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Das Minarett in den Bergen – Porträt eines unvermuteten Europas

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Von Sarajewo bis zur Adria – eine Reise durch das muslimische Europa

Der westliche Balkan, von vielen verschrien als ungastlicher Ort, zerrissen von ethnischen Konflikten, ist bis heute die Heimat der größten indigenen muslimischen Bevölkerung Europas. Tharik Hussain begibt sich auf die Spuren der Menschen und Orte, deren reichhaltige Kultur seit einem halben Jahrtausend durch den Islam und Europa geprägt werden. Abseits ausgetretener Pfade besucht er mystische Berghütten und osmanische Bauwerke, deren Errichtung über Jahrhunderte den Römern zugeschrieben wurde – und er geht den Wurzeln der europäischen Islamophobie auf den Grund: Wie können wir unsere Identität in Europa neu denken? Und wer entscheidet darüber?

Mit sensiblem Blick für die Geschichten der Menschen öffnet Tharik Hussain für die Vielfalt dieses noch immer lebendigen Erbes, einer verborgenen muslimischen Heimat, die wir entdecken müssen, wenn wir Europa neu begreifen wollen.


  • Erscheinungstag: 21.03.2023
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003114

Leseprobe

FÜR MEINE ELTERN,
MEINE FRAU TAMARA UND
MEINE TÖCHTER AMANI, ANAIYA UND MAYA

Hinweise

Zugang zum Werk von Evliya Çelebi: Obwohl es in der Geschichte einige Versuche gab, Evliya Çelebis Seyahâtnâme zu übersetzen, bringt die Größe und Natur dieser Aufgabe es mit sich, dass ein Großteil des Textes für Sprecher des Englischen und Deutschen bis heute unzugänglich ist. Der Autor möchte an dieser Stelle Robert Dankoff und Sooyong Kim danken, den bedeutendsten Übersetzern der Seyahâtnâme ins Englische, deren immense Bemühungen viel dazu beitrugen, ihm das Werk des großen osmanischen Reisenden zugänglich zu machen.

Namen im Text: Zum Schutz der Privatsphäre wurden die Namen einiger Personen im Text verändert.

Schreibweise: In diesem Buch wurden die Bezeichnungen Qur’ān, Makkah und Madinah anders geschrieben, als es sonst üblich ist. Der Autor ist der Ansicht, dass die verbreitete Schreibweise dieser Namen, die auf veralteten, ungenauen Transliterationen aus dem Arabischen beruht und häufig zu einer falschen Aussprache führt, dem heiligsten Text des Islam und seinen zwei heiligsten Stätten nicht gerecht wird. Als Muslim ist es ihm wichtig, dem entgegenzuwirken, und er dankt dem Verlag für dessen Bereitschaft, diese Entscheidung zu respektieren.

EINLEITUNG

INNIGE TOLERANZ

PALAMARTSA, BULGARIEN

Bleistiftdünne schneeweiße Minarette, gekrönt von spitz zulaufenden Kegeln, ragten uns entgegen, als wir durch die weitläufige Ebene von Nordbulgarien fuhren, nicht weit von der Grenze zu Rumänien. Neben jedem der Türme war die unverwechselbare Kuppel einer kleinen Moschee auszumachen.

Einige von ihnen waren verfallen. Andere verschlossen. Eine oder zwei jedoch verfügten über einen kleinen Friedhof, mit gepflegten Rasenflächen zwischen den uralten turbanförmigen Grabsteinen. Als wir anhielten, um durchs Fenster einen Blick in die Moscheen zu werfen, sahen wir Stapel von farbenfrohen Gebetsteppichen an den Wänden, unter abgenutzten Tespih (Gebetsketten), die an kleinen Haken hingen. Irgendwann wurde mir klar: Das hier waren lebendige muslimische Dörfer mit langer Geschichte. Aber wie kamen sie bloß hierher?

Wir waren auf dem Weg zu einem Ökobauernhof im abgelegenen Dorf Palamartsa, das sich in die Hügellandschaft im Nordosten Bulgariens schmiegt. Eine Woche lang war ich zusammen mit meinen beiden Töchtern Amani und Anaiya in Transsilvanien Dracula auf der Spur gewesen, und nachdem wir ihre Mutter Tamara am Flughafen in Bukarest abgeholt hatten, war unsere Familie jetzt wieder vereint. Unsere weiteren Pläne bestanden vor allem darin, den Rest unseres Sommerurlaubs mit Nichtstun zu verbringen.

Von dem Bauernhof hatte ich durch einen Artikel im Guardian erfahren, der die Eigentümer als Verfechter des »Slow Living«-Konzepts beschrieb, und genau deshalb waren wir hier: Wir wollten es für ein paar Tage ganz ruhig angehen lassen. In London hetzten wir alle ständig einem straffen Zeitplan hinterher und waren jeden Tag damit beschäftigt, unsere Arbeit, die Nachmittagsbeschäftigungen der Kinder und deren Betreuung zu jonglieren. Wir mussten immerzu mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft halten und versuchten ständig, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen – unser Leben hatte sich zum Klischee der modernen Gesellschaft entwickelt.

Die Woche auf dem Bauernhof in Palamartsa sollte das genaue Gegenteil sein: Wir hatten vor, tagelang in Hängematten zu lungern, zu lesen und im Garten unser eigenes Biogemüse zu ernten. Doch nun hatte die unerwartete Entdeckung der muslimischen Dörfer mir einen Ball zugeworfen, mit dem ich sehr gern jonglieren wollte.

Über Bulgarien wusste ich vor dieser Reise eigentlich nur, dass das Land einen der talentiertesten Fußballspieler aller Zeiten hervorgebracht hatte: Hristo Stoichkov (nach anderer Umschrift: Christo Stoitschkow). Ich erinnere mich bis heute, wie ich als fußballverrückter Jugendlicher die Weltmeisterschaft 1994 in den USA verfolgte und völlig gebannt war von dem linksfüßigen Genie, das aussah wie ein Knastbruder und Tore einfach zum Spaß zu schießen schien. Stoitschkows Bulgaren warfen in einer traumhaften Siegesserie Mannschaften wie Mexiko und Deutschland aus dem Turnier und kamen bis ins Halbfinale, und Stoitschkow wurde WM-Torschützenkönig. Am Ende reckten die Brasilianer den Pokal in die Höhe, aber Stoitschkow und seine tapfere kleine Nation, die den großen Mannschaften in jenem Jahr einen echten Schrecken einjagten, blieben allen in Erinnerung.

Das war also alles, was ich über Bulgarien wusste: Es war das Heimatland von Stoitschkow, früher kommunistisch gewesen, und die Nationalflagge sah aus wie die von Italien auf die Seite gedreht und etwas anderer Farbenfolge. Ich hatte keinerlei Anlass zu der Annahme, Bulgaren könnten Muslime sein.

Als der englische Schriftsteller Patrick Leigh Fermor in den 1930er-Jahren als junger Mann auf seiner Bildungsreise von Hoek van Holland nach Istanbul durch Zentralbulgarien wanderte, durchquerte er Landstriche, die als Teil des Osmanischen Reiches seit fast 500 Jahren muslimisch waren – ein Erbe, das Fermor deutlich ins Auge sprang. Er beschreibt, wie er »überall Türken mit Turban und Fez« sah, deren Frauen Kleidung trugen, die nur die Augenpartie frei ließ. Er erinnert sich daran, wie er an einer Vielzahl von Moscheen vorbeilief und einmal sogar die Nacht in den Ruinen eines Gotteshauses verbrachte. Vor einer weiteren traf er auf ein paar Einheimische, die im Schneidersitz auf dem Boden saßen und entweder Kaffee aus winzigen Tässchen schlürften oder eine nargileh rauchten, während andere am Brunnen standen und sich, wie vorgeschrieben, vor dem Ruf zum Gebet wuschen. Diese Szene hätte sich ohne Weiteres in Fes, Tunis oder Algier abspielen können, doch für den jungen Fermor unterschieden sich die Muslime nicht groß von ihren andersgläubigen Landsleuten.

Mittlerweile war fast ein Jahrhundert vergangen, seit er diese Worte geschrieben hatte, und die Zeiten, in denen bedeutende Teile Osteuropas als muslimisch galten, waren vorbei. Ähnlich wie die Anwesenheit der Mauren in Spanien, Portugal und Italien findet dieser Aspekt der Geschichte im historischen Narrativ dieser Regionen kaum noch Berücksichtigung, weder in der offiziellen Geschichtsschreibung noch in der populären Auffassung. Daran ist zum Teil der lange währende atheistische Kommunismus schuld, der auf Fermor und seine heute verblassten Fußstapfen folgte. Heute gehen weite Teile der Welt einfach davon aus, dass Südosteuropa ein säkularer, ungastlicher, grauer Ort ist, zerrissen von ethnischen Konflikten, obwohl dieses Bild die sechs Jahrhunderte umspannende muslimische Geschichte der Region und ihre große ursprüngliche muslimische Bevölkerung komplett ausblendet. Kein Wunder, dass die muslimischen Dörfer in Bulgarien samt ihren kleinen, weißen Moscheen so eine Überraschung für uns waren!

Für uns als muslimische Familie, die zu einer Zeit in Europa lebt, in der Muslimen das Bild vermittelt wird, sie seien gesellschaftliche Außenseiter, stellten diese Dörfer eine verlockende Gelegenheit dar: Sie boten uns die Chance, eine einheimische Version unserer Selbst zu treffen.

