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Das Auge der Athene

hier erhältlich:

Die prominente Wahrsagerin Mimi Tran liegt in einer Lache aus Blut, makabere Fingermalereien zieren die Wände ihres Hauses... Detective Seven Buchard fragt sich, ob die Frau ihren Tod hat kommen sehen. Was zunächst wie eine gewöhnliche Morduntersuchung beginnt, wird bald zur nervenaufreibenden Jagd nach einem Serienmörder. Was weiß die von Visionen heimgesuchte Künstlerin Gia Moon über die zukünftigen Opfer, und welche Verbindung hat sie zu dem Irren, für den die Vervollständigung seiner bizarren Kunstsammlung zur Obsession geworden ist? Seven findet sich in einem Spiel aus Gier und Mord wieder


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955761592
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cameron Cruise

Das Auge der Athene

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Collector

Copyright © 2007 by Olga Bicos

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Übersetzt von Volker Schnell

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln; Getty Images München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-159-2

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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PROLOG

Dein Name ist Dog.

Du findest den Namen nicht grausam, nur ironisch. Wenn die Kids anfangen, dich Dog – Hund – zu nennen, hältst du sie für bloße Gehilfen, unfähig oder unwürdig, deinen Namen richtig auszusprechen. Sie sagen ihn rückwärts.

Dog.

God.

So ist das dein ganzes Leben lang gewesen. Nur wenige sind würdig.

Du erinnerst dich an all die Namen, die dir als Novize beigebracht wurden: Ra, Brahma, Zeus, Quetzalcoatl, Odin. Du schließt die Augen und flüsterst deinen eigenen Namen, fügst ihn der Liste hinzu. Deine Haut glüht vor Begeisterung über deine Brillanz. In einem Teil deines Hirns weißt du: In Wahrheit ist das Schmerz. Diesmal schlägt er dich mit seinem Gürtel.

Du lächelst heimlich. Mit dem Schmerz kommt die Macht des Wissens: Du hast die Kontrolle, du ziehst die Fäden.

Blutvergießen, so hat man es dich gelehrt, ist ein wichtiges Ritual, das die Zeitalter überdauert hat. Druiden haben Menschen aufgeschlitzt, um aus dem Zucken der Gliedmaßen und dem Muster des Blutes die Zukunft zu lesen. In Indien gab es den Thuggee-Kult; die Anhänger von Kali, der Hindu-Göttin des Todes, verstümmelten ihre erwürgten Opfer, indem sie ihnen die Augen ausstachen und ihnen die Eingeweide herausrissen. Vor vielen Jahrhunderten griffen aztekische Priester in den Brustkasten von Menschen, um das noch schlagende Herz herauszuholen, und die Kraft des Lebens floss vom Altar, Nektar für die Götter.

Auch du verlangst dein Opfer.

Zu dieser späten Stunde ist es nicht schwer, an der Wache vorbeizukommen, falls man den Posten so nennen kann, der zurückgelehnt gegen den Maschendrahtzaun in seinem Stuhl döst. Du gehst vorbei an mit Seilen abgesperrten Mosaikteilen, alten Steinen und Skulpturen, die aussehen wie Spielzeug, zerbrochene Stücke, mit großem Aufwand wieder zusammengefügt, ein Zeugnis für ihren hohen Wert. Jeden Tag stehen hier voller Bewunderung Schlangen von Touristen und Reiseleitern, aber du begehrst etwas völlig anderes.

Du gehst den Kalksteinpfad entlang, vorbei an zwei Studentinnen, die miteinander tuscheln; es klingt wie Deutsch. Du bewegst dich völlig unauffällig, bloß ein weiterer Student, an den sich niemand mehr erinnern wird, wenn der Morgen kommt. Das Mädchen mit dem glänzenden blonden Haar wirft dir einen Blick und ein Lächeln zu und sagt: “Grüezi.” Also Schweizerinnen. Ohne es zu wollen, lächelst du zurück.

Der Vollmond scheint auf die Ruinen wie Bühnenstrahler. Du kennst den genauen Zeitpunkt, an dem das Spiel beginnt, denn du bist den Hauptpersonen auf den Fersen. Du verpasst nicht eine Sekunde. Du weißt, er wird sie an einen sicheren Ort bringen. Kein Mensch wird in der Nähe sein, und außer dir wird es kein Publikum geben.

Im Augenblick folgt sie willig, aber du erwartest bereits, dass sie sich gleich wehren wird.

Verborgen im Schatten, beobachtest du, wie sie streiten. Sie macht eine schneidende Handbewegung, eine eindeutige Antwort: Nein. Unter gar keinen Umständen! In diesem Moment greift er zu.

Er reißt sie an den Haaren, zieht sie weiter. Er schlägt sie, wieder und wieder. Sie blutet aus dem Mund und aus der Nase, aber sie ist eine starke Frau, sie taumelt nicht. Sie kratzt ihn im Gesicht und tritt wild um sich. Nur hat sie inzwischen die Schlinge um den Hals.

