×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Das Glück in tausend Worten«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Das Glück in tausend Worten« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Das Glück in tausend Worten

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Liebe kennt keine Sprachbarrieren

Ana ist 16 und kommt aus Argentinien. Als ihr Dad sie und ihre Mutter zu sich nach New Jersey holt, weiß sie, dass sie sich glücklich schätzen müsste. Doch was soll sie tun, wenn im Unterricht die Sprache wie ein Rauschen an ihr vorbeizieht und sie kaum etwas versteht? Erst als sie den griechischen Jungen Neo kennenlernt, der an einem Wörterbuch über Glück arbeitet, findet auch Ana einen Umgang mit ihrer Fremdheit. Schon bald merkt sie, dass Sprache viel mehr bedeutet als einzelne Begriffe oder Sätze. Und dass sie mit ihren Gedichten andere im Innersten erreichen kann.

Dieser berührende Roman erzählt davon, wie man in der Fremde eine eigene Stimme finden kann


»Ich möchte dieses Buch allen Wörtersammlern und -sammlerinnen ans Herz legen und all denen, die das Spiel mir der Sprache lieben.« Andrea Wedan, Buchkultur, 12.2021

»Es ist ein stiller, aber eindringlicher Roman über Fremdsein, Nähe und Verstehen.« Rita Dell'Agnese, Jugendbuch-Couch, 01.2022


  • Erscheinungstag: 21.09.2021
  • Seitenanzahl: 272
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800712

Leseprobe

Für alle, die schon einmal nach Worten gerungen haben:

Ich verstehe euch.

DEINE GESAMTE ZUKUNFT HÄNGT DAVON AB, DAS HIER ZU VERSTEHEN:

Primero, lee todas las instrucciones. No te olvides de llegar hasta el final.

(Si crees que final es una palabra que entiendes, algún tipo de pista, estás equivocada.)

Las instrucciones son así: Escucha a todos, aprende todo, mantente al día, no extrañes nada. Y hazlo todo en un idioma que no entiendes.

¿Sí?

Okay, dann legen wir los.

DER ERSTE TAG

Ich streiche meinen Rock glatt, lasse einen Finger über den grau karierten Bezug des Beifahrersitzes wandern. Meine Zehen in den Stiefeln sind eisig, obwohl es draußen gar nicht kalt ist. Als ich mich heute Morgen fertig gemacht habe, war ich nicht nervös. Aber jetzt fühlt sich alles so endgültig an. Das ist das Outfit. Das ist der Tag. Ich bin die, die hier sitzt, nicht irgendein fernes Zukunfts-Ich.

Mein Vater mustert mich und reicht mir eine Schachtel Tic Tacs. Seine linke Hand liegt auf dem Lenkrad, als müsste er sich festhalten. Tic Tacs. Unser altes Ritual vor der Schule. Falls es mal einen Grund hatte, habe ich ihn vergessen. Es sollte mich nicht überraschen, dass es hier Tic Tacs gibt, aber das tut es. Ihr Klappern klingt, als käme es von weit her. Ich schiebe mir eins in den Mund und reiche die Packung zurück.

Alles ist komisch, seit meine Mutter und ich vor zwei Wochen hier angekommen sind. In diesem neuen Land. In unserem neuen Zuhause in New Jersey, auf der 85th Street einer kleinen Stadt, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie später mal eine Farm oder eine Einkaufsmeile werden will. Die Landschaft ist grün und aufdringlich, selbstbewusst, nicht wie die raue Pampa zu Hause in Argentinien. Meine Mutter hat einen spanischsprachigen Radiosender gefunden, aber es ist ein anderes Spanisch als unseres. Kassiererinnen und Kassierer haben es immer schrecklich eilig, als würden sie pro Kunde bezahlt. Und noch etwas ist seltsam: Wir fahren überall mit dem Auto hin, bewegen uns von Blase zu Blase – von unserer schäbigen Wohnung zum Auto, zum Laden und wieder zurück. Und jetzt zu dieser Schule.

Ich betrachte die unsympathische Klinkerfront. Mein Vater beobachtet mich.

»Alles wird gut, Ana«, sagt er auf Englisch. Er besteht darauf, dass wir alle nur Englisch sprechen, damit wir es schneller lernen. »Du musst nur die erste Tag hinter dich bringen.«

Das stimmt nicht, und das weiß er genau. Heute ist der erste von unzähligen Tagen.

»Sicher will jeder erfahren, wer die Neue ist.«

Noch immer schaue ich ihn nicht an.

»Das hier ist unser neues Abenteuer«, fügt er in einem Ton hinzu, der um meine Zustimmung bettelt.

Endlich erwidere ich seinen Blick. Dieser neue Vater ist irritierend – drei Jahre älter als der, mit dem ich zuletzt zusammengelebt habe. Sein Gesicht ist runder. Das tapfere Heer am Haaransatz hat Boden an das Kahlschlag-Kommando verloren. Wir haben ständig geskypt, als Ma und ich noch zu Hause in Argentinien waren, aber in echt ist es anders. In echt ist alles anders.

