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Der elektrische Traum. Fortschrittsjahre oder eine Gesellschaft unter Strom

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Das magische Leuchten – über die Elektrifizierung der Welt und die erste Energiewende


Im Jahr 1878 sind sich die führenden Ingenieure der Kaiserzeit einig: Niemals wird Elektrizität das Gaslicht verdrängen. Strombetriebene Lampen seien unpraktisch und schadeten der Gesundheit. Leuchtgas werde unentbehrlich bleiben, meint etwa der Ingenieur Werner Siemens.

Dieses Licht hat der Menschheit aber auch eine Bedrohung beschert: Immer mehr Gasbrände verzeichnet die Statistik, immer mehr Explosionen. Und nirgendwo ist die Gefahr größer als in den Theatern, den Zentren des Zeitgeists im 19. Jahrhundert. Doch das Risiko ist zur Routine geworden – bis es 1881 im Wiener Ringtheater zur Katastrophe kommt und fast 400 Menschen sterben. Ein Wendepunkt mit weitreichenden Folgen.

Mit Verve und erhellender Sachkenntnis erzählt Alexander Bartl von einer Energierevolution, die ganz Europa und Amerika in Aufregung versetzte. Letztlich triumphiert Thomas Alva Edison mit der Erfindung seiner Glühbirne und bringt unsere Welt zum Leuchten.


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004586

Leseprobe

FÜR MEINE ELTERN

1
IN FLAMMEN

NIZZA, 1881

Nizza war bereit für den Wahnsinn, doch als er die Stadt an jenem Mittwoch befiel, stürzte er sie ins Unglück.

Noch am Morgen deutete nichts darauf hin, zumindest übersahen die Gäste alle Vorzeichen mit beiläufiger Noblesse. Der 23. März 1881, der als schwarzer Tag in Frankreichs Geschichte eingehen sollte, begann so schillernd wie die vorherigen. Zwar hatte sich die Sonne hinter Wolken verschanzt, es sah nach Regen aus. Der Ozean war über Nacht ergraut, aber das störte niemanden, denn die Stadt besaß ihren eigenen Glanz, dank der Besucher, die ihn mitbrachten.

Schon vormittags führten russische Fürstinnen und englische Lords, deutsche Herzöge und österreichische Gräfinnen ihre prachtvollen Garderoben auf der Strandpromenade spazieren. Hier musste man sein, hier musste man renommieren, die Damen in dieser Saison möglichst in Kleidern mit aufgemalten Blumengirlanden, um sich eine der begehrten Einladungen zu den exklusiven Empfängen im Club de la Méditerranée oder in den Villen am Hang zu sichern. 1

In vielen Sprachen erörterten die Flaneure nun das Tagesprogramm. Sollten sie sich ins benachbarte Monaco begeben und nachsehen, ob beim internationalen Taubenschießen ein paar Vögel übriggeblieben waren, die sie eventuell selbst erlegen könnten? Das Casino dort lockte ebenfalls, wenngleich Nizza auf Plakaten davor warnte, weil die Behörden befürchteten, der Reichtum der Gäste versickere im Fürstentum nebenan: »Fahren Sie nicht nach Monte-Carlo!« 2 Deutlicher konnte man es kaum ausdrücken, verzweifelter auch nicht. Das Nachmittagskonzert bei dem in dieser Saison erstmals aufgetauchten Millionär aus Russland erschien manchen ebenfalls reizvoll. Er habe »sein eigenes, aus 50 Musikern bestehendes Orchester« 3 mitgebracht, hieß es in der Presse, und wolle nun demonstrieren, dass er mithalten könne mit hiesigen Luxusexzessen.

So wurden diverse Vergnügungen erwogen und wieder verworfen. Nur das Abendprogramm war diesmal unstrittig: Das Stadttheater gab Lucia di Lammermoor, die berühmte Oper von Gaetano Donizetti, die auf Walter Scotts Romeo-und-Julia-Adaption zurückging. Die Handlung hatte der Schriftsteller aus dem sonnigen Verona nach Schottland verlegt, wo die Herzen naturgemäß ein bisschen schwerer waren.

Düster dämmerte das Unheil herauf, bis die zwangsverheiratete Lucia ihren Ehemann erstach und im schönsten Belcanto den Verstand verlor. Die »Wahnsinnsarie« hatte sich zum Bravourstück entwickelt und oftmals auch zur Klippe für aussichtsreiche Sängerinnen, die von dort in die Bedeutungslosigkeit stürzten, wenn sie das Solo vermasselten.

Diesen Balanceakt zwischen Triumph und Tragik wollte Nizzas Hautevolee nicht verpassen, zumal ihn an diesem Abend die in Italien gefeierte Bianca Donadio wagen würde, die sich mit dem Auftritt auch in Frankreich etablieren wollte. Wer in Nizza bejubelt wurde, der hatte schon fast Paris erobert.

Es würde nicht einfach werden für sie, denn das Publikum war mindestens so verwöhnt wie das in der Metropole. Erst vor wenigen Wochen hatte die weltberühmte Koloratursopranistin Adelina Patti am Mittelmeer triumphiert und hinterher geprahlt, sie habe noch nie mehr verdient als an jenem Abend. Fünfzehntausend Francs! »Eine gleiche Summe dürfte bisher noch keine Künstlerin erhalten haben« 4 , meldeten Zeitungen ehrfürchtig.

Noch erstaunlicher als Pattis Honorar war allerdings die Karriere, die der Stadt Nizza in den vergangenen Jahren gelungen war. Bis dahin hatte sie als verschlafener Ort mit dem Charme eines Sanatoriums gegolten, allein dazu errichtet, den europäischen Adel aufzupäppeln. Im Süden zu überwintern, half den meisten. Manche starben. Selbst Nizza konnte keine Wunder wirken, trotz Meerblick und Strandpromenade.

Bald aber kamen Künstler, um von der Spendierlaune der frühen Kurgäste zu profitieren, und spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde Nizza auch für Gesunde interessant. Weil also Parvenüs, Prinzessinnen und Patienten dort mittlerweile eine ziemlich exaltierte Mischung bildeten, siedelte die Stadt grundsätzlich nah am Wahnsinn. Und am 23. März 1881 wollte man sich eine bis zur Genialität verfeinerte Spielart gönnen, die Lucia di Lammermoor, die hoffentlich ohne verrutschte Töne dem Irrsinn verfiel.

Zum Glück ahnten die vornehmen Gäste nicht, was an jenem Nachmittag in Nizzas Rathaus vorging, sonst hätten sie sich angemessen empört. Der Intendant des Stadttheaters war nach der letzten Probe vor der Premiere dorthin geeilt, um ihnen den Abend zu verderben. Aus einem defekten Rohr ströme Gas in den Bühnenraum, klagte er und empfahl, die Vorstellung abzusagen. Natürlich nicht, hieß es seitens der Behörden, schließlich war die Leitung schon seit Wochen undicht, weshalb man die Risse notdürftig mit Mörtel verspachtelt hatte. 5 Kein Grund zur Aufregung.

Ob die Aufführung stattfand oder nicht, die Sopranistin Bianca Donadio musste bezahlt werden. Sie erhielt zwar ein weit geringeres Honorar als die Patti, dennoch war es hoch genug, um das Leck lieber mit einer weiteren Mörtelschicht zu überschminken, anstatt die Premiere zu streichen und das Gasrohr auszutauschen. Herr Cottoni, der für die Oper verpflichtete Bassist, war übrigens auch nicht billig gewesen.

Fast alle kostspieligen Logenplätze hatte man verkauft, ebenso jene im Parterre. Ein kleines Vermögen lag in der Theaterkasse. Müsste man das Geld zurückerstatten, würde es das enttäuschte Publikum als Vergeltung für das entgangene Bühnenamüsement womöglich im Casino von Monaco verprassen. Nicht auszudenken!

