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Das Erbe unserer Zeit

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Eine epische, mitreißende Familiengeschichte zwischen idyllischen Hopfenfeldern und Münchner Großstadttrubel

München-Schwabing, 1958: Gerda Branniger steht in den Startlöchern, um das familiäre Hopfenimperium zu übernehmen. Ihr Leben lang hat sie sich darauf vorbereitet, nur eines fehlt ihr: das "richtige" Geschlecht, denn plötzlich wird ihr der völlig unqualifizierte Bruder vor die Nase gesetzt. Dann erhebt auch noch Schwester Liesel Anspruch auf den Chefsessel – für ihren Ehemann. Gerda hat nur eine Verbündete in dem ungleichen Kampf: ihre Freundin Billie, die als Ingenieurin schon seit Jahren um Anerkennung in einer Männerwelt ringt. Doch während bei Billies Kampf nur regelmäßig die Kündigung droht, steht bei Gerda schon bald das jahrhundertalte Erbe der Familie auf dem Spiel …


  • Erscheinungstag: 25.04.2023
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002827

Leseprobe

Für Heike und Uli

Danke für viele besondere Momente
im täglichen Wahnsinn

1

Gerda

Gerda blieb stehen, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und rieb mit der anderen über die schmerzende Ferse. Sie hätte Nein sagen sollen. Nein zu dem spontanen Besuch des Tanzlokals, Nein zu diesen Schuhen, die keine Schuhe, sondern ein Folterwerkzeug waren.

»Komm schon, Gerda!« Billie winkte sie weiter. Wie schaffte sie es nur, so leichtfüßig zu laufen? Auf Absätzen, die sich zur Größe eines Pfennigs verjüngten, in jeder Ritze stecken blieben und mit Sicherheit für weit über siebzig Prozent aller verstauchten Knöchel in München verantwortlich waren.

Seufzend humpelte Gerda auf das hell erleuchtete Tanzlokal zu, nicht die beste Adresse in München, aber heute offenbar die begehrteste. Davor hatte sich eine Traube gebildet, an der Billie in vollkommenem Selbstverständnis vorbeitänzelte. Unten wippte der himmelblaue Petticoat im Takt ihrer Schritte, oben ihre hellblonden, kinnlangen Haare.

»He!«, murrte es aus der Schlange. »Hinten anstellen!«

»Billie«, raunte Gerda, »was machst du?«

Billie drehte sich zu ihr um und grinste. Sie genoss die Situation sichtlich, während Gerda am liebsten im Erdboden versunken wäre.

Inzwischen waren sie ganz vorne an der Schlange angekommen. Billie zog zwei Karten aus ihrer Handtasche und hielt sie triumphierend in die Höhe. Eilfertig winkte der Ordner sie zur Tür und ließ sie nach einem kurzen Blick auf die Karten eintreten.

»Nun bist du baff, nicht wahr?« Billie lachte und zog sie durch die Menge zur ersten Tischreihe. Sie sah sich kurz um, dann steuerte sie zielstrebig einen kleinen runden Tisch an. »Und das Beste: Der erste Cocktail ist umsonst!« Sie winkte den vorbeieilenden Kellner zum Tisch. »Zwei Gin Fizz, bitte. Extravoll!«

Gerda lehnte sich zurück und schmunzelte. »Und wem verdanken wir die Karten?«

Billie schob in gespielter Empörung ihre schwarz gerahmte Hornbrille hoch. »Wie kommst du darauf, dass ich die Karten geschenkt bekommen habe?«

»Hast du?«

»Vielleicht …« Sie zuckte geheimnisvoll die Schultern. »Lass dich überraschen.«

Neugierig sah Gerda sich um. Bestimmt würde der Schenker der Karten sich noch zu ihnen gesellen. Sie betrachtete die Besucher, schätzte die meisten auf ihr Alter, in den Zwanzigern, höchstens Dreißigern.

Janek Wonka, schoss es ihr durch den Kopf, den sie sogleich unmerklich schüttelte. Dennoch drängte sich Janeks Bild vor ihr inneres Auge. Die blonden Haare zerzaust, die Augen voller Tränen. Ihre letzte Begegnung, acht Jahre war das her, kurz nach dem Abitur, als Billie ihm den Laufpass gegeben hatte. Am Isarufer hatte er gesessen und kleine Kiesel in den Fluss geworfen. Sie hatte sich danebengesetzt, ihm stumm Kiesel zugeschoben. Gesagt hatte sie nichts, nicht ein Wort, dabei hatte sie ihm so viel sagen wollen. Dass er den Kummer mit Billie nicht verdient hatte, zum Beispiel. Dass sie ihn aufrichtig gern hatte. Eigentlich mehr als gern, doch das wäre ihr natürlich niemals über die Lippen gekommen. Aber dass sie hoffte, ihn weiterhin zu sehen, auch ohne Billie, das hatte ihr fast eine Stunde auf der Zunge gebrannt, ohne je ausgesprochen zu werden. Und dann hatte sie ihn nie wiedergesehen. Nicht in München, nicht in der Hallertau. Weggezogen sei er, hatte Mutter ihr ein paar Monate später erzählt, nebenbei als Randnotiz, ohne zu bemerken, dass sie ihrer Ältesten gerade das Herz brach. Erneut schüttelte Gerda den Kopf. Janek Wonka. Was er wohl heute machte? Ob er hinter den geschenkten Karten steckte? Passen würde es zu ihm.

Andererseits, warum sollte Billie Janek als Überraschungsgast präsentieren? Sie wusste bis heute nicht, dass Gerda damals in ihn verliebt gewesen war.

Sie nippte an dem Gin Fizz, den der Kellner erstaunlich zügig vor ihr auf einem Bierfilz abgestellt hatte. Wie Janek heute wohl aussehen mochte?

»Gerda! Hörst du mir eigentlich zu?« Billie sah sie vorwurfsvoll an.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Egal.« Billie nickte mit dem Kopf unauffällig nach rechts. »Die Frau dahinten mit dem grünen Kleid sieht aus wie eure Buchhalterin. Ich hoffe nur, ich habe mich getäuscht.«

Gerda folgte Billies Kopfbewegung, konnte jedoch kein grünes Kleid mehr in der Menge erkennen. Und warum sollte Frau Grünling nicht hier sein? Billie sprach heute wirklich in Rätseln.

»Wie läuft es bei dir im Büro?«, wechselte Gerda das Thema.

»Willst du mir den Abend verderben?« Billie nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Cocktail. »Schrecklich wie immer. Du weißt ja gar nicht, was für ein Glück du hast.«

Doch, das wusste Gerda sehr genau. Erbin einer Hopfendynastie zu sein, war ein Privileg, das wusste sie auch ohne die ständige Erinnerung ihres Vaters. Sie liebte den Hopfen. Seine ausladenden Blätter, den Duft, die Weichheit der frischen Dolde, die goldene Farbe des kostbaren Lupulins, dessen Bitter- und Aromastoffe den Hopfen erst so wertvoll machten. Sie liebte den Anblick der Hopfengärten mit den tiefen grünen Fluren, deren Hopfenranken im Frühjahr in atemberaubender Geschwindigkeit in den Himmel wuchsen. Und sie liebte es, den kompletten Kreislauf zu begleiten, vom ersten Austreiben der Stecklinge auf Mutters Hof über die Trocknung der mühsam geernteten Dolden auf den riesigen Darren bis hin zur Bonitur der Dolden und deren Lagerung und Verkauf in Vaters Hopfenhandel in München, wo sie selbst gerade ihre Ausbildung vollendete.