Plötzlich würde ich am liebsten losheulen. Ich habe nicht um dieses Abenteuer gebeten. Doch kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Ich schließe die Augen und denke an meine Cousinen und Cousins zurück, die mich alle beneiden. Und ich weiß, ich sollte mich glücklich schätzen.

Aber heute fühlt sich kein bisschen nach Glück an.

Los números

19.000.000: Die Anzahl der Menschen, die sich jedes Jahr für die Greencard-Lotterie der USA bewerben.

Unter 1 %: Immigrantinnen und Immigranten, die tatsächlich eine Greencard bekommen.

17: Male, die mein Vater sein Glück versucht hat, um Papiere für die Vereinigten Staaten zu gewinnen.

3: Jahre, die er hier allein gelebt hat, bevor er meine Mutter und mich nachgeholt hat.

4: Jahre nutzloser Englischunterricht.

14: Freunde, die ich zurückgelassen habe. Echte, beste Lachen-bis-dir-der-Bauch-wehtut-Freunde.

52: Stufen bis zu dem kleinen, stickigen Schuhkarton hoch, in dem wir jetzt wohnen.

57.600: Male, die ich mich schon nach Hause zurückgewünscht habe.

231.100: Wörter, die ich in der englischen Sprache nicht kenne. (So viele gibt es zumindest laut dem Oxford English Dictionary. Von den 47.100 veralteten Wörtern ganz zu schweigen.)

Ich weiß, ich sollte mich glücklich schätzen. Ich weiß, andere träumen davon, nach Amerika zu kommen. Ich weiß, andere würden ihr Leben geben, um nach Amerika zu kommen. Ich weiß, andere geben ihr Leben, um nach Amerika zu kommen.

Aber manchmal schätze ich mich überhaupt nicht glücklich.

X + Y = MEIN SCHLIMMSTER ALBTRAUM

Die Schule riecht anders hier. Zu Hause in Argentinien hatte sie einen süßlichen Duft, fast wie die heiße Milch mit Honig, die meine Mutter mir immer gemacht hat, wenn ich krank war. Hier riecht sie so wie alles: fremd. Nach Bleichmittel und Radiergummi.

In meinem dritten Highschooljahr sollte ich eigentlich das Mädchen sein, das als Auszeichnung für besonders gute Leistungen bei feierlichen Anlässen unsere blau-weiße Flagge trägt. Diejenige, die sich ein bisschen mehr erlauben kann als letztes Jahr, weil die Lehrerinnen und Lehrer an meiner kleinen Schule mich seit der Vorschulklasse kennen, seit ich die ersten Milchzähne verloren habe. All das ist jetzt ausgelöscht. Dafür ist da ein neues Gefühl, von gelockerten Krawatten, gesprungenen Gebotstafeln. Ich bin im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

In der ersten Stunde habe ich Mathe. Das Klassenzimmer: zu viele Poster, wie ein mit Zeitschriftenseiten ausgekleideter Schuhkarton. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler: Arm in Arm und lachend, obwohl die Lehrerin spricht. Die Lehrerin: nervös und ganz in Schwarz gekleidet, unmöglich zu verstehen.

Noch so eine Sache: Ich bin eindeutig zu schick angezogen mit meinem engen schwarzen Rock, der schwarzen Strumpfhose und dem roten Bolerojäckchen. Zu Hause in Argentinien wäre dieses Outfit quasi Standard. Aber hier tragen die Mädchen Leggings und Sweatshirts in Übergröße, unordentliche Dutts hoch auf dem Kopf, kaum einen Hauch Make-up auf dem Gesicht. Ein Mädchen hat sogar eine karierte Schlafanzughose an. Plötzlich schäme ich mich für die Extrazeit, die ich mir genommen habe, um meine braunen Haare sorgfältig einzudrehen und hochzustecken, damit sie nicht einfach nur über meinen Rücken hängen wie sonst immer, nicht ganz glatt, aber auch nicht wirklich lockig. Diese Frisur wäre selbst zu Hause in Argentinien eher was für eine Party als für die Schule, aber heute Morgen erschien es mir irgendwie wie eine gute Idee, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Jetzt sehe ich aus wie die Einzige, die auf ihre Eltern gehört und sich aufgedonnert hat. Als würde ich mich viel zu sehr bemühen.

Aber es gibt auch etwas Positives. Links neben mir sitzt ein süßer Typ. Ich bin richtig erleichtert über diesen stinknormalen Gedanken: Der Typ ist süß. Ich betrachte ihn aus dem Augenwinkel. Er trägt ein weinrotes T-Shirt mit einem altmodischen Taucherhelm darauf. Seine Haare sind gekämmt, stehen aber im Nacken leicht ab, als wäre sein letzter Friseurbesuch schon eine Woche zu lang her. Er sieht genauso aus, wie ich mir amerikanische Jungs vorgestellt habe: attraktiv wie in einer Netflix-Serie, mit markanten Wangenknochen und vollen, schönen Lippen, fast perfekter Haut, bis auf ein paar Mitesser an der Schläfe, und gerade genug Bartschatten, um aller Welt zu zeigen, dass er sich zwar heute Morgen nicht rasiert hat, aber sich schon rasieren muss. Zurückgelehnt spielt er mit einem Stift – er hat lange, schlanke Finger – und wirkt entspannt, fast gelangweilt, als wäre die Welt exakt so, wie er es erwartet. Das ist mir auch schon bei anderen in meiner neuen Heimatstadt aufgefallen. Viele Amerikanerinnen und Amerikaner machen den Eindruck, ein Leben ohne schlechte Neuigkeiten und böse Überraschungen zu führen.