WIEN, 1875

Die Stadt wartete auf Mister Kennedy. Schon Anfang Februar kursierten Gerüchte über seine Respekt einflößende Statur, zwei Wochen später hieß es, er sei womöglich gefährlich. Dann vermeldete die erste Zeitung endlich seine Ankunft in Österreich, um kurz darauf einzuräumen, mit dem zuständigen Redakteur sei leider die Fantasie durchgegangen. Noch sei Kennedy nicht gesichtet worden im Kaiserreich. Schade.

Nun wurden die Wiener nervös, und mit der Unruhe wuchsen die Zweifel. Hatte Kennedy überhaupt vor, sie zu beehren, wie Franz Jauner versicherte, wann immer ihn Journalisten bedrängten? Dabei sollte der Direktor des Wiener Carltheaters eigentlich wissen, wie empfindlich man in der Hauptstadt reagierte, wenn Wunschträume platzten. Wilhelm von Schwarz-Senborn zum Beispiel, der Generaldirektor der Wiener Weltausstellung vor zwei Jahren, war als Botschafter nach Washington verbannt worden, weil sich die Großveranstaltung zum finanziellen Debakel entwickelt hatte. Wer wollte schon in Amerika darben, wenn es daheim demnächst Mister Kennedy auf der Bühne zu bestaunen gab, den imposantesten und talentiertesten Elefanten des Erdballs?

»Der vierfüßige Künstler, der für 600 Pfund Sterling gekauft wurde, und ein Spielhonorar von einem halben Centner Brot per Abend erhält, wird in dem Ausstattungsstücke ›Die Reise um die Welt in achtzig Tagen‹ (nach Jules Verne’s Roman) auftreten« 6 , schrieb die Neue Illustrirte Zeitung. Noch weile das Tier in London, wo es beim Zirkus für Aufsehen sorge. Bis zur Wiener Premiere am 28. März 1875, dem Ostersonntag, waren es zwar noch mehrere Wochen, aber wer wusste schon, ob Kennedy nicht im letzten Moment seinen Auftritt verweigern würde.

Die Kaiserstadt kannte sich aus mit exotischem Großwild. Sie rühmte sich immerhin des ersten Zoos der Welt, 1752 in Schönbrunn eröffnet. Auch dort gab es einen Elefanten, doch aus London erwartete man einen Star.

In der Fantasie der Wiener wuchs das Tier über sich hinaus. »Vorderhand hat das Carltheater keine Thüre groß genug, um den interessanten Gast passiren zu lassen; man wird eine eigene Ehrenpforte von colossalem Umfange für ihn errichten müssen« 7 , spekulierte die Neue Illustrirte Zeitung. In der Hofoper an der Ringstraße könne man den Elefanten wohl unterbringen, aber für das Privattheater in der Leopoldstadt erscheine er entschieden zu imposant.

Für die kaiserlichen Bühnen, neben der Oper noch das Hofburgtheater, waren solche Überlegungen wenig schmeichelhaft. Eigentlich sollten doch sie für Aufsehen sorgen mit ihren Stücken. Jahrzehntelang waren sie Maß und Orientierung gewesen. Und nun riss Franz Jauner alle Aufmerksamkeit an sich – mit einer Zirkusattraktion! In der Hofburg war man alarmiert, so gern diverse Angehörige der kaiserlichen Großfamilie einen Abstecher ins Carltheater machten.

Am 7. März gab es endlich wieder Neuigkeiten von Kennedy. Der Direktor verkündete vor Journalisten, er habe seinen Buchhalter nach London geschickt, um das Tier abzuholen. 8 Reklame, Reklame, darauf verstand sich Franz Jauner wie kein zweiter Theatermann. Er pries seine Produktionen nicht nur in der Presse an, sondern auch auf überdimensionalen Plakaten, die renommierte Künstler entwarfen. Wer mitreden wollte an den Stammtischen, in den Amtsstuben, sogar in den Salons der Ringstraße, der musste ins Carltheater.

Das Haus war 1847 in der Leopoldstadt errichtet worden, nahe dem Prater, also in der Sphäre des Wiener Amüsements – ein Standortvorteil. Unter den frühen Direktoren hatte es sich mit österreichischen und deutschen Volksstücken einen Namen gemacht. Der Dramatiker und Schauspieler Johann Nestroy war hier schon zu Lebzeiten zum Klassiker aufgestiegen.

Immer dem Zeitgeist auf der Spur entrümpelte Jauner den Spielplan, riss den Horizont auf, und siehe da: Jenseits der Landesgrenzen, vor allem in Frankreich, gab es Spannendes zu entdecken, das er unverzüglich importierte. Auf einmal standen Dandys und Abenteurer auf der Bühne, bekam das Wiener Publikum frivole Damen und Bonvivants zu Gesicht, die Ehebrüche in Serie begingen. Was für ein Spaß! Die Pariser Boulevarddichter schienen auf Dreiecksbeziehungen in allen Variationen spezialisiert zu sein.

Dafür nahmen sie es oftmals mit der Logik der Handlung nicht so genau. An diesem Punkt kam Jauners zweites Talent neben dem für zugkräftige Werbung ins Spiel, jenes für das große Spektakel. Damit ließen sich die Mängel der Werke vortrefflich kaschieren. Kein anderer Theaterdirektor staffierte die Bühne prunkvoller aus, keiner kostümierte die Darstellerinnen so verführerisch wie er. Und keiner verstand sich besser auf Spezialeffekte.

Man mochte sich wundern, wo all die Feuerwerke und Pistolen auf der Bühne plötzlich herkamen, die in den Dramen gar nicht vorgesehen waren. Peng! Das Publikum zuckte. Peng! Der betrogene Ehegatte erschoss erst den mutmaßlichen Liebhaber seiner Frau und danach den tatsächlichen: Peng! Tauchte dann auch noch ein unehelicher Sohn auf und knallte wild um sich, während Feuerwerksraketen über die Szene zischten wie die wütenden Seelen der Toten, registrierten die Zuschauer zufrieden, Jauner habe sich wieder einmal selbst übertroffen. Es krachte und loderte in seinen Inszenierungen, eine theatralische Materialschlacht, als hätte Österreich nach dem verlorenen Krieg 1866 gegen Preußen noch eine Rechnung offen.

Danach trat der Direktor unter tosendem Applaus auf die Bühne, gab dem Publikum Zeit, ihn zu betrachten, bevor er sich verbeugte. An Hinterkopf und Schläfen wellten sich die Reste seiner Künstlermähne, oben hatte sich die Pracht schon merklich gelichtet. Im Verhältnis zur hohen Stirn wirkten Augen, Nase und die vollen Lippen etwas zusammengedrängt, dennoch ein Charaktergesicht, kein Zweifel, bühnenreif, auch ohne Schminke.

Auf den meisten Porträtfotos blickt Jauner demonstrativ an der Kamera vorbei, mal verträumt, mal erstaunt, als wäre hinter dem Fotografen gerade Mister Kennedy ins Atelier gepoltert. Nur auf den wenigen Bildern, auf denen er direkt in die Kamera schaut, lässt sich der Krawall-Jauner erahnen, wie ihn Zeitgenossen schilderten, der Impresario, der mit seinen Spektakeln über die Fantasie der Wiener herrschte wie der Kaiser über Österreich-Ungarn.

Den linken Arm in die Taille gestützt, das Hemd zugeknöpft bis zum Hals, dennoch mit einem Anflug von Lässigkeit in der Pose, eine vormoderne Version der Coolness, während sich normale Bürger im Fotoatelier noch stocksteif hinstellten wie Imperatoren auf den Gemälden der Altmeister. Dies war der Direktor, den selbst Johann Strauss fürchtete, weil die größten Walzerfreunde mitunter lieber ins Carltheater gingen.