»Morgen ist mein letzter Tag in der Buchhaltung«, sagte sie, »dann bin ich durch alles einmal durch.«

»Und dann? Traust du dich allein, oder muss ich euch besuchen kommen?«

»Bloß nicht«, wehrte Gerda ab. »Wenn du auftauchst, gibt Vater mir nie Prokura.«

»Er muss dir Prokura geben. Ihr braucht einen neuen Stellvertreter, und außer deinem Vater kennt niemand euer Geschäft so gut wie du. War dein Vater nicht etwa so alt wie du, als er Prokura bekommen hat?«

»Sogar exakt so alt. Siebenundzwanzig. Nur ist er eben …«

»Ein Mann.« Billie verdrehte die Augen. »Und du als Frau kannst natürlich nicht den Platz eines Mannes einnehmen. Dabei gibt es keine bessere Wahl als dich. Vor allem, nachdem er Peter zurück in den Verkauf geschickt hat.« Sie runzelte die Stirn. »Warum eigentlich? Was hat dein holder Schwager ausgefressen, dass er degradiert wurde?«

Gerda zuckte die Schultern. »Ich habe nur gehört, dass Peter sich als Schmuser wohler fühlt. Liesel sagt, er sei eben kein Büromensch, ihm hätten die Reisen und der Kontakt zu den Bauern und den Brauereien schon sehr gefehlt.«

»Klar«, Billie lachte, »weil er dann deine nervige Schwester nicht andauernd ertragen muss!«

»Was bist du mal wieder gemein«, sagte Gerda tadelnd, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen. Sie nippte erneut an ihrem Gin Fizz. Manchmal tat ihr Liesel fast ein wenig leid. Zugegeben, sie war nervig und neugierig und immer darauf bedacht, ja nicht zu kurz zu kommen. Aber sie war nun mal ihre jüngere Schwester – und musste sie Liesel daher nicht annehmen, wie sie nun mal war?

In dem Moment strahlten Scheinwerfer auf, und ein Mann in einem schwarzen Anzug betrat die Bühne. Er tippte an sein Mikrofon, es krachte und rauschte, dann begrüßte er das Publikum zum heutigen Jazzabend. Gerda lehnte sich zurück, die Worte des Mannes verloren sich in ihren Ohren, ihre Gedanken schweiften zurück zu Peter, zu ihrem Vater, zu der vakanten Position. Billie hatte vollkommen recht. Vater müsste sie zu seiner Stellvertreterin ernennen. Vielleicht plante er dies ja und wartete nur darauf, dass sie morgen ihre letzte Lernstation mit Erfolg beendete. Ihr Studium der Volkswirtschaftslehre hatte sie mit Auszeichnung bestanden, ihr Lehrjahr bei Paulaner mit viel Lob hinter sich gebracht, nun die knapp drei Jahre im eigenen Haus, zuerst auf Mutters Hopfengut in der Hallertau, wo sie den Zyklus des Hopfens verinnerlicht hatte: die beschwerliche Arbeit mit der Hopfenhaue beim ersten Aufdecken der Hopfenstöcke, bei dem sie, laut Billies Berechnungen, täglich bis zu siebzig Tonnen Erde bewegten. Dann das endlose Bücken beim Zurückschneiden der schwachen Triebe, welches zumindest mit einem Festschmaus belohnt wurde, dem frischen Hopfenspargel, von dem Vater sich immer mehrere Kisten nach München liefern ließ. Schließlich das Spannen der Drähte – ganze Meisterschaften trugen junge Burschen darin aus, wer die meisten Drähte über die sieben Meter hohen Querseile werfen und verspannen konnte. Janek war damals besonders geschickt darin gewesen, gleich zwei Jahre hintereinander hatte er gewonnen. Und dann der tausendfache Kniefall vor dem Hopfen: das Anleiten der neuen Triebe, immer im Uhrzeigersinn um den Draht, jede einzelne Pflanze, mit der Akribie, die das grüne Gold der Hallertau seinen Bauern abverlangte. Denn schlampte man bei den täglichen Rundgängen durch die Hopfengärten, verpasste man den Zeitpunkt zum Nachleiten der Pflanzen oder übersah man einen Schädlings- oder Peronosporabefall, bezahlte man seine Nachlässigkeit spätestens bei der Ernte, dem finalen Kraftakt Ende August, mit Hunderten Stanglern, Pflückerinnen und Pflückern, die bei durchschnittlich dreißig Reben gute sechzigtausend Dolden pro Person und Tag ernteten.

Sie grinste. Selbst in ihrer Freizeit sinnierte sie über Hopfen. Als gäbe es nichts Interessanteres in ihrem Leben. Vielleicht war das so. Vielleicht war es aber auch das Zeichen, dass sie bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Im Gegensatz zu Peter kannte sie die Arbeit im Hopfengarten, wusste um die Gefahren selbst nach der Ernte, bei der Trocknung der Dolden auf den riesigen Darren, sogar noch bei der Lagerung. Sie hatte den Blick auf das große Ganze, von der Arbeit der Hopfenbäuerin über die Theorie der Wirtschaftswissenschaft bis hin zu den Wagnissen des Hopfenhandels, den Vater in schlechten Jahren Hopfenroulette nannte. Peter hingegen war der geborene Schmuser. Er traf bei den Bauern und bei den Brauereien immer den richtigen Ton, diese Mischung aus jovial und anbiedernd, die Gerda nicht über die Lippen gehen wollte, aber die Bestellscheine füllte und die Unterschriften auf den Vorverträgen mit den Bauern sicherte.

»Guck! Da ist er!« Aufgeregt zeigte Billie zur Bühne.

»Wer?« Gerda folgte Billies Finger. Sie riss die Augen auf. Was um Himmels willen machte ihr kleiner Bruder dort?

Die Band legte los, die Rhythmen pulsierten im Raum, Gerda konnte ihren Blick nicht von Xaver nehmen. Er war Mitglied eines Jazzensembles? Warum wusste sie nichts davon?

»Ist er nicht großartig?«, schwärmte Billie. »Horch nur! Ich habe noch nie so einen guten Break gehört.«

»Break?«

»So heißt das, wenn er allein weiterspielt.« Billie kicherte. »Hab ich auch erst letzte Woche gelernt.«

»Hmm …« Gerda lauschte den feinen Tönen der Klarinette. Xaver hatte schon immer gut gespielt, weit besser als die anderen Mitglieder der Blaskapelle, in der er über zehn Jahre Mitglied gewesen war. Sie stutzte. War er nicht ausgetreten, weil sein Studium ihm keine Zeit mehr fürs Üben ließ? Und nun spielte er einen Break, für den er mindestens doppelt oder dreimal so viel Übungszeit hatte aufbringen müssen.