Ich kam in Bangladesch zur Welt, bevor meine Familie in den frühen 1980ern ins Londoner East End zog, zu einer Zeit, in der der Rassismus dort seinen Höhepunkt erreichte. »Pakis klatschen« war ein beliebter Zeitvertreib, auf Etiketten von Marmeladengläsern war die stereotype schwarze Figur »Golliwog« zu sehen, und die rechtsextreme British National Party hatte einen Infostand in der Brick Lane – mitten im Herzen der frisch aus Bangladesch eingetroffenen Immigrantengemeinde.

Mir wurde von Anfang an deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht hierhergehörte. Ich war ein verwirrtes und verängstigtes Kind, das miterlebte, wie ein rassistischer Schläger meinen Vater vor unserer Tür attackierte; ich hörte, wie die Polizei beharrlich wiederholte, die Skinheads nicht ausfindig machen zu können, die meinem Bruder eine Platzwunde am Kopf verpasst hatten; ich vernahm den ängstlichen Aufschrei meiner Mutter, wenn wieder jemand einen Böller durch unseren Briefschlitz steckte, und sah voller Entsetzen, wie ein halbstarker Neonazi meinem Freund die Wange aufschlitzte, ehe sein Fascho-Kumpel mir nachsetzte.

Ich wuchs mit dem Gefühl auf, dass weite Teile der Gesellschaft mich hassten, einfach weil ich war, wer ich war, und mich ohne Weiteres umgebracht hätten, nur um das zu beweisen. Das war schwer zu verarbeiten für ein Kind.

Daher fühlte es sich auf seltsame Weise vertraut an, als der Rassismus nach der Jahrtausendwende zwar nachließ – oder zumindest nicht mehr so offen ausgelebt wurde –, dafür aber ein neues Vorurteil aufkam. Während man mir zuvor immer gesagt hatte, ich gehöre nicht hierher, weil ich ein »Paki« sei, hieß es nun, ich gehöre nicht hierher, weil ich Muslim sei. Und das war nicht nur in England so; es machte den Eindruck, als würde die gesamte westliche Welt mich und »meinesgleichen« am liebsten vertreiben. Sowohl gebildete Akademiker wie Bernard Lewis und Samuel P. Huntington als auch Hass schürende gefeierte Publizistinnen wie Katie Hopkins und Melanie Phillips stießen laut und deutlich ins gleiche Horn: Muslime seien keine Europäer.

Ich hatte mittlerweile selbst Kinder, nachdem ich meine Jugendliebe geheiratet hatte. Unsere Familie war muslimisch mit multiethnischem, multikulturellem und multireligiösem Hintergrund – mit christlichen, jüdischen und muslimischen Wurzeln. Irgendwie musste ich diesen Hass und diese Ablehnung, die, wie ich wusste, auch meinen Kindern entgegenschlagen würden, verstehen lernen.

Deshalb waren die Muslime vom Balkan von so großer Bedeutung für mich. Sie waren nicht das Ergebnis von Migrationsbewegungen, nicht zum Islam konvertiert und galten nicht als »Fremde« in Europa. Sie waren Muslime, deren Identität in und durch Europa entstanden war. Sie waren fest in der lokalen Gemeinschaft verwurzelt. Diese Menschen waren genauso Europäer, wie sie Muslime waren.

Ich wollte wissen, ob sie die gleichen inneren Konflikte durchlitten wie wir. Machten sie sich Gedanken darüber, ob sie dazugehörten? Wie gelang es ihnen, gleichzeitig europäisch und muslimisch zu sein? Fühlten sie sich ebenso ausgegrenzt wie viele von uns? Waren sie in irgendeiner Weise wie wir?

Gebannt unternahmen wir in jenem Sommer 2014 mehrere Tagesausflüge in muslimische Dörfer und Städte rund um Palamartsa. Unser Lieblingsort war Schumen, eine kleine bulgarische Stadt wie viele andere auch – graue, hoch aufragende Mietshäuser unterhalb eines protzigen kommunistischen Denkmals, das in seinem »Macho-Stil« alles überragte. Am Ostrand von Schumen, nahe der historischen Altstadt und umgeben von sattgrünen Hügeln, befindet sich die wunderschöne Şerif-Halil-Pascha-Moschee, auch unter der Bezeichnung Tombul-Moschee bekannt, aus der Zeit der osmanischen Herrschaft. Sie gilt als eines der beeindruckendsten Beispiele für den Stil der sogenannten Tulpenzeit und verbindet farbenfrohe europäische Barockmuster mit klassischen osmanischen Elementen, etwa einer Vielzahl von Kuppeln und einem eleganten, schlanken Minarett. Im Inneren der Moschee nahmen wir unter einem großen Baugerüst am traditionellen Freitagsgebet (dschuma) teil, bevor wir uns in den Innenhof begaben, wo unter einer Bleikuppel, die von weißen korinthischen Säulen getragen wird, ein malerischer Brunnen steht, aus dessen Hähnen angeblich heiliges Wasser fließt. Wir setzten uns auf eine Stufe, die warme Augustsonne auf dem Gesicht, und sahen zu, wie sich die Einheimischen so umarmten, wie sie es auch schon zu Fermors Zeiten getan haben dürften, nur dass sie heute keine Turbane oder Fez mehr trugen. In ihren Stoffhosen, Jeans, Hemden und T-Shirts unterschieden sich die Männer nicht von allen anderen Bulgaren, die uns bisher begegnet waren.

Später zeigten uns einige von ihnen stolz ihre neue Madrasa, ein großes, modernes Gebäude gegenüber der historischen Moschee, das durch Mittel aus der Türkei und Bosnien finanziert worden war. Diejenigen, die ein wenig Englisch sprachen, erzählten uns vom guten Zusammenleben mit ihren nichtmuslimischen Freunden und Nachbarn – auch das hatten wir in dem Balkanstaat nicht erwartet.

Wie sich herausstellte, war das in Schumen nichts Neues. Schon 1785 zeichnete ein französischer Reisender ein faszinierendes Bild eines religiösen Pluralismus, in dem sich die Religionen gegenseitig befruchteten. Er beschrieb die Einheimischen als »halb türkisch, halb bulgarisch; Muslime und Christen«, die Seite an Seite lebten, untereinander heirateten, »schlechten Wein« zusammen tranken und »sowohl gegen den Ramadan als auch gegen die christlichen Fastenregeln verstießen«. Ihm zufolge herrschten hier Respekt und Ehrfurcht beiden Religionen gegenüber, in einer Gesellschaft, in der Kinder ihren Glauben frei wählen durften, in vielen Haushalten sowohl das Kreuz als auch der Halbmond an der Wand hingen und auf den Regalen Turbane neben Ikonen zu sehen waren und der Qur’ān neben der Bibel stand.

Dieses Bild weckte Erinnerungen in mir. Im East End meiner Jugend war ich trotz der Rassisten inmitten von Menschen verschiedenster religiöser und atheistischer Überzeugungen aufgewachsen, und meine Freunde und ich waren ebenfalls gut darin gewesen, uns über den Ramadan hinwegzusetzen: Wir hatten uns davongeschlichen, um eine verbotene Zigarette zu rauchen oder uns heimlich eine Tüte Chips reinzuziehen. Bei Sonnenuntergang kehrten wir zurück und taten so, als wären wir ausgehungert, wobei wir peinlich genau darauf achteten, unseren Eltern und den frommeren Geschwistern nicht zu nahe zu kommen, damit sie nicht bemerkten, dass unser Atem nach Rauch und Essig roch. Selbst an den Tagen des Eid-Festes, das in Bulgarien Bayram genannt wird, feierten wir nach den morgendlichen Gebeten abends gern mit »schlechtem Wein« und Schnaps und betranken uns fröhlich mit unseren nichtmuslimischen Freunden. Und natürlich heirateten später auch einige von uns untereinander.

Betrieben wurde der Ökobauernhof von einem herzlichen Ehepaar aus Westeuropa – Claire Coulter, einer irischen Reiki-Meisterin, und Chris Fenton, einem Archäologen aus England. Sie hatten billig zwei einfache Bauernhäuser erstanden, nachdem sie sich auf einer Reise in ihrem Campingbus fast acht Jahre zuvor in die bulgarische Landschaft verliebt hatten. In einem der beiden hatten sie sich ein gemütliches Zuhause eingerichtet, das andere hatten sie in eine urige Ferienunterkunft verwandelt, die ihren Strom aus nachhaltigen Energiequellen bezog und sogar mit einer Komposttoilette ausgestattet war. Claire und Chris hielten eine Reihe Nutztiere – eine Ziege, mehrere Schweine und ein paar Hühner – und zogen ihr eigenes Obst und Gemüse. Ihr Leben war die bulgarische Version der britischen 1970er-Jahre-Fernsehserie The Good Life. Die beiden waren intelligent und aufgeschlossen und interessierten sich zu meiner großen Freude auch für das muslimische Erbe der Region.

»Unser Ziegenhirte ist Muslim«, erzählte mir Claire eines Morgens, als sie uns die tägliche Portion Ziegenmilch, Käse, eingemachtes Obst und frisch gebackenes Brot brachte. »Und die ältere Frau von gegenüber auch.«

Ich warf einen Blick auf das von Weinranken bedeckte Natursteinhäuschen auf der anderen Straßenseite, halb in der Erwartung, eine Frau mit Kopftuch im Vorgarten zu sehen, aber das war natürlich Unsinn. Weder der Ziegenhirte noch die Nachbarin unterschieden sich äußerlich vom Rest der Dorfbewohner. In diesem Teil der Welt reichte die Vermischung der Kulturen und der Geschichte so weit in die Vergangenheit, dass die Grenzen schon vor Jahrhunderten verwischt waren.

