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Das Gesetz der Bronx

hier erhältlich:

Der Fall, der Jaywalker zu dem Anwalt machte, der er heute ist!

Ein nächtlicher Anruf reißt Anwalt Jaywalker aus dem Schlaf. Eine verzweifelte Mutter bittet ihn, ihrem Sohn zu helfen. Darren Kingston ist angeklagt, fünf Frauen aus Castle Hill, einem von der Stadt längst aufgegebenen Teil der Bronx, vergewaltigt zu haben.
Alle fünf Frauen identifizieren Darren bei der Gegenüberstellung, so dass es nach einem eindeutigen Fall aussieht. Aber nicht für Jaywalker. Obwohl er alle Hände voll zu tun hat, seine Kanzlei zum Laufen zu bringen, stürzt er sich mit all seiner Energie in die Verteidigung des Jungen. Denn er ist überzeugt, dass Darren unschuldig ist. Aber wird er es auch beweisen können?


  • Erscheinungstag: 10.02.2011
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862782284
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Mitten in der Nacht

Jaywalker träumt, als das Klingeln seines Telefons ihn aus dem Schlaf reißt. Irgendetwas von einer Wanderung in den kanadischen Rocky Mountains mit seiner Frau. Er weiß sofort, dass es ein Traum gewesen sein muss, denn seine Frau ist schon seit fast zehn Jahren tot, und mindestens doppelt so lange war er nicht mehr in den Rockies wandern.

Als er in der Dunkelheit nach dem Telefon tastet, gilt sein erster Gedanke seiner Tochter. Ist sie noch irgendwo im Auto unterwegs? Fährt mit irgendeinem pickligen Jüngling durch die Gegend, der seit zwei Wochen seinen Führerschein hat und denkt, Autofahren wäre so etwas wie ein Videospiel? Dann fällt es ihm ein: Seine Tochter ist schon Anfang dreißig, hat einen Ehemann ohne Hautprobleme, ein wundervolles Kind, einen guten Job und ein hübsches Haus in New Jersey.

„Hallo?“ Jaywalker hält den Atem an und rechnet mit dem Schlimmsten. 03:17 Uhr blinkt teilnahmslos der Radiowecker.

„Pete?“, kommt eine fremde Männerstimme vom anderen Ende der Leitung.

„Ich glaube“, antwortet Jaywalker bemüht ruhig, „Sie sind falsch verbunden. Wen wollten Sie …?“ Aufgelegt! Kein „Sorry“, kein „Uups, falsch verbunden“, nur: „KLICK!“ Dann kurzes Leitungsrauschen, gefolgt vom monotonen Besetztzeichen.

Jaywalker legt auf. Er rollt sich auf den Rücken und starrt an die Decke, während sein schneller Puls an die Schläfen pocht.

Erleichterung und Ärger rangeln kurz um sein Wachbewusstsein. Aber bald schon ist Jaywalker weit weg, abgetaucht in eine andere Zeit. Wieder liegt er im Bett, und in der Dunkelheit ist sein Haar jetzt braun, noch nicht ergraut, er hat weniger scharfe Konturen im Gesicht, dafür deutlicher definierte Muskeln am Körper. Seine Frau liegt eng an seinen Rücken geschmiegt neben ihm.

„Wer war das?“ Jaywalker spürt ihre gemurmelte Frage an seiner Schulter.

„Eine Mutter“, antwortet er nachdenklich. „Sie haben ihren Sohn gerade wegen Vergewaltigung festgenommen. Sieht schlecht aus.“

„Für die“, sagt Jaywalkers Frau. Sie ist jetzt wach. „Aber für uns ist es eine gute Nachricht!“

„Ja.“ Er ist noch keine dreißig und hat vor gut einem Jahr seinen Dienst bei Legal Aid, der Öffentlichen Rechtshilfe, quittiert. Jetzt steht er auf eigenen Füßen im Ring und kämpft täglich um die Existenz seiner Kanzlei. Und kämpfen ist hier das richtige Wort. Seine Frau hat recht: Was für den Verhafteten und seine Familie ein Schicksalsschlag ist, bedeutet Glück für ihn, den jungen Strafverteidiger und seine Familie. An dieses Paradox der Gerichtsbarkeit wird sich Jaywalker nie gewöhnen: dass er seinen Lebensunterhalt mit dem Leid anderer verdient.

Was der junge Jaywalker zu diesem Zeitpunkt nicht weiß und nicht einmal im Entferntesten ahnen kann, während er in die Dunkelheit starrt, ist, dass dieser Fall radikal anders ist und die entscheidende Weichenstellung für seine Karriere und sein weiteres Leben darstellen wird. Selbst wenn er hundert Jahre alt würde, wird keiner seiner künftigen Fälle ihn je wieder so aufwühlen. Bevor er mit dem Fall fertig ist – und der Fall mit ihm –, wird er ihn auf eine Weise verändert haben, die so tief greifend wie unvorstellbar ist. Er wird ihn verändern, prägen, auf ihn einhämmern und ihn zu dem Anwalt und Mann formen, der er heute, beinahe dreißig Jahre später, ist. Es ist mehr als nur der Fall, an den er jedes Mal denkt, wenn er nachts vom Telefon geweckt wird. Dies ist der Fall, den er bis ans Ende seiner Tage in Gedanken immer wieder durchspielen wird: hier einen Satz ändern, dort ein paar Worte dranhängen. Unablässig weiter an seinem Plädoyer feilen, Hunderte, ja Tausende Male neu taktieren. Und lange nachdem er alt und senil geworden ist und die Namen, Gesichter und Einzelheiten anderer Fälle vergessen haben wird – an diesen einen wird sich Jaywalker mit Sicherheit noch auf dem Sterbebett erinnern, so klar und lebhaft, als hätte er erst gestern begonnen.

2. KAPITEL

Ohne Zweifel

Dass Jaywalker morgens um 3:17 Uhr Mandate vor die Füße fallen, war zwar ungewöhnlich, aber nicht noch nie da gewesen. Dass ihn der Anruf auf seinem Privatanschluss erreichte, war noch viel weniger verwunderlich. Jaywalker hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Privatnummer großzügig zu verteilen. Das war eines von vielen Dingen, die ihn von seinen Kollegen unterschied, denen es nie im Leben eingefallen wäre, etwas zu tun, was ihrer Meinung nach einem Hausbesuch vom Arzt gleichkam. Das Auftauchen von Beepern, Pagern, Autotelefonen und Handys bestärkte Jaywalker, seiner Gewohnheit treu zu bleiben und seine Klienten ausdrücklich zu ermuntern, jederzeit auch zu Hause anzurufen, wann immer sie in Schwierigkeiten waren. So wie ganz offensichtlich Inez Kingston in jener Nacht im September 1979.

Damals wie heute hatte Jaywalker mit einem besorgten „Hallo?“ geantwortet, obwohl er wusste, dass seine Tochter sicher und geborgen ein Stockwerk über ihm im Bett lag und es noch mindestens zwölf oder dreizehn Jahre dauern würde, bis sie überhaupt in dem Alter wäre, um den Führerschein zu machen. Trotzdem lösten nächtliche Anrufe in ihm grundsätzlich und reflexhaft eine tiefe Beunruhigung aus.

„Mr. Jaywalker?“, meldete sich die Frauenstimme.

„Ja.“

„Inez Kingston hier. Sie haben meinen Sohn Darren Kingston letztes Jahr vertreten. Wissen Sie noch?“

„Ja“, erwiderte Jaywalker. „Ich erinnere mich.“ Der Name kam ihm bekannt vor, allerdings hätte er Mühe gehabt, ihn jetzt ohne Weiteres mit einem Gesicht zu verbinden, geschweige denn sich zu erinnern, wie die Anklage gelautet hatte und der Fall ausgegangen war.

„Diesmal steckt Darren ernsthaft in Schwierigkeiten“, sagte die Frau mehr als besorgt. „Er ist auf dem Revier. Sie behaupten, er hat eine Frau vergewaltigt. Aber mehr wollten sie mir nicht sagen.“

„Welches Revier?“

„Das dreiundvierzigste.“

Jaywalker kritzelte Inez’ Telefonnummer im Dunkeln auf einen Block, etwas, worin er mittlerweile Übung hatte, denn die brillanten Ideen, die ihm nachts zuflogen, hatten die weniger schöne Eigenschaft, mit dem Morgengrauen zu verblassen und bei Tageslicht unsichtbar zu werden. Auf Papier festgehalten verloren sie häufig ihren Charme, hatten dafür aber eine faire Chance, die Nacht zu überleben.

