogen. Ihre Lippen sind zusammengepresst. Hin und wieder sucht Mira Blickkontakt zu ihr, um so abzulesen, ob ihr das Konzept zusagt, doch ihr Pokerface verrät rein gar nichts.

»Vielen Dank«, sagt Emmanuelle Pira knapp, als Mira fertig ist, dann wendet sie sich an Mikael. »Können wir uns unter vier Augen unterhalten?«

***

Es donnert rhythmisch in Viktor Bergers Zelle, als er zehn tiefe Strecksprünge macht. Keuchend setzt er sich auf den Boden, fixiert die Wand vor sich und macht noch schnell zwanzig Sit-ups hinterher.

»Komm schon«, redet er sich selbst gut zu. »Vergiss, was war. Nur nach vorn schauen zählt.« Er atmet jetzt schnell, sein Puls schlägt auf einem ordentlichen Niveau. Mit den Fingern an der Halsschlagader zählt er die Sekunden und stellt fest, dass er so gut in Form ist wie lange nicht. Langsam gelingt es ihm, die Bilder von dem kochenden Wasser und der flüssigen Zuckermasse zu verdrängen, Stenes Schmerzensschreie, die bislang hartnäckig in seinen Sinneszellen abgespeichert waren, auszublenden. Dieses Ereignis muss er auf das reduzieren, was es wirklich war. Er hat nur die Regeln befolgt, die innerhalb der Gefängnismauern gelten. Mit Leichtigkeit springt er auf, schüttelt Arme und Beine aus. Einen Tag in Isolierhaft hat er noch vor sich. Die Gefängnisleitung wird eine Untersuchung anstellen, doch sie wird ergebnislos bleiben. Danach wird alles wieder sein wie zuvor. Er schließt die Augen und holt einmal durch die Nase tief Luft.

Eins, zwei, drei, vier. Eine Minute lang läuft er auf der Stelle, zieht die Knie weit hoch, trampelt alle Schuldgefühle in den Boden, dann macht er noch einmal Strecksprünge. Der Sport füllt dieses dunkle Loch, das er schon immer in sich gespürt hat. Ein Loch voller Rastlosigkeit und Abhängigkeit. Was er früher versucht hatte, mit Kicks zu befriedigen. Er beugt sich über die Knie vornüber und keucht. Liest die Worte, die in die Wand eingeritzt sind. Fuck this shit. Fuck the police. Mit den Fingerkuppen fährt er über die rauen Buchstaben. Er hat nie davon geträumt, kriminell zu werden. Tut das überhaupt jemand?

In seiner Zelle oben hat er einen Block, auf dem er manchmal etwas notiert, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Mal sind es nur ein paar Worte, dann wieder mehrere Seiten, vom ersten Tag im Strafvollzug an bis heute. In der Anfangszeit hier in Hall war er wie benebelt von anhaltenden Angstzuständen. Denn als er Tag für Tag allein in seiner Zelle hockte, wurde er auf brutale Art mit sich selbst konfrontiert und gezwungen, sich seiner Lebensgeschichte zu stellen. Da verstand er, was seine Kindheit mit ihm angerichtet hatte.

Er war ein Schlüsselkind gewesen, hatte immer das Band um den Hals. Konnte in der Schule nicht still sitzen, hatte Hummeln im Hintern. Die Lehrer ermahnten ihn, einmal, fünf Mal, hundert Mal. Sie versuchten es schreiend, im Flüsterton oder auch ganz normal. Dann verloren sie die Geduld, schlugen mit dem Zeigestock aufs Pult. Manche gingen noch einen Schritt weiter. Viktor sieht hinab auf seine Hände, erinnert sich, wie schmal seine Handgelenke waren, als er acht war. Wenn er über die dünne Haut fährt, wo die Blutgefäße hindurchschimmern, kann er noch immer das Springseil spüren, das sie um seine Gelenke geschnürt und festgezogen haben. Wie es in die Haut schnitt. Die wütenden Blicke der Lehrer, die es leid waren, die fluchten und das Seil immer wieder um ihn und den Stuhl wickelten, dann fest zuzogen, bis er unbeweglich an die Schulbank gekettet dasaß.

Erst wenn er sich bewegte, rannte oder schwamm, war er nicht mehr so hibbelig, und es gelang ihm, sich zu konzentrieren.

Viktor starrt an die Zellenwand, springt auf der Stelle und boxt ins Leere, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, das die Erinnerungen hervorrufen. Heute passiert ihm so was nicht mehr, denkt er. Damals schon. Der Lehrer hätte einfach nur zu ihm sagen müssen: »Viktor, renn ein paar Runden um die Schule und komm dann wieder her.«

Im Alter von dreizehn geriet er auf die schiefe Bahn. Fing an zu klauen, hatte seinen ersten Rausch. Versuchte, die Leere in seinem Innern mit der Bestätigung der großen Jungs zu füllen. Seine Eltern waren wohl ahnungslos, was seine Kumpels und er alles anstellten. Oder sie verschlossen die Augen davor. Einige Male versuchten sie, Viktor ins Gewissen zu reden, zumindest seine Mutter. Doch diese Gespräche endeten immer mit Tränen. Viktor hört sie heute noch jammern: »Was habe ich nur verbrochen, dass ich einen Sohn wie dich bekommen habe?«