Das trat nirgendwo deutlicher zutage als bei der Grabstätte, die Chris mir an einem unserer Tage dort zeigte. Sie lag etwa eine Autostunde vom Hof entfernt, in der Nähe des Dorfes Sweschtari. Tamara und die Mädchen begeistern sich nicht ganz so sehr für tote Menschen wie ich, daher fuhren Chris und ich zusammen mit einem jungen spanischen Pärchen, das ebenfalls auf dem Bauernhof Urlaub machte, dorthin. Chris stieg mit uns eine steile, gewundene Betontreppe hinab, die in ein Waldgebiet führte. Über uns bildeten bunte, an Äste gebundene Stofffetzen eine Art Baldachin aus kleinen Regenbögen. Auf halber Strecke zeigte Chris auf ein Grab an einer flachen Stelle am Abhang. Die Inschrift war völlig verwittert, aber der gemeißelte Grabstein – in Form eines osmanischen Turbans – war deutlich zu erkennen.

Das osmanische Mausoleum – auf Türkisch türbe – sei im 16. Jahrhundert auf einer alten thrakischen Kultstätte errichtet worden, die wohl aus dem 4. Jahrhundert vor Christus stamme, erklärte Chris. Das Grab, das sich auf einer großen Lichtung inmitten von steil aufragenden Hügeln befindet, ist dem Vernehmen nach die letzte Ruhestätte des alevitischen Heiligen Demir Baba. Seit seiner Errichtung ist der Ort ein Anlaufpunkt für religiöse Pilger. Historische Drucke im winzigen Museum der Türbe zeigen die aufwendig gestaltete Grabstätte auf der Lichtung mit einer Moschee daneben, vor der Männer mit großen Turbanen stehen. Von den beiden Holzbauten daneben diente einer als Quartier für die Anhänger der Bruderschaft, die sich inspiriert von den Lehren des Heiligen bildete, und der andere als Imāret (öffentliche Unterkunft), wo den müden Pilgern, die ebenfalls auf den Bildern zu sehen sind, nach ihrer Ankunft eine Mahlzeit und ein Bett zur Verfügung gestellt wurden.

»Aber es sind nicht nur Muslime, die herkommen«, meinte Chris, als wir uns über die »heilige« Quelle beugten, die auf wundersame Weise in Gegenwart von Demir Baba entsprungen sein sollte. »Auch Christen besuchen das Grab. Sie glauben allerdings nicht, dass es die sterblichen Überreste von Demir Baba enthält, sondern die des heiligen Georg.«

Das wahre Wunder ist laut Chris, dass dieser Widerspruch offenbar nicht zu Konflikten zwischen den beiden Glaubensgruppen führt. Sie haben einen Weg gefunden, die Überzeugungen der jeweils anderen zu respektieren und sich das Heiligtum zu teilen.

Als ich das kühle siebeneckige Mausoleum betrat, erwartete mich eine hervorragend organisierte Darbietung religiöser Toleranz. Die heilige Stätte war mit Ehrfurcht präzise in der Mitte unterteilt worden. Auf der einen Seite hingen schiitische Bildnisse von Ali, Hasan und Husain (Familienmitgliedern des Propheten) an den Wänden, mit arabischen Inschriften dazwischen, die Gott, den Propheten und seine Familie priesen. Darunter befanden sich eine Reihe Tespih, ein Stapel Gebetsteppiche und weitere bunte Stofffetzen von der Art, wie sie draußen hingen. Auf der anderen Seite der Trennlinie waren, ebenso sauber und ordentlich, Ikonen, Kreuze, Kerzen und Rosenkränze zu sehen. Wo die religiösen Grenzen verschwammen, kam beides zusammen – auf dem Grab in der Mitte häuften sich muslimische und christliche Darbringungen.

Diese innige Toleranz gegenüber dem jeweils anderen Glauben bewegte mich zutiefst. So etwas war mir in Europa noch nie begegnet.

Warum, fragte ich mich, wurde das nicht öffentlich gefeiert? Warum wussten nicht viel mehr Menschen von dieser beispielhaften religiösen Toleranz auf dem Balkan?

Aus irgendeinem Grund sind die Erinnerungen an das muslimische Erbe der Region – wie das muslimische Erbe Europas – hauptsächlich negativ besetzt, wenn es sie überhaupt gibt. Auch Fermor beschreibt die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 als »größte Katastrophe, die über Europa hereinbrach, seit der Plünderung Roms durch die Goten«. Als habe das osmanische Europa nichts Gutes hervorgebracht.

Ein Teil der Antwort, stellte ich kurz darauf fest, fand sich in Chris’ und Claires gut sortiertem Bücherregal. Als ich meinen Blick an einem ereignisarmen Nachmittag über die Titel schweifen ließ, fielen mir zwei faszinierende Bände ins Auge: The Turks of Bulgaria: History, Traditions, Culture (»Die Türken Bulgariens: Geschichte, Traditionen, Kultur«) und A Guide to Ottoman Bulgaria (»Ein Reiseführer zum osmanischen Bulgarien«). Herausgeber beider Bücher war der bulgarische Journalist Anthony Georgieff, und es waren die ersten englischsprachigen Werke über das muslimische Erbe Bulgariens (oder sonst irgendeines Balkanstaates), auf die ich je gestoßen war. Im Vorwort zum ersten der beiden Titel, überschrieben mit »Nicht in Schwarz-Weiß«, erklärt Georgieff, dass die bulgarischen Historiker schon seit der 1946 erfolgten Gründung des modernen Staates, der »Volksrepublik Bulgarien«, alles dafür getan hätten, die fünf Jahrhunderte andauernde osmanische Herrschaft als eine »Serie von Massenmorden, Pfählungen und strömendem Blut« darzustellen. Über die herausragende Architektur, die faszinierende Kultur, die tolerante Gesellschaft oder die liberalen osmanischen Sultane hingegen sei, so Georgieff, kein Wort gefallen.

Dabei hätten Bulgaren und Türken bis auf die Anfangszeit und das Ende der osmanischen Herrschaft »relativ harmonisch Seite an Seite« gelebt, wie es auch der französische Reisende 1785 beschrieben hatte. Diese fünf Jahrhunderte unter muslimischer Herrschaft hatten Bulgarien unwiderruflich geprägt. Viele Aspekte der »bulgarischen« Kultur gehen in Wahrheit auf das osmanische Erbe zurück. Das gilt auch für viele bulgarische Begriffe und traditionelle Speisen, Sprichwörter und Märchen. Selbst die Gewohnheit, Sonnenblumenkerne zu essen, lässt sich auf die Muslime zurückführen.

Georgieff hebt hervor, wie tolerant die Osmanen damals waren, zumindest für ihre Zeit. Ohne ihre Praxis der religiösen Pluralität, die durch den muslimischen Glauben inspiriert war, hätte es nach dem Mittelalter vielleicht nicht mehr allzu viele europäische Juden gegeben. Als die katholischen Könige von Spanien, Ferdinand und Isabella, 1492 mit dem Alhambra-Edikt dafür sorgten, dass die sephardischen Juden aus Spanien vertrieben wurden, nahmen die Osmanen die Flüchtlinge bei sich auf. Sultan Bayezid II. schickte sogar Schiffe, um sie abzuholen, zusammen mit den spanischen Muslimen, die ebenfalls vor die Wahl gestellt worden waren, das Land zu verlassen oder zum Katholizismus zu konvertieren. Wie auch andere Nichtmuslime mussten die Juden einfach nur ihre Steuern zahlen, um sich auf dem osmanischen Territorium sicher fühlen zu können. Es stimmt, dass einige Herrscher diese Regelung ausnutzten und höhere Steuern für Nichtmuslime erließen – das System war nicht perfekt, aber es war deutlich besser als die meisten nichtmuslimischen Systeme im Europa vor der Aufklärung. Das letzte Mal, dass sich die europäischen Juden hatten so sicher fühlen können, war wahrscheinlich während der Herrschaft der muslimischen Umayyaden in Spanien gewesen, denn in vielen europäischen Ländern kam es wiederholt zu Verfolgungen und Vertreibungen, etwa in England 1290, im heutigen Deutschland in den 1380er- und 1390er-Jahren und in Frankreich 1394. Immer wieder kam es in Europa zu Massakern an der jüdischen Bevölkerung, häufig befeuert durch christliche religiöse Führer. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts verbot Papst Innozenz III. den Christen, mit Juden zusammenzuleben, zu arbeiten und zu handeln, und der Reformator Martin Luther erklärte im 16. Jahrhundert, es sei »unser Schuld«, also der Christen, die Juden nicht totzuschlagen. Europas religiöse Intoleranz beschränkte sich allerdings nicht auf die Juden; im 13. Jahrhundert begann Frankreich die christlichen Katharer auszulöschen und wiederholte das Gleiche später im Rahmen der europäischen Religionskriege mit den protestantischen Hugenotten. Diese Kriege spielten sich im 16. und 17. Jahrhundert zwischen Christen verschiedener Konfessionen ab und kosteten geschätzt 15 Millionen Menschen in Europa das Leben.

Allein die Vielfalt der religiösen Flüchtlinge, die sich freiwillig auf osmanischem Herrschaftsgebiet niederließen, spricht für sich. Das Osmanische Reich waren, wie alle Reiche, keineswegs vollkommen, aber es sollte, wie Georgieff betont, nicht einfach als schwarz oder weiß betrachtet werden.