Kaum eine Vorstellung, die nicht ausverkauft war, während andere Bühnen noch an den Folgen des Börsenkrachs vom 9. Mai 1873 litten. Einige Theater hatte die Krise ruiniert, viele schleppten sich mit kargen Mitteln von Tag zu Tag: ein Trauerspiel. Selbst die Hofbühnen, dank üppiger Subventionen eigentlich gegen die Wechselfälle der Ökonomie gewappnet, mussten sich zum Entsetzen des Obersthofmeisters Konstantin zu Hohenlohe-Schillingsfürst, in dessen Verantwortung der Spielbetrieb lag, mit Kalamitäten herumschlagen.

Das Defizit wuchs in gleichem Maße, wie sich das Publikum rarmachte. Dass es nicht zum Besten stand um seine künstlerische Heimat, spürte auch das verwöhnte Hofbühnenpersonal: »Sparen, sparen blieb die Devise, und so kam es zu jenen denkwürdigen Erlässen, welche zum Schrecken aller Künstlerinnen plötzlich den seit Decennien üblichen Gratisbezug von Seife und Handschuhen verboten.« 9 Als entwürdigend empfanden die Betroffenen das, als mutwillige Beschädigung ihrer Aura.

Allein jenseits des Donaukanals, beim Jauner, florierten die Geschäfte. Manche seiner Freunde warnten ihn trotzdem vor dem sündteuren Pomp seiner Inszenierungen. Wenn plötzlich die Zuschauer wegblieben, wäre er ruiniert! »Das versteht ihr nicht«, entgegnete er dann, »das Geld, das man bei Tag anscheinend zum Fenster hinauswirft, kommt am Abend hundertfach an der Kasse wieder herein.« 10

Im Frühjahr 1875 bahnte sich also der nächste Triumph an, theoretisch, denn noch fehlte von Mister Kennedy jede Spur. »Elephant, wo bist Du?« 11 , fragte ein Reporter beklommen. Drei Tage später konnten die Wiener endlich aufatmen: »Der Elephant des Carl-Theaters ist heute Früh mit dem Postzuge der Kaiserin Elisabeth-Bahn glücklich in Wien angelangt.« 12 Jubelnde Menschen empfingen ihn in der Leopoldstadt, wo er neben dem Theater im Gasthaus »Zum Goldenen Tiger« an der Weintraubengasse 1 abstieg. Der Stall des Lokals sei vorab eigens für den exotischen Gast gepolstert worden. 13

Nur eines enttäuschte viele: Mister Kennedy benahm sich zwar vorbildlich, war aber längst nicht so kolossal wie erwartet. Er wirkte, im Gegenteil, sehr normal, um nicht zu sagen: kleinwüchsig. Das pompöse Ehrenportal für das Tier konnte sich Franz Jauner sparen.

Der Direktor äußerte sich nicht dazu, der Wirbel um den Elefanten war ihm inzwischen selbst suspekt. Das Tier sollte doch nur der Köder sein, um das Publikum zu locken. Die eigentliche Attraktion war selbstverständlich die Inszenierung des Jules-Verne-Romans. Schauspieler, Bühnentechnik, Gaslichteffekte, Feuerwerk – wie Kolben und Schwungräder einer Maschine griff bei Jauner immer alles perfekt ineinander, nahm im Laufe des Abends Fahrt auf, bis sich die Ereignisse überschlugen, und die Zuschauer aus dem Staunen nicht mehr herauskamen.

Neben dem regulären Orchester hatte der Direktor diesmal eine »Militärmusikkapelle mit Hörnern und Trompeten« 14 engagiert. Die Begleitmusik stammte von Franz von Suppé, dem 1866 mit der Operette Leichte Kavallerie ein derart mitreißendes Werk gelungen war, dass die Ouvertüre noch im 21. Jahrhundert zu den Standards gemischter Konzertabende zählen sollte. Die opulente Szenerie entwarfen die renommierten Hoftheatermaler Brioschi, Burghart und Kautsky.

Während auf der kaiserlichen Bühne vor allem Fünfakter des klassischen Repertoires zu bebildern waren, hatte Jauner gleich dreizehn Großformate geordert. Dazu entwarf der ansonsten exklusiv den Hofbühnen verbundene Historienmaler Franz Xaver Gaul raffinierte Kostüme. Und um sein Meisterwerk abzurunden, ließ Jauner sämtliche Accessoires aus dem Pariser Meisteratelier Leblanc, Granger und Hallé kommen. 15

Ausgerechnet Mister Kennedy gefährdete nun die Gesamtwirkung. Weil er, so klein er war, schon vor der Premiere alles andere überschattete – den großen Autor, den großen Theaterdirektor, dessen grandiose Inszenierung.

Dabei war das Stück wie gemacht für Opulenz und Temporausch. Es erzählt von einem Engländer, der um die Welt hetzt, weil er gewettet hat, dies in achtzig Tagen zu schaffen. Eine vollkommen verrückte Idee, aber genau deshalb ein typisches Jauner-Szenario. Dass nun der ganze Erfolg von der Tagesverfassung des vierbeinigen Nebendarstellers abzuhängen schien, missfiel dem Direktor.

Drei Tage vor der Premiere kam es noch schlimmer: »Wie uns mitgetheilt wird, ist der Elephant für die ›Reise um die Welt in achtzig Tagen‹ seitens der Polizei für nicht Carltheaterfähig erklärt worden, weil er lebendig ist und kein Zeugniß über seine vollendete Zähmung ausweisen kann« 16 , vermeldete die Morgen-Post.

An diesem Tag entfielen die Proben für das neue Stück, es entfiel Mister Kennedys Morgenspaziergang zum Prater, sogar Jauners Überschwang entfiel. Der Direktor schwieg. Möglicherweise bezweifelte er erstmals selbst, das hinausgeworfene Geld werde an der Theaterkasse hundertfach wiederkehren. Wien stand unter Schock.

NIZZA, 1881

Nizzas Einwohner, viele davon als Dienstboten und Handlanger der zahlungskräftigen Besucher tätig, waren die Ersten, denen es auffiel. Die Saison 1881 fühlte sich trotz Oper, Theater, Gala-Corso und Kostümbällen auf Privatjachten anders an als die vorherigen. Die Puszta-Kapellen, die in diesem Jahr in Mode waren, gaben zwar alles, um mit Polka und Csárdás die Bedenken zu zerstreuen. Dennoch: Die demonstrativ zur Schau getragene Grandezza wirkte unecht. Eine Zeitung schrieb:

»Trotz der Überfüllung Nizza’s sind die hiesigen Einwohner und namentlich die Ladenbesitzer mit der Saison nicht zufrieden. Sie klagen darüber, daß die Qualität der Fremden gegen frühere Jahre sehr abgenommen habe.« 17

Das Geld saß nicht mehr so locker, was bei denen, die auf die Großzügigkeit der Gäste angewiesen waren, Existenzängste weckte. Die richtig Reichen machten sich rar. Ein Insider vermeldete alarmiert: »Man vermißt plötzlich die ersten Sterne der Gesellschaft, sie sind geflohen; aus Nizza geflohen! vor der Fülle der Vergnügungen, um sich in Cannes zu erholen.« 18 Die Flucht war auch eine Reaktion auf soziale Erschütterungen, die Europas Adel in jüngerer Zeit zusetzten.

Das Volk begehrte auf, das Proletariat machte mobil, das wachsende Bürgertum hinterfragte die Nonchalance, mit der manche Zeitgenossen dank ihrer angeborenen Privilegien den Müßiggang zelebrierten und in Monaco auf Tauben schossen. Dass die Kadaver hinterher großmütig für die Armenspeisung gespendet wurden, war mittlerweile zu wenig, um die eigene Bedeutung für das Gemeinwesen zu beweisen. Zar Alexander II. hatte gar keine Chance bekommen, seinen Lifestyle entsprechend zu justieren. Vor zehn Tagen, am 13. März 1881, war er einem Attentat zum Opfer gefallen.