Doch bis er in Hall landete, sollte noch einige Zeit vergehen. Erst im Alter von siebenunddreißig hatte seine Unzulänglichkeit hinreichend tiefe Spuren hinterlassen. Er hatte Schulden gemacht. Von Freunden und Bekannten Geld geliehen. Von einem Typen hatte er sich fünfzigtausend Kronen geborgt und mit Zinsen wurde es bald mehr als das Doppelte. Der Typ begann, Viktor unter Druck zu setzen. Den Betrag auf legale Weise zurückzuzahlen erwies sich als völlig unmöglich. Ein älterer Bankräuber, der gerade neue Pläne schmiedete, roch Viktors Angstschweiß wie ein Bluthund. Der Typ lockte ihn mit einer schnellen Lösung seines Geldproblems, und ehe er sich versah, war Viktor bei einem Überfall auf einen Geldtransport dabei.

Viktor schließt die Augen. Er kann die Sirenen heute noch hören und hat das Blaulicht in jener dunklen Nacht wieder vor Augen. Das Einsatzkommando, wie es mit vereinten Kräften mit gezogenen Maschinenpistolen auf sie zugerannt kommt. Viktors Chance, zu fliehen, ist gleich null. Die Handschellen klicken, er wird brutal in den Rücken getreten, landet auf direktem Weg in der Zelle.

Der Überfall war eigentlich ganz einfach gewesen. Gut geplant, wasserdicht. Viktor sollte nur Krähenfüße werfen und mit einer Waffe drohen. Mehr nicht. Und hinterher hätte er seine Schulden zurückbezahlen können.

Doch selbst die besten Pläne haben eine Schwachstelle. Ein Kerl hat sich von der Konkurrenz bestechen lassen und sie verpfiffen. Und wenn es um schnelle zwanzigtausend Kröten geht, ist Loyalität – selbst unter Schwur – nichts mehr wert. So hat die Polizei von der Sache Wind bekommen.

Viktor geht zum Waschbecken und trinkt ein paar Schlucke Wasser. Fährt sich durchs raspelkurze Haar. Holt tief Luft und macht Burpees, zwanzig Stück hintereinander.

Ein paar Typen im Gefängnis empfinden ihre Strafe als angenehme Auszeit von dem Druck, mit dem sie außerhalb vom Knast als Kriminelle auf freiem Fuß leben mussten. Andere nehmen bewusst in Kauf, ihre Strafe absitzen zu müssen, elf, zwölf Jahre, sogar lebenslänglich – dafür haben sie durch ihre Tat immerhin die Gesetze ihrer eigenen kriminellen Welt erfüllt. Viktor war das Risiko, hinter Gittern zu landen, zwar bewusst. Doch die Verlockung, seine Schulden bezahlen zu können, war zu groß gewesen.

In Untersuchungshaft saß er dann drei Monate mit allen Restriktionen, und die Ermittlungen zogen sich hin. Es heißt, die schwedische Untersuchungshaft sei eine der härtesten, weil sie oft so lange dauere. Die schwedischen Gefängnisse hingegen gehören zu den humansten der Welt: wenige Gefangene. Viele Wachen. Hervorragende Ausstattung. Viele Angebote im Vollzug. Die Möglichkeit zu arbeiten. Zu studieren. Als Gefangener soll man in Schweden trotzdem Teil der Gesellschaft sein, auch wenn man eingesperrt ist.

Viktor hockt sich hin, atmet noch keuchend, dann beruhigt sich sein Puls nach und nach.

Klar. Viktor hat die Diagnose ADHS bekommen und versteht jetzt, warum es sich in seinem Kopf immer wie auf einem Karussell anfühlt, das Tempo nie nachlässt. Dagegen nimmt er Tabletten, und das hilft ihm. Er hat im Knast sogar Betriebswirtschaft studiert, dafür ist er dem Strafvollzug dankbar.

Aber das Gefängnis ist auch ein Ort, an dem man neue Beziehungen knüpft, ob man will oder nicht. Und man muss seinen Platz in der Hierarchie kennen und bereit sein, ihn zu verteidigen. Wenn man sich nicht mit denen gut stellt, die über einem sind, können sie einem die Zeit hinter Gittern zur Hölle machen. Und manchmal muss man sogar seine Freunde bestrafen, so wie er es gerade mit Stene getan hat. Viktor sinkt auf seine Pritsche, von den schnellen Atemzügen hebt und senkt sich sein Brustkorb stark. Er hat einen Plan. Er will hier raus. Die Schulden mit sauberem Geld bezahlen. Fünf Jahre sind schon rum, und er hat nur noch ein Jahr, bevor er den ersten Tag vom Rest seines Lebens beginnen kann. Schwedische Gefängnisse können noch so human sein, für Viktor sind sie die Hölle.