Das Solo war zu Ende, tosender Applaus überdeckte die Klänge der wieder einsetzenden Instrumente, nur sie brachte es nicht fertig, mit einzustimmen. Wenn Xaver sein Studium vernachlässigte, um heimlich Klarinette zu spielen, hinterging er Vater. Und sie wusste nun davon. Was sie entweder zur Mitwisserin machte oder zur Verräterin, wenn sie ihn bei Vater verpetzte. Sie beobachtete Xaver. Die Klarinette hatte er abgesetzt, in sein Gesicht schlich sich ein beseeltes Lächeln. Wie sehr er den Applaus zu genießen schien.

»Und?«, wandte Billie sich an Gerda. »Was sagst du zu deinem kleinen Bruder?«

»Woher wusstest du, dass Xaver heute Abend hier auftritt?«

»Ich habe ihn letzte Woche hier gesehen und ihm klargemacht, dass ich dir das als deine beste Freundin nicht verschweigen kann.« Sie grinste. »Ich dachte, ich mache das Beste daraus und schlage zwei Freikarten für uns raus.«

»Und bringst mich damit in eine unmögliche Lage.«

»Ich weiß. Ich war ja in der gleichen.« Billie seufzte. »War gar nicht so einfach, dein Brüderchen davon zu überzeugen, dass er dir reinen Wein einschenken muss.«

Das glaubte Gerda ihr sofort. Xaver war nicht dumm. Er konnte sich ziemlich genau ausmalen, was passieren würde, wenn Vater mitbekam, dass er in einer Jazzband Klarinette spielte, anstatt für seinen Abschluss zu lernen. Sie verdrängte den Gedanken an Vater. Jetzt und hier konnte sie ohnehin nichts tun, um den drohenden Ärger zu verhindern.

Die jazzigen Rhythmen packten sie. Xaver spielte wirklich fabelhaft. Viel besser, als sie ihm zugetraut hätte. Wann war er so gut geworden?

Schließlich verabschiedeten die Musiker sich in die Pause und verließen unter großem Applaus die Bühne.

»Guten Abend«, ertönte es kurz darauf neben ihr. Xaver setzte sich auf den freien Stuhl und nickte Billie verschwörerisch zu. »Überrascht?«

»Das fragst du?« Gerda boxte Xaver spielerisch gegen den Arm. »Hattest du nicht die Blaskapelle aufgegeben, um dich ganz aufs Studium zu konzentrieren?«

Anstatt einer Antwort angelte Xaver sich ihren Gin Fizz und trank ihn auf einen Sitz aus. »Ich habe das Studium aufgegeben.«

»Du … Was?« Gerda starrte ihn entsetzt an.

»Ich studiere nicht mehr.«

Ihr Mund war mit einem Mal trocken. War er vollkommen verrückt geworden? Vater würde toben! Und Mutter … Nun, Mutter würde sagen, dass man weder als Hopfenbauer noch als Hopfenhändler ein Studium brauche.

»Ich möchte Musiker werden«, fuhr Xaver so leise fort, dass Gerda im lauten Stimmengewirr Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Ich möchte weg von hier, nach Paris, London, Amerika …«

»Du bist verrückt.«

»So verrückt ist er nicht«, mischte Billie sich ein, die Xaver offenbar nicht hören musste, um zu wissen, was er gerade gesagt hatte. »Er ist gut, und nächsten Monat hat er ein Vorspiel bei Chuck Summer.«

»Dem Chuck Summer Jazz Ensemble.« Auf Xavers Wangen erschienen rote Flecken. »Sie sind gerade auf Europatournee. Weißt du, was das für eine Chance ist?«

»Vater wird dich aus dem Haus werfen.«

»Wenn sie mich nehmen, ziehe ich sowieso aus«, murmelte Xaver.

»Er wird dich enterben«, setzte sie nach.

»Das wäre doch bestens für dich.« Billie zwinkerte Gerda zu. »Dann sitzt später du an der Spitze eurer Hopfendynastie.«

»Wegen mir kann Gerda gerne in Vaters Fußstapfen treten. Ich bestehe sicher nicht auf den Platz, den er mir zugedacht hat.« Xaver schnippte mit den Fingern und winkte einen Kellner zum Tisch. »Drei Gin Fizz, bitte.«

»Selbstverständlich.« Mit einem beflissenen Lächeln sammelte der Kellner die leeren Gläser ein und eilte davon. Gerda sah ihm nach, wie er in der bunten Menge der Gäste verschwand. Hatte Xaver vorgehabt, so leise aus ihrem Leben zu verschwinden wie der Kellner gerade in der Menge?

»Xaver«, hörte sie Billie sagen, »erzähl mal, wie sind die so, die …« Gerda lehnte sich zurück, Billies Stimme wurde leiser, verschmolz mit Gerdas Gedanken. Niemals würde Vater Xaver die Erfüllung seines Traums vom Berufsmusiker erlauben, schon gar nicht als Jazzmusiker. Ausgerechnet Jazz! Teufelszeug nannte Vater die Musik, entartet und degeneriert. Keinen Fuß würde er in ein Lokal setzen, das solche Musik spielte, Xaver hatte nie Angst haben müssen, von Vater oder seinen Freunden entdeckt zu werden. Er hatte es vor allen geheim gehalten, auch vor ihr.

Ob er sie auch eingeweiht hätte, wenn Billie ihm nicht über den Weg gelaufen wäre?

Gerda betrachtete Xaver von der Seite. Wie gelöst er wirkte. Sein Lachen war ausgelassen, seine Augen strahlten glücklich beim Reden. Er war ein vollkommen anderer Mensch als der einsilbige und zurückgezogene Bruder, den sie zu Hause beim Abendbrot mit Vater erlebte.

»Du weißt, dass du Vater die Wahrheit sagen musst«, brach es plötzlich aus ihr heraus.

Xaver verstummte abrupt.

»Och, Gerda!«, rief Billie aus. »Nun hör mal auf, uns den Abend zu verderben!«

»Was bringt es, Unangenehmes unausgesprochen zu lassen? Davon geht es nicht weg. Wie lange dauert es wohl, bis Vati herausfindet, dass Xaver nicht mehr studiert?« Gerda fixierte ihren kleinen Bruder. »Am Sonntag ist großes Familienessen. Mutti wird da sein und Liesel und Peter. Warte bis zum Nachtisch oder besser bis zu seiner Zigarre, und sag es dann.«

Xaver schüttelte den Kopf. »Sonntag? Hast du vergessen, dass Vater uns am Sonntag etwas Wichtiges mitteilen möchte?«

Gerda nickte. Richtig. Für Sonntag hatte Vater Neuigkeiten angekündigt, die sie alle betreffen würden. Mehr hatte er dazu nicht gesagt, und sein Ton hatte jegliche Nachfragen unterbunden.

»Ich sage es ihm nach dem Vorspiel bei Summer.« Xaver sah sie flehend an. »Du weißt, dass er sonst alles tun wird, um mich daran zu hindern.«

»Versprochen?«, fragte Gerda.

»Bei meiner Klarinette.« Er hob die Hand zum Schwur. »Und wenn ich es nicht tue, darfst du mich danach bei ihm verpetzen.«

»Na gut.« Gerda seufzte. »Billie ist Zeugin.«

»Muss ich?« Billie verzog das Gesicht. »Du weißt, ich hasse es, wenn ihr mich in eure Familiengeschichten hineinzieht. Apropos Familiengeschichten, was, meint ihr, will euer Vater am Sonntag mit euch besprechen? Glaubt ihr, er tritt ab?«

»Vater?« Xaver stieß ein raues Lachen aus. »Niemals.«

»Aber schon komisch, dass er die große Ankündigung genau zwei Tage nach Gerdas Ausbildungsende ansetzt.«

»Wahrscheinlich nur ein Zufall.« Gerda zuckte die Schultern. Sie wusste, worauf Billie hinauswollte. Dass Vater sie zu sich in die Geschäftsführung holen würde, wie sie das eigentlich verdient hätte.