»Ana?« Die Lehrerin wirft ihren Haarvorhang zurück und blickt auf eine Liste.

Ich schaue mich um. Könnte es mehr als eine geben?

»###### ##### ####### ########?«, fragt sie und sieht mich an. Sie will irgendetwas von mir.

Mein Herz klopft schneller. »#########«, versucht sie es erneut, aber für meine Ohren könnte das alles heißen. Zu Hause in Argentinien hatte ich vier Jahre Englisch. Ich habe unzählige amerikanische Filme und Fernsehserien mit Untertiteln geschaut. Das war einer der Gründe, warum ich keine Angst vor dem Umzug hatte: Ich kannte diesen Ort schon. Dachte ich zumindest. Aber hier sprechen alle so schnell, dass die Sprache völlig unverständlich wird. Die Lehrerin hat eben eine Gleichung an das Whiteboard geschrieben. Soll ich sie lösen? Ich verenge die Augen und spähe nach vorn. Ich wüsste, wie es geht.

Meine Beine fühlen sich an wie vom Wind umtoste Bäume, trotzdem stehe ich auf und laufe los. In meinem Rücken spüre ich Blicke und höre Gekicher. Ein Mädchen sagt zu einem anderen: »Zieh dir das rein!« Sie meint mich. Ich bin dieses »das«. Wahrscheinlich sollte es mich trösten, dass ich zumindest diese Bemerkung verstanden habe.

Neben der Lehrerin halte ich an und warte darauf, dass sie mir den Marker reicht. Die schlecht gefärbten Haare verdecken ihr halbes Gesicht. Sie sieht mich verwirrt an. Unterdrücktes Lachen sprudelt kohlensäuregleich in immer mehr Teilen des Klassenzimmers hoch, also schnappe ich mir schnell selbst einen Marker und fange an zu rechnen. Zwei Typen in der letzten Reihe prusten laut los, der eine schlägt dem anderen mit dem Handrücken gegen die Brust. Die Lehrerin schweigt noch immer.

Panisch durchforste ich mein Gehirn nach den passenden Worten, aber alles, was ich herausbringe, ist: »Ich … machen … Mathe?«

Der gesamte Raum bricht in schallendes Gelächter aus.

Erkenntnis huscht über das Gesicht der Lehrerin, und ihre Verwirrung verwandelt sich in Mitleid.

»Oh nein, Liebes«, sagt sie. »### ######### ###### #### ### #### ####.« Noch mehr Wörter, die ich nicht verstehe. Schließlich nimmt sie ein Buch von ihrem Pult und fragt langsam und überdeutlich: »Hast … du … Buch?«

Oh.

Mein.

Gott.

Sie hat mich bloß gefragt, ob ich ein Buch habe, nicht an die Tafel gebeten, um etwas vorzurechnen. Ich balle die Faust und wische mit der Handkante weg, was ich geschrieben habe. Mehr Gelächter. Mein Herz verwandelt sich in Glibber und rutscht mir in die Strumpfhose. Bitte lass mich zerfließen und im Boden versickern. Möglichst unauffällig.

Die Lehrerin wendet sich an die Klasse und sagt etwas, das nach einer Zurechtweisung klingt, aber es wird übertönt vom flussartigen Rauschen in meinen Ohren. Ich nehme ihr das Buch aus der Hand und steuere zurück zu meinem Platz.

Tief durchatmen. Nicht weinen. Weinen würde alles noch so viel schlimmer machen. Doch die Scham überrollt mich in Wellen und droht, mich zu abgrundtiefen Schluchzern hinunterzuzerren.

Nichtweinennichtweinen.

Die Lehrerin redet, aber ich höre sie nicht, nur das Rauschen in meinen Ohren. Dann setzt sie sich. Das Pult wirkt zu groß für sie. Sie hat eine Seitenzahl an das Whiteboard geschrieben, dazu 1-7. Die anderen beugen sich über ihre Ordner und Hefte. Offenbar sollen wir die Aufgaben bearbeiten. Ich begegne versehentlich dem Blick des Jungen neben mir – der mit dem dunkelroten Taucherhelm-T-Shirt. Er lächelt mich an.

Aber ich will immer noch, dass der Boden sich auftut und meinen Tisch und mich in eine andere Dimension saugt, also wende ich mich schnell ab.

Ich packe meine Sachen in meinen Rucksack. Das Buch ist riesig. Ich stopfe es hinein und ziehe den Reißverschluss zu, ehe ich wieder nach vorn zum Pult der Lehrerin gehe. Die Tränen lauern dicht unter der Oberfläche. Sie schaut auf.

»Toilette?«, frage ich.

Zum Glück ist dieses Wort allein ein ganzer Satz.

Ich bin

»Ich bin« ist einer der kürzesten Sätze, die ich in dieser neuen Sprache kenne.