4

Kriminalkommissar Carl Linderoth steht breitbeinig vor dem Whiteboard im großen Konferenzraum der Polizeiwache Hudiksvall, die Hände in die Seiten gestemmt. Die letzte Ermittlung hat auf der Tafel noch Spuren hinterlassen. Jemand hat zwar versucht, die Notizen wegzuwischen, doch es ist ihm nicht ganz gelungen.

»Da haben wir also den sechsundzwanzigjährigen Linus Antonsson, der in einem Lastwagen erschossen aufgefunden wurde«, beginnt er. »Gemeldet ist er in Fruängen, südlich von Stockholm.«

Die Aufnahmen vom Tatort, die die Schutzpolizei gemacht hat, liegen auf dem ovalen Holztisch vor Rokka, Janna und den anderen vom Team ausgebreitet. Der Lastwagen und das Opfer. Der Parkplatz. Die Tankstelle.

»Die Angehörigen sind verständigt«, sagt Rokka, mit einem Stapel Unterlagen in der Hand. »Antonsson war nach Aussagen der Spedition auf dem Weg nach Piteå.«

»Was sagst du zu dem Parkplatz, Janna?«, fragt Carl, greift nach einer Aufnahme und legt sie vor sich hin. »Ein typischer Rastplatz für LKW-Fahrer.«

Rokka betrachtet Janna, während sie sich konzentriert. Er hält sie für die kompetenteste Polizistin von ihnen allen. Ihre dunklen Haare sind zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre Wangen haben, wie immer, wenn sie vor anderen sprechen soll, einen warmroten Schimmer bekommen.

Janna räuspert sich. »Linus Antonssons Körper weist keine Abwehrverletzungen auf, und er ist im Führerhaus erschossen worden, das heißt, er hat dem Täter die Tür vermutlich freiwillig geöffnet.«

»Willst du sagen, sie haben sich gekannt?«

»Nicht zwangsläufig.«

»Was für eine Ladung hatte er im Fahrzeug?«

»Haushaltsrollen, Toilettenpapier, Putzmittel, nichts scheint zu fehlen.«

»Dem Mord scheint also kein Raubüberfall vorausgegangen zu sein.«

»Und der Wagen, der auf dem Parkplatz stand?« Carl tippt auf das Foto mit dem schwarzen BMW.

»In Haninge gestohlen«, sagt einer der Kollegen von der Schutzpolizei.

»Also im Süden von Stockholm«, sagt Rokka. »Die Spuren führen immer weiter weg von uns, würde ich sagen.«

»Die Fußabdrücke auf den Matten des Fahrersitzes sind identisch mit denen, die wir in der Nähe des Lastwagens gesichert haben«, sagt Janna. »Und die stimmen auch mit den Schuhen des Mannes überein, der totgefahren wurde.«

»Waffen?«

»Eine Heckler & Koch MP5, wie es aussieht.« Janna nimmt ein Foto von der Waffe in die Hand. »Sie ist schon im Kriminaltechnischen Institut.«

»Er hat sich nicht mit einer alten Kalaschnikow begnügt, das heißt, es steckt Geld dahinter«, sagt Rokka.

Diese Maschinenpistole ist teuer und nicht leicht zu bekommen. Die Polizei selbst setzt eine Variante der MP5 mitunter als Spezialwaffe ein.

»Ist uns der Fahrer des Lastzugs irgendwie bekannt?«

»Nein, er ist völlig unauffällig«, antwortet Janna. »In keinem Register gelistet.«

»Und unser potenzieller Täter?«

»Zacharias Wall, genannt Zacke. Wir haben seine DNS eingegeben und gesehen, dass der Typ schon ein paar Mal erkennungsdienstlich behandelt worden ist, es lag auch bereits eine DNS-Probe von ihm vor, weil er unter Verdacht stand, in Drogendelikte und unerlaubten Waffenbesitz verwickelt zu sein.«

»Da haben wir also ein unschuldiges kleines Lamm«, sagt Rokka. »Und einen großen bösen Wolf?«

***

»Kommst du mit zum Essen?«, fragt Copy-Peter.

»Ich muss noch auf mein Urteil warten«, antwortet Mira und lächelt. Peter macht sich auf den Weg.

Die Präsentation für Scandsec hat mit anschließender Diskussion eineinhalb Stunden gedauert, und Mira ist ziemlich erschöpft. Ihr Magen rebelliert vor Hunger, ihr wird schon langsam schlecht. Auf dem Weg zur Küche wirft sie einen schnellen Blick in den Konferenzraum. Die Marketingleiterin und Mikael Strand sitzen sich gegenüber, völlig vertieft, und sie hat ihre perfekt manikürte Hand auf seinen Sakkoärmel gelegt. In manchen Momenten hat Mira den Eindruck, es läuft etwas zwischen den beiden außerhalb vom Job.

In der Küche öffnet sie den Kühlschrank und holt eine Packung mit Energiebällchen heraus. Sie gehören Mikael. Sie weiß, dass er es merken wird, wenn eins fehlt, doch sie kann es sich dennoch nicht verkneifen, eines zu stibitzen. Dann schließt sie die Kühlschranktür wieder. Das Bällchen aus Nüssen und Datteln schmeckt nicht so gut, wie sie gedacht hatte, aber sie isst es dennoch. Da fällt ihr Blick auf das Wandregal, auf dem verschiedene handgeblasene peruanische Glasfiguren stehen. Es sieht fast aus, als hätte jemand die Abstände mit dem Lineal abgemessen, so wie sie da aufgestellt sind. Sie sind ein Teil von Mikaels privater Kunstsammlung und mehr als hunderttausend Kronen wert.