Heute machen die ethnischen Türken nur noch acht Prozent der Bevölkerung Bulgariens aus. Dieser geringe Anteil erklärt sich durch die ethnischen »Säuberungen« im Namen des christlichen Nationalismus im späten 19. Jahrhundert und die furchtbaren antimuslimischen Pogrome des berüchtigten »Wiedergeburt«-Prozesses im 20. Jahrhundert. Dieser strebte die »Reinwaschung« des nationalen Kulturerbes an, indem man »muslimische« Kleidung und die türkische Sprache verbot, Ortsnamen änderte und Moscheen und osmanische Bauwerke, darunter auch Friedhöfe, verwüstete oder zerstörte. Tausende ethnisch bulgarische Muslime – die Pomaken – und Roma wurden gezwungen, zum Christentum zu konvertieren, und ethnische Türken mussten ihre Namen slawisieren. Wer Widerstand leistete, wurde verprügelt, ins Gefängnis geworfen oder getötet. Die beängstigenden Übergriffe brachten viele bulgarische Muslime dazu, ihre Häuser aufzugeben, ihr Land zu verlassen und auszuwandern, vor allem in die Türkei. Es gab mindestens drei große Auswanderungswellen: in den 1950er-, 1970er- und 1980er-Jahren. Bei der letzten von ihnen emigrierten fast 360.000 Menschen, nachdem 1984 und 1985 rund 800.000 Muslime gezwungen wurden, ihren Namen zu ändern. Diese sogenannte »Große Exkursion« war die umfassendste Zwangsmigration der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa. Bei der Volkszählung im folgenden Jahr wurde nicht mehr nach der ethnischen Zugehörigkeit gefragt. Staatlicherseits gab es jetzt nur noch »Bulgaren«.

Unser Sommerurlaub in Bulgarien hatte uns die Augen dafür geöffnet, dass tatsächlich noch ein lebendiges ursprüngliches »muslimisches Europa« existierte. Mir persönlich hatte er aber auch gezeigt, wie prekär diese Existenz war und welche Bemühungen unternommen wurden, sie auszumerzen und zu verleugnen. Das hatte urplötzlich das dringende Bedürfnis in mir geweckt, mir anzuschauen, was noch da war, bevor es zu spät war, und zwar nicht allein, sondern zusammen mit meiner Frau und meinen Töchtern. Meiner Ansicht nach ging es hier auch um ihr kulturelles Erbe, als Europäerinnen und als Musliminnen – ein Erbe und eine Geschichte, über die sie sonst nichts erfahren würden. Außerdem wäre eine Reise mit ihnen zusammen eine ganz andere Erfahrung, sie würde mir Zugang zu Orten verschaffen, die mir allein nicht offenstünden, und wichtige und neue Sichtweisen bieten. Wir sind britische Muslime, aber meine Frau und ich sind unterschiedlicher Herkunft, sie stammt aus Großbritannien, ich aus Bangladesch. Die drei würden die Orte, die wir besuchten, mit anderen Augen sehen als ich. Sie mussten mitkommen. Und so fing ich an, in jenem Sommer im idyllischen Bauernhaus mitten im bulgarischen Nirgendwo einen Plan zu schmieden.

Nach einem Blick auf die Landkarte Europas war mir klar, dass unsere kulturelle Spurensuche uns in den Winkel des Kontinents führen musste, der bis heute zu Recht als »muslimisch geprägtes Europa« gilt: den Westbalkan – sechs Länder, die auf eine jahrhundertelange islamische Geschichte zurückschauen und von denen drei bis heute über eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung verfügen: Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Albanien sind im Grunde die einzigen »muslimischen« Länder Europas. Doch auch ihre Nachbarstaaten – Serbien, Nordmazedonien und Montenegro – besitzen eine langjährige muslimische Tradition. Dazu war diese Region nicht nur reich an europäisch-muslimischer Kultur und Geschichte, sondern auch von übersichtlicher Größe, sodass wir alle sechs Länder in einem einzigen abenteuerlichen Sommerurlaub bereisen könnten.

Als Tamara und ich uns an die Routenplanung machten, bemerkte ich schon bald, dass es kaum Literatur zum muslimischen Erbe dieser Region gab. Niemand hatte ein Überblickswerk über die muslimischen Orte, Menschen, Bräuche, Moscheen und Bauwerke dort verfasst, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Selbst der gefeierte britische Reisejournalist Michael Palin war bei seiner Tour durch diese Länder vor gut einem Jahrzehnt vor allem an der jüngeren kommunistischen Geschichte interessiert gewesen und hatte der jahrhundertelangen muslimischen Prägung kaum Beachtung geschenkt. Offenbar würde ich mich, abgesehen von meiner Intuition, vor allem auf die Einblicke von Besuchern wie Fermor verlassen müssen, Nichtmuslimen aus Westeuropa, was einige Probleme mit sich brachte.

Als Gegengewicht zu diesen Stimmen brauchte ich jemanden mit echten Kenntnissen über das muslimische Europa, jemanden, der selbst Muslim war, jemanden aus dem Osten. Genau genommen gab es nur einen einzigen Kandidaten: den großen Reisenden des Osmanischen Reiches, Evliya Çelebi. Evliya hatte nicht nur viele der Orte und Städte besucht, die jetzt auch zu unseren Zielen zählten, sondern seine Reise in der Mitte des 17. Jahrhunderts unternommen, als das Osmanische Reich seine größte Ausdehnung in Europa erreicht hatte. Evliyas Europa war so »muslimisch« wie zu keinem anderen Zeitpunkt, und er hatte es als Vertreter der kultiviertesten Gesellschaft der damaligen Welt bereist. Evliyas Vater hatte dem legendären Sultan Süleyman dem Prächtigen gedient, dessen Herrschaft als kulturelle Blütezeit des Osmanischen Reiches gilt. Bildende Kunst, Musik, Literatur und ganz allgemein die anspruchsvolle Kultur wurden ausgiebig gefördert in dem Reich, das sich von der Grenze zu Österreich im Westen bis zum Persischen Golf im Osten erstreckte und ganz unterschiedliche Völker und Religionen beherbergte.

Evliya, der für seinen Scharfsinn, sein Wissen und seine Redekunst bekannt war und sich darauf berief, von berühmten Dichtern und sogar vom Propheten Muhammad abzustammen, war im Verlauf seines Lebens mehr als 40 Jahre lang auf Reisen, zusammen mit mehreren der großen Paschas (osmanischen Statthaltern) der Zeit – er war offenbar ein unterhaltsamer Gefährte. Zehn dieser Jahre (1660 bis 1670) verbrachte er auf dem Balkan, und so bieten seine Reiseberichte einen faszinierenden und einzigartigen Einblick in das muslimische Europa.

Evliyas Reisetagebuch, die Seyahâtnâme, in dem er seine epischen Expeditionen auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches schildert, macht ihn zu einem der ersten großen Reiseschriftsteller des muslimischen Europas und zu einem der am häufigsten zitierten Autoren zum Thema Balkan. Auf der Suche nach dem modernen muslimischen Europa den Fußspuren eines derart gebildeten Kenners seines historischen Vorläufers zu folgen, bedeutete, dass Evliya uns immer noch wichtige Einblicke verschaffen konnte, selbst wenn die Geschichte und das kulturelle Erbe, nach dem wir suchten, mittlerweile verschwunden sein sollten – zumindest führte er uns vor Augen, wie »muslimisch« Europa einst war.

TEIL EINS

BOSNIEN UND HERZEGOWINA

EINE OSMANISCHE STADT

SARAJEVO

Es war der melodische Ruf des Muezzin, der mich auf dem Weg zu meinem ersten Ziel in Sarajevo zur Eile antrieb. Die heiligen Worte, die alle Muslime zum Gebet einluden, hallten durch das Tal, in dem die Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina liegt. Die Altstadt, die sich in einem schmalen Streifen in West-Ost-Richtung am Ufer der Miljacka entlang erstreckt, die sich aus dem umgebenden Gebirge hinabschlängelt, gleicht bis heute einer geschäftigen mittelalterlichen Stadt.

Überall um mich herum führten schmale Gassen in die historischen Stadtviertel, in denen einst ausschließlich Metallarbeiten, Lederwaren, Gold oder Kaffee vertrieben wurden. In manchen Häusern befanden sich auch heute noch solche Läden oder Werkstätten und konkurrierten mit den modernen Restaurants, Cafés und Souvenirshops um den Raum.

Der spätabendliche adhān (Gebetsruf) ist immer etwas Besonderes. Die grünen Hügel waren von tintenschwarzer Dunkelheit umhüllt, als die feierlichen arabischen Worte durch das Tal klangen und eine Moschee nach der anderen zum Leben erwachte. Bei jedem Ruf, der sich dem Chor anschloss und ihn weiter anschwellen ließ, drehte ich den Kopf in die Richtung seiner Herkunft und entdeckte ein weiteres hoch aufragendes altes Minarett, das mir zuvor entgangen war. Sie schienen einfach überall zu sein, und jedes von ihnen zeugte davon, dass Sarajevo immer schon eine muslimische Stadt gewesen war.

Mit der Gründung Sarajevos im Jahr 1461 war Bosnien, nur zwei Jahre bevor es offiziell zu einem osmanischen Sandschak (Verwaltungsbezirk) wurde, praktisch zu einem muslimischen Land erklärt worden, und das ist es seitdem auch voller Stolz geblieben.