Er fand die Telefonnummer des 43. Polizeireviers. Anhand der Reviernummer wusste er, dass es irgendwo in der Bronx lag, allerdings nicht, wo genau. Neunzig Prozent seiner Klientel kam aus Manhattan, was er, um sich der Sportlersprache zu bedienen, als Heimspiele betrachtete. Allerdings brauchte man bei seiner momentanen Fallzahl keinen Taschenrechner, um „neun von zehn Fällen“ in diesen eindrucksvollen Prozentsatz umzurechnen.

Er rief im Revier an. Der Wachhabende in der Vermittlung stellte ihn zum Dauerdienst durch, wo ihm ein Detective bestätigte, dass sie tatsächlich einen Darren Kingston in Gewahrsam hatten. Er war wegen des Verdachts, fünf Frauen vergewaltigt zu haben, festgenommen worden und würde morgen dem Haftrichter vorgeführt. Nachdem Jaywalker sich bei dem Detective höflichst bedankt hatte, rief er Inez zurück. Er berichtete ihr kurz, was er herausgefunden hatte, und bot ihr an, sie am nächsten Morgen um neun Uhr im Gericht zu treffen. Sie solle sich nicht allzu viele Sorgen machen, sagte er noch, bevor er auflegte. Wie die meisten Menschen, die mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen werden, neigte auch Jaywalker dazu, sein Heil in bequemen Floskeln zu suchen.

Er brauchte ungefähr eine Stunde, eingehüllt in die wohlige Körperwärme seiner Frau, um irgendwann wieder einzuschlafen. Im Gegensatz zu einer verstörten Inez Kingston, da war er sich sicher.

Immerhin war Jaywalker in jenen Tagen schon stolzer Autobesitzer, besser gesagt, er fuhr einen alten VW Käfer, dessen Lackierung zu gleichen Teilen aus verblasstem blauem Lack und orangefarbenem Rost bestand. Die Trittbretter waren abgefallen, die Heizung war Vergangenheit, die Scheibenwischer bewegten sich entweder keinen Millimeter oder kratzten wie wild über die Windschutzscheibe, und die ringförmige Hupe tat es nur, wenn man mit viel Glück und Fingerspitzengefühl ihren G-Punkt erwischte.

Immerhin, es war ein fahrbarer Untersatz und unverzichtbar, wenn einen die hohen Mieten und die schlechten öffentlichen Schulen gezwungen hatten, in die Vorstadt zu fliehen. Sofern Bergenfield, New Jersey die Bezeichnung „Vorstadt“ verdiente. Genau genommen war es ein Wohnviertel für Handwerker und Arbeiter. Hier konnte Jaywalker den Rasen mähen, Laub fegen oder Schnee schippen, ohne Gefahr zu laufen, für einen Tagelöhner gehalten zu werden. Obwohl seine Frau Hoffnung auf Besseres hegte – fairerweise, ohne ihm damit in den Ohren zu liegen –, war er für den Augenblick damit zufrieden.

Auf der Fahrt Richtung Bronx am folgenden Morgen versuchte Jaywalker, sich an Darren Kingston zu erinnern. Er war einer seiner ersten Mandanten gewesen, nachdem er Legal Aid verlassen hatte. Darrens Mutter Inez arbeitete in einer Institution, die vor der Political-Correctness-Welle „Wohlfahrt“ genannt worden war, jetzt aber „Behörde für Soziale Dienste“ hieß. Eine von Inez’ Arbeitskolleginnen war Jaywalkers Schwägerin; sie war es auch, die Inez ermutigt hatte, Jaywalker anzurufen, als Darren zum ersten Mal in Schwierigkeiten geraten war. Zusammen mit zwei anderen jungen Schwarzen hatte er wegen Raubes an einem älteren Weißen vor Gericht gestanden. Auch wenn sich der Fall anfangs schlimm anhörte, stellte er sich bald als harmlos heraus. Einer der Mitangeklagten hatte für den alten Mann gejobbt und war mit ihm wegen ausstehender Bezahlungen aneinandergeraten. Zum Kassieren kreuzte er mit ein paar Kumpels auf – einer davon war sein Klappmesser. Weil Darren unbewaffnet war, im Grunde mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatte und zuvor noch nie ernsthaft in Schwierigkeiten geraten war, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt.

Diesmal, dachte Jaywalker, während er seinen Käfer um die Schlaglöcher, den Müll und die Glasscherben der South Bronx manövrierte, wird die Sache sicher nicht so glattlaufen.

Die Vorführung beim Haftrichter fand in einem düsteren, grauen Block Ecke 161. und Washington Avenue statt, ein paar Schritte entfernt von der stillgelegten U-Bahn-Trasse über der Third Avenue. Es war eines von zwei Gebäuden, die zusammen den Bronx Criminal Court bildeten. Gerüchte besagten, dass beide Gebäude seit den 1950er-Jahren als einsturzgefährdet galten, und tatsächlich wurden sie auch einige Jahre später zugunsten eines großen, modernen Neubaus nahe des Grand Concourse aufgegeben.

Damals war diese vor sich hin rottende Bruchbude für Heerscharen von Delinquenten die erste Erfahrung mit dem Gesicht der Gerechtigkeit in der Bronx. Die Böden waren fleckig und uneben. In den einst adrett gefliesten Wänden klafften jetzt bizarre Lücken aus Putz. Die Holzvertäfelungen waren in den Jahren ohne Anstrich ausgetrocknet und splitterig geworden. Die von Rissen durchzogenen Wände mit abblätternder Farbe zierten die üblichen Graffiti: AntiBullen, Anti-Weiß, Anti-Schwarz, Anti-Hispanic, Anti-Gay, Anti-Alles-Mögliche. Die Fahrstühle verweigerten abwechselnd ihren Dienst. Anstatt zu testen, welcher gerade funktionierte, nahm Jaywalker gleich die Treppe. Kurz bevor er das Treppenhaus betrat, holte er tief Luft, um dann nur noch durch den Mund zu atmen, während er so schnell er konnte die Stufen nahm – die einzige Chance, mit dem beißenden Ammoniakgestank alten Urins fertig zu werden.

Im zweiten Stock angekommen entdeckte er Inez Kingston und ihren Mann Marlin auf Anhieb. Inez war eine kleine, stämmige Frau, deren gewinnendes Lächeln und sanft klingender, karibischer Akzent die innere Anspannung und ihren chronisch hohen Blutdruck überspielten. Auch Marlin, Darrens Vater, war klein, aber dafür drahtig, und im Gesicht trug er die Bartstoppeln eines Nachtarbeiters bei der New Yorker U-Bahn. Im Gegensatz zu Marlin war es Inez gewohnt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sein Gesichtsausdruck an diesem Mittwochmorgen war düster und mürrisch.

Jaywalker blieb stehen und begrüßte die beiden. Inez stellte ihm ihren jüngeren Bruder vor, der zur moralischen Unterstützung mitgekommen war. Jaywalker fragte, ob es seit der letzten Nacht irgendwelche Neuigkeiten gegeben hätte.

„Nichts!“ Inez schüttelte den Kopf. „Aber der Detective ist hier. Rendell heißt er. Uns wollte er nichts sagen, aber er will mit Ihnen sprechen. Ich hab ihm gesagt, dass wir einen Anwalt haben, geht das in Ordnung?“

„Absolut“, nickte Jaywalker. „Wo ist er jetzt?“

„Da drinnen.“ Sie zeigte auf eine Tür. Ein ziemlich großes Schild hielt das Publikum draußen:

Vertreter der Anklage

Zutritt nur für Polizeibeamte

„Zeigen Sie ihn mir, wenn er herauskommt, okay?“

Es dauerte nicht lange, und Robert Rendell, ein Hüne, öffnete die Tür und kam heraus. Für einen Detective war er ziemlich jung. Er sah gut aus, mit seinem dichten schwarzen Haar, das ihm in die Stirn fiel. Jaywalker wusste sofort, dass er einen erstklassigen Zeugen abgeben würde. Er beeilte sich, ihn noch vor dem Gerichtssaal abzufangen.