»Schmeckt’s?«, erklingt eine Stimme hinter ihrem Rücken.

Mist, denkt sie und fährt herum.

»Sorry.« Sie sieht Mikael breit lächeln. »Ich hatte noch nicht gefrühstückt.«

»Da hast du Glück, Scandsec will uns zum Essen einladen, um das Meeting gebührend zu beschließen«, sagt er und zieht seinen Krawattenknoten wieder gerade. »Und ich hätte gern, dass du dabei bist.«

Sie gehen die Birger Jarlsgata entlang. Das Tageslicht kämpft sich mühsam durch die dicke Wolkenschicht, und die Luft ist nicht mehr so nasskalt wie noch am Morgen. Mira bleibt ein paar Schritte hinter den beiden, damit sie Emmanuelle Pira und Mikael beobachten kann. Obwohl er sich lang macht, ist die kurvige Marketingfrau einen halben Kopf größer als er. Well done, kleiner Micke, denkt Mira und grinst.

Kurz darauf biegen sie in die Norrlandsgata ab und steuern das Stammlokal der Agentur an. Ein Oberkellner weist ihnen einen Tisch im Separee zu.

Mikael rückt extra für Mira einen Stuhl vom Tisch ab, und sie bedankt sich lächelnd.

»Ich war von Ihrer Präsentation sehr angetan«, sagt Emmanuelle Pira. »Ohne jetzt Ihrer Vorgängerin zu nahe treten zu wollen, aber Sie sind für uns ein enormer Gewinn.«

Mira atmet auf. »Es ist mir eine Ehre, für einen Kunden wie Sie arbeiten zu dürfen.«

»Die Recruiting-Strategien von Dacton sorgen in der Branche für Schlagzeilen, und genau deshalb haben wir uns für Sie entschieden, Dacton hat einfach die beste Crew«, sagt Emmanuelle Pira, beugt sich vor und flüstert dann: »Die andere Agentur, die wir vor Ihnen hatten, hatte einen Key Account Manager, der Unsummen des Agenturvermögens veruntreut hat«, sagt sie und hebt die Augenbrauen. »Wenn wir mit irgendeiner Form von Kriminalität in Verbindung gebracht werden, sind wir geliefert.«

»Ja, um Himmels willen, natürlich«, erwidert Mira.

»Aber ich möchte Ihnen trotzdem noch ein Feedback geben«, fährt die Marketingleiterin fort und schlägt ihren langen Zeigefingernagel auf den Tisch. »Wie Sie wissen, sind Familien unsere Hauptzielgruppe und stehen im Fokus der Kommunikation. Daher möchte ich, dass das noch stärker berücksichtigt wird, als es in Ihrem Konzept zum Ausdruck kommt.«

»Selbstverständlich, kein Problem«, sagt Mikael, und Mira nickt.

»Wir sollten noch stärker mit Emotionen arbeiten«, fährt Emmanuelle Pira fort, »man entscheidet sich für unsere Produkte, um sich sicher zu fühlen. Die Familie ist schließlich das Wichtigste im Leben, nicht wahr?« Sie sieht Mira fragend an.

Mira schlägt die Augen nieder. »Das können Sie nicht wissen, aber ich habe keine Familie«, sagt sie kurz angebunden und bemerkt dann Emmanuelle Piras verständnislosen Blick.

»Nicht? Nicht einmal einen … einen Freund?«

»Das gehört für mich in die Kategorie privat«, erklärt Mira höflich lächelnd und schiebt ihr Besteck gerade.

»Oh, Entschuldigung«, sagt Emmanuelle Pira und schüttelt den Kopf, »sorry. Ich dachte nur, es ist leichter, wenn man sich in die Situation der Zielgruppe hineinversetzen kann.«

»Kein Problem«, versichert Mira. »Wann möchten Sie das überarbeitete Konzept von uns haben?«

»Vor Weihnachten.«

Mira denkt an den attraktiven Bonus. »Kriegen wir hin«, sagt sie. »Und wenn ich in der Zwischenzeit noch Fragen habe, melde ich mich, natürlich über Mikael, bei Ihnen.«

»Hast du nicht gesagt, dass ich die allerbesten Berater habe«, sagt Mikael zu Emmanuelle und grinst breit. »Mira ist großartig.«

Während des Essens wechseln sie das Thema und unterhalten sich über die bevorstehenden Feiertage, und Mira nickt höflich bei der Diskussion über die Delikatessen, die zum Weihnachtsessen gehören. Sie schlägt ein paar traditionelle Gerichte vor, um sich am Gespräch zu beteiligen. Weihnachten ist für sie nicht die schönste Zeit im Jahr, sie hat keine guten Erinnerungen daran. Aber Mikael und Emmanuelle Pira geht das nichts an. Integrität, Professionalität und Dienstleistungsmentalität. Das sind die drei Leitworte in Dactons Firmenphilosophie. Und davon würde sie auch nie einen Deut abweichen.