Die üblichen Unpässlichkeiten wurden in Nizza salopp weggelächelt, doch gegen die neue Bedrohung half nicht einmal Champagner aus dem Hause Clicquot. Die Stadt war in ihrer Dekadenz erstarrt, während sich die Welt weiterdrehte; ein Sinnbild für das kränkelnde Establishment in ganz Europa.

Die beiden Handwerker, die am frühen Abend den Dachboden des Stadttheaters betraten, ahnten nichts von der Krise der Privilegierten. Schließlich gehörten sie zum Unterbau der Gesellschaft, der es gewohnt war, Lasten zu tragen. Durch Ritzen drang das Flackerlicht der Straßenbeleuchtung in den Raum, nur eine Ahnung von Helligkeit. Die Männer ertasteten die Luke, öffneten sie und setzten eine Kurbel in Gang, die eine Kette bewegte. Der Kronleuchter rasselte aus der Tiefe zu ihnen herauf, bis er durch die Luke stieg, den Dachboden beinahe ausfüllte mit seinen zahlreichen, in Ringen angeordneten Gasbrennern. Einer der Arbeiter öffnete ein Ventil an der Wand.

Sofort füllte sich der Raum mit Gas. Es strömte durch Schläuche und aus den Düsen, die auf die Zündflamme warteten. Nun mussten sich die Männer beeilen, mit einer Fackel das Feuer verteilen, bevor ihnen das Gas die Sinne raubte. Als der Leuchter ordnungsgemäß in Flammen stand, bemerkten sie nur einen dezenten Schwindel. Das war gut. Keiner der beiden krachte benommen auf die Bretter.

Wieder kurbelten sie, nun schwebte der Kronleuchter abwärts wie eine Lichtgestalt aus Feuer und vergoldetem Eisen. Im Flackerschein bekam der Raum darunter Tiefe und Farbe. Ein Meer aus roten Samtsitzen, umschlossen von fünf Rängen, wartete auf das Publikum. Die Handwerker verließen den Dachboden und stiegen hinab zur Bühne. Nun mussten sie dort die Lampen entzünden, während im Zuschauerraum wieder Stille einkehrte, als könnte die Unruhe der Zeit dem Theater nichts anhaben.

BERLIN, 1875

Bis auf den Makel, dass es nicht schwimmen konnte, war das Schiff vollkommen. Majestätisch erhob es sich im Tanzsaal des vormaligen Berliner Vergnügungslokals Bella Vista an der Chausseestraße. 19 Emil Rathenau, 1838 in der Hauptstadt geboren, hatte den Raum in eine Fabrikhalle umfunktioniert, und die historische Karavelle war das erste Werk seines jungen Unternehmens. Obwohl nicht viele Ingenieure des 19. Jahrhunderts solche Kunstwerke fertigen durften, missfiel ihm der Auftrag.

Mit allem Pomp sollte er das Schiff ausstatten, ein dreigeschossiger Deckaufbau war gewünscht worden und eine weitläufige Tanzfläche. All das hatte Rathenau meisterhaft ausgeführt, damit die Delegation der Königlichen Hofoper, die gekommen war, um das Prachtstück abzuholen, am Rumpf emporblickte und staunte. Bedauerlicherweise wäre es sogar bei Windstille auf der Spree gesunken, denn für eine wasserdichte Beplankung hatte das Geld gefehlt. Schließlich sollte die Karavelle bloß so aussehen, als könnte sie zwischen den Kontinenten pendeln. Die Illusion zählte, nicht die technischen Möglichkeiten.

Rathenaus Werk war für Giacomo Meyerbeers Oper Die Afrikanerin vorgesehen, die von Vasco da Gamas Abenteuern handelt. Natürlich musste in diesem Fall ein stattlicher Kahn her, damit der portugiesische Seefahrer seiner Bestimmung folgen konnte.

Die Premiere geriet zum Triumph. Nicht nur die meisterhafte Musik und der Gesang wurden gefeiert, sondern ausdrücklich auch Rathenaus Beitrag. Das Schiff im dritten Akt und die Tempelanlagen im vierten seien »decorative Meisterwerke« 20 , schwärmte etwa die Schriftstellerin Luise Mühlbach.

Las Rathenau die Hymnen, die etliche Musikkritiker auf sein Schiff anstimmten? Wohl kaum. Zweifelhaft, ob er jemals eine der Vorstellungen besuchte. »Mein Interesse für diese Arbeiten war gering, weder die Bühne noch die Balletteusen, für deren Gruppendarstellungen schmiedeeiserne Konstruktionen dienten, übten eine Anziehungskraft auf mich aus« 21 , bemerkte er.

Dennoch sollte er sich viele Jahre danach noch einmal dem Theater zuwenden. Sein zweiter Flirt mit der Bühne bescherte ihm letztlich Weltruhm, obwohl er den Zauber, den Opern und Dramen auf viele ausübten, nicht nachempfinden konnte, weder später noch in den Tagen, als er ein Schiff baute, das nicht schwamm.

Mehr als die Scheinwelt der Kunst irritierte ihn, dass die Gesellschaft in Deutschland auch jenseits der Theater offenbar einer Selbsttäuschung aufsaß. Sie fühlte sich ungemein fortschrittlich dank ihrer wachsenden Industrie, folge aber ganz falschen Idealen, wie er fand. Was andere Fabrikbesitzer und deren Kunden als Erfolg feierten, war für ihn eine Ansammlung verschenkter Chancen. Er schätzte das Einheitliche, bis zur Perfektion Optimierte, sie bevorzugten Einzelstücke.

An den Dampfmaschinen, deren Konstruktionspläne von den Werkmeistern gehütet wurden wie Staatsgeheimnisse, ließ sich das veranschaulichen. Jeder Kunde äußere neue Wünsche, klagte Rathenau: »Lag die fertige Maschine rechts, wünschte man das Spiegelbild, war das Schwungrad als Riemenscheibe ausgebildet, forderte man besondere Scheiben« 22 , mitunter musste bei der Konstruktion sogar auf die künftige Ummauerung in den jeweiligen Fabriken Rücksicht genommen werden.

Die Ansprüche an die Leistung der Geräte waren hingegen überschaubar. »Wenn sich die Maschinen drehten, einigermaßen die verlangte Arbeit leisteten, nicht allzuviel Störungen verursachten, dann galten sie als hervorragend« 23 , urteilte der in Graz geborene Ingenieur Alois Riedler, der von 1888 an als Maschinenbau-Professor in Berlin lehrte. Unmengen an Energie wurden für eine bescheidene Kraftausbeute verschleudert, weil der Wirkungsgrad so miserabel war. Aber Hauptsache, die Schlote rauchten wie Vulkane, Hauptsache, die neuen Dampfmaschinen fügten sich formschön in die Produktionshallen. Die deutsche Rückständigkeit in technischen Belangen, zumal in seiner Heimatstadt Berlin, empfand Rathenau als besonders schmerzlich. 24

Selbst die Liebermanns, seine wohlhabende Verwandtschaft, waren ungemein stolz auf ihre Produktionsstätten, die diesen Prinzipien folgten. Nach dem Gymnasium hatte Rathenau in einer von deren Fabriken gearbeitet, war später in England in die Lehre gegangen und anschließend heimgekehrt, um sein eigenes Unternehmen zu gründen.

Nach dem Schiff für das Hoftheater hatte Rathenau genug von Sonderanfertigungen. Er erfand eine neue Dampfmaschine auf Rädern, die sich bequem dorthin rollen ließ, wo sie gebraucht wurde. Seine Kundschaft schätzte das mobile Gerät, obwohl es ohne Extras ausgeliefert wurde. Nicht einmal ein kleines linksdrehendes Rädchen, das eigentlich rechtsherum laufen sollte, durften sich Käufer wünschen.