»Soy« und »estoy« mezclados, als gäbe es hier nur eine, ganz dauerhafte Art des Seins.

Ich bin Ana.

Ich bin Argentinierin.

Ich habe sechzehn Jahre.

Ich bin sechzehn Jahre alt.

Ich bin an diesem Ort, ein »soy«-Sein, kein »estoy«-Sein.

»Estoy« hält dir einen Ausweg offen. »Ich bin« lässt alles klingen, als wäre es Teil deiner Identität. Nichts, was vorübergehen kann.

Ich bin Dichterin.

Ich bin Dichterin ohne Worte.

Ich bin.

Ich bin.

Ich bin.

DER TROLL UNTER DER BRÜCKE

In der nächsten Stunde habe ich EaZ, Englisch als Zweitsprache. Erleichtert laufe ich zum Klassenzimmer. Ich kann es kaum erwarten, andere Leute zu treffen, die Spanisch sprechen, mich mit einer Lehrerin oder einem Lehrer auf Spanisch zu unterhalten.

Hauptsache Spanisch.

Die Stühle stehen in einem großen Kreis, die Tische sind an die Wände gerückt. Das Zimmer füllt sich schnell, und ich bin überrascht, wie vielfältig die Gruppe ist. Draußen auf dem Flur schwimmt man in einem Meer aus weißen Gesichtern, aber hier drin gibt es die ganze Bandbreite an Hautfarben und Identitäten. Ein Junge trägt einen Turban, ein Schwarzes Mädchen lange Braids, zwei Mädchen könnten aus Ostasien stammen und ein Junge mit großen braunen Augen aus einer ganzen Reihe von Ländern. Da draußen komme ich mir immer vor, als würde mich eine Fremdheit umwehen, als könnten alle irgendwie spüren, dass ich nicht von hier bin. Vielleicht liegt es an meinen Klamotten oder meiner Frisur, an irgendeiner namenlosen Sache, die ich fühlen, aber nicht verändern kann. Hier drin trifft das auf alle zu. Und wahrscheinlich ist es für einige noch viel schwerer als für mich.

Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Sprechen die alle Spanisch?

Ein weißer Junge mit Surferfrisur stellt sich vors Whiteboard. Er trägt halbhohe rote Sneaker, Jeans und ein T-Shirt mit dem Schriftzug The Clash unter einem offenen Hemd. Mit der Radiergummiseite seines Bleistifts klopft er gegen seine Hose, während er zusieht, wie alle nach und nach eintrudeln. Warum steht er da vorne? Als es zum zweiten Mal klingelt, räuspert er sich.

»Ich bin Mr. T«, sagt er. Ach, er ist der Lehrer? »Und falls ihr euch gewundert habt: Ja, ich bin der Lehrer.« Er spricht sehr langsam. »Nicht der Mr. T. ###### #####? ############?«

Ich schaue mich um. Alle wirken genauso verwirrt wie ich.

»Wir haben hier acht Leute mit fast ebenso vielen Muttersprachen. ############### ### ### ######### ########, unser kleiner, aber feiner neuer EaZ-Kurs, was?« Er lacht. Sonst lacht niemand. Und allmählich dämmert es mir: Wenn wir unterschiedliche Muttersprachen haben und in einem Kurs sind, bedeutet das … EaZ ist nicht auf Spanisch. Hier werde ich also nicht nur den Lehrer nicht verstehen, sondern muss auch noch mehrere Sprachen lernen, um mich mit meinen Klassenkameraden zu verständigen.

Oder wir müssen halt alle diese eine Sprache lernen, was mir im Moment ähnlich unmöglich vorkommt.

Mr. T lässt den Blick durch die Runde wandern. »Okay, Leute, ####### ####### #########. Wer versteht mich?«

Ich hebe zögerlich die Hand, weil er nicht allzu schnell redet und ich mit meinem Fernsehserien-und-Songtexte-und-ziemlich-nutzloser-Englischunterricht-Englisch immerhin die Hälfte von dem mitbekomme, was er sagt. Drei andere tun es mir nach. Der Rest beobachtet uns mit einem vertrauten Ausdruck der Panik auf dem Gesicht und hebt dann ebenfalls die Hand.

»Okay, gut, gut. Das ist mein erstes Jahr hier. ########## ####### #########«, sagt Mr. T lächelnd. »Unser Kursbuch.« Er hält ein blaues Buch hoch. Auf dem Cover sind ein paar Cartoon-Menschen, die sich die Hände schütteln. Anschließend deutet er auf den Stapel auf seinem Pult und bittet uns, jeweils eins zu nehmen.

Er lässt uns Seite fünf aufschlagen und erzählt irgendetwas, dem ich nicht folgen kann. Die Enttäuschung darüber, dass EaZ nicht auf Spanisch ist, sitzt mir auf der Brust wie ein Troll, die Art von Troll, die unter Brücken hockt und Zoll verlangt, damit man auf die andere Seite darf. Das ist Englisch für mich – ein Troll, der mich nichts tun lässt, bevor ich nicht einen Preis bezahle, den ich nicht aufbringen kann.