„Detective Rendell?“

„Ja?“

„Mein Name ist Jaywalker. Ich bin der Anwalt von Darren Kingston. Seine Familie meint, dass Sie ein paar Informationen für mich haben – sie sind alle ziemlich durcheinander.“

„Was soll ich Ihnen groß sagen, Counselor?“ Jaywalker registrierte die förmliche Anrede. „Ich habe fünf CWs …“, Complaining Witnesses, Zeugen der Anklage, übersetzte Jaywalker im Stillen, „… und alles, was die sagen, deutet auf Ihren Mandanten als Täter hin.“

„Gegenüberstellung?“, hakte Jaywalker nach.

„Das müssen Sie mit dem Staatsanwalt besprechen!“

„Himmel noch mal …“, sagte Jaywalker. „Ich kenne den Jungen seit Jahren!“ Das war natürlich eine Übertreibung, wenn auch eine harmlose. „Ich bin selber total geschockt. Wann sollen denn diese angeblichen Vergewaltigungen passiert sein?“

„Hauptsächlich im August. Aber ich war schon ein paar Wochen hinter ihm her.“

„Hat er ausgesagt?“

„Nein“, räumte Rendell ein. „Er sagt, dass er unschuldig ist. Ich mache es kurz, Counselor: Eines der Opfer ist vorgeladen. Die junge Frau wird ihn nachher identifizieren – oder auch nicht.“ Kurzes Achselzucken. „Wenn er es nicht war, will ich ihn auch nicht haben.“ Mit diesem knappen Fazit entschuldigte sich Detective Rendell und verschwand im Gerichtssaal.

Jaywalker sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Die Anklageverlesung war für neun Uhr dreißig angesetzt, aber auf der Richterbank tat sich noch nichts.

Also nutzte er die Zeit für eine kurze Analyse: Rendell hatte zwar nicht viel rausgelassen, aber immerhin genug für einen ersten Überblick: Es gab fünf Opfer, eines von ihnen – die junge Frau, die auf dem Weg zum Gericht war – hatte Darren offensichtlich seit der Tat nicht wieder gesehen; vorausgesetzt, Darren war wirklich der Täter. Laut Detective Rendell hatten sich fast alle Überfälle schon im August ereignet – also vor mehr als einem Monat. Gut für seinen Mandanten? Möglicherweise. Andererseits klang Rendells Bemerkung, dass er nach Darren fahnden musste, nicht so gut. Das konnte zweierlei bedeuten: Er hatte erst nach intensiven Ermittlungen einwandfrei identifiziert werden können, oder er war untergetaucht, um sich seiner Verhaftung zu entziehen. Schuldbewusstsein? Dass es kein Geständnis gab, war wiederum ein dickes Plus. Falls er schuldig war, war er zumindest clever genug gewesen, seinen Mund zu halten.

Vor Jaywalkers Auge nahmen die Dinge allmählich Gestalt an. Alles deutete auf einen Fall hin, der einzig und allein von der zweifelsfreien Identifizierung durch die Opfer abhing. Fünf Frauen waren vergewaltigt worden. War Darren Kingston wirklich der Mann, der sie vergewaltigt hatte?

Bevor Jaywalker sich im Geschäftszimmer als vertretungsberechtigter Anwalt eintrug und dafür eine Ausfertigung der Anklageschrift in die Hand gedrückt bekam, brachte er Darrens Familie kurz auf den neuesten Stand. Computer waren damals noch nicht bis in die Gerichtsverwaltung vorgedrungen, und so bestand die Anklageschrift aus einem Formular, das auf einer betagten Schreibmaschine ausgefüllt und mithilfe von reichlich Kohlepapier als Durchschlag vervielfältigt worden war:

Strafgerichtshof der Stadt New York

Abteilung A, Gerichtsbezirk Bronx

DER STAAT NEW YORK

re.: Anklage wegen einer schweren Straftat

BEZIRK Bronx

Joanne Kenarden sagt unter Eid aus, dass im Gerichtsbezirk Bronx, Stadt und Staat von New York, der Angeklagte Darren Kingston sich des/der Vergehen/s der Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall sowie der Unzucht in einem besonders schweren Fall wie folgt schuldig gemacht hat:

Die Geschädigte sagt aus, dass der Angeklagte zu dem oben genannten Zeitpunkt und an oben genanntem Ort ohne ihre Einwilligung und unter Bedrohung mit einem Messer den Geschlechtsverkehr mit ihr ausgeübt und sie außerdem zum Oralverkehr gezwungen hat. Tatwaffe nicht gefunden.

Vereidigt

……………….… 19…

Vereidigter  Zeuge

………………………….

………………………….

Richter

Jaywalker las die Anklageschrift zum zweiten Mal, als Inez Kingston auf ihn zukam. „Der Detective hat Darren gerade durch die Halle geführt“, sagte sie.

Jaywalker folgte ihr aus dem Büro und in den weitläufigen Flur, wo Inez auf eine Tür ohne Schild zeigte. Er klopfte an, und als er keine Antwort hörte, öffnete er sie einfach. In dem Raum befanden sich Detective Rendell, Darren Kingston und ein dritter Mann.

„Ja bitte?“, sagte der und schaute ihn fragend an.

„Ich bin sein Anwalt“, stellte sich Jaywalker vor. „Darf ich erfahren, was hier vorgeht?“

„Kein Problem!“ Der dritte Mann stand auf. Er war jung, hager und eher von Jaywalkers Statur; kleiner jedenfalls als Detective Rendell. Ein großer schwarzer Schnauzbart beherrschte sein Gesicht.

„Jacob Pope“, stellte er sich vor. „Ich bin Staatsanwalt beim MOB.“

„Beim Mob …?“, echote Jaywalker. Nicht gerade ein passender Job für einen Staatsanwalt.

„MOB steht für Major Offense Bureau – Abteilung für Kapitalverbrechen. Ich war gerade dabei, Mr. Kingston ein paar Fragen zur Person zu stellen – wegen der Festsetzung der Kaution. Ich wusste nicht, dass er einen Anwalt hat.“

Jaywalkers Blick wanderte zwischen Pope und Rendell hin und her. Einer von beiden spielte hier falsch – Pope, sofern Detective Rendell ihn auf Jaywalkers Mandat hingewiesen hatte, oder Rendell, wenn er es unterlassen hatte. Es war Staatsanwälten strengstens untersagt, mit einem Angeklagten ohne Beisein seines Anwalts zu sprechen. Außer der Anwalt hatte seine ausdrückliche Zustimmung erteilt. Im Übrigen war „Fragen zur Person“ eine nicht sonderlich originelle Umschreibung für eine Taktik, die mit „Name“ und „wohnhaft“ anfing und mit „Wo haben Sie die Leiche vergraben?“ endete.

Darren saß auf einem Stuhl, die mit Handschellen gefesselten Hände im Schoß.

Jaywalker hatte schon vergessen, wie gut der Junge aussah; gut genug, um sein Geld als Model zu verdienen, ging es ihm durch den Kopf.

„Wie geht’s, Darren?“

„N…n…nicht so gut!“

Das Stottern. Auch das hatte Jaywalker vergessen. Darren stotterte umso schlimmer, je nervöser er wurde. Jaywalker wandte sich an Pope. „Können Sie mich einen Moment mit meinem Mandanten allein lassen?“, fragte er. „Anschließend können wir reden.“

„Sicher“, nickte Pope. „Kein Problem.“ Aber weder er noch Rendell machten Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen.

„Können wir ihm bitte vorher noch die Handschellen abnehmen“, bat Jaywalker.

Pope gab dem Detective ein Zeichen, der seinen Schlüssel zückte. Sichtlich erleichtert fing Darren an, die Druckstellen an seinen Handgelenken zu massieren. Jaywalker wartete ab, bis Pope und Rendell sich an das andere Ende des Raumes verzogen hatten. Dann baute er sich so zwischen Darren und den beiden auf, dass er ihnen den Rücken zuwandte. Das war zwar nicht viel, aber das Beste, was er in dieser Situation tun konnte.

So leise, wie es eben ging, fragte er Darren, wie er in diese missliche Lage geraten war.