Selbst das Unternehmen Siemens & Halske orderte einige Exemplare. Rathenaus Firma fertigte außerdem drehbare Panzertürme für das Militär, Wellblechprodukte und dampfbetriebene Sitzheizungen für Züge, alles schön und gut, doch nichts, womit sich die deutsche Industrie reformieren ließ.

Dann geriet Rathenaus Gewerbe in den Sog der Wirtschaftskrise. Die Umsätze sanken, nicht so tief wie bei anderen Firmen, aber tief genug, um das eigene Tun zu hinterfragen. Rathenau hielt sich mit unerheblichen Aufträgen im Plus. Das zermürbte ihn auf Dauer, also verkaufte er seine Fabrik. Befragt nach den Gründen, erwiderte er:

»Ich finde darin keine Zukunft für mich, ich komme mir auch manchmal unseren Kunden gegenüber wie ein Betrüger vor. Unsere heutigen Maschinen verbrauchen viel mehr Kohlen, als sie dürften. […] Gewiß sind unsere Fabrikate nicht schlechter als die anderer Firmen. Das ganze Niveau ist zu niedrig.« 25

Daraus sprach die Enttäuschung eines Mannes, der zwar die Verhältnisse als beengend empfand, aber keinen Weg wusste, dies aus eigener Kraft zu ändern. Rathenau war noch keine vierzig Jahre alt und schon so konsterniert, als hätte er sein ganzes Leben mit halben Sachen verschwendet. Daher beschloss er, sich ausgerechnet dort nach Neuerungen umzusehen, wo kein europäischer Fabrikant jemals danach gesucht hatte: in Amerika.

Zwar konnten sich die Erzeugnisse dort noch nicht messen mit den bahnbrechenden Erfindungen, die Europa in den vergangenen hundert Jahren in die Moderne gehoben hatten. Doch von einem verstanden die Amerikaner mehr: von der industriellen Serienfertigung, die nicht durch besondere Kundenwünsche ausgebremst wurde. Den Ehrgeiz, mit geringem Energieeinsatz das Maximum zu erzielen, das Gespür für Produkte, die sich auf dem Massenmarkt durchsetzten, bewunderte Rathenau. Deshalb verließ er Deutschland und tat im besten Alter »nichts Bestimmtes«, wie seine Eltern etwas verlegen auf Nachfrage erwiderten.

Die Industriellenfamilie Liebermann, spezialisiert auf Textilherstellung und Maschinenfabrikation, wunderte sich sehr. Für sie war Rathenau »der kleine Verwandte, der Fiasko erlitten hatte, der sich mit einer Menge von nicht ernstzunehmenden Projekten herumtrug und herumschlug, dem man darum auch keine rechte Zukunft zutraute« 26 .

Der Argwohn mochte auch mit einer weiteren Enttäuschung zu tun haben, an der Rathenau in den Augen der Liebermanns zumindest mitschuldig war. Er hatte seinen acht Jahre jüngeren Cousin Max, mit dem er sich gut verstand, darin bestärkt, seiner Leidenschaft für die Malerei zu folgen, anstatt Maschinen zu bauen. 27 Damit bewies er den richtigen Instinkt: Max Liebermann sollte es zu einem der einflussreichsten deutschen Maler der Moderne bringen.

WIEN, 1875

Niemand wusste, wie es Jauner gelungen war, die Behörden umzustimmen, aber zwei Tage nach dem polizeilichen Bühnenverbot stand Mister Kennedy wieder auf den Brettern und probte. Manche mutmaßten, die ganze Angelegenheit sei Teil der Reklame gewesen. Andere sahen die Ursache für die Rehabilitierung des Elefanten in Jauners Beziehungen. Seine Kontakte reichten in die höchsten Kreise, was er allerdings nur zum Teil seinen Bühnenerfolgen verdankte.

Vielmehr war er 1831 in die Sphäre der Einflussreichen hineingeboren worden. Sein Vater galt als einer der bedeutendsten Kunsthandwerker der Monarchie. Den »Wiener Cellini« nannten ihn Kenner in Anlehnung an den berühmten Künstler der Renaissance. Entsprechend erlesen war seine Kundschaft. In sein Atelier an der Augustinergasse gleich hinter der Hofoper kamen Fürsten und Gräfinnen, um Schmuckstücke zu ordern. Und wenn der Kaiser zufällig in der Gegend war, dann schaute selbst er beim alten Jauner vorbei, ernannte Wiens Cellini schließlich zum k. u. k. Hofgraveur. 28

Nachmittags tröpfelten Klaviersonaten vom ersten Stock ins Atelier. Dort oben saß Franz, der künftige Theaterdirektor, und übte. Um ihn in die bessere Gesellschaft einzuführen, musste ihn sein Vater nur dann und wann rufen: »Franzl bring du den Wein herunter. Aber anständig serviert!« 29 Und so sprach sich herum, was für ein ansehnlicher Bub beim alten Jauner Vöslauer Rotwein ausschenkte. Etwas unsicher war er noch, etwas wortkarg. Das änderte sich bald.

Baronin Pasqualati, die beim Hofgraveur Schmuck für ihren Gatten kaufte, »nicht gar zu teuer«, entdeckte Franz Jauners Talent für die Bühne: »Er hätt’ a Figur fürs Theater« 30 , befand sie. Als ehemalige Volksschauspielerin wusste sie Bescheid.

Bei ihr nahm Franz Jauner fortan Unterricht, schaffte es dank seiner Fortschritte in kürzester Zeit ans Hofburgtheater. Er spielte Pagen und andere Figuren, die nicht viel zu sagen hatten. Zu wenig für den ambitionierten Künstler, der sich inzwischen einiges einbildete auf seine Fähigkeiten. Also her mit den großen Rollen! Die, so sagte ihm der Direktor, müsse er erst einmal anderswo erproben, bevor er sie eventuell auf den ehrwürdigen Brettern des Hofburgtheaters spielen durfte. Man hatte einen Ruf zu verlieren.

Daher ging Jauner zunächst ans Karlsruher Theater, dann nach Hamburg und schließlich ans Dresdner Hoftheater. Dort spielte er sich durch das klassische Repertoire und fand Gefallen an Aplomb und großen Gesten, auch jenseits der Bühne. Was immer er sagte, was immer er plante, es wirkte zwei, drei Nummern zu groß für die Position, die er innehatte, als übte er schon für seine Zukunft als Direktor.

NIZZA, 1881

Gegen halb acht Uhr abends trafen die ersten Zuschauer vor dem Stadttheater ein. Das Gebäude erhob sich unmittelbar an der Küste, in der ersten Reihe der Stadt, kehrte dem Meer jedoch demonstrativ den Rücken zu, als könnte es den famosen Fernblick mit seinem Bühnenprogramm locker wettmachen.

Kein Chronist schrieb über die wachsende Menge, die schon eine halbe Stunde vor Beginn der Lucia di Lammermoor auf Einlass wartete, dafür war sie zu unwichtig, das Publikum der billigen Plätze, das kleinlich darauf achtete, keine Minute der Oper zu versäumen. Schließlich hatte es dafür bezahlt.

Die Herrschaften mit den teuren Karten für Parkett und Parterrelogen kamen naturgemäß mit Verspätung, oft erst zum zweiten Akt, als wäre Pünktlichkeit eine Tugend für das Fußvolk. Sie gelangten außerdem viel bequemer zu ihren Plätzen, schlenderten vom Portal auf direktem Weg in den Saal, während die Unterprivilegierten schmale Korridore entlangdrängten, schließlich über verwinkelte Treppen immer höher stiegen und endlich, außer Atem, zur Galerie unter dem Dach gelangten, wo gut hundert Leute durch eine schmale Tür mussten, bevor sie endlich Platz nehmen konnten. 31

Weil sie auf Höhe des Kronleuchters saßen, wallte ihnen die Hitze der Flammen entgegen, aber daran waren sie gewöhnt. Und auch an die feierliche Stimmung, halb Vorfreude, halb Staunen, in die sie das Ambiente versetzte. Sie machte die Strapazen eines Theaterbesuchs in den benachteiligten Regionen des Hauses vergessen. Beugten sich die Zuschauer auf der Galerie über die Brüstung, sahen sie jetzt die ersten Festfrisuren auf den teuren Parkettplätzen, erst wenige, das Stück hatte ja noch nicht begonnen.