***

Janna und Rokka stellen die Stühle vor dem Fernsehbildschirm auf. Im Moment sieht man nur zwei leere Plätze im Vernehmungszimmer der Polizeiwache in Stockholm. Via Videoschaltung wollen sie mit der Mutter von Linus Antonsson sprechen.

»Übernimmst du wieder die Fragen?« Janna lächelt ihn an. Obwohl sie Kriminaltechnikerin ist, hört sie bei den Vernehmungen gern zu. Es helfe ihr, die Dinge im Zusammenhang zu betrachten, sagt sie.

Rokka nickt und überfliegt noch einmal den Auszug aus dem Fahndungsregister. Zacke Wall, der potenzielle Täter, ist einige Male im Dunstkreis mehrerer Schwerverbrecher aufgetaucht. Neben des Verdachts auf unerlaubten Waffenbesitz und Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz hat er auch schon eine Haftstrafe verbüßt, weil er zu Hause mit Kokain erwischt worden war.

Jetzt kommt Leben auf den Bildschirm. Eine Frau Mitte fünfzig erscheint in Begleitung eines uniformierten Beamten im Zimmer. Auffällig steif setzt sie sich auf den Stuhl, und der Polizist erklärt ihr, wie die Vernehmung vonstattengehen wird. Rokka beugt sich zum Bildschirm und stellt sich und Janna vor.

»Können Sie uns ein bisschen von Linus erzählen?«, bittet Rokka die Frau.

»Er war der liebste Junge auf der ganzen Welt«, sagt die Mutter, und ihre Stimme zittert. »Und sehr, sehr schüchtern.« Die Kamera im Vernehmungszimmer der Stockholmer Polizei dreht sich automatisch zu der Stimme, die gerade spricht, und fokussiert nun die Frau, die die Hände auf dem Tisch vor sich ballt. »Linus hat noch zu Hause gewohnt, weil er für eine Weltreise gespart hat.«

»Kann es sein, dass Linus neue Kontakte hatte?«, fragt Rokka. »Dass er, wie soll ich mich ausdrücken … in schlechte Gesellschaft geraten ist?«

Die Mutter schüttelt den Kopf. »Er hatte wenig Bekannte, er war ein Einzelgänger«, erklärt sie und schluchzt.

»Wüssten Sie jemanden, der ihm schaden wollte? Könnte er Feinde gehabt haben?«

Sie schüttelt den Kopf. Bringt nicht mehr die Kraft auf, ihre Trauer zu verbergen. Jetzt schluchzt sie heftig, und die Tränen laufen ihr über die Wangen. »Ich kann nicht mehr«, seufzt sie. »Es ist alles so schrecklich. Wie konnte das bloß passieren?«

»Das ist genau das, was wir herausfinden wollen«, erwidert Rokka. »Und dafür brauchen wir Ihre Hilfe.«

Die Mutter schnieft geräuschvoll. »Sagen Sie mir, was ich tun kann.«

Rokka holt tief Luft. »Wir haben allen Grund, davon auszugehen, dass der Mord an Ihrem Sohn geplant war«, sagt er und sieht, wie die Frau erstarrt. »Daher möchte ich, dass Sie noch mal genau nachdenken. Wirkte Linus in letzter Zeit irgendwie verändert?«

»Er …«, setzt sie an und wischt sich vorsichtig mit dem Ärmel ihres Pullovers über die nassen Wangen. »In den letzten Wochen habe ich mir Sorgen um ihn gemacht. Er war unruhig und niedergeschlagen. Ich hatte schon Angst, dass er depressiv wird.«

Rokka beugt sich noch näher an den Schirm. »Warum dachten Sie das?«

»Er zog sich zurück«, schnieft sie. »Hat kaum was gegessen, und ich habe gehört, dass er nachts wach war.«

»Haben Sie ihn darauf angesprochen?«

Betrübt schüttelt die Mutter den Kopf. »Ich hab es weiß Gott versucht, mehrmals, aber er wurde immer unnahbarer.«

»Hat er irgendwas von der Arbeit erzählt, ist da etwas vorgefallen oder hatte er neue Kollegen?«

»Nein. Allerdings sollte er plötzlich mit einem LKW nach Piteå fahren, und als er das erzählte, hatte ich den Eindruck, dass er das selbst gern wollte. Den LKW-Führerschein hatte er noch gar nicht so lange.«

Sie reden weiter über Linus. Das Bild von einem einsamen, netten und schüchternen jungen Mann wird immer deutlicher. Aber Rokka weiß genau, dass der Schein manchmal trügt. Ohne Grund wird niemand auf diese Art und Weise umgebracht. Und Rokka ist überzeugt, dass das eine Hinrichtung war, die auf das Konto von kriminellen Profis geht. Ein Mord, der rein zufällig hier in Norrland stattfand. Und egal, was Linus’ Mutter auch berichtet, ihr Sohn ist sicherlich an einen oder mehrere Menschen geraten, die eine andere Auffassung von Loyalität haben.