Als Junge hatte ich nicht gewusst, dass es in Europa Städte gab, in denen der adhān ein ganz normaler Teil des Alltags war, und ich hätte mir ganz sicher nicht ausmalen können, dass eine solche Stadt nur gut 1600 Kilometer Luftlinie östlich von uns lag und nicht Kairo oder Istanbul hieß.

Wie die meisten britischen Kinder der 1990er-Jahre hatte ich den Namen Sarajevo zum ersten Mal aus dem Mund eines mittelalten weißen Nachrichtensprechers mit Oberschichtsakzent vernommen. Immer wenn er etwas über Sarajevo sagte, waren auf dem Bildschirm grobkörnige Aufnahmen von Männern, Frauen und Kindern zu sehen, die inmitten von hellen Lichtblitzen und ohrenbetäubendem Lärm in Deckung gingen. Diese von Angst und Zerstörung geprägten Bilder glichen denen, die eingeblendet wurden, wenn der Mann »Bagdad« oder »Mogadischu« sagte.

Damals war Sarajevo ein Kriegsschauplatz, irgendwo weit, weit weg – vielleicht sogar in der Nähe von Bagdad und Mogadischu? Nein. So viel wusste ich. Ich war mir darüber im Klaren, dass der Irak und Somalia »muslimische« Länder waren und die Menschen dort aussahen wie ich. Regelmäßig brachten meine Eltern und die Würdenträger in der Moschee ihre Trauer über das Leid der irakischen und somalischen Muslime zum Ausdruck und widmeten ihnen sogar Gebete, aber ich kann mich nicht daran erinnern, je für die Bosnier in Sarajevo gebetet zu haben.

Nun betrat ich den großen steinernen Innenhof der Gazi-Husrev-Beg-Moschee und begab mich direkt zum Eingang des großen Gebetsraumes. Aus den Lautsprechern waren Qur’ān-Verse zu hören. Das deutete darauf hin, dass ich zu spät kam. Also hastete ich am kunstvoll verzierten Brunnen im Hof vorbei, entledigte mich rasch meiner Schuhe, warf sie ins hölzerne Schuhregal und riss die große Tür auf, in der Erwartung, dahinter auf in Reih und Glied kniende Gläubige zu stoßen. Doch es gab keine Reihe. Genau genommen wirkten alle Anwesenden im halb leeren Raum ziemlich entspannt: Einige von ihnen beendeten gerade zusätzliche Sunna-Gebete, andere hielten einen Qur’ān in den Händen und lasen darin, und ein oder zwei der älteren Anwesenden gaben sich Mühe, nicht einzunicken.

Hatte ich wirklich Qur’ān-Verse vernommen?

Da erklang die Stimme erneut, und ich erkannte sofort die al-Ichlās-Sure. Es war eine tiefe, alte Stimme, aber ich konnte nicht sehen, woher sie kam. Vorn stand kein Imam, der Platz vor dem farbenfrohen und kunstvollen marmornen Mihrāb war leer. Ich war verwirrt. Der Beginn des Gebets lief normalerweise anders ab.

Nicht aber hier in Bosnien.

Genau wie die prachtvolle Moschee, in der ich stand, sind auch die Praktiken der Glaubensausübung in Bosnien von der Türkei geprägt, wo es üblich ist, vor dem gemeinsamen Gebet bestimmte wichtige Abschnitte des Qur’ān zu rezitieren. Als mir das klar wurde, erkannte ich zu meiner großen Erleichterung, dass ich das Gebet keineswegs verpasst hatte. Ich würde meine Suche nach dem muslimischen Europa doch so beginnen können, wie ich es mir vorgestellt hatte: indem ich mich neben den einheimischen Muslimen Europas vor Gott verneigte.

Sobald der alte Mann die al-Ichlās dreimal vorgetragen hatte, ließ er als duā zunächst noch die Fātia folgen, bevor die iqāma erklang (der kürzere Ruf, der ankündigt, dass das gemeinsame Gebet nun beginnt). Daraufhin kamen alle langsam auf die Füße. Die Männer bildeten gerade Reihen mit dem Gesicht Richtung Mihrāb, und die Frauen stellten sich unter einem Teil der Mahfil (der hölzernen Empore im hinteren Teil) auf. Es gab keine bauliche Trennung zwischen den Geschlechtern.

Ich fand mich in der ersten Reihe in der Nähe eines großen marmornen Minbar wieder, von dem aus der Imam am Freitag seine Predigt hielt. Links und rechts von mir standen zwei ältere Herren, von denen einer nur wenige Minuten zuvor ziemlich sicher noch gedöst hatte.

Nach einigen Sekunden kündigte das Rascheln des Vorhangs unter dem Minbar die Ankunft des Imams an. Er trug ein langes Gewand und eine rote Kopfbedeckung, die einem Fez ähnelte, und war jung, um die 30, während seine Gemeinde – vier Reihen, die etwa ein Viertel des Gebetsraumes füllten – größtenteils schon in den Herbst des Lebens eingetreten war. Als er begann, die Fātia zu sprechen, wurde seine Stimme höher, melodiöser. Er hielt an den richtigen Stellen inne und betonte die Worte auf eine Art und Weise, die auf jahrelange Übung hinwies, wahrscheinlich eine klassische Ausbildung. Das überraschte mich nicht – die Gazi-Husrev-Beg-Moschee ist die größte Sarajevos, erbaut im 16. Jahrhundert durch einen der berühmtesten Gouverneure der Stadt. Selbstverständlich war der Mann, der ausgewählt worden war, hier durch das Gebet zu führen, ein Meister seines Fachs.

Seine klangvollen Worte erfüllten den Gebetsraum und hallten von der hohen Decke und der verzierten Kuppel in der Mitte wider, auf eine Art und Weise, die einer Kathedrale würdig gewesen wäre.

Als ich dort stand, die Arme um die Mitte geschlungen, die Schultern und Füße nur wenige Zentimeter von denen der Herrschaften links und rechts von mir entfernt, fühlte ich mich für einen Augenblick in die monumentalen Moscheen in Istanbul versetzt – dem architektonischen und spirituellen Vorbild der Gazi Husrev.

Die Moschee war während der Blütezeit des Osmanischen Reiches entstanden, 1531, als Sultan Süleyman der Prächtige auf dem Thron saß. Sie war Teil eines riesigen Gebäudekomplexes, finanziert durch den waqf (einer Art Stiftung) eines der engsten Berater des Sultans, Gazi Husrev Beg, dem damaligen Gouverneur von Bosnien und mütterlicherseits Enkel von Sultan Bayezid II. Mit den Mitteln aus dem waqf wurden neben der Moschee auch mehrere Schulen, Bibliotheken, öffentliche Bäder, Unterkünfte für Reisende (Han) und Arme (Imāret) sowie Uhrtürme in Sarajevo errichtet, wodurch die Stadt zu einer der bedeutendsten der Region aufstieg. Einige der Gebäude bestehen bis heute, unter anderem das Grab von Gazi Husrev Beg, aber die Hauptattraktion ist und bleibt die Moschee, eines der schönsten Beispiele klassischer osmanischer Architektur in Bosnien.

Da sie während der ruhmreichen Ära des großen Architekten Mimar Sinan entstand, bemühte man sich, genau wie bei jeder großen osmanischen Moschee jener Zeit – wie ich im Verlauf der Reise feststellen sollte –, eine Verbindung zwischen ihr und dem herausragenden Mann herzustellen, auch wenn dies manchmal weit hergeholt war – und das war es in diesem Fall wirklich. Die Muslime Sarajevos wollten unbedingt beweisen, dass Sinan die Gazi-Husrev-Beg-Moschee »in Augenschein genommen« hatte. Der Chefarchitekt des Reiches war so angesehen, dass selbst eine mögliche Inspektion durch ihn als erwähnenswert galt.

Als der Imam das letzte salām abschloss und dabei über die linke Schulter schaute – das Zeichen, dass das Gebet nun zu Ende war –, richtete ich den Blick auf die Blumenornamente rund um die Fenster und die rot-grünen wabenartigen Trompen unter der großen Mittelkuppel, durch deren unteren Teil sich eine filigrane Inschrift zog. Wie viele osmanische Moscheen dieser Zeit besitzt auch die Gazi Husrev neben der großen noch mehrere kleinere Kuppeln. Sie alle wölben sich nebeneinander über dem großen Portikus am Eingang, der gebaut wurde, um sicherzustellen, dass den Reisenden abseits der fünf täglichen Gebetszeiten, wenn die Türen vieler Moscheen verschlossen sind, ein sauberer und trockener Ort zum Beten zur Verfügung steht. Muslimische Reisende sind nicht verpflichtet, zu den festgelegten Zeiten zu beten, sondern können es tun, wann es ihnen passt.