»Vielleicht will er ja Peters kleines Geheimnis preisgeben …« Xaver grinste anzüglich. »Oder habt ihr euch noch nie gefragt, warum Peter seinen Posten als stellvertretender Geschäftsführer so einfach aufgibt?«

»Weil er sich lieber mit den Bauern und Brauern an den Tisch setzt, als im Büro zu veröden, sagt Liesel.« Gerda nippte an ihrem neuen Getränk. Der Alkohol stieg ihr in den Kopf, verbreitete eine angenehme Leichtigkeit.

»Ha«, lachte Xaver auf, »und ob er das tut, der alte Schmuser. Und an manchen Orten macht er seiner Berufsbezeichnung besonders viel Ehre. Aber weniger mit den Bauern als mit hübschen Dirndln.«

Verwirrt sah Gerda ihren Bruder an. Was für Dirndln?

»Nee!«, rief Billie aus. »Der Peter betrügt die Liesel?«

»Wenn ich es doch sage! Vater ist fuchsteufelswild deshalb.« Xaver hob die Brauen. »So nervig Liesel sein kann, das hat sie nicht verdient. Vater hat Peter angedroht, dass er ihn genau im Auge behält und ihn ganz rauswirft, wenn es noch mal vorkommt.«

Gerda starrte Xaver an. Liesels Worte, erst heute Vormittag, kamen ihr in den Sinn. Wie sie Peter über den Schellenkönig gelobt hatte, ihren perfekten Mann, der in Wahrheit nichts Besseres zu tun hatte, als sie hinterrücks zu betrügen.

Ihn bei einer Familienzusammenkunft bloßzustellen, sah Vater ähnlich. So würde er dafür sorgen, dass Liesel sich nicht mehr hinter der Lügenmär ihrer perfekten Ehe verstecken könnte.

Arme Liesel. Es würde ein schlimmer Schlag für sie werden.

2

Liesel

Liesel öffnete die Ofentür. Sie wedelte die heiße Luft weg und stach mit dem Bratenspieß ins Fleisch. Zufrieden zog sie ihn heraus. Der Sonntagsbraten war perfekt. Die Kruste rösch, das Fleisch butterweich. Auch die Knödel waren fertig. Nun musste nur noch Mutter kommen, bevor der Braten trocken und die Knödel verkocht waren. Sie schloss den Ofen und reduzierte die Hitze auf sechzig Grad.

Im Flur hörte sie die Tür schlagen, dann Stimmen. Hoffentlich war das Mutter, damit sie essen konnten. Erst dann würde Vater endlich mit seinen großen Neuigkeiten herausrücken.

Was er ihnen wohl zu sagen hatte?

Ob es etwas mit Gerda zu tun hatte? In ihrem Magen grummelte es. Dass Vater ihren Peter so plötzlich wieder als Schmuser in den Vertrieb abgeschoben hatte, konnte eigentlich nur bedeuten, dass er seinen Platz für Gerda freischaufeln wollte. Immer schon hatte er Gerda ihr vorgezogen. Da war es nur konsequent, dass auch Peter weichen musste, wenn Gerda angelaufen kam.

Es war so unfair!

Heftig schob sie den Knödeltopf vom Gasring. Wasser schwappte zischend in die Flamme. Liesel drehte das Gas ab und wischte das Knödelwasser weg.

Immer nur Gerda, Gerda, Gerda. Andauernd musste Vater ihr vorhalten, wie fleißig die große Schwester war und wie klug und besonnen. Als ob sie nicht fleißig wäre! Sollte er doch Gerda mal ein Festessen wie das heutige kochen lassen! Vor Knödelbrei und einem verkohlten Stück Fleisch würden sie sitzen. Gerda tat sich ja schon schwer, einfache Pellkartoffeln nicht verkochen zu lassen.

»Mhhh!« Xaver betrat die Küche und schnupperte. »Mein Gott, riecht das köstlich! Ich habe so einen Hunger, wann gibt es Essen?«

»Wenn Mutti da ist.« Liesel schluckte ihren Ärger herunter und lächelte Xaver an. Er konnte schließlich nichts dafür, dass Vater Peter so gemein behandelte. Ausgerechnet! Dabei würde Peter sich nie herausnehmen, so schlampig zu einem Familienessen zu erscheinen. Nicht einmal eine Krawatte hatte Xaver sich umgebunden, der Kragen des Hemdes stand drei Knöpfe offen, die Ärmel waren bis zur Hälfte des Unterarms hochgekrempelt, und die beige Leinenhose war zerknittert, als hätte er darin geschlafen. Und das, obwohl Mutter ohnehin so selten nach München kam, waren doch ihre Besuche in der Stadt streng auf Geburtstage, Ostern und Weihnachten beschränkt. Nicht weil ihr der Weg nach München zu beschwerlich war, sondern die Stadt zu befremdlich und die herrschaftliche Wohnung über dem Schwabinger Hopfenhandel zu feudal.

»Mutter ist gerade gekommen.« Xaver trat zur Seite, da stand Mutter schon in der Küche. Die Haare zum praktischen Dutt geschlungen, der traditionelle Granatschmuck passend zu ihrem Sonntagsdirndl mit der bordeauxfarbenen Taftschürze.

»Grüß dich, Liesel!« Mutter musterte sie anerkennend. »Fesch siehst du wieder aus!«

»Danke«, sagte Liesel erfreut. Wenigstens Mutter bemerkte, dass sie heute ihr schönstes Kleid angezogen hatte. Blaue Spitze. Darauf kam die Perlenkette besonders gut zur Geltung, die Peter ihr gestern zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Was aber leider noch niemandem aufgefallen war. Nicht einmal Mutter.

»Und lecker riecht das hier.« Mutter trat auf den Herd zu. »Ich seihe mal die Knödel ab.«

»Dann hol ich den Braten aus dem Rohr.«

Gemeinsam erledigten sie die letzten Handgriffe. Mutter und Tochter, jede ihrer Bewegungen saßen, als wären sie präzise einstudiert, es brauchte keine Anweisungen oder Warnungen, wie sie nötig waren, wenn Gerda ihr in der Küche half. Schließlich legte Liesel ihre Schürze ab und trug den Braten ins Esszimmer.

Peter legte die Zeitung zur Seite und begab sich zum Tisch, an dem bereits Vater, Gerda und Xaver saßen. Liesel lauschte, hörte Vater mit Gerda über Preisschwankungen am Hopfenmarkt diskutieren. Sie warf Peter einen Blick zu. Begriff er nicht, dass er sich bei solchen Unterhaltungen einbringen musste, um Vater zu zeigen, dass er, und nicht Gerda, in die Geschäftsführung gehörte?