Er presst sie runter auf den Boden. All das erinnert dich jedoch mehr an die Brandmarkung von Vieh als an eine religiöse Zeremonie. Du hattest dir etwas Besseres erhofft.

Dein Gehör ist ausgesprochen scharf, und du genießt die Musik ihres Todes, als ihr Atem tief in ihrer Kehle zu brechen beginnt. Du kannst ihr Gesicht nicht sehen – er beugt sich über sie und versperrt dir die Sicht –, aber ihre Beine und Arme hämmern zitternd auf den Boden.

Du weißt, er hat nichts anderes vor, als sie umzubringen und ihr den Schatz abzunehmen. Er macht es schnell – viel zu schnell. Dieser Tod lässt ihr keine Gerechtigkeit widerfahren. Du willst schreien vor Enttäuschung. So nicht!, flehst du stumm, denn du weißt, ihr Leben und ihr Werk hätten eine viel größere Hommage verdient.

Als sie sich endlich nicht mehr bewegt, lässt er die Schlinge los und fällt neben ihr auf den Boden, ausgepumpt, als hätte er eine große Schlacht geschlagen. Aber schon bald kommt er wieder hoch und kniet sich neben den leblosen Körper. Hektisch durchsucht er die Taschen ihres Blousons und findet, was er sucht. Du fragst dich, wie er sie dazu gebracht hat, den Schatz hierher mitzubringen. Voller Erleichterung wiegt er den Stein vor seiner Brust.

Nachdem er gegangen ist, näherst du dich in vollkommener Stille. Du stehst über ihr und siehst das Seil, mit dem er sie erwürgte. Es hängt noch immer um ihren Hals. Schlampig.

Ihre Haut schimmert wie das Mondlicht, das von dem alten Marmor um dich herum reflektiert wird. Du kniest nieder und wischst mit dem Daumen das Blut von ihrer Unterlippe. Nicht genug Licht, um Farben zu erkennen. Das Blut ist bloß ein dunkler Fleck auf ihrer weißen Haut. Du lutschst das Blut von deinem Daumen. Es schmeckt wie eine alte Münze.

Du weißt genau, was du willst, stellst dir ihre blauen, blauen Augen vor. Aber du musst vorsichtig sein.

Plötzlich hörst du keuchenden Atem. Ihre Brust beginnt sich zu heben, als sie würgend Luft holt. Ihre Augen öffnen sich. Die Finger ihrer rechten Hand erwachen zuckend zum Leben. In diesem Augenblick schnellst du vor wie eine Spinne, die über ihr Netz huscht.

Du greifst das Seil an beiden Enden. Keine Zeit, irgendeinen deiner grandiosen Pläne in die Tat umzusetzen; Schuld daran ist der andere, der vor dir dran war. Du stehst über ihr und registrierst genau den Moment, in dem sie dich erkennt. Das Wissen über ihr Schicksal liegt in ihrem erstaunten Blick.

Während sie zappelt, summst du ein Lieblingslied aus deiner Kindheit vor dich hin.

Es war einmal eine alte Frau, die verschluckte eine Fliege.

Warum bloß verschluckte sie die Fliege?

Vielleicht macht sie gerade die Biege …

Du lächelst wissend, denn am Ende machen sie alle die Biege.

1. KAPITEL

Trisha Tran, demnächst Trisha Chance, versuchte, sich nicht zu ärgern. Sie blickte nervös auf die Uhr am Armaturenbrett des Wagens.

Sie könnte ihre Mutter umbringen. Sie hockte in Tommys glühendem Honda Civic – die Klimaanlage war natürlich wieder kaputt – und wartete, dass die Ampel auf Grün umschaltete. Sie hatte die Fenster heruntergelassen und musterte besorgt den Obdachlosen, der nur ein paar Meter entfernt an der Ecke stand. Er fuchtelte mit den Fingern in der Luft herum, stritt sich mit irgendwem, der nur für ihn selbst existierte, sein sonnenverbranntes Gesicht verzog sich in der Hitze des einseitigen Gefechts.

Sie wandte sich genau in dem Moment ab, als der Typ merkte, dass sie ihn anstarrte. Sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Toll, einfach toll.

Eigentlich waren Obdachlose hier im kalifornischen Paradies von Orange County ein gewöhnlicher Anblick, aber heute hätte Trish wegen jeder Kleinigkeit aus der Haut fahren können. Lieber Gott, sie hatte Tante Mimi seit der letzten Gedenkfeier zum Todestag nicht gesehen.

Die Ampel sprang auf Grün, und Trisha röhrte mit dem Honda über die Kreuzung, wobei sie sich einen vorwurfsvollen Blick von der winzigen Frau einfing, die auf dem Beifahrersitz saß. Ihre Mutter langte nach dem Radio und stellte einen anderen vietnamesischen Sender ein. Trisha erlaubte sich ein langes Seufzen. Was für eine Zeitverschwendung.