***

Mira läuft auf das Tor zu ihrem Wohnhaus in der Upplandsgata zu und verstaut ihr Smartphone in der Handtasche. Mikael hat ihr eine SMS mit tollem Feedback geschickt und zum Ausdruck gebracht, wie viel er von ihr halte und wie sehr er ihre Integrität schätze. Bei ihrem Kunden habe sie das deutlich bewiesen.

Ein Typ mit einer schwarzen Daunenjacke lehnt an der Wand und tippt etwas in sein Handy. Er sieht auf, als Mira vorbeigeht.

»Hallo«, sagt er mit tiefer Stimme und lächelt sie an. Sie hat den Mann noch nie gesehen und blickt zur anderen Seite, während sie die letzten Schritte auf den Eingang zugeht und ihren Türcode eingibt. Bevor sie die Haustür öffnet, schielt sie noch einmal zu dem Daunenjackentyp und stellt fest, dass er sie immer noch beobachtet. Was ist denn mit dem los?, denkt sie. Manche Männer sind wirklich plump. Kann man nicht etwas diskreter sein?

Ihre Wohnungstür fällt schallend ins Schloss. Sie verspürt wieder ein flaues Gefühl im Magen. Jetzt muss sie wirklich etwas essen, denkt sie und streift ihren weißen Wollmantel ab.

Der große Adventsstern taucht die Wohnung in sanftes Licht. Er hängt hinter den zarten Gardinen im Wohnzimmer. Der Stern wiegt sich leicht, vielleicht zieht es ein bisschen vom Fenster. Mira schiebt die Vorhänge zur Seite und wirft einen Blick hinaus. Das Wohnhaus auf der anderen Seite des Innenhofs ist hübsch, es hat in allen Etagen bodentiefe Fenster, und ganz oben gibt es eine Art Türmchen. Sie lässt ihre Fantasie spielen. Wie wäre es wohl, dort zu wohnen, mit einem Blick auf die ganze Vasastan …

Mira drapiert die rosa Tulpen in der Vase auf dem Tisch daneben neu und nimmt ein blassgrünes Blatt, das heruntergefallen ist, von der runden Marmorplatte. Dann hält sie inne und denkt wieder einmal, welches Glück sie hat, so zentral in Stockholm wohnen zu können.

Als ihr die Stelle bei Dacton angeboten wurde, hatte sie sich sofort auf Wohnungssuche begeben. Sie wollte einen Neustart in jeder Beziehung. Nachdem sie gut zwanzig Wohnungen vergeblich besichtigt hatte, die zu astronomischen Quadratmeterpreisen angeboten wurden, hatte sich ein Makler gemeldet und ihr diese frisch renovierte Dreizimmerwohnung gezeigt. Der Verkäufer wollte die Sache möglichst schnell abwickeln, daher bot Mira spontan eine Summe, die fünfzehn Prozent niedriger lag als in der Anzeige genannt. Und der Verkäufer biss an.

Sie holt sich die zwei großen Papiertüten von ihrem Lieblingsladen. Dann nimmt sie den Überwurf vom Bett, legt ihn in eine Ecke und zieht die neue Samtdecke, die sie gekauft hat, aus einer Tüte. Der dicke hellgraue Stoff fühlt sich angenehm weich an. Mira mag solche Dekoartikel, aber sie hält ihr Geld zusammen. Einen Großteil ihres Gehalts legt sie zur Seite. Wie wichtig und unverzichtbar Geld ist, hat sie schon in ihrer Kindheit zu spüren bekommen.

Aus der anderen Tüte holt sie zwei Kuscheltiere. Zwei Teddybären aus silberfarbenem Stoff. Der eine trägt einen Anzug, der andere ein Kleid. Sie setzt die Stofftiere in die Mitte des Bettes, ganz nah nebeneinander. Dann nimmt sie die zwei Lampen heraus. Sie geht um das Bett herum und stellt auf jeden Nachttisch eine. Sanft streicht sie über den Schirm.

Ihr Zuhause ist wirklich ihre Burg. Als sie bei Dacton anfing, bot Mikael ihr ein Überwachungssystem für die Wohnung an, das neue Produkt von Scandsec in der Beta-Version. Sie hat sofort dankend abgelehnt. Es ist zwar gut, Produkte zu testen, für die man Werbung macht, aber ihr gefiel die Vorstellung nicht, selbst überwacht zu werden.

Sie wechselt nun ihr strenges Kleid gegen eine ausgewaschene Jeans und ein T-Shirt. Mit den bequemen Klamotten gelingt es ihr, sich völlig zu entspannen.

Da kommt dieses flaue Gefühl im Magen wieder auf, und nun geht sie in die Küche, öffnet den Kühlschrank und holt sich einen Smoothie mit Spinat, Grünkohl und Ingwer heraus. Mit der Glasflasche in der Hand lässt sie sich im Wohnzimmer aufs Sofa sinken. Sie holt tief Luft und nimmt ein paar Schlucke des säuerlichen Getränks. In ihrem Handy ruft sie Fotos auf, die vor ein paar Wochen entstanden sind. Auf dem Display erscheint der einzige Beweis, den es für ihr zweites, heimliches Leben gibt. Bilder von Viktor, ihrem Freund.