Die Malereien, die ich im Inneren der Moschee bewunderte, waren jedoch keine Originale. Diese waren bedauerlicherweise während »Renovierungsarbeiten« in der Zeit, als Bosnien zu Österreich-Ungarn gehörte, zerstört worden. Die heutige Gestaltung des Innenraums – inspiriert durch zeitgenössische osmanische Moscheen – geht auf den Wiederaufbau zurück, nachdem die Moschee in den 1990er-Jahren im Bosnienkrieg durch serbische Bomben beschädigt worden war. Sie war absichtlich ins Visier genommen worden. Das Bombardieren historischer Bauten und Kulturdenkmäler im Krieg ist stets ein Zeichen an den Feind, dass man es auf seine Identität abgesehen hat – man will zerstören, was ihn zu dem macht, der er ist. So gingen schon die Deutschen und die Briten im Zweiten Weltkrieg gegeneinander vor; das berühmteste Beispiel sind die sogenannten Baedeker-Angriffe. Dabei nahm die Luftwaffe angeblich jedes Gebäude in England ins Visier, das in dem beliebten Baedeker-Reiseführer für Großbritannien mit drei Sternen verzeichnet war – also die historisch und kulturell bedeutendsten Sehenswürdigkeiten –, um es dann in Grund und Boden zu bomben. Aus dem gleichen Grund nahmen sich die Serben die Gazi-Husrev-Beg-Moschee vor. Angriffe dieser Art, die ein Beobachter von der Harvard University als »kulturellen Genozid« bezeichnete, wurden während des Kriegs, der das Land zwischen April 1992 und Dezember 1995 in Schutt und Asche legte, zu einem serbischen Markenzeichen.

Der Bosnienkrieg war einer von mehreren Kriegen, die ausgefochten wurden, als Jugoslawien 1991 auseinanderbrach, und er speiste sich aus historisch bedingten Nationalismen entlang ethnisch-religiöser Trennlinien. Als das mehrheitlich muslimische Bosnien und Herzegowina im März 1992 seine Unabhängigkeit erklärte und eine multiethnische Zukunft auf Grundlage der traditionellen komšiluk, der »guten Nachbarschaft«, anstrebte, weigerten sich zunächst die orthodoxen Serben und später auch die katholischen Kroaten, die in Bosnien lebten, das zu akzeptieren. Beide Volksgruppen erklärten ihre jeweiligen Gebiete zu autonomen Staaten und der Mehrheit des Landes, den bosnischen Muslimen (Bosniaken), den Krieg. Die bosnischen Serben und die bosnischen Kroaten erhielten Unterstützung aus Serbien und Kroatien, denen man vorwarf, die frisch entstandene Republik Bosnien und Herzegowina spalten zu wollen, um ihre eigenen Territorien zu vergrößern. Es war eine Art religiöser Terrorismus, bevor der Begriff populär wurde.

Der bittere Konflikt sorgte dafür, dass ehemalige Nachbarn, Freunde und sogar Familienmitglieder plötzlich gegeneinander kämpften. Die Folge waren zerbombte Dörfer und Städte, ethnische »Säuberungen«, Massaker und systematische Vergewaltigungen. Auch wenn die Serben als Haupttäter gelten, werden auch den Bosniaken und Kroaten Kriegsverbrechen zur Last gelegt. Der Krieg kostete 100.000 Menschen das Leben, weitere zwei Millionen ihre Heimat und zählt bis heute zu den schlimmsten ethnischen »Säuberungen« seit dem Zweiten Weltkrieg.

Als er schließlich mit dem am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichneten Friedensabkommen zu Ende ging, entstand ein ungewöhnliches neues Land: eines, in dem zwei »Nationen« mit eigenen Gesetzen, Parlamenten und Hauptstädten ohne Grenzen innerhalb eines übergeordneten Staates existieren. Der Staat Bosnien und Herzegowina besteht sowohl aus der Föderation Bosnien und Herzegowina, wo die Mehrheit muslimische Bosniaken sind, und aus der Republik Srpska, wo hauptsächlich ethnische Serben leben, die dem christlich-orthodoxen Glauben anhängen.

Der Rückweg von der Moschee führte mich zum winzigen Baščaršija-Platz nahe einer ziemlich belebten Haltestelle, wo die ältlichen blau-gelben Straßenbahnen geräuschvoll zum Stehen kommen. Der Platz beherbergt den markanten Sebilj, eine Konstruktion aus kunstvoll geschnitztem Holz, die einem kleinen Kiosk mit einem Kuppeldach im osmanischen Stil gleicht, und ist ein beliebter Ort, um kurz Rast zu machen und den Kindern zuzuschauen, wie sie die Tauben jagen, oder den Touristen, wie sie neben dem heutigen Wahrzeichen Sarajevos posieren.

Ich beschloss, dort einen Happen zu essen, und nahm Platz auf einem Stuhl vor einem der Restaurants mit Blick auf den Sebilj. Das Bauwerk entstand ursprünglich 1752 als Brunnen für durstige Reisende. Der Grund dafür, dass es wie ein Kiosk aussieht, ist der, dass früher tatsächlich ein Mann darin saß, der sogenannte »Sebilja« – abgeleitet vom arabischen Wort für »Straße« oder »Weg« –, der Wasser für die durstigen Wanderer schöpfte. Leider brannte der Original-Sebilj 1852 ab, und als er von den Habsburgern, zu deren Reich Bosnien seit Ende des 19. Jahrhunderts gehörte, neu errichtet wurde, wurde ein Wasserhahn an der Seite eingebaut, sodass die Besucher von nun an zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugang zu erfrischend kühlem Wasser hatten.

Die freie Verfügbarkeit von Trinkwasser zählte zu den Dingen, die großen Eindruck auf den osmanischen Reisenden Evliya Çelebi machten, als er im Jahr 1660 nach Sarajevo geschickt wurde, um seinen Onkel mütterlicherseits, Melek Ahmed Pascha, den Gouverneur des bosnischen Eyalets, über einen Sieg zu informieren (möglicherweise im Transsilvanienfeldzug). Melek, der mit der Tochter von Sultan Murad IV. verheiratet und kurzzeitig Großwesir des Reiches gewesen war, sollte Evliyas wichtigster Förderer werden und einen Großteil seiner Reisen ermöglichen. Er stellte eine von mehreren hochrangigen Verbindungen Evliyas zum Hof dar. Sein Vater, Derwisch Mehmed Aga Zilli, war der Hauptgoldschmied mehrerer Sultane gewesen; ihm war die überaus ehrenvolle Aufgabe zugekommen, den goldenen Wasserablauf der heiligen Kaaba anzufertigen, die sogenannte »Rinne der Barmherzigkeit«, die bis heute oben aus dem hochverehrten Bauwerk in Makkah herausragt.

Evliya kam in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, der Hauptstadt des Reiches, zur Welt. Die kosmopolitische und moderne Stadt war damals womöglich die prachtvollste Metropole ihrer Zeit, und Evliya widmete seiner geliebten Heimatstadt einen ganzen Band seines umfangreichen, zehn Teile umfassenden Werkes. Daher war es ein durchaus großes Lob, als er Sarajevo bei seinem ersten Besuch dort als »fortschrittliche, wunderschöne und lebhafte« Stadt bezeichnete. Der osmanische Reisende schrieb die Schönheit dem großzügigen Vorhandensein von Wasser zu, das klar aus den umliegenden Bergen herabströmte und den Bewohnern ermöglichte, beeindruckende Gärten anzulegen und reichlich Obst und Gemüse anzubauen. Dass ihm Sarajevo so lebhaft und fortschrittlich erschien, lag wiederum an der religiösen und ethnischen Durchmischung der Stadtbevölkerung und dem offenbar friedlichen Miteinander – ein historischer Vorläufer des traditionellen bosnischen komšiluk, wenn man so will. Evliya traf in Sarajevo nicht nur Muslime aus der gesamten Region, sondern auch auf verschiedene europäische Christen und eine große Zahl sephardischer Juden; Letztere waren nach ihrer Vertreibung aus Spanien von den Osmanen aufgenommen worden. Er schrieb, dass es allen Bewohnern der Stadt freistand, ihre jeweiligen Kirchen und Synagogen zu bauen und darin zu beten, solange zwei Bedingungen erfüllt waren: Keines der Gotteshäuser durfte höher aufragen als die größte Moschee der Stadt, und die Kirchen mussten auf Glocken verzichten.

Trotz dieser Einschränkungen war das eine bemerkenswert tolerante Regelung für die Zeit und der Grund, warum Sarajevo später als »Jerusalem von Europa« bezeichnet werden sollte. Überall sonst auf dem Kontinent – mit wenigen Ausnahmen, etwa der seit Kurzem unabhängigen Republik der Vereinigten Niederlande – wurden Juden vertrieben, ihre Schriften verboten oder sie selbst der Hexerei bezichtigt, während in England katholische Priester hingerichtet und in Frankreich die Hugenotten massakriert wurden.

In Sarajevo hingegen gingen Evliya zufolge Juden und Christen einfach ihren Geschäften nach, so wie alle anderen osmanischen Bürger auch – und interessanterweise beschreibt Evliya es auf ganz unaufgeregte Art und Weise, als sei das nicht weiter ungewöhnlich.

Man kann den Osmanen in Sarajevo einfach nicht entkommen. Abgesehen davon, dass die Stadt durch das große muslimische Reich erbaut und geprägt wurde und deshalb mehrere Jahrhunderte osmanischer Geschichte enthält, wird dieses Kulturerbe hier, im Gegensatz zu anderen Großstädten auf dem Balkan, auch zelebriert.

Auf dem Schild über dem Eingang zum Restaurant, vor dem ich saß, stand »Osmanlı Pide Döner«. Es handelte sich also um keinen gewöhnlichen Döner-Kebab-Laden, sondern um einen osmanischen – ungeachtet dessen, dass der Döner Kebab erst mehrere Jahrzehnte nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches erfunden wurde.