Vermutlich waren sie gerade damit beschäftigt, alle Gedanken an den beschwerlichen Alltag zu verdrängen, als eine Explosion die Mauern erschütterte und ein Loch in die feierliche Atmosphäre riss. Der Kronleuchter erlosch. Dann hob sich der Vorhang über einem Inferno, obwohl die Oper im ersten Akt gar keine Katastrophe vorsah.

Flammen loderten auf der Bühne, erfassten die Dekoration und zwei Sängerinnen des Chors. Nun stürzte der Tenor ins Rampenlicht, der Feuersturm warf ihn zu Boden. Brüllend vor Schmerz wälzte er sich über die Bretter. Binnen zwei, drei Minuten hatten die Flammen sämtliche Kulissen zerstört, den Tenor und die Sängerinnen getötet. Nun sprangen sie in den Zuschauerraum, dort gab es noch genug Brennstoff.

Herr Cottoni, der teuer eingekaufte Bassist, stand in diesem Augenblick hinter der Bühne, schaute unter Schock der Zerstörung zu, spürte den beißenden Qualm in den Lungen, machte kehrt. Er hastete einen der schmalen Korridore entlang, erkannte hinter Rauchschwaden endlich eine Tür, nur noch wenige Meter entfernt, fast schon in Reichweite. Er stolperte, stürzte, blieb liegen.

Im Zuschauerraum hatten es selbst die wenigen Zuschauer im Parkett geschafft, einen Tumult zu verursachen. Auf dem Weg zum Ausgang rissen sie einander zu Boden, verhedderten sich in Roben, traten auf fremde Körper. Endlich gelangten sie ins Freie, während oben auf der Galerie die Qualen erst begannen. So viele waren gleichzeitig zum einzigen Ausgang gestürzt, dass der Türrahmen bis obenhin mit Leibern verstopft war.

In Todesangst zerrten die Nachdrängenden an den Gliedmaßen der Eingequetschten. Noch hatten sie Kraft, bald nicht mehr, der Qualm brachte Ohnmacht und Tod. Endlich rutschten ein paar Leichen aus dem Türrahmen, gaben eine Luke ins Treppenhaus frei. Ein alter Mann, ein Kind im Arm, ergriff die Chance, duckte sich durch den Türsturz. Dann überfielen ihn die Flammen von hinten. 32

Und die Sopranistin Bianca Donadio, die in diesem Gebäude niemals die Wahnsinnsarie der Lucia singen würde, weil ein anderer Irrsinn über die Stadt gekommen war und alles zunichtemachte? Sie saß in der Garderobe, schon im Kostüm, als das Feuer ausbrach. Die Künstlerin eilte auf die Bühne, entdeckte dort Herrn Cottoni, der in die Flammen starrte. Sie ließ ihn stehen und rettete sich selbst, fand ins Freie und rannte weiter.

Als sie sich ein letztes Mal umwandte, sah sie kein Theater mehr, sie sah eine monströse Fackel, deren Flamme hoch über den Dächern der benachbarten Häuser loderte und Flackerlicht über das Meer goss. Zurück in ihrem Hotel, schloss sich die Donadio in ihr Zimmer ein und kroch ins Bett, ob der Ohnmacht näher oder der Hysterie, darüber waren sich die Zeitungen hinterher uneins.

Binnen zwei Stunden verbrannte das Stadttheater bis auf die Grundmauern. Die Löschmannschaften konnten rein gar nichts bewirken. Der Wasserstrahl war Dampf, bevor er auch nur in die Nähe der Flammen kam. Ursache für das Unglück, so wurde später festgestellt, sei das undichte Rohr gewesen. Durch das notdürftig geflickte Leck war den ganzen Tag über Gas ausgeströmt, hatte sich auf der Bühne gesammelt, und als die beiden Arbeiter Feuer an die Lampen legten, entlud sich die gestaute Energie in einer Detonation. Sofort rasten Flammen in alle Richtungen. Glück hatten jene, die es mit der Pünktlichkeit nicht so genau genommen hatten. Die meisten Logen waren noch leer, als sich die Katastrophe ereignete.

Nizzas Bürgermeister untersagte bis auf Weiteres alle Vergnügungen, das gebot der Anstand und wohl auch das schlechte Gewissen, schließlich hatte die Stadtverwaltung der brüchigen Gasleitung im Theater vertraut.

Über Nacht wurden siebzig Leichen aus den Trümmern geborgen und in die Kirche Saint-François-de-Paule schräg gegenüber gebracht. Zu spät, um Gnade für die Theaterbesucher zu erbitten, hofften die Helfer wenigstens auf Gottes Segen. Unter den Toten befand sich neben dem Tenor und mehreren Sängerinnen auch Herr Cottoni, der Bassist, noch im Kostüm und mit Schminke im Gesicht, als wäre er ins falsche Stück geraten. Ihn hatten die Flammen verschont, er war erstickt, bevor das Haus über ihm zusammenstürzte. 33

Bald war das Kirchenschiff mit Leichen bedeckt, geschrumpfte Köpfe, verkohlte Arme, verschmortes Fleisch. Noch entsetzlicher als den Anblick empfanden Helfer den Gestank. Aus Rücksicht auf die Angehörigen, die nun kamen, um ihre Liebsten zu suchen, schleifte man die Verunglückten wieder hinaus an die frische Luft, ordnete sie unter freiem Nachthimmel in zwei Reihen an, ein Spalier des Grauens, Männer, Frauen, viele Kinder, eines mit einer schwarzen Orange in der verkohlten Hand. 34 Wahnsinn.

WIEN, 1875

Der Ostersonntag des Jahres 1875 war so grau wie Mister Kennedys Rüssel, bloß ohne dessen exotischen Charme. Kälte, Nässe und Nebel verhöhnten Wiens Sehnsucht nach dem Frühling. »Am Ostersonntag bannte Regen und Schnee den ganzen Tag über jeden in seine vier Wände« 35 , meldete Die Presse resigniert. Nur Franz Jauner freute sich über das trostlose Wetter. Niemand würde diesen Abend auf der Ringstraße oder im Prater vertrödeln. Die Menschen saßen dann wahlweise pünktlich um halb sieben Uhr vor seiner Bühne, oder sie ärgerten sich, weil sie keine Karten mehr ergattert hatten.

Die Stunden verstrichen, das Carltheater wartete auf den Andrang. Gegen sechs Uhr abends klapperten Hufe, die erste Kutsche tauchte aus dem Nebel auf und hielt vor dem Gebäude, bevor die zweite und dritte folgten. Vom Prater und von der Komödienstraße kamen Leute zu Fuß, sammelten sich auf dem Vorplatz, noch kein Riesentrubel, aber schon eine respektable Menschenmenge. Und sie schwoll weiter an, bald warteten dort Hunderte auf Einlass, während sich der Direktor hinter der Bühne befand und die Statisten auf ihre Plätze befehligte. Die Gaslampen entlang der Rampe brannten schon, warfen ihr flackerndes, durch gekrümmte Spiegel reflektiertes Licht auf die Szene.

Als eine der ersten Wiener Bühnen war das Carltheater schon bei seiner Eröffnung in den vierziger Jahren mit Gasbeleuchtung ausgestattet worden, während die Stadt ihrerseits zu den letzten Europas zählte, die im großen Stil darauf setzten. Wie üblich war London im frühen 19. Jahrhundert vorgeprescht, hatte zunächst einen Straßenzug illuminiert, bald alle Viertel, die man für würdig hielt, auch nachts zu erstrahlen.