Die nächsten dreißig Minuten vergehen wie im Nebel. Als die Stunde fast vorbei ist, verteilt Mr. T Notizbücher. Mir reicht er eins mit einem verschlungenen roten Muster auf der Vorderseite. Ich klappe es auf, und eine leere Seite starrt mir entgegen.

»Das sind Tagebücher. ### ####### ##########. Schreibt! Schreibt auf Englisch. Dinge, die euch auffallen, Gedanken, Gedichte, #############, Rezepte, Fragen, völlig egal. Alles. Aber ausschließlich Englisch. Wenn ihr nur ein Wort kennt, dann schreibt dieses Wort. Und schlagt nach, was ihr nicht versteht.« Er wedelt mit seinem Handy. »Wenn ihr kein Handy habt, ############ ein Wörterbuch. Das ist wie eine App, aber auf Papier.« Er lacht über seinen eigenen Witz. »Manchmal bekommt ihr auch Schreibaufgaben, die ihr abgeben müsst.«

Es klingelt. Zumindest das verstehen wir alle. Die ganze Klasse springt auf und strömt zur Tür. Wann ist dieser endlose erste Tag bloß vorbei?

»Englischtagebücher! Benutzt sie!«, ruft Mr. T uns noch nach, aber wir sind längst weg.

PUDDING AN DIE WAND NAGELN

Es gibt auch Dinge, die sich nicht geändert haben: Meine Mutter macht weiterhin lentejas, die ich hasse, und chuletas, die ich liebe. Sie lebt jetzt vielleicht auf der anderen Erdhalbkugel, kocht aber dasselbe.

»Bernardo, no me digas que no vas a comer más«, rügt sie meinen Vater gerade. Sie möchte immer, dass alle mehr essen.

»Englisch bitte, Gisela.«

Meine Mutter runzelt die Stirn. Ich finde es total lächerlich, dass er ihr vorschreiben will, welche Sprache sie in ihren eigenen vier Wänden sprechen darf. Aber ich verziehe keine Miene, weil mein Vater mir so weit weg vorkommt, als würde man jemanden am anderen Ende der Straße entdecken und sich fragen, ob er wirklich der ist, für den man ihn hält. Er nervt mich, wie er es früher nie getan hat, irgendwie wirkt er plötzlich härter, spröder. Allerdings haben wir nicht mehr zusammengewohnt, seit ich dreizehn war. Ich habe mich auch verändert.

»Tut mir leid«, sagt meine Mutter und rollt dabei das R, obwohl man das hier nicht macht. »Ist schwär.« Sie hat zu Hause in Argentinien einen Englischkurs besucht, sobald klar war, dass wir herziehen würden. Jeden Dienstagabend ist sie mit dem Bus zur Nachbarin einer Tante gefahren, die zwar selbst Argentinierin war, aber in Cleveland studiert hatte und im Austausch für Näharbeiten und Haushaltskram Privatunterricht gab. Sie war alt, und ihr Lächeln erreichte die Augen nicht. Meine Mutter schien nicht gern zu ihr zu fahren, trotzdem tat sie es, jede Woche, ohne Ausnahme. Vielleicht begreift mein Vater deswegen nicht, wie erstickend es ist, hier nur Englisch zu sprechen: Er denkt, dass wir zu Hause in Argentinien genug gelernt hätten. Oder hätten lernen sollen.

»Es ist schwer, ja, aber so ist besser«, sagt er. Er hat leicht reden, bei drei Jahren Vorsprung. Als wir die Greencards bekommen haben, ist er vorausgeflogen, hat sich einen Job als Fahrer gesucht und gespart, während wir zu Hause in Argentinien alles geregelt haben. Wir sind zu meiner abuela gezogen, haben unser Häuschen verkauft und ihm das Geld geschickt, damit er sich ein eigenes Auto leisten und mehr verdienen konnte. Er ist also seit drei Jahren hier und übt. Für ihn fühlt sich Englischsprechen nicht an, als würde man ihn in Eiswasser tauchen. Und wenn es mal so war, dann hat er es vergessen.

Im ersten Monat nach seiner Abreise waren die Nächte gähnend leer. Die Nachbarn klappten die Kragen hoch, sobald sie uns sahen, als würden sie sich gegen eine steife Brise wappnen, und behandelten uns wie Luft. »Ahí van las americanas«, murmelte die alte Doña Dominga einmal, als sie dachte, ich würde es nicht mitbekommen. Da gehen sie, die Amerikanerinnen. Vielleicht wollte sie aber auch, dass wir es hören.

In jenem ersten Monat rief mein Vater uns jeden Abend per Videocall an. Wir lebten in ähnlichen Zeitzonen, aber in unterschiedlichen Jahreszeiten. Er hatte Pulli und Schal an, ich Shorts. Später, als es Zeit wurde für Handschuhe und den brasero, trug er ein Hawaiihemd, das er zu Hause in Argentinien nicht einmal für Geld angezogen hätte.

»Von eine Kirche«, meinte er und strich verlegen über den Stoff.

Wir entwickelten eine Art Ritual. Er beschloss, dass wir nur noch Englisch miteinander sprechen sollten, um mich auf den bevorstehenden Umzug vorzubereiten.

»Pero, Papi …«, fing ich an.

»Englisch!«, unterbrach er mich.