Vorsichtig stellte sie den Braten auf den gedeckten Tisch, überblickte ihn kurz. Knödel, Krautsalat, Braten, Soße, Wasser, Wein, Bier. Alles da. Sie setzte sich Gerda gegenüber an Vaters rechte Seite, Peter wie immer neben ihr, ihm gegenüber Xaver, am anderen Tischende Mutter, die ihre Hände faltete und mit fester Stimme das Tischgebet sprach. Dann griff sie nach dem Teller mit den Knödeln, nahm sich einen und reichte ihn an Peter weiter.

»Frau Grünling war sehr zufrieden mit dir«, wandte Vater sich an Gerda, als Liesel ihm zwei Scheiben Braten und eine Extraportion Kruste auftischte. »Sie ist richtig betrübt, dass du ihre Abteilung verlässt«, fuhr er fort, ohne auch nur mit einem Blick in Liesels Richtung den Braten zu würdigen.

»Ich habe gerne mit ihr zusammengearbeitet«, sagte Gerda. Sie zerkleinerte den Knödel und goss sich die sämige braune Soße darüber. Auch von ihr kein Wort des Dankes. Als wäre die Zubereitung eines Sonntagsmahles eine Selbstverständlichkeit.

»Krautsalat?« Sie wandte sich mit der Salatschüssel an Peter, hoffte, dass er Gerda die Frage stellte, die ihr selbst auf der Zunge lag: In welcher Position sie denn nun am Montag im Betrieb arbeiten würde. Oder – ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf – würde sie gar nicht in München bleiben, sondern zu Mutter in die Hallertau ziehen? Schließlich war Mutter auch nicht mehr die Jüngste. Ja, natürlich! Dass sie daran nicht schon früher gedacht hatte! In der Hallertau wäre Xaver so hilfreich wie eine Maus in der Käserei. Mit Gerda hingegen würde Mutter auf dem Hopfengut so harmonisch zusammenarbeiten wie mit ihr selbst in der Küche.

Langsam kaute Liesel das saftige Fleisch.

War Mutter deshalb heute nach München gekommen? Um Gerda zu überzeugen, mit ihr auf den Hof zurückzukehren? Suchte Mutter nicht einen neuen Hopfenmeister? Der alte wollte doch schon längst in den Ruhestand. Spätestens wenn Mutter im September die neue Trocknungsanlage einweihte, würde er seinen Hut nehmen. Mit dem modernen Gerät habe er nix am Hut, hatte er Mutter gesagt und dabei wahrscheinlich ganz in ihrem Sinne gesprochen, aber Vater hatte darauf bestanden, die alte Darre zu ersetzen, nachdem um ein Haar ein Feuer im Darrhaus ausgebrochen wäre. Liesel sah unauffällig zu ihrer Mutter. Ob sie wirklich plante, Gerda zum neuen Hopfenmeister zu machen? Wäre schon passend: Gerda, Hopfenmeisterin der Nonnenklöster, wie Mutter ihre Hopfengärten meist bezeichnete. Dann würden die Gärten nicht mehr nur wegen der ausnahmslos weiblichen Pflanzen so heißen, sondern auch weil ein Fräulein darüber wachte. Oder hatte Mutter schon einen Ersatz für den alten Hopfenmeister? Liesel runzelte die Stirn. Da war doch etwas gewesen … Hatte Mutter nicht von einem alten Freund von Gerda erzählt? Von Janek. Janek Wonka. Langsam formte sich in ihrer Erinnerung ein Bild. Janek, der schmale blonde Junge, einer von den Flüchtlingen, die nach dem Krieg fast drei Jahre lang im Nebengebäude untergebracht worden waren. Sie wusste noch, wie Gerda ihn angeschmachtet hatte, ausgerechnet ihn, den Habenichts aus Vorpommern. Niemals hätte Vater eine Verbindung zwischen Gerda und ihm geduldet, und außerdem war er Billies Freund gewesen, auch das wusste sie noch ganz genau. In Billies und Gerdas Abschlussjahr am Realgymnasium in Wolnzach, als sich die beiden eigentlich nur auf die Schule hätten konzentrieren sollen. Hatten sie aber nicht. Stattdessen hatten sie sich mit Janek heimlich in dem wieder leer stehenden Nebengebäude getroffen.

Aber was hatte Mutter nun von Janek erzählt? Ganz sicher war es etwas im Zusammenhang mit dem alten Meister gewesen, der hatte Janek ja auch gekannt, schließlich war es der Meister gewesen, der nach dem Krieg den Flüchtlingen Arbeiten zugewiesen hatte, und Janek war damals der beste Drahtwerfer und Stangler gewesen. Liesel verharrte mit dem Knödel in der sämigen Soße und schüttelte den Kopf. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was Mutter über ihn gesagt hatte.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Gerda Vater einen weiteren Knödel auftischte und er ihr dankend zulächelte. Geradeso als hätte sie das Festmahl gekocht. Leichtes Grummeln kündigte sich erneut in ihrem Magen an. Hätte sie Mutter nur besser zugehört! Oder besser noch, hätte sie Mutter bei dem letzten Besuch gleich davon überzeugt, Gerda zu sich in die Hallertau zu holen. Wenn Gerda erst aus Vaters Reichweite wäre, dann könnte sie sich bei Vater wieder für Peter starkmachen – bis Xaver so weit war, bei Vater mitzuarbeiten, würden noch Jahre vergehen, und bis dahin würde sie schon dafür sorgen, dass ihr Peter sich hier in München unentbehrlich machte und nicht mehr so viel herumreisen musste. Unwillkürlich griff sie an ihre neue Kette und zwirbelte die Perlen zwischen ihren Fingern.

»Liesel? Du bist so still heute. Was ist los mit dir?« Gerda schob sich ein Stück Kruste in den Mund und zerkaute es krachend.

»Ich … nichts.«

»Ist die neu?«, fragte Xaver und zeigte auf die Kette.

»Von Peter«, sagte sie stolz.

»Da hat dein Mann aber tief in die Tasche gegriffen.« Xaver blinzelte unschuldig. »Heißt es nicht, jede Perle ist eine versteinerte Träne? Was hat er ausgefressen?«

»Ein Mann muss nichts ausfressen, um seiner Frau Schmuck zu schenken«, sagte Liesel spitz. »Aber so etwas verstehst du nicht.«

Sie sah den warnenden Blick, den Vater Xaver zuwarf. Gut so. Sollte Vater Peter nur vor Xavers spitzer Zunge in Schutz nehmen. Was hatte Xaver schon vorzuweisen, das ihm die Berechtigung gab, andere von der Seite anzugreifen? Noch nie hatte er einen Pfennig selbst verdient, er hatte keine Frau, trug keine Verantwortung, hatte nichts im Leben, was ihm wirklich wichtig war. Selbst seine Blasmusik hatte er aufgegeben, als die Professoren ein wenig mehr von ihm verlangten als nur seine üblichen Sprüche.

»Die Kette steht dir ausgezeichnet«, sagte Gerda. Liesel nahm den Blick wahr, den nun auch Gerda Xaver zuwarf. Sie kannte diesen Ältere-Schwester-Blick, streng und tadelnd. Ein stummer Befehl: r ja auf!

»Danke«, sagte Liesel und meinte damit mehr Gerdas Blick an Xaver als das an sie gerichtete Kompliment.

Stumm aß sie weiter, versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen, dass Peter nicht auf Xavers Gehässigkeit reagiert hatte. Wäre es so schwer gewesen? Wie sollte Vater ihn als Führungspersönlichkeit wahrnehmen, wenn er sich von Xaver wieder und wieder vorführen ließ wie ein Schuljunge.