Die Bezeichnung »osmanisch« (oder wie hier: »osmanlı«) geht auf den Namen des Reichsgründers zurück: Osman, der Anführer eines kleinen turkmenischen Stammes – eines von vielen, die um die Macht in Anatolien kämpften –, hatte im Jahr 1300 der Legende nach einen Traum von einem Weltreich, der den Grundstein für die größte und beständigste muslimische Dynastie der Geschichte legte. Das erträumte Reich überdauerte mehr als 600 Jahre, und jeder Sultan, der auf dem Thron saß, stammte von Osman, dem allerersten Osmanen, ab.

Im Schaufenster des Restaurants hing eine große türkische Flagge und verdeckte die Sicht auf die arabischen Familien, die drinnen saßen. Auch der Anblick draußen war nahöstlich geprägt: Arabische Väter verfolgten ihre Kleinkinder mit ihren Handykameras, während diese die Tauben am Sebilj jagten. An den Rändern des Platzes warteten währenddessen die Frauen, von Kopf bis Fuß in schwarze Burkas und Niqabs gekleidet, neben den leeren Kinderwagen. Hin und wieder fiel mein Blick auch auf ein unverschleiertes Gesicht, das dann aber keine arabischen, sondern südostasiatische Züge trug – philippinische und malaiische Kindermädchen, die ihre reichen Arbeitgeber im Sommerurlaub begleiteten. Wenn die Väter das Filmen satthatten, waren es für gewöhnlich diese Frauen, die den kleinen Abdullah einfingen und ihn wieder in seinen Wagen setzten.

Die Bereitschaft, mit der Sarajevo und Bosnien ihre muslimischen Wurzeln bewahren und das islamische Erbe hervorheben, hat die Stadt und das Land in den letzten Jahren zu einem überaus beliebten europäischen Reiseziel für die Bewohner der Golfstaaten gemacht. Viele Bosnier sprechen fließend Arabisch, weil sie es im Rahmen des Islamunterrichts gelernt haben, das Essen ist halal, und die Preise sind deutlich niedriger als in Westeuropa, wo deutlich als Muslime erkennbare Menschen immer häufiger das Gefühl vermittelt bekommen, nicht willkommen zu sein. Bosnien ist so erfolgreich darin, Touristen vom Persischen Golf anzulocken, dass es von Dubai aus Direktflüge nach Sarajevo gibt, von London aus hingegen nicht.

Den Kontrast zwischen diesen neuen Touristen und den Einheimischen betonen die Unterschiede zwischen den Golfstaatmuslimen und ihren europäischen Gegenstücken: Auf jede Burkaträgerin kamen zehn ortsansässige Frauen, die in Jeans, Miniröcken oder Kleidern herumliefen, manche von ihnen mit Kopftuch, obwohl das bei jungen Frauen eher ungewöhnlich war.

Auch das Essen, das ich bestellte, stammte ursprünglich aus der Türkei und könnte sogar osmanischer Herkunft sein: eine türkische Spielart der Pizza namens Pide. Ein gutes Pide, wie etwa das, das in den Holzöfen von Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste – der geistigen Heimat des Pide – gebacken wird, enthält eine großzügige Portion dezent gewürztes Hackfleisch vom Lamm auf einem bootsförmigen Stück Brotteig. Das Brot ist knusprig und fluffig, und manchmal wird auf das Fleisch noch der würzige Schafskäse gestreut, der in Anatolien so beliebt ist.

Mein Pide war auf den Punkt gebacken, allerdings ohne Fleisch, was ich ziemlich enttäuschend fand. Doch der Teig war hervorragend, und der Kellner, ein stämmiger Bosnier mit schmutziger Schürze, wirkte so abgehetzt, dass ich es nicht übers Herz brachte, mich zu beschweren. Stattdessen riss ich ein großes Stück von dem käsegefüllten fleischlosen Pide ab und schob es mir in den Mund. Zu meiner Freude schmeckte es ziemlich gut. Ich spülte das Essen mit dem bitteren Zitrusgetränk herunter, das ich aus Versehen bestellt hatte – mein Bosnisch ließ etwas zu wünschen übrig (ich sprach keine Silbe), ebenso wie mein Arabisch, und der Kellner konnte kaum Englisch.

Mittlerweile waren die meisten Touristen gegangen, und die übermüdeten Kleinkinder auf dem Platz wurden langsam bockig. Ich sinnierte ein wenig über meinen kurzen und schönen ersten Abend in Sarajevo, auch wenn ich ihn allein verbrachte – Tamara und unsere Töchter, Amani und Anaiya, waren in der Ferienwohnung geblieben, um sich von der 18-stündigen Reise auszuruhen.

Ich war froh, dass ich mich aufgerafft hatte. Morgen würden wir unsere Rundreise beginnen und Richtung Südwesten fahren, nach Mostar, zur berühmten Brücke in der Nähe der kroatischen Grenze, was bedeutete, dass dies zunächst einmal der einzige Abend in Sarajevo war – zum Schluss der Reise hatten wir weitere fünf Tage in der Stadt geplant. So könnten wir uns von unserer voraussichtlich ziemlich wilden Tour erholen, hatten wir uns überlegt. Fünf ganze Tage im »osmanischen Jerusalem« würden uns zudem ermöglichen, diese faszinierend stolze muslimische Stadt wirklich kennenzulernen. Ich hatte uns eine Stadtführung gebucht und Interviews mit einer ganzen Reihe interessanter Menschen arrangiert, unter anderem einem Mitarbeiter der Gazi-Husrev-Beg-Moschee, um zu verstehen, warum Sarajevo sein muslimisches und osmanisches Erbe so offen vor sich hertrug. Eine Rückkehr nach Sarajevo fühlte sich richtig an. So würden wir unsere Reise durch eine ehemals osmanische Region in einer Stadt beginnen und beenden, die stolz auf ihre osmanischen Wurzeln war.

Dann würde ich meine Beobachtungen mit dem abgleichen können, was ich an den vielen anderen bemerkenswerten Orten sah, die wir besuchen wollten. Welche Unterschiede würde es geben? Verbargen sich dort draußen irgendwo weitere, kleinere Sarajevos? Und noch wichtiger: Würde ich irgendwo ein anständiges Pide mit Fleisch bekommen?

EINE BRÜCKE, ERBAUT VON BARBAREN

MOSTAR

Ich hatte die Zerstörung der Stari Most in Mostar zum ersten Mal in einer alten, grobkörnigen Aufnahme im Internet gesehen. In dem Video war eine leicht ramponierte alte Steinbrücke zu erkennen, deren perfekte Bogenform mit Granaten bombardiert wird. Das Behelfsdach aus Blech, das über der Brücke angebracht worden war, um die Einheimischen beim Überqueren vor Scharfschützen abzuschirmen, ist schon halb zerfetzt, vor allem in der Mitte, auf die der HVO (Hrvatsko vijeće obrane), der Kroatische Verteidigungsrat, bisher die meisten seiner Geschosse richtet. Die Uhr auf dem Bildschirm zeigt 15:52 Uhr an, eine Stunde bevor am östlichen Ufer der Ruf zum Nachmittagsgebet erklungen wäre, wenn die historischen Moscheen und ihre Minarette nicht schon längst dem Erdboden gleichgemacht worden wären; das Datum: 8. November 1993. Unterlegt ist die Aufnahme mit der melancholischen Melodie von Händels Sarabande, die schon in Stanley Kubricks oscarprämierten Werk Barry Lyndon von 1975 zu hören war.

Eine herrische Stimme ruft einen Befehl, und dann schlägt rechts von der Brückenmitte ein Geschoss ein. Trümmer fallen in den Fluss darunter, und eine enorme Staubwolke steigt auf. Das improvisierte Schutzdach über der Brücke bricht komplett zusammen, und die Kamera gerät ins Wanken, filmt aber weiter das, was jetzt aussieht wie ein Haufen zertrampelter Streichhölzer.

Die langsame, beklemmende Musik, die die Bilder begleitet, verstärkt das Gefühl, dass wir Zeuge einer Sterbeszene werden.

Die nächste Szene in dem Video, nun in Farbe, zeigt den folgenden Morgen. Wieder schlägt ein Geschoss rechts von der Brückenmitte ein, trifft genau dieselbe Stelle wie am Vortag. Das taumelnde Gerippe des 427 Jahre alten architektonischen Wunderwerks wird vorübergehend von der Vegetation im Vordergrund und den wenigen verbliebenen roten Ziegeln auf den Dächern zerbombter Häuser im Hintergrund eingerahmt, bevor das Geschehen auf das Unvermeidliche zusteuert. Die Brücke kassiert einen letzten Treffer, und plötzlich bricht das gesamte Bauwerk zusammen und stürzt in das Wasser darunter, was eine Serie gewaltiger Spritzfontänen und eine enorme, einem Tsunami ähnliche Welle auslöst, die auf die Kamera zurast. Und damit ist die Brücke, von der es hieß, sie habe sich mehr als vier Jahrhunderte lang den Gesetzen der Physik widersetzt, für immer zerstört.

Die gezielte Zerstörung der Stari Most – der »alten Brücke« – von Mostar ist wahrscheinlich eines der erfolgreichsten Beispiele des nicht nur kulturellen Völkermordes, der in diesem Krieg am muslimischen Erbe Bosniens verübt wurde. Es waren ein drei Tage währender gezielter Beschuss und mehr als 60 Treffer nötig, um dieses Monument, von dem es einst hieß, es sei so prachtvoll, dass es selbst den Himmel überträfe, zu Fall zu bringen.