»Ich haben doch schon Englischkurs.«

»Es heißt ›ich habe‹, also … noch Arbeit für dich. Bereit für Frage eins?«

Das wurde unser Standardprogramm. Drei Fragen, die ich auf Englisch beantworten musste, und zwar immer anders als am Tag zuvor.

»Ja.«

»Was hast du gelernt heute in der dritten Stunde?«

Die dritte war eine Freistunde gewesen, aber das wollte ich ihm nicht erklären. Ich wollte ihm eine Antwort geben, die ihn zufriedenstellte. »Ich habe Gedicht geschrieben.«

»Über was?«

»Ist Frage zwei!«

»Nein, Folgefrage zu Nummer eins.« Er lachte.

»Über Wasser. So kalt, dass es wärmt die Knochen.«

»El Río Mendoza«, sagte er.

»Ja.« Ich versuchte, die Fältchen rund um seine Augen zu deuten. War das etwa Traurigkeit?

»Frage zwei«, fuhr er fort. »Was für einen interessanten Gedanken hattest du heute?«

Ich wusste, dass es ihm dabei um Zeitgeschehen ging, um Geschichte oder irgendetwas anderes, das ihm zeigte, dass ich die Welt mit wachen Augen wahrnahm. »Ich mich frage, wenn Frankreich hat König, wer … heute.«

»Frankreich hat keine Könige mehr.«

»Nein …« Die Worte entflogen mir wie schreckhafte Vögel. »Wenn Frankreich heute noch hätte die Könige … die …«

»Monarchie?«

Dieses Wort hatte ich vor unserem Telefonat sogar nachgeschlagen, aber wieder vergessen. »Monarchie, ja. Wenn Frankreich heute noch hätte die Monarchie, wer wäre König?«

»Und hast du schon gefunden die Antwort?«

»Nein.«

»Dann tu das bis morgen. Frage drei: Was für einen Traum hast du, wenn ihr nach Amerika kommt?«

Zu dem Zeitpunkt hatte ich ihm schon zig Träume genannt, jeden Tag einen anderen. Ich wollte in einem gelben Taxi sitzen, einen Burger wie aus den Filmen essen, die viel größer und saftiger aussahen als hier in el centro, und auf das Empire State Building hinauffahren.

»Ich habe einen Traum, dass die Wörter strömen«, sagte ich.

Ich wartete auf die übliche Predigt, die er mir ungefähr zweimal die Woche hielt, dass ich mehr lernen sollte, üben, üben und nochmals üben. Aber an jenem Abend zog er nur den Kopf ein, als fürchtete er Schläge, und brummte, dass er am nächsten Tag früh rausmüsse.

Im Laufe der Zeit kamen seine Anrufe seltener, nur noch alle paar Tage, einmal die Woche. Zuerst war ich traurig. Dann füllte sich das Leben wieder. Und die Traurigkeit verging.

Als ich ihn schließlich in der Ankunftshalle des Flughafens stehen sah, machte sein Anblick mich befangen.

Ich kannte diesen Mann, meinen Vater, und gleichzeitig war er mir fremd.

Er kannte mich. Und gleichzeitig war ich ihm fremd. Dieses Gefühl bin ich nicht mehr losgeworden, seit wir hier sind.

Meine Mutter reicht mir noch einmal die lentejas. Sie tut so, als bekäme sie für jeden gegessenen Löffel Geld. Ich schüttle den Kopf.

»Wie läuft Mathe?«, hakt mein Vater nach. Gereizt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Er fügt hinzu: »Ein guter Job ist wichtig. Hast du nach Technikunterricht gefragt?«

Ich starre ihn an. Am liebsten würde ich ihm alles entgegenschleudern, was ich noch lernen muss, bevor ich auch nur daran denken kann zu fragen, welche Kurse es gibt. Aber mir fehlen die Worte. Frust wallt in mir auf.

Meine Mutter, das ultimative Stimmungsbarometer, greift ein. »Ich machen Pudding«, sagt sie. Sie meint, dass sie Pudding gemacht hat. Und dass ich keinen kriege, wenn ich nicht noch was von diesen fiesen braunen Linsen esse. Und dass mein Vater einen Gang zurückschalten soll. Sie meint immer mehr, als sie sagt, egal in welcher Sprache.

Ich rümpfe die Nase und nehme noch einen Löffel.

»Die Amerikaner haben ein Sprichwort«, erwidert mein Vater. »Mit Pudding. Pudding an die Wand nageln.«

»Das hat keine Sinn«, grummle ich, wütend auf die Linsen, wütend, dass ich über Englisch reden soll, und das auch noch auf Englisch. »Pudding ist viel zu weich für irgendwohin zu nageln.«

Er zuckt mit den Schultern und schaufelt sich mehr lentejas in den Mund. »Amerikaner«, bemerkt er, nachdem er sie schnell runtergeschluckt hat. »Die denken, sie können alles.«

DAS EIS BRECHEN

Mein zweiter Schultag läuft nur geringfügig besser als der erste. Ich weiß, wo mein Schließfach ist, und ich weiß definitiv, dass ich in Mathe unter keinen Umständen nach vorn an die Tafel gehe. Wie ich zu meinen Kursen komme, weiß ich einigermaßen.