„K-keine Ahnung! Sie sagen, ich hätte e-ein paar Frauen vergewaltigt. Aber damit habe ich nichts zu tun. Ich weiß überhaupt nichts darüber.“

„Darren, da sind fünf Frauen, die sagen, dass du der Typ bist, der ihnen das angetan hat. Ich bin voll auf deiner Seite, glaub mir. Ich kann dir helfen, wenn du unschuldig bist. Und ich kann dir helfen, wenn du schuldig bist: Es gibt Spezialkliniken, es gibt Therapieprogramme für Sexualstraftäter …“ Das war nicht gelogen, solche Einrichtungen gab es wirklich. „Aber ich kann dir überhaupt nicht helfen“, fuhr Jaywalker fort, „wenn du nicht offen mit mir redest. Also versuch wenigstens, mir zu vertrauen.“ Er wollte noch hinzufügen „und fang damit an, indem du mir die Wahrheit erzählst“, ließ es aber bleiben. Vorerst jedenfalls.

Darren sah seinem Anwalt offen in die Augen. „Ich vertrau dir, Jay!“

Als er die Kurzform seines Namens hörte, huschte ein Lächeln über Jaywalkers Gesicht. Vor einem Jahr hatte es seine Zeit gedauert, bis Darren aufgehört hatte, ihn mit „Mister Jaywalker“ anzureden. Jaywalker hatte darauf bestanden, weil er alle seine Mandanten grundsätzlich beim Vornamen nannte und das Gleiche von ihnen erwartete. Jay war zwar nicht sein richtiger Vorname, aber besser als Harrison Jason Walker, wie seine Eltern ihn genannt hatten.

„Gut“, erwiderte Jaywalker.

„Aber du musst auch mir vertrauen, Jay. Ich h-h-hab das nicht getan.“

Jaywalker nickte. Er wusste, dass es im Moment sinnlos war, Darren zu bedrängen. Also entschloss er sich, die Befragung durch den Staatsanwalt in seiner Gegenwart zuzulassen, weil er hoffte, so Einzelheiten zu erfahren, ohne selbst etwas preisgeben zu müssen. Gleichzeitig suchte er nach einem Ansatz, wo er selber einhaken konnte. Auch wusste er, dass Popes Empfehlung beim Richter einiges Gewicht haben würde, wenn es um die Höhe einer eventuellen Kaution gehen würde.

Nachdem Pope erfahren hatte, dass Darren zweiundzwanzig war, verheiratet, mit seiner Frau zusammenlebte, Vater eines Kindes und bald eines zweiten war, konzentrierte er seine Fragen auf Darrens Arbeitsplatz.

„Sie arbeiten bei der Post, richtig?“

„Richtig.“

„Nachtschicht?“

„Auch richtig.“

Offensichtlich hatten Pope oder Detective Rendell ihre Hausaufgaben gemacht.

„Haben Sie in den letzten beiden Augustwochen gearbeitet, oder hatten Sie frei?“

Jaywalker hob die Hand. „Das ist keine Frage zur Person“, wandte er ein. Er wollte Pope keine Gelegenheit geben, nach möglichen Alibis zu fischen, bevor er eigene Recherchen angestellt hatte.

„Na gut“, lenkte Pope ein, weil er einsah, dass er so nicht weiterkommen würde. „Haben Sie noch irgendetwas dazu zu sagen, Mr. Kingston?“

„Allerdings.“ Die Stimme war laut und deutlich. Und sie gehörte Jaywalker: „Er sagt, dass er unschuldig ist und Sie den Falschen gefasst haben.“

Pope nickte abweisend. Es war eindeutig, dass er die Worte genauso sehr anzweifelte wie Jaywalker selber.

Detective Rendell legte Darren wieder Handschellen an, bevor er ihn aus dem Raum führte. Jaywalker folgte ihnen auf dem Fuß und schärfte Darren ein, weiterhin zu schweigen. Dann ging er zu den Kingstons hinüber und schilderte ihnen genau, was vorgefallen war. Er bereitete sie darauf vor, dass eine der Frauen gleich vor Gericht erscheinen würde. Wenn sie nicht klipp und klar aussagen würde, dass Darren nicht der Täter war, würde gegen ihn Anklage erhoben wegen Bedrohung mit einem Messer, Vergewaltigung und erzwungenem Oralsex.

Inez schien ruhig und beherrscht. So, als hätte sie den Ernst der Lage erfasst und sich damit abgefunden. Marlin sagte nur „Oh mein Gott“ und brach in Tränen aus. Dann nahm er seine Frau in den Arm. So standen die beiden eine ganze Weile da, mitten in diesem trostlosen Gerichtsflur, unter wildfremden Menschen. Er leise vor sich hin schluchzend, sie bewegungslos, ohne den kleinsten Versuch, sich aus seiner Umarmung zu lösen. Schließlich richtete sich Marlin auf und ließ seine Frau los. Er schaute Jaywalker aus tränengeröteten Augen entschlossen an.

„Er ist mein Sohn, Sie müssen für ihn tun, was immer Sie können. Er hat ganz sicher niemanden vergewaltigt. Es ist mir egal, was es kosten wird, irgendwie kriege ich das Geld schon zusammen. Aber Sie müssen ihm helfen.“

„Ich werde ihm helfen“, versprach Jaywalker.

Die nächsten anderthalb Stunden verbrachten sie im Gerichtssaal und warteten auf das Erscheinen von Joanne Kenarden, einem der Opfer aus der Anklageschrift. Jaywalker nutzte die Zeit, um den Auftrieb all der Rechtsbrecher zu beobachten, die in der letzten Nacht verhaftet worden waren. Ein Schläger, selber mit einem dicken Verband um den Kopf. Ein bewaffneter Raubüberfall. Vier Anklagen wegen Heroinbesitz. Eine illegale Waffe. Mord – ein Mann, der seinen zwei Jahre alten Stiefsohn zu Tode geprügelt hatte. Fast alle waren Schwarze oder Latinos. Beinahe in jedem Fall setzte der Richter eine hohe Kaution fest, und die Angeklagten verschwanden wieder in den Arrestzellen. Freunde und Angehörige, die sich bis nach vorne an die Barriere gedrängt hatten, um alles besser mithören zu können oder mit ihren Delinquenten letzte Blicke und Zurufe zu wechseln, drängten aus dem Gerichtssaal. Manche in Tränen, manche im Zorn, aber alle irgendwie durch den Wind.

Es war Viertel nach zwölf, als Joanne Kenarden endlich auftauchte. Sie steckte ihr schmales Gesicht durch den Türspalt in den Raum und schaute sich verunsichert um. Noch bevor Detective Rendell sie entdeckt hatte und auf sie zuging, um sie abzuholen, wusste Jaywalker, wer sie war. Er beobachtete, wie die beiden an der Tür kurz ein paar Worte wechselten. Dann führte Rendell sie zu einem freien Sitzplatz, ließ sie etwas unterschreiben, bedeutete ihr, zu warten, und verließ den Gerichtssaal.

Jaywalker setzte sich so, dass er sie besser sehen konnte. Sie war hübsch, wenn auch ein wenig herb. Ihre zierliche Erscheinung machte es schwierig, das Alter zu schätzen – dreißig, höchstens. Sie war nicht besonders teuer, aber adrett angezogen – Jeans und ein schlichtes schwarzes Top. Und – sie war weiß.

Detective Rendell kehrte mit Staatsanwalt Pope zusammen in den Gerichtssaal zurück. Während sich Pope in die erste Reihe setzte, ging Rendell weiter in Richtung Arrestzellen. Als er ein paar Minuten später wieder auftauchte, führte er Darren am Arm. Heute würde man so etwas als gestützte Gegenüberstellung bezeichnen, damals war es gängige Praxis. Jedenfalls erstarrte die Zeugin der Anklage, als sie Darren sah, und nickte unwillkürlich. Auf Jaywalker wirkte ihre Reaktion spontan und echt. Er fragte sich, ob Pope das auch so wahrgenommen hatte.

„Fall Nummer X974513, Darren Kingston“, war jetzt der Protokollführer zu hören. „Angeklagt wegen Vergewaltigung zum Nachteil von Joanne Kenarden. Zuständig: Detective Rendell.“ Auch mit dem Persönlichkeitsschutz von Vergewaltigungsopfern hielt sich die Justiz damals nicht weiter auf.

Jaywalker erhob sich, ging nach vorne und setzte sich in die Mitte eines langen hölzernen Tisches gegenüber der Richterbank. Links von ihm stand Darren, die Hände in Handschellen vor dem Leib. Direkt hinter ihm ein Sicherheitsbeamter. Rechts von Jaywalker standen Pope, Rendell und Joanne Kenarden.