Kaum hatte sie aufgegessen, flüchtete sie mit ihrem Teller in die Küche. Die Nachspeise musste zubereitet werden, der Kaffee gekocht. Alles war besser, als am Tisch Gerdas und Vaters Fachsimpelei ertragen zu müssen. Routiniert richtete sie sechs Dessertschüsseln mit Birne Helene an, garnierte sie mit Mandelsplittern und raspelte gerade einen Hauch Bitterschokolade darüber, als Mutter mit den restlichen schmutzigen Tellern in die Küche rauschte. Sie stellte das Geschirr neben die Spüle und trat zu Liesel.

»Lass dich von Xaver nicht ärgern«, sagte sie und strich ihr aufmunternd über die Wange. »Du bist eine fleißige Ehefrau, die ihren Platz im Leben kennt. Der Xaver dagegen hat noch nix vorzuweisen, der wird sich schon noch die Hörner abstoßen. So dummen Bemerkungen solltest du die Aufmerksamkeit geben, die sie verdienen, nämlich gar keine.«

»Weiß ich doch, Mutti«, sagte Liesel, »aber Xaver muss einfach immer alles kaputt machen.«

»Er hat halt noch viel zu lernen.« Mutter nahm ein paar der Perlen zwischen Finger und Daumen und rieb anerkennend darüber. »Lass dir die Freude an der schönen Kette nicht vergällen. Die hat der Peter ausgesucht, weil er eine schöne Frau an seiner Seite wissen will.«

»Danke, Mutti.« Liesel legte ihre Hand an die Perlen. Sie fühlten sich seidig und gut an. Mutter hatte recht. Sie durfte sich von ihrem dummen kleinen Bruder nicht die Freude an Peters Geschenk vermiesen lassen. Manchmal war sie einfach zu empfindlich. Ganz besonders seitdem Vater Peter einfach so aus der Geschäftsführung abgeschoben hatte. Damit hatte Vater sie genauso getroffen wie Peter selbst.

»Kommt ihr?« Gerda trat mit den leeren Schüsseln und Platten durch die Tür. »Vater möchte uns die großen Neuigkeiten mitteilen.«

Wieder am Tisch reichte Liesel die Nachspeise herum, sie selbst hatte plötzlich keinen Hunger mehr.

Die großen Neuigkeiten. Worum es wohl ging?

Sie beobachtete Vater. Das noch dichte blonde Haar vermischte sich an den Schläfen zunehmend mit Grau, um die blauen Augen zogen sich feine Linien, nur wenn er lachte, zeigten sich links und rechts ein paar ausgeprägte Falten. Unter den Augen jedoch lagen seit Neuestem dunkle Schatten. Ob es ihm nicht gut ging? Sie suchte nach weiteren Anzeichen von Krankheit, doch abgesehen von den Augenringen wirkte Vater gesund und munter – und außerdem, würde er in aller Ruhe seine Birne Helene löffeln, wenn er eine Hiobsbotschaft mit sich herumtrüge?

Schließlich schob Vater die Schüssel von sich, nahm die schon zurechtgelegte Zigarre und zündete sie an.

»Nun«, begann er und paffte einen kreisrunden Rauchring über den Tisch, »ich habe eine ernste Angelegenheit mit euch zu besprechen.«

Liesel hielt erschrocken die Luft an. Ernst? War Vater doch krank?

»Ein alter Freund«, fuhr er fort, »ließ mir eine Warnung zukommen.«

Warnung? Verwirrt sah Liesel zu Gerda. Wusste sie, wovon Vater sprach? Doch Gerdas gerunzelte Stirn verriet, dass sie ebenso im Dunkeln tappte.

»Im Rahmen eines Strafverfahrens sind ungeheure Anschuldigungen gegen mich erhoben worden.«

»Was?«, rief Liesel aus.

»Was für Anschuldigungen?«, rief Gerda.

»Was für ein Strafverfahren?«, fragte Xaver.

Vater hob beschwichtigend die Hände. »Es geht um angebliche Kriegsverbrechen, an denen ich beteiligt gewesen sein soll. Natürlich ist nichts dran an der Sache. Ihr wisst doch, wie viele unbescholtene Bürger nach dem Krieg plötzlich zu Verbrechern stigmatisiert wurden.«

»Aber Vati«, begann Gerda, doch Vater gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen.

»Ich habe die Sache lange diskutiert und glaube nicht, dass ich von unseren Gerichten heutzutage noch ein gerechtes Verfahren erwarten kann. Ganz zu schweigen von der Gefahr, dass andere ihre Schuld auf mich schieben, um sich selbst reinzuwaschen, während ich unschuldig in Haft sitze.«

»Aber Vati!«, rief Liesel erschrocken aus. Haft? Gefängnis? Ihr Vater? Nein, das konnte nicht sein!

»Ge…Gefängnis?«, flüsterte Gerda, deren Gesicht mit einem Mal die Farbe des Tischlakens annahm.

»Dazu werde ich es selbstverständlich nicht kommen lassen.« Vaters Miene verdunkelte sich. »Keinen Fuß werde ich in ein Gefängnis setzen und riskieren, dass ich dort verrotte. Ich lasse mir von denen nicht meine Ehre nehmen. Niemals.«

Liesel sah, wie Xaver den Kopf schüttelte, Gerda entsetzt die Hand vor den Mund legte, Mutter mit zusammengekniffenen Lippen wissend nickte. Es war so unwirklich. Das konnte nicht wahr sein, niemals konnte das wahr sein!

»A…Aber …«, stammelte sie, »was willst du denn dagegen tun?«

»Ich werde das Land verlassen.«

»Was? Vati … Nein! Wohin denn? Das geht doch nicht! Aber du kannst doch …«

Alle riefen wild durcheinander, sahen sich gegenseitig an, sahen zu Vater, zu Mutter.

»Ruhe!« Vaters Faust krachte auf den Tisch. Die Gläser und Schüsseln klirrten, die Stimmen verstummten. »Ich kann und werde Deutschland verlassen, und zu eurem und meinem Schutz werde ich keinem von euch verraten, wo ich hingehe oder wer mich gewarnt hat.«

»Aber wie sollen wir dann Kontakt mit dir aufnehmen?«, fragte Gerda verzweifelt.

»Gar nicht. Man wird euch im Visier haben, und jeder Kontakt zu mir würde meine Sicherheit gefährden.« Vater ließ seinen Blick über die Runde gleiten, zog an der Zigarre und paffte einen weiteren Rauchring in die Luft. »Es werden Polizisten kommen und nach mir fragen. Offiziell bin ich auf einer Geschäftsreise in Frankreich. Ich habe die Reise in meinen Kalender eingetragen und ein Hotelzimmer in Lyon reservieren lassen. Das werden die Herren nachprüfen, und ihr seid entlastet.«

»Und das Geschäft?«, fragte Liesel.