Ich schiebe mich gerade auf meinen Stuhl in EaZ, als Mr. T den Unterricht mit der Frage eröffnet: »Okay, wer von euch fand die Stunde gestern langweilig?«

Eins der Mädchen trägt eine rührend adrette Strickjacke. Ob ich wohl auch so aussehe, als wollte ich unbedingt gefallen? Ein anderes Mädchen in Jeans und Kopftuch starrt auf seinen Tisch. Ein Junge mit wirren braunen Haaren lehnt sich zurück.

Das ist eindeutig eine Fangfrage. Auch die anderen haben Mr. T durchschaut, denn niemand hebt die Hand.

»Na schön. ########## ### ###### #### Eisbrechern.«

Eisbrechern? Das habe ich bestimmt falsch verstanden. Hier ist nirgendwo auch nur die geringste Spur von Eis. Und überhaupt wüsste ich nicht, warum wir es brechen sollten. Mir schießt ein verrücktes Bild durch den Kopf, wie Mr. T einen riesigen Eisblock hereinschleppt und uns alle mit Stöcken darauf einschlagen lässt, als wäre es eine piñata, bis überall auf dem Boden kalte Splitter verteilt liegen. Das würde mir tatsächlich gefallen.

Offenbar spürt er die allgemeine Verunsicherung, denn er fügt hinzu: »Eisbrecher! Übungen, um ########### ############. Um uns besser kennenzulernen. Die hier heißt ›Die bewegte #########‹.« Er hält ein Blatt Papier hoch. Eine Anleitung aus dem Internet, die er sich ausgedruckt hat. »Erst einmal teilen wir uns in vier Gruppen auf, nach den ################# unserer Vornamen. A bis G hierhin. Los geht’s!«

Niemand bewegt sich. Wir schauen einander an, suchen nach Hinweisen.

»Du.« Mr. T deutet auf einen Jungen mit pechschwarzen Haaren, eisblauen Augen und drahtigem Körper. Verrate uns mal deinen Namen. »Wie heißt du?«

»Neophytos«, antwortet der Junge. Ich weiß, wie man den Namen schreibt, weil er auf dem Notizbuch auf seinem Tisch steht und ich ihn von hier aus erspähen kann. Neophytos trägt sein Hemd ordentlich in die Stoffhose gesteckt. Er ist genauso overdressed wie ich. »Neo«, ergänzt er knapper.

»Neo, okay, super. Dann bist du noch nicht dran. Du?«, fragt er den Jungen mit dem Turban neben Neo. Er hat echt schöne braune Augen und die coolste Handyhülle überhaupt. Sie sieht aus wie ein altmodischer Kassettenspieler.

»Bhagatveer«, antwortet er.

»Sehr gut, mit B, oder?« Der Junge nickt. »Hier rüber. Sagst du mir noch einmal, wie man den Namen ausspricht?«

»Bhagatveer«, murmelt der Junge.

Mr. T wiederholt es lächelnd. Anschließend zeigt er auf mich. »Und du?«

»Ana.«

Er wirkt sichtlich erleichtert, dass mein Name so kurz ist. »Ana. Zu den Bs.« Ich stelle mich zu Bhagatveer.

Mr. T geht den Rest der Leute durch, bis wir in vier Grüppchen zusammenstehen.

»Wunderbar. Seht ihr? Das ist schon mal eine Sache, die wir gemeinsam haben. Jetzt kommen alle zu mir, die etwas Blaues anhaben.«

Wir spielen mehrere Versionen davon durch, Farben, die wir tragen, ob wir lieber schwimmen oder Fahrrad fahren. Immer bilden sich andere Konstellationen. Ich schätze mal, das soll uns zeigen, dass uns mit jedem etwas verbindet.

»Die Jahreszeit, in der ihr Geburtstag habt. Frühling, Sommer, Herbst, Winter.« Er deutet auf vier unterschiedliche Bereiche des Zimmers.

»In welche Land?«, frage ich.

Er schaut mich verwirrt an. »Wann hast du Geburtstag, Ana?«

»Juli«, antworte ich.

»Okay, also Sommer. Da rüber.«

Ich pike mir mit dem Zeigefinger in die Brust. »In meine Land, Juli ist Winter.«

Langsam geht ihm ein Licht auf. »Hm? Ach ja, stimmt. Südhalbkugel. Gut, dann Winter.« Er deutet zum Jungen mit den schwarzen Haaren und eisblauen Augen. Neo.

»Schön, schön. Sieht aus, als wären wir ziemlich ########### ########. Was super ist, weil wir für die nächste Übung Zweiergruppen brauchen. Ihr stellt eurem Partner Fragen und findet etwas Interessantes über sie oder ihn heraus, das ihr anschließend mit dem Rest von uns teilen könnt. Alles klar?«

Ich starre den Jungen an. Unsere Wintergeburtstage haben uns zusammengewürfelt, was irgendwie unfair wirkt, immerhin haben wir in völlig unterschiedlichen Wintern Geburtstag. Glaube ich zumindest. Der Junge starrt zurück. Sein Blick ist wach, und er hat eine Sturmfrisur, wie jemand, der viel Zeit im Freien verbringt. Seine Haut ist sonnengebräunt, und seine markanten Augenbrauen geben bestimmt jede seiner Gefühlsregungen preis. Ich weiß nicht einmal, welche Sprache er spricht oder ob er überhaupt ein Wort Englisch kann. Nicht, dass ich so viel mehr könnte.