„Miss Kenarden“, fragte der Protokollführer, „beschwören Sie die Richtigkeit der Angaben Ihrer eidesstattlichen Erklärung?“

„Ich schwöre.“

„Herr Verteidiger, verzichten Sie auf die Verlesung der Rechte und der Anklage?“

„Wir verzichten“, antwortete Jaywalker.

Der Richter war erst kürzlich berufen worden und hieß Howard Goldman; er wandte sich an Pope, um den Kautionsantrag zu hören. Pope fasste noch einmal die Einzelheiten der Vergewaltigung und des Oralverkehrs zusammen, wobei er nicht vergaß, immer wieder das vorgehaltene Messer zu erwähnen. Er betonte, dass es noch vier weitere Vergewaltigungsopfer gäbe und dass die Polizei Wochen gebraucht habe, den Angeklagten aufzuspüren, nachdem er identifiziert worden war. Natürlich war allen klar, worauf er damit hinauswollte: dass Darren wieder versuchen würde zu fliehen, wenn man ihn auf Kaution freiließe.

„Daher“, schloss Pope, „beantragte ich im Namen des Volkes von New York, die Kaution auf fünfzigtausend Dollar festzusetzen.“

Auftritt Jaywalker. Er zeigte auf Darrens Familie unter den Zuhörern, beschrieb Darrens Job und den seiner Eltern, wies auf das Fehlen von Vorstrafen hin. Er erwähnte Darrens Ehefrau Charlene, das gemeinsame Kind und ihre fortgeschrittene neue Schwangerschaft. Er unterstrich, dass er die Familie seit zwei Jahren kannte und diese Bekanntschaft eine Bereicherung für ihn war.

„Ich muss die Schwere der Anschuldigungen in Betracht ziehen“, erwiderte Richter Goldman.

„Ich ebenfalls“, pflichtete Jaywalker dem Vorsitzenden bei, „aber ich ziehe auch in Betracht, dass hier möglicherweise der falsche Mann vor Gericht steht.“

Richter Goldman wandte sich an Joanne Kenarden. „Junge Dame“, begann er. „Ich möchte, dass Sie mir wahrheitsgemäß antworten. Haben Sie Zweifel, ich meine damit, einen begründeten Zweifel, dass es dieser Mann war, der Sie überfallen hat? Sehen Sie ihn sich noch einmal ganz genau an, bevor Sie mir antworten.“

Jaywalker trat einen Schritt zurück, damit sie ungehinderte Sicht auf Darren hatte. Doch noch während er das tat, war ihm die Sinnlosigkeit seiner Geste bewusst. Hier wurde Scharade gespielt. Keine zwanzig Minuten vorher hatte jeder sehen können, wie Darren von Detective Rendell vorgeführt worden war. Dann hatte Joanne Kenarden ihre Unterschrift unter eine eidesstattliche Versicherung gesetzt, die besagte, dass dieser Mann sie vergewaltigt und zum Oralverkehr gezwungen hatte. Was sollte sie jetzt anderes sagen? Dass sie ihre Meinung geändert hätte?

„Nein, nicht den geringsten Zweifel, Euer Ehren“, antwortete sie.

„Die Kaution wird auf fünfzigtausend Dollar festgesetzt“, verkündete Richter Goldman. Aus dem Augenwinkel konnte Jaywalker sehen, wie Darren in sich zusammensackte und ungläubig den Kopf schüttelte. Der Termin für die Voruntersuchung wurde für die kommende Woche festgesetzt. Aber Jaywalker wusste, dass es dazu nicht kommen würde. Pope würde mit dem Fall direkt vor die Grand Jury gehen, um abzuklopfen, wie solide seine Anklage war. Die Grand Jury würde sich Joanne Kenardens Aussage und vielleicht auch die der anderen Opfer anhören und mit Sicherheit für eine Anklageerhebung stimmen.

Jaywalker spielte für einen Moment mit dem Gedanken, Darren vor der Grand Jury aussagen zu lassen, verwarf ihn aber ebenso schnell wieder. Denn alles, was Darren sagen könnte, war, dass er unschuldig sei. Doch damit würde er ihn in diesem frühen Stadium der Gefahr eines Kreuzverhörs aussetzen. Ein Risiko, das in keinem Verhältnis zum Nutzen dieser Taktik stand.

„Noch etwas?“, fragte Richter Goldman.

„Nein, Euer Ehren“, schloss Jaywalker nachdenklich.

„Nächster Fall.“

Keine zehn Minuten, nachdem sie angefangen hatte, war die Verlesung der Anklage schon wieder zu Ende, und Darren wurde in die Arrestzelle zurückgeführt, aus der er gekommen war.

Draußen auf der Straße erklärte Jaywalker Darrens Eltern das Kautionsverfahren: Um ihren Sohn aus dem Gefängnis zu holen, mussten sie entweder fünfzigtausend Dollar in bar hinterlegen oder sich an einen Kautionsbürgen wenden, der ungefähr die Hälfte der Summe in bar, die andere Hälfte in Sicherheiten wie Sparbüchern, Schmuck oder Immobilien verlangen würde. Marlin Kingston schüttelte ungläubig den Kopf. Vielleicht war es aber auch Verzweiflung. Jaywalker versicherte ihnen, dass sie erst einmal ein paar Tage verstreichen lassen konnten, um dann beim Obersten Gerichtshof eine Herabsetzung der Kaution zu beantragen. Er gab Inez einen Abschiedskuss, etwas, was er gewöhnlich nicht tat, aber er konnte der Wärme und Herzlichkeit, die sie trotz allem ausstrahlte, nicht widerstehen. Als er Marlin die Hand gab, spürte er, wie dieser ihm etwas zusteckte.

„Was ist das“, fragte er.

„Hundert Dollar“, sagte Marlin trocken. „Erst mal für heute.“

„Kommt nicht infrage“, sagte Jaywalker. „Legen Sie das besser beiseite, denn Sie werden jeden Penny brauchen, um Darren da rauszuholen.“

Sekunden später stellte Jaywalker fest, dass er gerade dabei war, den kleinen, drahtigen Burschen richtig kennenzulernen – in der einen Minute heulte er wie ein Schlosshund, in der nächsten kämpfte er wie ein Löwe.

„Das gehört Ihnen, Jay“, sagte Marlin bestimmt. „Darren ist mein Sohn, und irgendwie hole ich ihn da raus, komme, was wolle.“

Jaywalker steckte das Geld schweigend ein. Es war 1979. Er stand noch am Anfang seiner Karriere und konnte einen Hunderter nicht mal eben so sausen lassen. Nicht mit Frau und Kind, einer Hypothek und einem Wäschekorb voller fälliger Rechnungen. Dennoch machte er sich so seine Gedanken: Wenn schon hundert Dollar eine Summe waren, die man nicht einfach so ausschlug, was waren dann erst fünfzigtausend Dollar?

3. KAPITEL

Achtzig Jahre

Am Freitag rief Inez Kingston wieder bei Jaywalker an. „Wir haben Darren auf Kaution freibekommen“, sagte sie. „Ich dachte, dass sie vielleicht mit ihm sprechen möchten?“

„Das ist nicht Ihr Ernst!“ Jaywalker konnte es nicht glauben.

„Doch, wirklich. Marlin ist noch gestern Abend nach Rikers Island zum Gefängnis gefahren, um ihn abzuholen. Sie sind erst heute Morgen um drei Uhr zurückgekommen, da wollte ich Sie nicht wecken. Er steht jetzt neben mir, möchten Sie ihn sprechen?“

„Unbedingt! Geben Sie ihn mir.“ Nach einer kurzen Pause war Darren zu hören.

„Hallo, J-J-Jay.“

„Hey! Wie zum Teufel geht’s dir?“

„G-ganz gut so weit, Jay.“

Sie redeten ein paar Minuten. Jaywalker machte Darren klar, dass er ab sofort auf keinen Fall mehr allein sein durfte – nicht im Haus, und draußen sowieso nicht. Am besten sollte er immer einen glaubwürdigen Erwachsenen bei sich haben. Falls es weitere Vergewaltigungen nach dem gleichen Muster geben würde, hätten sie ein wasserdichtes Alibi und den Beweis, dass er es von Anfang an nicht gewesen war. Darren versprach, sich darum zu kümmern. Dann verabredeten sie sich für Montag in Jaywalkers Kanzlei. Jaywalker ließ Darren noch einmal wissen, wie froh er war, dass er nicht im Gefängnis bleiben musste.