»Irgendwann wird Gras über das Ganze gewachsen sein«, sagte Vater. »Schließlich kann diese Hetzjagd auf uns nicht ewig dauern. Dann komme ich zurück.«

»Und wer soll bis dahin das Geschäft übernehmen?«

Vater sah sie prüfend an. Plötzlich fühlte Liesel sich unwohl. Hätte sie das nicht fragen dürfen? Dachte Vater nun, dass sie gefühllos war, weil sie ans Geschäft dachte, während er um seine Freiheit bangte? Aber das war sie nicht! Dass Vater fliehen musste, war schrecklich. Trotzdem musste jemand seine Position in der Firma übernehmen.

»Nun, liegt das nicht auf der Hand?« Vaters Blick ruhte noch immer auf ihr.

Sie spürte, wie sie errötete, denn ja, ihr war es absolut klar. Peter, ihr Peter und niemand anders, musste in seine Fußstapfen treten, er war der Älteste und der Erfahrenste, er war die einzige sinnvolle Lösung – auch wenn er kein Branniger war. Und doch traute sie sich nicht, seinen Namen auszusprechen. Sie blickte zu Peter, der ihren Blick jedoch mied. Warum? Weil er Angst davor hatte, in Vaters Fußstapfen zu treten? Oder weil er Angst davor hatte, nicht als Nachfolger ausgewählt zu werden?

»Selbstverständlich wird Xaver meinen Platz einnehmen«, sagte Vater schließlich.

Xaver? XAVER? Liesels Augen wurden groß. Das konnte doch nicht Vaters Ernst sein! Xaver? Der noch nichts auf die Reihe gebracht hatte? Xaver schaffte es nicht einmal, neben dem Studium Klarinette zu üben, und nun sollte er neben dem Studium eine Firma leiten?

Vater wandte sich an Xaver. »Ich habe dir Prokura übertragen. Das Einzige, das du damit nicht machen kannst, ist, sie an eine andere Person zu übertragen, um dich aus der Verantwortung zu stehlen.«

»Aber … Vater!«, rief Xaver. Seine Panik war so hörbar wie sichtbar.

»Es gibt kein Aber«, donnerte Vater. »Du bekommst Prokura. Ab Montag ist dein Studium beendet, und du übernimmst die Leitung der Firma. Gerda wird dir assistieren, sie kennt sich bestens aus und wird dir eine gute Beraterin auf deinem Weg sein.« Er wandte sich an Gerda. »Du weißt, liebe Gerda, ich wünsche mir seit Jahren, dass du endlich einen guten Mann findest, der dich heiratet. Aber nun bin ich froh, dass du in nächster Zeit auf niemanden Rücksicht nehmen musst, wenn es heißt, deinem Bruder unter die Arme zu greifen. Ich verlasse mich darauf, dass du Xaver so lange unterstützt, wie er dich braucht.«

Gerda nickte und schüttelte den Kopf gleichzeitig.

Der schrille Ton der Türklingel ließ Liesel zusammenzucken.

Vater sah auf seine Armbanduhr. Sorgsam legte er seine Zigarre in den Aschenbecher. Er stand auf und mit ihm alle anderen. »Nun heißt es wohl Abschied nehmen.«

Er drückte Gerda kurz an sich, nickte aufmunternd. Als Nächstes klopfte er Xaver auf die Schulter. »… verlasse mich auf dich …«, hörte Liesel ihn sagen, dann drehte er sich zu Peter. »… keine Ausnahme …«, verstand sie nur. Eine letzte Anweisung, wie Peter mit Kunden umzugehen hatte?

»Und du«, wandte er sich schließlich an Liesel, »schenkst deinem Mann endlich einen strammen Jungen.«

Liesel schluckte. Wusste er nicht, dass sie bereits seit Jahren alles versuchte, um ein Kind zu bekommen?

Da hatte Vater sich schon umgedreht und marschierte aus dem Esszimmer. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich, als wollte er verhindern, dass man sah, wer ihn abholte.

Waren das wirklich seine letzten Worte an sie, bevor er mir nichts, dir nichts verschwand? Sie spürte Mutters Arm um die Schulter und begriff, dass Vater für die eigene Ehefrau nicht einmal ein Lebewohl übrig gehabt hatte. Weil er sich über die Jahre schon so sehr von ihr entfernt hatte – oder hatten sie sich schon lange vor diesem Mittagessen voneinander verabschiedet?

3

Billie

»Vierzehn Zoll?«, murmelte Billie, »das stimmt doch nie und nimmer.« Sie zückte genervt Bleistift und Block, blendete die eifrigen Tippgeräusche ihrer Kolleginnen aus und rechnete nach. Dreizehneinhalb Zoll standen am Ende unter dem Strich, und das hieß, die Folgerechnung und alle Zeichnungen waren ebenfalls falsch. Eigentlich sollte es ihr egal sein. Solange das Ingenieurbüro sie nur als Schreibkraft und nicht als Ingenieurin beschäftigte, war es nicht ihre Aufgabe, die Berichte auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Genau genommen, war sie dazu nicht einmal befugt. Aber sie war nun einmal Ingenieurin, und als solche konnte sie keine offensichtlichen Fehler abtippen. Schon gar nicht bei diesem Prestigeprojekt für eine amerikanische Firma. Eine hochmoderne Abfüllanlage für Gewürzsoßen, wie sie in Deutschland noch nicht existierte.

Sie erhaschte Ruths Blick, die mit dem Kopf mahnend zur unermüdlich tickenden Wanduhr am Ende des Schreibbüros wies.

Billie nickte und lächelte Ruth an. Es war nett von ihr, dass sie sich Sorgen machte. Wenn Billies Schreibmaschine stillstand, bedeutete das am Ende des Tages ein nicht erfülltes Soll und damit Ärger. Selbst Ruth arbeitete mit mehr Verstand als der Verfasser dieses Berichts. Sie blätterte zum Deckblatt. Gerald Schroeder, klar, die Oberpfeife mal wieder. Das war nun mindestens das fünfte Mal, dass sie von ihm fehlerhafte Berichte zum Abtippen bekommen hatte. Und damit auch das fünfte Mal, dass sie seinetwegen gegen die Regeln verstieß, weil sie sich weigerte, die Fehler abzutippen.

Sie blätterte weiter durch den Bericht, rechnete, korrigierte, kommentierte. Und für so einen Müll bekam er auch noch mindestens das doppelte Gehalt!

»Was machen Sie da schon wieder?« Schroeder stand plötzlich neben ihrem Schreibtisch. »Sie wissen, dass Sie das nicht dürfen!«

»Halten Sie doch einfach den Mund, und seien Sie froh, dass ich Ihre Fehler korrigiere«, fuhr Billie ihn an.

Schroeder stellte sich breitbeinig an ihren Tisch. »Haben Sie mir gerade den Mund verboten?«

Billie legte den Finger an die Lippen. »Sehen Sie nicht, dass ich denke?«

»Das wird Konsequenzen nach sich ziehen!« Wutschnaubend grabschte Schroeder seinen Bericht und stürmte aus dem Schreibsaal.

»Mensch, Billie!«, raunte Ruth ihr zu. »Musst du immer den Schroeder ärgern? Der ist das doch nicht wert!«

»Seine Berichte sind falsch.«

»Na und? Das ist doch nicht dein Problem! Er ist der Neffe vom Chef, der kann abgeben, was er will, Ärger bekommt immer ein anderer.«

»Hast ja recht. Fällt mir halt schwer, Unsinn abzutippen.« Seufzend griff sie nach dem nächsten Bericht. Sie las den Namen auf dem Deckblatt. Mayer, Thomas. Zufrieden nickte sie. Darin würde sie bestimmt keine Fehler finden. Nicht einmal einen Rechtschreibfehler. Niemand hier arbeitete so korrekt wie Herr Mayer. Und keiner war so freundlich.