»Hi«, versuche ich es.

»Hallo«, antwortet er mit starkem Akzent.

Ich sage ihm, wo ich herkomme. »Und du?« Er zuckt die Schultern, und ich frage mich, ob er die Aufgabenstellung verstanden hat.

Ich hole mein Handy raus und öffne eine Weltkarte.

Dann deute ich auf ihn. »Deine Land?«, frage ich und reiche ihm das Handy.

»Ki-prosch«, sagt er und zeigt dabei auf seine Brust. Das hilft kein bisschen weiter. Er versucht ranzuzoomen, aber die Karte lässt sich nicht so weit vergrößern, wie er es gern hätte. Am Ende deutet er einfach irgendwo aufs Mittelmeer und runzelt die verräterischen Augenbrauen, was meinen Verdacht von eben bestätigt. Er gibt mir mein Handy zurück, holt sein eigenes raus und googelt.

Schließlich zeigt er mir sein Display. Dort ist eine Insel in der Form eines Lammkoteletts abgebildet. Zypern steht darauf.

»Sprichst du Griechisch?«, frage ich. Zu Hause in Argentinien haben wir Zypern in Erdkunde durchgenommen. Es liegt ganz im Osten des Mittelmeers, ist winzig und sieht aus, als würde es von Norden, Osten und Süden her von einem Maul aus Landmasse verschlungen. Ich erinnere mich noch, dass dort Griechisch gesprochen wird. Und Türkisch, glaube ich, auf einem Teil der Insel. Auf Spanisch heißt sie Chipre, was wie Vogeltschilpen klingt. Ich wünschte, ich könnte Neo das alles mitteilen. Um ihm zu sagen: Ich sehe dich. Ich weiß, dein Land ist klein, aber ich kenne es.

Er nickt als Antwort auf meine Frage. Ja zu Griechisch.

Ich schaue mich um. Die anderen Gruppen lachen, zeichnen Dinge füreinander. Im Vergleich dazu wirkt mein Partner, als würde ich ihn gegen seinen Willen verhören.

Ich warte auf eine Frage von ihm. Vergeblich. Das Schweigen zieht sich wie Kaugummi.

Irgendwann gebe ich auf. »Gut, ich erzähle dich von mir.« Ich denke an meinen Englischunterricht zu Hause in Argentinien zurück. »Ich schreibe Gedichte. Ich mag meine Familie und … Reisen.« Das ist nicht wirklich, was ich sagen wollte. Zumindest nicht alles. Ich mochte den Flug hierher, aber Reisen klingt, als hätte ich schon Erfahrung damit. Dabei ist es eigentlich ein Wunsch für die Zukunft. Ich will die ganze Welt sehen.

Noch mehr Schweigen. Er scannt mein Gesicht so gründlich wie ein Roboter. Erneut warte ich auf eine Frage von ihm. Vergeblich.

Schließlich versammelt der Lehrer uns wieder in der Mitte des Raums und lässt uns nacheinander berichten, was wir rausgefunden haben.

»Neo mag Autos«, lüge ich, nur um eine Reaktion von ihm zu provozieren. Vergeblich.

Mr. T nickt in Neos Richtung und sagt: »Super. Erinner mich dran, dir von meinem ersten Auto zu erzählen. ######################### #### Mustang. Ich bring dir Bilder mit. Und was hast du über deine Partnerin erfahren?«

Ist das ein Hauch Farbe auf seinen Wangen? Ein Funkeln in seinen Augen? »Ana mag die Fliegen«, sagt er.

Der Lehrer lacht, zusammen mit ein paar anderen, die offenbar verstehen, wie lächerlich diese Aussage ist. Ich drehe mich zu Neo und wünschte, ich hätte genug Worte, um ihn zu fragen, was zur Hölle das sollte. Er deutet ein verlegenes Lächeln an, sein allererstes bisher. Wie sich herausstellt, hat er ein Grübchen.

Mr. T erholt sich wieder. »Tja, jeder hat seine Vorlieben. Gut.« Er wendet sich dem nächsten Team zu.

Ich beuge mich zu Neo und flüstere: »Die Fliegen?«

Er streckt die Arme zur Seite wie Flügel. »Aeroplano.«

»Reisen? Flugzeug? Das ist nicht ›die Fliegen‹!«

»Tut mir leid«, sagt er, wirkt aber überhaupt nicht so. »Ich vergessen Wort.« Seine unwirklich blauen Augen scheinen mich anzulächeln.

Mr. T befragt die übrigen Grüppchen. Ich erfahre, dass Bhagatveer Eis mag und ein Mädchen namens Adira Videospiele. Schließlich bleiben nur noch zehn Minuten, bis die Stunde vorbei ist. »Okay …« Mr. T klatscht in die Hände. »Zeit für freies Schreiben. Ran an die Tagebücher.«