5

»Langsam bekommen wir Übung darin«, sagt Janna und lächelt, als sie zum zweiten Mal, seit sie in diesem Fall ermitteln, neben Rokka vor dem Fernsehschirm Platz nimmt. Die Kollegen in Stockholm haben den Inhaber der Spedition Söder vorgeladen.

Die Kamera fängt den klein gewachsenen Mann ein, als er sich ganz vorn auf die Stuhlkante setzt, als wäre die übrige Sitzfläche mit spitzen Stacheln bedeckt, dann zieht er sich das Shirt über den Bauch und sieht sich nervös um. Rokka teilt ihm mit, wer von der Polizei Hudiksvall an diesem Gespräch teilnehmen wird, und klärt vorab die Formalitäten.

»Das ist entsetzlich«, sagt der Spediteur und hat offensichtlich Schwierigkeiten, über die Kamera Blickkontakt herzustellen. »Haben Sie irgendeine Vermutung, was dahinterstecken könnte?«

»Nein«, sagt Rokka. »Aber wir sind zuversichtlich, dass wir das aufklären können.«

Der Mann sitzt da wie ein Häufchen Elend.

»Können Sie uns ein bisschen von Ihrem Unternehmen und Ihrer Arbeit erzählen?«

»Es gibt uns seit zehn Jahren, wir haben Verträge mit vielen großen Firmen und übernehmen als Spedition sowohl Kurierdienste als auch längere Fahrten.«

»Wie würden Sie Ihren Angestellten Linus Antonsson beschreiben?«

»Ach wissen Sie, was soll ich sagen. Er war ein sehr stiller Typ. Wenn ich ehrlich bin, kannte ich ihn nicht besonders gut, wir haben sehr viele Fahrer. Auf jeden Fall sind mir nie Klagen über ihn zu Ohren gekommen.«

»Wie lange arbeitete er schon für Sie?«

»Noch nicht lange, vielleicht ein halbes Jahr?« Söder schlägt die Augen nieder, fixiert seine gefalteten Hände. »Normalerweise ist er hier in Stockholm Kurierdienste gefahren. Aber vor ein paar Wochen hat er mitgeteilt, dass er lieber Langstrecken übernehmen würde. Er hatte ja alle nötigen Papiere, und als sich eine Gelegenheit bot, hat er die Fahrt bekommen. Er hatte Putzmittel und so was geladen, es war also keine Risikofahrt.«

»Wann haben Sie den Auftrag erhalten?«

»Das ist ein Dauerauftrag«, antwortet er. »Wir machen diese Fahrt einmal im Monat.«

»Und wer war normalerweise der Fahrer?«

»Diese Strecke sind verschiedene Mitarbeiter gefahren.«

»War außer Antonsson noch ein anderer Fahrer im Gespräch für genau diese Fahrt?«

»Nein.«

»Haben Sie jemanden bemerkt, der auf dem Firmengelände nichts zu suchen hatte oder sich sonst wie auffällig verhalten hat?«

Der Spediteur schüttelt energisch den Kopf. »Das Einzige, was in letzter Zeit passiert ist, war, dass das Kundendiensthandy verschwunden ist.«

»Wann war das?«

»Ende November«, antwortet der Mann. »Ich weiß es noch so genau, weil wir an dem Tag den Geburtstag meiner Frau gefeiert haben. Wir saßen gerade im Restaurant, als mich ein Mitarbeiter deswegen anrief. Wir sind rund um die Uhr im Dienst.«

»Wir können den Mobilfunkanbieter bitten, das zu prüfen, wenn Sie uns die Nummer geben«, schlägt Janna vor. »Bestenfalls können wir Ihnen einen einigermaßen exakten Ort mitteilen, wo sich Ihr Handy befindet.«

Dann notiert sie die Rufnummer, die der Spediteur auswendig weiß, auf ihrem Notizblock.

»Wenn wir mal die ganz normalen Fahrten betrachten«, sagt Rokka, »welche Informationen über Ihre Aufträge können Sie abrufen?«

»Im Grunde alles«, sagt Anders Söder. »Den Auftraggeber, die Ware, Zeitpunkt der Abholung sowie der Lieferung, die Quittung des Empfängers …«

»Super, dann geben Sie uns bitte alle Informationen über die letzten Fahrten, die Linus Antonsson für Sie übernommen hat.«

»Kein Problem.«

Sie beenden das Gespräch, und sowohl Rokka als auch Janna bleiben stumm sitzen.

»Glaubst du immer noch, dass wir es mit einer Hinrichtung zu tun haben?«, fragt Janna nach einer Weile.

Rokka nickt. »Aber vielleicht waren sie gar nicht auf Antonsson aus. Vielleicht sollte jemand ganz anderes sterben.«

***

»Gibt es sonst noch was?«, fragt Mira und macht so lautlos wie möglich den Gurt los.

»Im Moment nicht«, sagt Mikael Strand.