Zwar wurde die Technik auch anderswo etabliert, allerdings zunächst nicht flächendeckend. Noch war sie mehr Attraktion als neue Normalität. Mal erstrahlte hier ein Palais, dort eine Apotheke, bis die britische Imperial Continental Gas Association in den dreißiger Jahren das rückständige Ausland mit dem Versprechen einer verlässlichen Leuchtgasversorgung in die Abhängigkeit lockte.

Den ersten Vertrag schloss Hannover, dann folgten Rotterdam, Aachen, Frankfurt am Main. Die künstliche Helligkeit versprach nicht nur mehr Sicherheit auf den Straßen, sondern auch enormes Prestige. In Berlin verhandelte deshalb das Königliche Ministerium des Inneren direkt mit der Beleuchtungsfirma und ließ die städtischen Behörden außen vor. 36 Später bezog auch Wien seine Energie von den Engländern. Der Kontinent wurde zur britischen Lichtkolonie.

Im Jahr 1875 murrte die Bevölkerung schon vernehmlich über zu hohe Preise für zu wenig Licht, das obendrein oftmals rußte. Denn die Gasherstellung war eine dreckige Sache. Gewonnen wurde es durch Erhitzung von Steinkohle, die dabei nicht nur Wasserstoff und Methan für die spätere Verbrennung freisetzte, sondern auch eine Menge Schadstoffe. Durch schlecht gewartete Filter gelangten sie in die Leitungen. Sehr verdächtig sah die changierende Flamme dann aus, verbreitete mitunter mehr Gift als Licht.

Anders als Kohle, Kerzen, Holz oder Petroleum war Gas der erste unsichtbare Energieträger. Das führte zu Missverständnissen und in der Folge zu Verletzten und Toten. Das Leuchtgas staute sich im Leitungsnetz unterhalb der Städte. Es entwich aus undichten Rohren, drang geräuschlos in Wohnräume, entfaltete aber beim kleinsten Funken eine Zerstörungskraft, die ganze Häuser sprengte.

Leuchtgas kostete Menschenleben selbst dort, wo es nicht explodierte, sondern versehentlich eingeatmet wurde. Dass Hotelgäste in Ohnmacht fielen, gehörte zur traurigen Folklore des frühen Fremdenverkehrs. Weil sie mit den Gasbrennern an ihren Reisezielen oft nicht vertraut waren, konnten ihnen nach falscher Handhabung oft nur noch Ärzte helfen, wenn überhaupt.

Ihre Beleuchtungstechnik sei hervorragend, beschwichtigten hingegen die englischen Gas-Imperialisten. Sie festigten ihre Macht, nicht zuletzt dank Großkonsumenten wie Franz Jauners Carltheater.

Mehr als tausenddreihundert Menschen fasste das Gebäude, verteilt auf Parterre und vier Ränge; ein gewaltiger Saal, überwölbt von einer mit Arabesken verzierten Decke. 37

Bald war das Haus voll bis unter die Kuppel, mindestens zwei Erzherzöge hatte man gesichtet, dazu die üblichen Vertreter des Adels, Menschen, die Unglaubliches sehen, und solche, die vor allem gesehen werden wollten. In den Parterrelogen saßen Herrschaften, die sich im Alltag bedienen ließen, auf den billigen Plätzen der vierten Galerie jene, die dienten. Nur im Theater waren sie obenauf. Vermutlich wurde auch darum nach unterhaltsamen Vorstellungen auf den Plätzen mit der schlechtesten Sicht am lautesten gejubelt.

Endlich hob sich der Vorhang. Ah, Sensation! Nein, noch nicht ganz. Wo blieb denn Mister Kennedy? Zu sehen war ein Londoner Club, prachtvoll wie ein Ringstraßenpalais. Die Szenerie wirkte so englisch wie das Wienerische, das die Schauspieler britisch anhauchten – also aus österreichischer Perspektive sehr authentisch.

Phileas Fogg, der Held des Abends, schloss seine Wette ab, und schon ging es los, so schnell, dass Passepartout, Foggs Diener, ganz vergaß, das Gaslicht in dessen Wohnung zu löschen. Offenes Feuer in verlassenen Räumen! Der erste Nervenkitzel des Abends.

Der Londoner Club wich nun dem Suezkanal, die erste Station der Weltreise. Wie imposant! Alles so echt wie in den kühnsten Träumen. Kaum einer der Zuschauer war jemals in Ägypten gewesen. Von den Rängen donnerte Applaus, im Orchester donnerten die Pauken, die Trompeten der Militärmusikkapelle schmetterten Fanfaren, auf der Bühne zog Phileas Fogg seine Pistole und schoss sich den Weg frei bis nach Indien. Es sei kaum zu glauben, »wie viel da den Abend über zusammengeknallt wird« 38 , staunte ein Zuschauer.

Plötzlich erhob sich hinter den Kulissen ein Brüllen, die Bühne bebte, und heraus trat die Attraktion des Abends: Mister Kennedy, ausstaffiert wie der Maharadscha von Jaipur, sonnte sich im Rampenlicht. Üppiger Kopfschmuck, Quasten, Glitzerkostümierung. Auf seinem Rücken hatte er die Witwe eines verstorbenen indischen Herrschers zum Scheiterhaufen zu tragen, wo sie dem Gatten in den Tod folgen sollte. Die Flammen züngelten schon bedrohlich.

Und die pedantischen Wiener Kritiker, die ansonsten die besten Tenöre des Kontinents herunterputzten, wenn sie einen Ton verfehlten, waren ergriffen: Der Elefant, »der vollständig theatersicher ist und seine Stichworte so genau kennt, daß er hinter den Coulissen brüllt, wenn der Moment seines Auftretens naht« 39 , sei die schönste Überraschung des Abends, schwärmte die Wiener Zeitung. »Hurrah! Es lebe der Elephant!«, stimmte Die Presse ein, Mister Kennedy habe »entschiedene künstlerische Befähigung gezeigt« 40 . Das Fremden-Blatt urteilte, mit »lauthin vernehmbarer Stimme« habe das Tier so angenehm geklungen wie ein »junges Nebelhorn« 41 .

Auch die Szene danach begeisterte die Redakteure, obwohl Jauner in Borneos Schlangengrotte sowohl auf offenes Feuer als auch auf Mister Kennedy verzichtet hatte.

Dank der bezaubernden Schlangenbeschwörerin »mit ihren schönen, üppigen Gespielinnen« erhalte das Publikum sogar noch »vergnüglichere Anregungen« als in den anderen Szenen. Exotik, Exzess und Erotik, das war Jauners bewährter Dreiklang, und an diesem Abend steigerte er ihn zur Perfektion.

Schon wurde wieder geschossen, Funken flogen, als Phileas Fogg in einer täuschend echten Eisenbahn auf richtigen Schienen durch die Prärie ostwärts dampfte, verfolgt von amerikanischen Ureinwohnern, die wiederum von der Streitmacht des Landes versprengt wurden. Mehr Pistoleros hatten sich nie zuvor auf einer Bühne versammelt. Rauchschwaden zogen in den Zuschauerraum, es roch nach Verbranntem.

Auf dem Dampfer, der Fogg über den Atlantik zurück ins Empire bringen sollte, entfesselte Jauner dann den finalen Feuersturm. Ein Journalist notierte: »Das Schiff nimmt einen rasenden Lauf. Plötzlich aber explodirt der Kessel unter furchtbarer Detonation […], Feuerflammen schlagen hervor.« 42

Natürlich konnte sich Fogg retten, natürlich traf er pünktlich in London ein und gewann damit die Wette, natürlich hieß der wahre Held des Abends Franz Jauner. Nach jedem Bühnenkrawall war er vom Publikum herausgerufen worden, um stürmischen Beifall zu empfangen. Am Ende verbeugte er sich gemeinsam mit den Schauspielern wieder und wieder.