„U-und ich erst, Jay.“

Bester Stimmung legte Jaywalker auf. Er bewunderte die Kingstons, wie sie jeden vorhandenen Cent zusammengekratzt, sich den Rest geliehen und dafür sogar ihr Haus als Sicherheit hinterlegt hatten. Doch sosehr er sich auch für sie und Darren freute, hatte er auch ganz persönliche Gründe, zufrieden zu sein, wie die Dinge sich entwickelten. Für einen Angeklagten, der keine Kaution stellen kann, ist es aus zwei Gründen wesentlich schwerer, die Verteidigung aufzubauen. Zum einen sind seine Möglichkeiten eingeschränkt, sich jederzeit überall und vertraulich mit seinem Anwalt auszutauschen. Zum anderen kann er bei der Kleinarbeit nicht helfen, die die Vorbereitung seines Falles mit sich bringt – Tatortbesichtigungen, mögliche Zeugen ausfindig machen, die ganzen Einzelheiten beisteuern, die nur er als Beschuldigter wissen kann. Er verliert seinen Job oder muss die Schule abbrechen. Damit wird er in den Augen der Geschworenen zu einem weniger glaubwürdigen Zeugen und schmälert vor dem Richter seine Aussicht auf ein mildes Urteil. In der Lage zu sein, eine Kaution zu stellen, ist vielleicht nicht das wichtigste Kriterium, nach dem das Rechtssystem zwischen Arm und Reich unterscheidet, aber oft genug das entscheidende.

Jedenfalls war Darrens neue Freiheit genauso wichtig wie überraschend. Jaywalker hoffte, dass sie auch noch ein gutes Omen bedeutete. Denn denkbar schlecht begonnen hatte der Fall ja schon: Die Verhaftung, die Anklage wegen mehrfacher Vergewaltigung, die Bestimmtheit, mit der Darren von Joanne Kenarden identifiziert worden war, die hohe Kaution – ein Schlag war auf den nächsten gefolgt. Aber vielleicht drehte sich jetzt der Wind; vielleicht würden nun noch mehr gute Dinge geschehen.

Nichts passierte.

Hatte Jaywalker sich nur etwas vorgemacht, als er Darren rund um die Uhr die Begleitung eines glaubwürdigen Erwachsenen verordnet hatte? War es nur Wunschdenken von ihm, dass Darren nicht der Vergewaltiger war und sich die fünf Opfer irgendwie alle bei der Identifizierung getäuscht hatten?

Oder hatte er im Grunde nichts weiter getan als das, wozu Strafverteidiger von Haus aus neigen: so lange an die Unschuld des Mandanten zu glauben, bis die Zeit reif war, sich der unbequemen Wahrheit zu stellen? In den stilleren Stunden des Wochenendes hatte es manchmal tatsächlich danach ausgesehen.

Am Montagnachmittag erschien Darren in Begleitung seines Vaters in Jaywalkers Kanzlei. Sie verbrachten zwei Stunden miteinander, von denen Marlin die meiste Zeit ins Wartezimmer verbannt wurde. Zugeben, dass man ein Vergewaltiger ist, war schwer genug, hatte Jaywalker überlegt; das auch noch in Gegenwart des eigenen Vaters zu tun war zu viel verlangt. Aber für Darren wäre es egal gewesen, denn er bestritt weiterhin, von den Vergewaltigungen auch nur das Geringste zu wissen.

Jaywalker gab sich größte Mühe seine Zweifel zu überspielen. Ein Opfer konnte sich schon mal irren. Zwei, vielleicht sogar drei – möglich, wenn auch ziemlich unwahrscheinlich. Aber alle fünf?

Nicht ein einziges Mal während der Besprechung wankte Darrens Beharrlichkeit. Er hatte kein Problem, seinem Anwalt in die Augen zu schauen und den Blickkontakt zu halten. Jaywalker registrierte auch keines jener Anzeichen, die ihm aus seiner Zeit bei Legal Aid so vertraut waren und darauf hinwiesen, dass jemand die Unwahrheit sagte: ein kaum sichtbares Zucken im Gesicht, das Zupfen am Kragen, die unwillkürliche Bewegung, sich die Hand schützend vor den Mund zu halten, das plötzliche, auffällige Interesse an den Bleistiften auf dem Tisch oder den Bildern an der Wand. Darren stotterte zwar von Zeit zu Zeit, aber – so schien es Jaywalker – auch nicht mehr oder weniger als sonst. Immer wieder stieg in ihm der Gedanke auf, dass Darren vielleicht doch die Wahrheit sagte – und immer wieder fielen ihm die vier Frauen ein, die bereit waren, Darren als ihren Angreifer zu identifizieren. Sosehr er den jungen Mann mochte – was einfach war – und ihm glauben wollte, musste er sich doch von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass er log. Es konnte nicht anders sein.

Marlin fragte, wie hoch das Honorar ausfallen würde. Jaywalker fing an zu erklären, dass sie noch einen langen Weg und mindestens eine, wenn nicht mehrere Verhandlungen vor sich hatten.

„Ich weiß, Jay. Sagen Sie mir einfach, was es kosten wird. Es kann eine Weile dauern, aber ich werde Sie bezahlen.“

Das höchste Honorar, das Jaywalker bis dato verlangt hatte, waren zweitausendfünfhundert Dollar gewesen. Von einem Dealer, der das wahrscheinlich in einer Woche einsackte. Dafür hatte er einen Deal mit dem Staatsanwalt ausgehandelt – sein Mandant bekannte sich schuldig und bekam fünf Jahre auf Bewährung. Für Darren würde es keinen Deal geben und auch keine Bewährungsstrafe.

„Fünftausend Dollar“, sagte Jaywalker und hielt die Luft an.

„Ist das auch wirklich genug?“, fragte Marlin skeptisch nach.

„Ganz sicher“, beruhigte ihn Jaywalker. Sie besiegelten die Vereinbarung mit einem Händedruck.

Genug? Jaywalker kam sich vor, als hätte er im Casino die Bank gesprengt.

Es war Mittwoch geworden. Jaywalker und Darren trafen sich vor dem Gerichtssaal „Abteilung 1-D“, in dem die Anhörung stattfinden sollte. Darren war in Begleitung der Eltern und seiner Frau Charlene gekommen. Sie hatte die Anklageerhebung verpasst und war auch bei der Unterredung in der Kanzlei nicht dabei gewesen, weil sie sich zu Hause um den Kleinen kümmern musste und obendrein befürchtete, dass sie der ganzen Belastung nicht gewachsen war. Vielleicht spielte auch der unerträgliche Gedanke, ihr Mann könnte ein Vergewaltiger sein, eine Rolle. Heute jedoch war Janie, Darrens Schwester, als Babysitter eingesprungen, damit Charlene dabei sein konnte. Charlene war klein und etwas mollig, ihrer Schwiegermutter nicht unähnlich. Vielleicht lag es an der allmählich sichtbar werdenden Schwangerschaft, vielleicht aber auch nicht. Trotz ihres sympathischen Lächelns war sie längst nicht so hübsch, wie Darren gut aussehend war. Jaywalker ertappte sich bei der Frage, ob es an Charlenes Mangel an körperlichen Reizen lag, dass ihr Mann zum Vergewaltiger geworden war.

Inez kam mit der Nachricht, dass sie Darrens Namen nicht auf der vor dem Gerichtssaal ausgehängten Terminrolle finden könnte. Jaywalker sah selber nach, mit dem gleichen Ergebnis. Ein Blick ins Geschäftszimmer verriet ihm den Grund:

Kingston, Darren

Prozessliste Nr. X974513

Gestrichen – Anklage erhoben

Abteilung 12, 21. September

Jayalker erklärte den Kingstons, weshalb sie vergebens gekommen waren. Wie zu erwarten, war Jacob Pope mit dem Fall direkt vor die Grand Jury gegangen. Statt einer Anhörung würde Darren am kommenden Freitag vor dem Obersten Gerichtshof von New York zur Anklage vernommen werden. Niemand hatte es für nötig gehalten, Jaywalker davon in Kenntnis zu setzten und ihnen allen damit die unnötige Fahrerei zu ersparen. Im Gerichtsalltag waren Angeklagte, ihre Verwandten und Anwälte eben nichts, worüber man sich groß Gedanken machte.