Die Tür klappte, entschlossene Schritte näherten sich. Billie drehte den Kopf und seufzte innerlich. Nun hatte diese Kröte doch glatt wieder den Personalchef im Schlepptau.

»Frau Neumann«, sagte dieser bereits, »würden Sie bitte mit mir ins Personalbüro kommen?«

»Ich habe eine Menge Arbeit hier liegen«, sagte Billie und versuchte ihre Nervosität zu überspielen. »Kann das nicht warten?«

»Sie machen aber leider nicht die Arbeit, für die wir Sie bezahlen«, sagte der Personalchef spitz. »In Kürze kommt der Kunde, für den Herr Schroeder den Bericht angefertigt hat, und nun haben wir für die Besprechung nichts als ein vollkommen verschmiertes Exemplar seiner Arbeit.«

»Ein korrigiertes Exemplar seiner dilettantischen Arbeit«, murmelte Billie.

»Ich lass mir doch von einer Tippse nicht meine Arbeit kritisieren«, empörte sich Schroeder.

TIPPSE? Was bildete diese Kröte sich ein? Nicht eine Seite würde er fehlerfrei abtippen, geschweige denn in dem Tempo, das dabei verlangt wurde. »Denken Sie lieber mal darüber nach, was es über Ihre Arbeit aussagt, wenn sogar die Tippse Fehler darin findet«, presste sie mühsam beherrscht heraus und wandte sich an den Personalchef. »Wie lange wollen Sie Schroeders Inkompetenz noch decken? Und das bei diesem Projekt! Halten Sie die Amis für so dämlich, dass die das nicht merken?«

»Ich muss schon bitten, Frau Neumann«, polterte der Personalchef. Alle Schreibmaschinen standen inzwischen still. Nicht ein Klacken war noch zu hören, nicht einmal das Atmen ihrer Kolleginnen. Als hielten sie alle zusammen für sie die Luft an.

»Um was genau müssen Sie mich bitten?«, fragte Billie nach. »Dass ich wissentlich Fehler abtippe?«

»Machen Sie einfach die Arbeit, für die Sie angestellt sind. Und hören Sie um Himmels willen auf, sich Herrn Schroeder und mir gegenüber im Ton zu vergreifen. In diesem Hause heißt es noch immer Herr Schroeder. Seien Sie froh, wenn ich das ein letztes Mal auf sich bewenden lasse. Das nächste Mal folgt eine Abmahnung.«

»Ach?«, ätzte Billie. »Dass der Schroeder mich als Tippse bezeichnet, ist in Ordnung, aber ich werde abgemahnt, wenn ich das Herr vor seinem Namen weglasse? Ihr habt sie doch nicht mehr alle!«

»Wir haben was?«, zischte der Personalchef, sichtlich bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren.

»Nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Schläfe. »Einen Vog…«

»Siehst du«, unterbrach Schroeder sie entrüstet, »die Tippse ist vollkommen verrückt.«

»Die Tippse hat vor allem ausgetippt.« Billie riss die Schublade mit ihren persönlichen Gegenständen auf, grabschte wahllos den Inhalt und leerte ihn in ihre Handtasche. »Zumindest so lange, bis auch der Herr Schroeder kapiert, dass hier keine Tippsen arbeiten, sondern Frauen, die einen anspruchsvollen Beruf gelernt haben. Ich glaube nicht, dass Herr Schroeder unsere Arbeit erledigen könnte.«

Abrupt stand sie auf. Das Schleifen des Stuhls knirschte überlaut in dem totenstillen Saal. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Ungläubige. Bewundernde. Verlegene. Sie lächelte Ruth an und zuckte die Schultern. Ruth hatte ihr vorausgesagt, dass sie Ärger bekommen würde. Ruth hatte recht behalten.

Ohne ein weiteres Wort drehte sie Schroeder und dem Personalchef den Rücken zu und ging zum Ausgang.

»Frau Neumann!«, brüllte der Personalchef ihr nach. »Wenn Sie sich nicht augenblicklich wieder setzen, sind Sie fristlos entlassen.«

Sie ging weiter. Wenn man fristlose Entlassungen hätte sammeln können, wäre ihre Sammelkarte bald voll gewesen. Sie trat aus dem Schreibbüro in den breiten Gang, der zum Eingangsbereich führte.

»Frau Neumann!«, hallte die Stimme des Personalchefs durch den Flur.

Sie ging weiter, beschleunigte sogar noch ihren Schritt, wollte nur noch raus aus diesem schrecklichen Laden.

»Frau Neumann!«, brüllte der Personalchef erneut.

Sie drehte sich um, blieb jedoch nicht stehen.

In dem Moment prallte sie gegen etwas. Hart und weich zugleich. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, landete auf dem Mann, mit dem sie gerade zusammengestoßen war. Ihr Kopf war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Große braune Augen, ein sommersprossiges Gesicht. Sie erkannte ihn sogleich: Herr Jenkins, der amerikanische Kunde, an dessen fehlerhaftem Bericht sie gerade gesessen hatte.

»Entschuldigen Sie, I am so sorry.« Billie rappelte sich hoch und richtete ihre Brille gerade, als schon der Personalchef neben ihr auftauchte.

»Jetzt rempeln Sie auch noch unsere wichtigsten Kunden um«, raunte er leise. »Ihr Verhalten wird Konsequenzen haben! Sie können geradewegs Ihre Papiere holen.« Der Personalchef half Jenkins auf die Beine und entschuldigte sich übergebührlich für die Unannehmlichkeiten.

Jenkins streckte Billie die Hand hin. »Steve Jenkins. Sie arbeiten hier?«

»Frau Neumann ist eine der Damen, die Berichte abtippen«, erklärte der Personalchef etwas zu eilfertig.

»War«, korrigierte Billie und schüttelte zum sichtbaren Unbehagen des Personalchefs Jenkins’ Hand. »Mir wurde gerade gekündigt, weil ich die Fehler in Ihrem Bericht verbessern wollte.«

»Frau Neumann!«, zischte der Personalchef.

»Fehler?«, fragte Jenkins nach. »Welche Fehler?«

»Da müssen Sie sich nur den von mir korrigierten Bericht ansehen.« Damit drehte Billie sich um und lief aus dem Gebäude. Sie lief, solange sie auf ihren Pfennigabsätzen laufen konnte, was nicht besonders weit war. Aber immerhin hatte sie etwas Abstand zwischen sich und das Ingenieurbüro gebracht. Sie blieb stehen und sah an sich hinunter. Was hatte sie nur wieder angerichtet?

Ihre Strümpfe waren zerrissen. Ihr linkes Schienbein war aufgeschrammt, eine dünne Blutspur lief das Bein hinab.

Sie seufzte. Wann würde sie sich endlich in den Griff bekommen? Das war nun der vierte Arbeitsplatz, den sie verloren hatte. Weil sie sich nicht unterordnen konnte, wie Walter sagte.

Sie stöhnte auf. Walter. Wie sollte sie ihrem Mann nur beibringen, dass sie schon wieder gefeuert worden war?

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