Mira beendet das Telefonat und lässt ihr Smartphone in die Handtasche gleiten. Sie starrt geradeaus zum Parkplatz vor der Strafvollzugsanstalt Hall. Endlich ist die Sonne aufgegangen und verwandelt nun den feuchtkalten Morgen in Tag. Dass sie hochkant rausfliegen würde, wenn ihr Chef erführe, dass sie einen Freund hat, der im Knast sitzt, ist noch untertrieben.

Sie hat Mikael gesagt, sie wolle einen Tag ungestört im Homeoffice arbeiten, damit sie die neuen Botschaften für Scandsecs Visionen und Ziele in Ruhe zusammenstellen kann. Copy-Peter hat viel Zeit darauf verwendet, zu formulieren, wie wichtig es ist, die eigene Familie zu schützen. Das Wichtigste, was man hat, denkt sie, als sie die Wagentür zuschlägt und abschließt.

»Ich möchte Viktor Berger besuchen«, sagt sie zu dem Wachposten am Tor.

Es rasselt, als die Türen hinter Mira ins Schloss fallen und sich das Gefängnis mit seinen grauen, klotzartigen Gebäuden vor ihr ausbreitet. Über der ganzen Gegend liegt ein Schleier aus Stille, eine düstere Atmosphäre. Sie wird hier nicht mehr oft herkommen, denkt sie. Ein Blick auf die Uhr, in fünf Minuten beginnt die Besuchszeit. An der Außenpforte meldet sie sich an, dann begibt sie sich in den Wartebereich.

Vor acht Jahren hat sie Viktor kennengelernt, kurz vor dem verfluchten Werttransportüberfall. Sie hatte vorher einige Dates gehabt, aber am Ende die Nase gestrichen voll von diesen gut situierten Anzugtypen und den Möchtegern-Hipstern, die in den Bars rumhingen. Sie wurde zu allem Möglichen eingeladen. Ob es Haute Cuisine in den exklusivsten Restaurants Stockholms war, Konzerte in der Berwaldhalle oder Wochenendreisen in Fünfsternehotels in europäische Metropolen. Obwohl sie einige der Männer durchaus interessant fand, war es ihr schwergefallen, sich auf sie und ihren Lebensstil langfristig einzulassen.

An einem Samstagabend im September hatte Miras Schwester Eila ein paar Freunde und Bekannte zu sich nach Hause eingeladen, und Viktor war einer von ihnen. Er hatte das gewisse Etwas, einen ganz besonderen Blick. Als ihr jemand zuraunte, dass er aus schwierigen Verhältnissen stamme, ging sie sicherheitshalber auf Abstand. Doch das konnte Viktor nicht abschrecken, und es gelang ihm, ein Date mit ihr zu bekommen. Und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, sich niemals auf einen Typen wie ihn einzulassen, war es genau das, was sie dann tat.

Mira sitzt noch immer da und wartet, als ein Vollzugsbeamter an ihr vorbeikommt. Die Schlüssel an seinem Gürtel klappern. Wie sie auch hin- und herrutscht, sie findet auf der harten Bank keine bequeme Sitzposition.

Vom Eingang kommt eine Frau mit einem kleinen Mädchen in einem rosafarbenen Prinzessinnenkleid an der Hand angelaufen. Die Kleine bleibt stehen und sieht sich um. »Wo ist Papa?«, fragt sie und reckt die Arme hoch, weil sie auf den Arm ihrer Mutter will. Als Mira den ängstlichen Gesichtsausdruck des Kindes sieht, bekommt sie einen Kloß im Hals. Sie wendet ihren Blick ab und sieht auf ihr Handy.

»Wir müssen hier kurz warten«, hört sie die Mutter sagen. »Dann können wir Papa treffen.«

Seit der vereinbarten Besuchszeit sind jetzt fast schon vierzig Minuten verstrichen. Beim letzten Mal hatte sie eineinhalb Stunden warten müssen, bis sie in den Besuchsraum geführt wurde. Mira wird ärgerlich, denn es hat den Anschein, als machten sie das mit Absicht.

Das erste Date mit Viktor wird sie nie vergessen.

»Ich werde dir das beste Restaurant der Welt zeigen«, hatte er versprochen, »mit der schönsten Aussicht, die ich kenne.«

Mira schlüpfte daraufhin in ein neues Designerkleid und die Stiefeletten mit den hohen Absätzen. Verwendete viel Zeit auf ihr Make-up. Viktor holte sie mit seinem Wagen ab, ohne zu verraten, wo sich dieses Restaurant befand. Sie verließen die Stadt auf der Autobahn, bogen auf Höhe von Farsta ab und fuhren dann nur noch über ganz kleine Straßen. Miras Verunsicherung stieg mit jedem Kilometer, und sie hielt ihr Smartphone fest in der Hand.

»Wohin fahren wir denn?«, fragte sie, aber er schüttelte nur den Kopf.

An einer Wendeplatte machten sie halt. Viktor holte eine große Tasche aus dem Kofferraum.

»Bleib hier sitzen und warte einen Moment«, sagte er. »Ich muss noch was vorbereiten.«

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