Im Erdgeschoss nahm Jaywalker Darren beiseite. Er hatte eine Frage, auf die er nicht nur Darrens Antwort hören, sondern auch seine Reaktion sehen wollte. Um zu vermeiden, dass sich Darren aus Rücksicht auf seine Familie zusammenriss oder sie um Rat fragend anschaute, ging er mit ihm außer Sichtweite.

„Darren“, fragte er ihn und sah ihm dabei fest in die Augen, „was hältst du von einem Lügendetektortest?“ Er benutzte absichtlich diesen Ausdruck statt der fachlich korrekten Bezeichnung „Polygrafische Untersuchung“, um sicherzugehen, dass Darren die Frage sofort verstand und nicht mit einer Gegenfrage, wie „Was ist das denn?“ Zeit schinden konnte.

„Gerne, Jay. Wenn es hilft“, antwortete Darren, ohne zu zögern.

„Na ja“, räumte Jaywalker ein. „Ich kann nicht versprechen, dass er uns hilft. Aber er zeigt, ob du die Wahrheit sagst. Das Problem ist nur, er zeigt auch, wenn du lügst. Das kann ich dir versprechen.“

„Ich lüge nicht, Jay.“

„Das weiß ich, Darren.“ Jetzt war es Jaywalker, der log. „Aber ich bin voreingenommen. Schließlich bin ich dein Anwalt. Außerdem mag ich dich. Und obwohl ich dir glaube, darf ich nicht verdrängen, dass ich mich irren könnte. Du musst dir darüber im Klaren sein, dass es das Dümmste wäre, den Test zu machen, falls du tatsächlich der Vergewaltiger bist.“

Darren wollte etwas sagen, doch Jaywalker unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Er wollte, das Darren ihn ausreden ließ.

„Sieh mal“, sagte er. „Falls du das alles wirklich getan hast, falls irgendetwas in dir ausgetickt ist, falls du es wirklich bist, den die Opfer meinen, dann ist das nicht das Ende für dich. Es gibt Ärzte, Psychologen, Programme, Mittel und Wege, dir zur helfen. Und, ob du es glaubst oder nicht, es gibt sogar eine Chance, dir den Knast zu ersparen.“ Schon wieder eine Lüge. „Also denk noch mal nach, bevor du dich entscheidest.“

Jaywalker unterstrich seine eindringlichen Worte mit einem ebenso eindringlichen Blick. Und während er auf eine Antwort wartete, wurden ihm seine zwiespältigen Gefühle klar. Er wollte Darren so gerne glauben, konnte es aber nicht. Im Grunde wollte er, dass Darren zu ihm sagte: „Ich kann den Test nicht machen, Jay. Ich habe es getan.“ Damit könnten sie vor die Eltern treten und vor seine Frau. Das wäre zwar zuerst ein Schock, gefolgt von Fassungslosigkeit und reichlich Tränen, dafür wäre der Rest aber einfach und überschaubar. Psychiater, Psychologen, am Ende eine auf Unzurechnungsfähigkeit bauende Verteidigung. Viel wahrscheinlicher aber ein Schuldbekenntnis. Damit wäre auch für Jaywalker das Schlimmste überstanden, seine quälende Ungewissheit verflogen und dieses schreckliche Dilemma von seinen Schultern genommen, einen offenbar Schuldigen zu verteidigen, der seine Unschuld nur beteuerte. Oh, wie sehr wünschte Jaywalker sich, dass Darren zusammenbrechen und reinen Tisch machen würde!

Aber er tat es nicht. Zusammenbruch? Reinen Tisch? Darren zuckte nicht einmal, sondern sah Jaywalker fest in die Augen. Ohne zu stottern, sagte er: „Ich will den Test.“

Freitagmorgen fuhr Jaywalker zum Bezirksgericht in der Bronx, wo auch alle Kammern des Obersten Gerichtshofs des Staates New York untergebracht waren. Damals wie heute nahm der Bau einen ganzen Häuserblock ein, der von der Grand Concourse im Osten bis zur Walton Avenue im Westen und von der 160th Street bis zur 161st reichte. Bis heute hat man von den oberen Stockwerken aus freie Sicht längs der Hochbahntrasse über der Jerome Avenue bis zum Yankee Stadium.

Jaywalker nahm den Fahrstuhl in den sechsten Stock. Das Gebäude war um einen quadratischen Innenhof errichtet worden, und trotz der unzähligen Male, die er schon hier gewesen war, verlor er jedes Mal wieder die Orientierung, sobald er aus dem Fahrstuhl trat. Wie immer ging er in die falsche Richtung und umrundete das Gebäude zu zwei Dritteln, nur um zu dem Gerichtssaal zu gelangen, der gleich um die Ecke gelegen hätte, wenn er andersherum gegangen wäre.

Darren, Charlene, Inez und Marlin Kingston warteten bereits auf dem Flur vor Saal zwölf auf ihn. Alle begrüßten sich und betraten den Gerichtssaal. Jacob Pope war auch schon da. Er drückte Jaywalker eine Ausfertigung der Anklageschrift in die Hand.

OBERSTER GERICHTSHOF DES STAATES

NEW YORK, BEZIRK BRONX

DAS VOLK DES STAATES NEW YORK

ANKLAGESCHRIFT

– GEGEN –

5476/79

DARREN KINGSTON

ANGEKLAGTER

DIE GRAND JURY IM BEZIRK BRONX beschuldigt mit dieser Anklageschrift den Angeklagten des Verbrechens der VERGEWALTIGUNG IN EINEM BESONDERS SCHWEREN FALL, begangen wie folgt:

Der Angeklagte, männlich, übte am oder um den 16. August 1979 im Bezirk Bronx mit Eleanor Cerami, weiblich, unter Anwendung von Gewalt den Geschlechtsverkehr aus.

ANKLAGEPUNKT ZWEI:

DIE VORGENANNTE GRAND JURY beschuldigt mit obiger Anklageschrift den Angeklagten ferner des Verbrechens der VERGEWALTIGUNG IN EINEM BESONDERS SCHWEREN FALL, begangen wie folgt:

Der Angeklagte, männlich, übte am oder um den 16. August 1979 im Bezirk Bronx mit Joanne Kenarden, weiblich, unter Anwendung von Gewalt den Geschlechtsverkehr aus.

ANKLAGEPUNKT DREI:

DIE VORGENANNTE GRAND JURY beschuldigt mit obiger Anklageschrift den Angeklagten ferner des Verbrechens der VERSUCHTEN VERGEWALTIGUNG IN EINEM BESONDERS SCHWEREN FALL, begangen wie folgt:

Der Angeklagte, männlich, versuchte am oder um den 17. August 1979 im Bezirk Bronx, mit Tanja Maldonado, weiblich, unter Anwendung von Gewalt den Geschlechtsverkehr auszuüben.

ANKLAGEPUNKT VIER:

DIE VORGENANNTE GRAND JURY beschuldigt mit obiger Anklageschrift den Angeklagten ferner des Verbrechens der VERSUCHTEN VERGEWALTIGUNG IN EINEM BESONDERS SCHWEREN FALL, begangen wie folgt:

Der Angeklagte, männlich, versuchte am oder um den 5. September 1979 im Bezirk Bronx, mit Elvira Caldwell, weiblich, unter Anwendung von Gewalt den Geschlechtsverkehr auszuüben.

Und das war nur die erste Seite! Die Anklageschrift listete eine schier endlose Reihe weiterer Vergehen auf – alle „in einem besonders schweren Fall“: Analverkehr, sexuelle Nötigung, sexueller Missbrauch, tätlicher Angriff auf zwei der Opfer, und in allen Fällen unerlaubter Waffenbesitz – ein Messer. Insgesamt waren es dreiundzwanzig verschiedene Anklagepunkte. Das einzig Erfreuliche an der Situation, wenn man es so wollte, war, dass von den ursprünglich fünf Opfern, die aussagen wollten, nur vier übrig geblieben waren. Von denen wiederum waren offenbar nur zwei tatsächlich vergewaltigt worden, die anderen Fälle wurden als „versuchte Vergewaltigung“ angeklagt. Trotzdem war es für Jaywalker leicht auszurechnen: Zwei vollendete Vergewaltigungen mit je fünfundzwanzig Jahren Höchststrafe, plus zwei versuchte Vergewaltigungen mit je fünfzehn Jahren. Alles in allem kamen für Darren achtzig Jahre Gefängnis zusammen.