Augenzeugen behaupten, dass die kroatischen Soldaten den Zusammenbruch in das Wasser der Neretva mit Luftschüssen gefeiert hätten. Ab Dienstag, dem 9. November 1993, war die Brücke, die der osmanische Sultan Süleyman der Prächtige in Auftrag gegeben, deren Konstruktion der Architekt Mimar Sinan überwacht und die dessen Schüler Mimar Hayreddin erbaut hatte, Geschichte.

Die Fahrt von Sarajevo in Richtung Südwesten nach Mostar führte uns durch eine gebirgige Landschaft. Die Straße wand sich zwischen einer Reihe Seen und Flüsse hindurch, deren tiefblaues Wasser in der herrlichen Sommersonne funkelte. Über ihnen ragten Berge auf, deren Hänge grün bewachsen oder mit dichten Wäldern bedeckt waren. Dazwischen ließen sich Grüppchen von weißen Häusern mit roten Ziegeldächern ausmachen, ein oder zwei von ihnen sogar mit einem Steinbrunnen davor – wie in Dörfern aus dem Märchen.

Als Evliya die berühmte Alte Brücke von Mostar besuchte, hieß sie noch Sultan-Süleyman-Brücke und war von so herausragender Schönheit, dass der weit gereiste Osmane ganz verzückt war. Er verglich ihre Bogenform mit dem sogenannten Iwan des Sassanidenherrschers Chosrau in der Nähe von Bagdad, dem weltgrößten gemauerten Torbogen, der ohne Verstärkungen auskam und als architektonisches Meisterwerk galt. Evliya war zu diesem Zeitpunkt seit 27 Jahren unentwegt auf Reisen und zählte alle Brücken auf, die er in den 16 Königreichen, durch die er gekommen war, gesehen hatte, darunter die Mehmed-Pascha-Sokolović-Brücke in Višegrad, unsere nächste Station. Doch keine von ihnen sei so sehenswert gewesen wie die Brücke von Mostar. Sie sei »unvergleichlich«, schrieb er und bezeichnete ihre Eleganz und Raffinesse als einzigartig.

Evliya war nicht der Einzige, den die Brücke in ihren Bann schlug. Der in Mostar geborene türkische Dichter und Derwisch-Pascha Bajezidagić behauptete, der Bogen der Brücke sei so prachtvoll, dass sie den Himmel darüber in den Schatten stelle. Er könnte natürlich voreingenommen gewesen sein, doch das gilt nicht für Robert Michel, den österreichischen Schriftsteller, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zweimal einige Jahre in Mostar lebte und angab, dass ihn »noch nie ein Bauwerk so ergriffen hat«.

In der fünftgrößten Stadt Bosniens dreht sich alles um die berühmte Brücke. Selbst ihr Name leitet sich von most ab, dem slawischen Wort für Brücke. Die Brücke ist also ein essenzieller Bestandteil der Stadtidentität, weshalb man fünf Jahre nach der Zerstörung durch die kroatische Armee damit begann, sie mit Unterstützung der UNESCO und der internationalen Gemeinschaft originalgetreu wiederaufzubauen.

Wir hatten nur eine Nacht in Mostar eingeplant, in einem modernen Ferienwohnungskomplex im nordwestlich gelegenen Vorort Zgoni, inmitten von heruntergekommenen Wohntürmen aus der Zeit des Kommunismus. Der Neubau enthielt mehrere Apartments und hatte die Form eines breiten Hufeisens, in dessen ansprechend gestaltetem Innenhof die modernen Tische und Stühle der angesagt wirkenden Cafés im Erdgeschoss standen. Zwischen den gepflegten Rasenflächen saßen Einheimische im Schatten frisch gepflanzter Palmen. Hier wurde der neue Wohlstand zur Schau gestellt, und das Ganze stand im starken Kontrast zur Umgebung. Unser Apartment gehörte einer Kroatin namens Slavica, die auf der anderen Seite der Grenze in Kroatien lebte.

Ich parkte den weißen Renault Mégane, den wir für unsere Reise gemietet hatten, vor einem Wohnblock aus beige angestrichenem Beton und stellte sicher, dass von außen nichts von Wert zu sehen war, bevor wir uns die kleinen Taschen schnappten, die wir für die eine Nacht hier gepackt hatten. In der Nähe des Wagens hatte jemand in großen schwarzen Buchstaben die Worte »Zapamtite Vukovar« auf ein Bushäuschen aus Beton gesprayt, mit etwas darüber, was aussah wie die Umrisse eines Flughafenkontrollturms, aus dem die niederländische Flagge hing. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. »Unterschrieben« war das Graffito von den Ultras Mostar – den Hardcore-Fans des örtlichen Fußballvereins HŠK Zrinjski Mostar, der katholisch-kroatische Wurzeln hatte und einer der ältesten und erfolgreichsten Klubs des Landes war. Nach dem Verbot des Vereins, der während des Zweiten Weltkriegs in der Liga des Unabhängigen Staates Kroatien – einem Marionettenstaat der Nazis – gespielt hatte, kam es 1992 zu einer Neugründung, wieder als katholisch-kroatisches Team. Es ist vermutlich keine große Überraschung, dass die Anhängerschaft des größten Rivalen in der Stadt, der FK Velež Mostar, vor allem aus muslimischen Bosniaken besteht. Im Westbalkan hängt selbst die Vorliebe für einen Fußballverein von Ethnie und Religion ab.

Das spielte auch beim Graffito der Ultras eine Rolle: Übersetzt stand dort »Erinnert euch an Vukovar«, eine Stadt im Osten Kroatiens, wo die entscheidende, 87 Tage andauernde Auseinandersetzung mit der serbischen Armee einen wichtigen – aber teuer erkauften – Wendepunkt im kroatischen Unabhängigkeitskrieg herbeiführte. Vukovar wurde dabei fast vollständig zerstört. Der »Kontrollturm« war in Wahrheit der schwer beschädigte Wasserturm der Stadt, der bis heute mit einer stolz gehissten kroatischen Flagge auf der Spitze als Mahnmal aufragt. Der Graffitikünstler hatte vergessen – oder keine Zeit mehr gehabt –, das Wappen mit dem rot-weißen Schachbrettmuster auf die Fahne zu malen, weshalb ich sie für eine niederländische Flagge gehalten hatte.

Wir hatten nur so wenig Zeit in Mostar eingeplant, weil unsere Reise eigentlich in die entgegengesetzte Richtung führen sollte. Die Rundtour, die wir geplant hatten, begann im Osten von Sarajevo und führte dann nach Südserbien, bevor wir im Uhrzeigersinn den Kosovo, Nordmazedonien, Albanien, Montenegro und den Süden von Bosnien und Herzegowina durchqueren wollten. Von der Lage her hätte sich Mostar eigentlich perfekt als eines der letzten Ziele auf der Route geeignet, aber wir hatten beschlossen, als Erstes herzufahren, damit Tamara sich einen ihrer großen Wünsche auf unserer Reise erfüllen und ein Dorf namens Blagaj wenige Kilometer südlich von Mostar besuchen konnte, wo sie eine wunderschöne alte Tekke ausfindig gemacht hatte. Es war noch nicht sicher, ob sie für die gesamte Zeit unserer Reise Urlaub bekäme oder vielleicht doch eine Woche vor uns anderen wieder nach London zurückkehren müsste. Hätten wir Blagaj an das Ende unserer Tour geschoben, hätte die Gefahr bestanden, dass Tamara nicht dabei sein könnte.

Doch selbst unsere sorgfältigen Planungen konnten nichts daran ändern, dass Tamara gerade von starken Halsschmerzen und einem quälenden Husten geplagt wurde. Da ihr vor allem Blagaj wichtig war, hatten wir beschlossen, dass sie sich an diesem Abend ausruhen sollte, in der Hoffnung, dass sie am nächsten Tag wieder fit genug für den Ausflug dorthin wäre. Ich hingegen wollte mir unbedingt die berühmte Brücke von Mostar ansehen. Und so überließ ich meine drei Damen, nachdem ich sie mit Husten- und Grippemedikamenten aus der Apotheke unterhalb unserer Wohnung versorgt hatte, den Gilmore Girls und machte mich auf die Suche nach Evliyas »unvergleichlicher« Brücke.

Die lange, dunkle Wendeltreppe löste Platzangst und ein leichtes Schwindelgefühl in mir aus, als ich mich keuchend und schnaufend das enge Minarett der Koski-Mehmed-Pascha-Moschee aus dem frühen 17. Jahrhundert hinaufschleppte. Historische Minarette waren darauf ausgelegt, dass ein einzelner Muezzin hinauf- und hinabstieg, ohne Gegenverkehr. Anders ausgedrückt: Sie waren so eng, dass nur eine Person Platz hatte. Der Architekt der Koski-Moschee hatte das sehr wörtlich genommen, denn das Minarett war das bei Weitem schmalste, das ich je erklommen hatte. Beim Aufstieg betete ich die ganze Zeit über, dass mir niemand entgegenkommen möge, vor allem, weil ich Stimmen hinter mir vernahm – schon der Gedanke an einen Stau auf engstem Raum trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Der Architekt der Moschee hatte ganz offensichtlich nicht vorhergesehen, dass sein Minarett eines Tages zum beliebtesten Aussichtspunkt von ganz Mostar werden würde, um sich von dort aus die berühmte Brücke anzuschauen.

Oben angekommen, stellte ich fest, dass ich nicht der einzige Besucher aus England war, der den Ausblick von der Koski-Moschee aus genießen wollte. Saleh stammte aus Manchester und war zu einem Tagesausflug aus dem kroatischen Dubrovnik hergekommen, das etwa 100 Kilometer südöstlich von Mostar liegt.

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