Allein Mister Kennedy fehlte. Er hatte schon sein Quartier im Wirtshaus nebenan aufgesucht, um sich für die nächsten Vorstellungen zu schonen.

Der Direktor hatte sein Theater an diesem Abend endgültig in das prachtvollste Trash-Imperium der Monarchie verwandelt. Manche Bildungsbürger sahen das anders. Mit diesem Werk habe Jauner vielmehr die Vermittlung von Wissenschaft auf der Bühne revolutioniert. Binnen zweieinhalb Stunden bekomme man die geologischen und kulturellen Eigenarten aller Erdteile zu Gesicht. Was das Thema Forschung im Drama betreffe, müssten sich alle anderen Bühnenwerke an diesem großen Wurf messen lassen. »Goethe’s Faust wird bearbeitet werden müssen, ergänzt und bereichert« 43 , hieß es in der Wiener Zeitung, halb im Scherz, halb sehr ernst gemeint. Jauner sei ein wahrer Bühnenzauberer.

Dass ein verirrter Funke genügt hätte, um eine Katastrophe herbeizuführen, blendeten die Zuschauer aus. Jedenfalls äußerte keiner, ein Abend im Carltheater sei möglicherweise lebensgefährlich.

Dabei hatte ausgerechnet Franz Jauner, der Meisterzündler, einst als Dresdner Hofschauspieler selbst ein verheerendes Feuer erlebt. Als er damals, in den späten sechziger Jahren, eines Morgens zur Arbeit ging, war das Theater nicht mehr da. Über Nacht hatte es ein Brand zerstört.

Gottfried Semper, der Architekt des Bauwerks, das als eines der schönsten Theater Europas gegolten hatte, erklärte sich bereit, ein neues zu errichten, noch prachtvoller als das alte. In der Zwischenzeit wich das Ensemble in ein provisorisches Quartier aus, die sogenannte »Bretterbude«. In einem Holzverschlag auftreten? Das war nichts für Jauner.

In jenen Tagen besuchte ihn Anton Ascher, der damalige Impresario des Wiener Carltheaters: Herr Jauner, wie wäre es mit einer Rückkehr nach Wien? Nicht nur als Schauspieler sei er dort gefragt, er könne das Theater demnächst als Direktor übernehmen, weil Ascher selbst aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden werde. Der Vorschlag gefiel Jauner, denn diese Position versprach Wohlstand, vielleicht sogar Reichtum.

Kaum hatte er den Vertrag unterzeichnet, erinnerte er sich aber an die qualmende Ruine des Dresdner Theaters. »Was geschieht«, fragte er beklommen, »wenn das Carl-Theater heute Nacht abbrennt?« Dieses Risiko gehöre zum Berufsprofil eines anständigen Direktors, erwiderte Ascher.

In den Wochen danach kursierte in Wien eine interessante Anekdote über Jauners erste Tage als Theaterleiter: Er habe das Haus kaum aus den Augen gelassen und jede Zigarre ausgetreten, die jemand auf dem Gehweg davor achtlos entsorgt habe. Riss jemand ein Zündholz an der Mauer an, eilte er mit einem Tuch herbei, um die Funken abzuwischen. 44

Doch Furcht vor Feuer schadete den Geschäften. An zu vielen anderen Schauspielhäusern, die an Beleuchtung und Ausstattung sparten, machte sich das Publikum rar, worauf die nächsten Premieren aus Geldmangel noch ärmlicher ausfielen. So wirtschafteten sich Bühnen in den Ruin. Jauner musste das Glück jeden Abend aufs Neue herausfordern, damit es ihm an der Theaterkasse treu blieb. Und das tat er.

Überwältigt, auch mit einem Anflug von Wehmut, verließen die Zuschauer nach der Premiere das Carltheater. Wie Vertriebene aus dem Paradies, die sich nun wieder mit dem tristen Wiener Wetter und der Dunkelheit arrangieren mussten, sammelten sie sich auf dem Vorplatz. Verglichen mit der Bühnenherrlichkeit wirkte die Straßenbeleuchtung besonders jämmerlich.

Die britische Gasgesellschaft knauserte wieder, gönnte den österreichischen Lichtvasallen nur das Nötigste. Die Wiener mussten sich durch das Halbdunkel tasten. »Und die Herren Engländer thun, was sie wollen« 45 , klagte der Schriftsteller Anton Langer über die Willkür der »Gas-Tyrannen«.

Nach dem Triumph des Jules-Verne-Krachers brachen für andere Wiener Bühnen schwere Zeiten an. Die Häuser blieben fast leer, die Zuschauer saßen im Carltheater. Jauner im Glück, die Hofoper in Not, das war die Lage, in der Obersthofmeister Konstantin zu Hohenlohe-Schillingsfürst, dem die Bühne unterstand, die verrückteste Idee seines Lebens hatte: Um das horrende Defizit zu senken, könnte man doch Jauner von seiner Spaßbühne abwerben und als Direktor an der Oper installieren. Diese Überlegung offenbarte vor allem, wie kritisch die Situation dort gewesen sein musste. Eine der renommiertesten Gesangsbühnen der Welt sollte unter der Leitung eines Mannes aufblühen, der noch nie mit Opernmusik zu tun gehabt hatte.

Noch erstaunlicher als dieser Plan erschien vielen allerdings Jauners Reaktion auf die ehrenvolle Anfrage: Er danke herzlich, werde aber das Carltheater trotzdem nicht aufgeben. Zu lukrativ war das Geschäft mit der leichten Unterhaltung. Worauf sich der Obersthofmeister zu einer weiteren Verrücktheit hinreißen ließ: Der Herr Direktor könne das Carltheater behalten und die Oper quasi in Teilzeit führen. Das fanden selbst jene, die Jauner schätzten, ziemlich riskant.

»Das Erstaunen über diese Berufung war allgemein«, schrieb etwa der Sohn des vorherigen Operndirektors Johann Herbeck. Über Jauners musikalische Kenntnisse sei bisher nichts weiter an die Öffentlichkeit gedrungen, »als daß er ein passabler Clavierspieler sei« 46 . Dem neuen Direktor wurden obendrein mehr Freiheiten zugestanden als seinen Vorgängern. Ohne Rücksprache durfte er seine Stücke auswählen und sogar Geld zum Fenster hinauswerfen, weil bei ihm ohnehin jeder Gulden hundertfach wieder hereinkam.

Jauner mochte sich bestätigt und geschmeichelt fühlen, doch Demut vor der großen Aufgabe empfand er nicht. Er werde das Haus zum »Mittelpunkt der deutschen Kunst machen«, kündigte er großspurig an. »Muster-Aufführungen mit allem Glanz stell ich auf die Bühne, mit allem Pomp, daß die Leute am Boden liegen!« 47

Die Leute am Boden und er ganz oben, im Bühnenhimmel, wo die Gaslichter wie Kometen zwischen verdorrten Holzleisten und Pappe flackerten. Mehr als ein Bühnenmagier würde er sein, fast schon ein Theatergott, der das Publikum aus dem Dämmer der kraftlosen Straßenillumination ins Licht führte.

2
ZAUBER DER STIMME (1878)

WASHINGTON

Er hatte sich einen neuen Anzug gekauft, dezentes Karo auf dunklem Grund, und sogar seine Frisur war beim Fototermin unauffällig. Nachdem Journalisten geschrieben hatten, bei ihren Besuchen in seinem Labor hätte er sich wie ein Landstreicher präsentiert, dreckiges Hemd, dreckige Hose, die Haare wie mit einer Heugabel gekämmt, war man auf einiges gefasst gewesen.

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