Der Fall wurde aufgerufen, und Jaywalker trat mit Darren vor die Richterbank. Der Gerichtsschreiber fragte, wie sich der Angeklagte bekennen wolle. „Nicht schuldig“, antwortete Darren. Er sprach leise, ohne zu stottern. Wahrscheinlich hatte er geübt, den Satz fehlerfrei auszusprechen, nachdem Jaywalker ihn darauf vorbereitet hatte, was er vor Gericht würde sagen müssen. Die Kaution wurde verlängert und die Verhandlung um drei Wochen vertagt, um der Verteidigung Gelegenheit zu geben, ihren Schriftsatz einzureichen. Dann wurde die Sitzung geschlossen.

Jaywalker fing Pope vor dem Gerichtssaal ab und fragte ihn, ob er damit einverstanden wäre, Darren einem Lügendetektortest zu unterziehen. Pope dachte einen Moment darüber nach. „Wozu der Aufwand?“ stand ihm dabei deutlich auf die Stirn geschrieben.

„Ich kläre das mit meinem Boss“, reichte er schließlich den Schwarzen Peter weiter. Kein Zweifel, er wollte nicht als Neinsager dastehen. „Ach so, noch etwas“, fiel ihm ein. „Sagen Sie Ihrem Schützling, er soll sich von der Gegend fernhalten, wo das passiert ist.“

„Was wollen Sie damit sagen?“ Jaywalker war völlig überrascht.

„Damit will ich sagen“, erwiderte Pope mit Nachdruck, „dass ich neulich Detective Rendell am Telefon hatte. Eine der Frauen hatte ihn angerufen und behauptet, den Vergewaltiger vor ihrer Haustür gesehen zu haben. Rendell dachte schon, er hätte doch den Falschen erwischt. Also hat er mich angerufen. Ich habe mich dann umgehört und erfahren, dass Ihr Mandant gegen Kaution auf freiem Fuß war.“

„Wie lange ist das her?“, wollte Jaywalker wissen.

„Ich weiß nicht genau.“ Pope überlegte. „Anfang der Woche? Jedenfalls war er schon vor dem Wochenende draußen, richtig?“

„Richtig“, bestätigte Jaywalker.

„Damit wir uns richtig verstehen“, fügte Pope mit einem warnenden Blick hinzu: „Wir leben in einem freien Land, und ich kann ihm nicht vorschreiben, wo er sich aufzuhalten hat. Aber wenn er anfängt, meine Zeuginnen einzuschüchtern, dauert es keine Stunde, bis er wieder sitzt. Und dann kann seine Familie zusehen, wie sie fünfzig Millionen Dollar zusammenbekommt. Machen Sie ihm das klar!“

„Mache ich“, nickte Jaywalker. „Ist Ihre Zeugin auch wirklich sicher, dass er es war?“

„Absolut sicher.“

Jaywalker überlegte noch, ob er sich wegen dieser unverhohlenen Drohung mit Pope anlegen oder ihm für die Warnung danken sollte, als dieser sich umdrehte und ihn ohne ein weiteres Wort stehen ließ.

Jaywalker seinerseits fackelte nicht lange und konfrontierte Darren mit Popes Vorwürfen. Er wollte ihm gerade die Leviten lesen, weil Darren seine klare Anweisung missachtet hatte, wurde aber sofort unterbrochen. „Hör mal, Jay, die kann nicht m-m-mich meinen. Ich war n-n-nicht einen Moment allein aus dem Haus, seitdem ich entlassen wurde.“

Sofort war Darrens Familie an seiner Seite. Alle bestätigten, was er sagte, und sie klangen überzeugend dabei. Deshalb verteilte Jaywalker jetzt „Hausaufgaben“. Jeder sollte sich mit Stift und Papier bewaffnen und alles aufschreiben, was ihm zu Darrens Aufenthalt seit seiner Entlassung einfiel. Ebenso für die drei fraglichen Tage aus der Anklageschrift – den 16. und 17. August und den 5. September. Darren erhielt von Jaywalker die Anweisung, sich einen Taschenkalender zu besorgen und ab sofort jede seiner Bewegungen mit Angabe der genauen Uhrzeit zu notieren. Dabei verfluchte er sich im Stillen dafür, dass er nicht schon eher daran gedacht hatte. Bevor sie auseinandergingen, vereinbarten sie für Montag einen Termin in Jaywalkers Kanzlei.

Auf dem Weg zu seinem VW spürte Jaywalker eine leichte Aufregung. Zugegeben, die Anklageschrift las sich nicht gut. Pope war es gelungen, in kurzer Zeit vier von fünf Opfern vor die Grand Jury zu laden; falls er irgendwann das fünfte Opfer aussagebereit präsentierte, konnte er noch eine Anklageerweiterung dranhängen. Jaywalkers Vorschlag mit dem Lügendetektortest war wie zu erwarten auf Skepsis gestoßen. Pope hatte allerdings auch nicht mit einem klaren Nein darauf reagiert.

Eine höchst interessante Entwicklung versprach der Umstand, dass eine der Frauen behauptete, sie hätte Darren nach seiner Freilassung im Eingang ihres Wohnblocks gesehen. Zuerst einmal bestanden Darren und seine Familie darauf, dass er nicht ein einziges Mal alleine unterwegs gewesen war, seitdem ihn Marlin vom Gefängnis auf Rikers Island abgeholt und zu Hause abgeliefert hatte Und im Übrigen würde es auch keinen Sinn ergeben: Nur im Krimi kehrte der Täter unweigerlich an den Tatort zurück, mischte sich unter die gaffende Menge oder drückte sich in der Gegend herum und beobachtete die Ermittler heimlich bei der Arbeit. Was aber hätte Darren davon? Er war unter unglücklichen Umständen verhaftet worden und mit viel Glück auf Kaution freigekommen. Also würde er die Tatorte doch meiden wie der Teufel das Weihwasser.

Da war sich Jaywalker ziemlich sicher.

Das Treffen in der Kanzlei am Montag war nicht sonderlich ergiebig. Während Darrens Erinnerungen an seine Tage ab der Entlassung aus dem Gefängnis präzise und lückenlos waren, sah es für Mitte August nicht ganz so gut aus. Zu dieser Zeit hatte er bei der Post in der Nachtschicht gearbeitet; genau gesagt, von Mitternacht bis acht Uhr früh. Tagsüber war er meist allein im Haus gewesen, hatte geschlafen oder sich im Haushalt nützlich gemacht. Charlene musste tagsüber arbeiten. Philip, ihr Söhnchen, von allen liebevoll Pooh gerufen, hatte sich derweil in der Obhut von Darrens Schwester Janie befunden, im Haus der Eltern, das nun für die Kaution verpfändet worden war. Keiner von ihnen hatte irgendwelche besonderen Erinnerungen an die beiden ersten Tage aus der Anklageschrift, den 16. August, an dem sich zwei Vorfälle ereignet hatten, und den 17. August. Nur der 5. September, der Tag nach Labour Day, war Darren im Gedächtnis geblieben. Die Sommerferien waren vorbei, und für Janie fing die Schule wieder an. Deshalb war Pooh zum ersten Mal bei einer Nachbarin untergekommen. Darren konnte sich gut erinnern, dass er wie üblich gegen halb zehn Uhr morgens nach Hause gekommen war, als er in der Nachbarwohnung Pooh weinen hörte. Er hatte seine Mutter angerufen, um zu fragen, ob er vielleicht drüben anklopfen sollte. Inez hatte ihm jedoch abgeraten, weil die Nachbarin sonst glauben könnte, er hätte kein Vertrauen zu ihr. Außerdem sollte sich der Kleine an die neue Regelung gewöhnen. Darren hatte sich dem Rat widerstrebend gefügt, war in der Wohnung geblieben und hatte sich schlafen gelegt.

„Aber es war ziemlich schschwer für m-m-mich“, fiel ihm dazu noch ein.

Das würde sie nicht zwar nicht viel weiter bringen, aber immerhin. Jaywalker notierte sich an dieser Stelle, dass er für seine Erwiderung zur Anklage unbedingt die genauen Uhrzeiten jedes einzelnen Übergriffs nachfragen musste.

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