Trisha hatte nicht viel Zeit, die sie verschwenden konnte. Sie machte gerade ihren Abschluss an der Chapman University, den sie sicher mit der höchsten Auszeichnung bestehen würde, und musste ihre Hochzeit vorbereiten. Das Letzte, was sie brauchte, war dieser blödsinnige Besuch bei einer Wahrsagerin. Aber hier war sie nun, kämpfte sich durch den Dschungel des Verkehrs von Little Saigon, um einer der abergläubischen Vorstellungen ihrer Mutter nachzugeben.

Das Allerschlimmste war – ihre Angst, dass Tante Mimi etwas Schlimmes vorhersagen könnte. Dann säßen sie und Tommy wirklich in der Patsche. Es hatte ihre Eltern sowieso schon fast umgebracht, als Trisha ihren blonden, grünäugigen Verlobten vorstellte. Tatsächlich hatte sie für sich behalten, dass sie mit einem weißen Jungen ging, bis Tommy ihr einen Heiratsantrag machte. Es war anzunehmen, dass ihre Eltern keine weiteren schlechten Nachrichten vertragen würden.

Plötzlich schwenkte der Wagen neben ihr über zwei Fahrspuren mitten durch den Verkehr nach links. Sie trat in die Eisen, Zentimeter vor der Stoßstange von dem Idioten, der in der Wendeschleife völlig zum Stehen kam. Sie versuchte, den auf der Hand liegenden Gedanken zu verdrängen – dieses blöde Asiaten-können-nicht-Auto-fahren-Vorurteil. Aber der Mann am Steuer erwies sich als ein alter Jude, der eine Yarmulke trug. Ihre Mutter neben ihr murmelte ein stilles Gebet.

Trisha fragte sich, ob das nicht eine Art Zeichen war. Fahr zurück! Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee, sich von Tante Mimi die Zukunft weissagen zu lassen.

Im Geist schimpfte sie mit sich selbst. Sei nicht so melodramatisch! Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße. Trisha war sich darüber im Klaren, dass der breite Boulevard mit den Gewerbegebieten und Einkaufszentren links und rechts etwas ganz anderes war als das, was Touristen erwarteten, die bei der vielversprechenden Ausfahrt “Little Saigon” von der Autobahn abfuhren. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie Tommy hierher brachte. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Tommy kam aus San Francisco, wo Chinatown ein aufregender Ort mit farbenfrohen Fassaden und Horden von Touristen war.

Hier in Westminster, Kalifornien, war Little Saigon ein ausgedehntes Gebiet voller Flachbauten, mit lauter Autowerkstätten und armseligen Wohnwagensiedlungen. Nur wenige strategisch platzierte Läden zeigten ein paar der architektonischen Schätze, wie man sie früher im alten Saigon fand: geschwungene Ziegeldächer, der alte französische Kolonialcharme, Türen, die nach den Prinzipien des Feng Shui angebracht waren. Irgendwo hatte Trisha gelesen, eins der Shoppingcenter, als Touristenattraktion geplant, sollte jetzt abgerissen werden, um Platz für Einfamilienhäuser zu machen.

Sie beugte sich vor, um die aus dem Radio röhrende Musik leiser zu stellen – sie könnte schwören, dass ihre Mutter langsam taub wurde – und fing sich einen weiteren missbilligenden Blick ihrer Má Ma ein.

Tommy, Trishas Verlobter – fast jeder nannte das Paar TNT –, lag ihr ständig in den Ohren, sie solle nicht so ungeduldig mit ihren Eltern sein. Er konnte nicht verstehen, warum es so schlimm für Trisha war, sich von einer Wahrsagerin den Hochzeitstag festlegen zu lassen. Er hatte keine Ahnung von der vietnamesischen Kultur, von dem enormen, fast krankhaften Einfluss, den Wahrsager und Astrologen ausübten. Der Herr verhüte, dass ein im Jahr des Tigers geborener Mensch jemanden heirate, der im Jahr des Pferdes geboren war.

Und davor hatte Trisha Angst: Dass ihre Mutter Tante Mimi dazu benutzen könnte, ihre Heirat mit Tommy zu verhindern. Je nachdem, was Tantchen zu sagen hatte, könnte ihre Mutter von endlosem Leid und Trauer und Missgeschick faseln und sie vielleicht sogar ins Bett stecken. Als Nächstes würde Trishas Heirat die Ehre der Ahnen verletzen. Prompt würde jedermann sich auf Más Seite schlagen. Ihre Mutter konnte schon ziemlich gerissen sein. Alles und jeden manipulieren.

Trisha biss auf ihre Lippe und fragte sich, ob es wirklich schon zu spät wäre, umzukehren. Aber sie hatten bereits die Asian Garden Mall passiert, auf der die Statue des Glücklichen Buddha die Arme ausbreitete, um Leute zu begrüßen, die etwas Kleingeld loswerden wollten. In dem zweistöckigen Gebäude befanden sich zwei der größten Juwelenläden von Südkalifornien. Ihr Vater hatte erzählt, dass große Gelder flossen, um dieses Einkaufszentrum zu erweitern, und eine ihrer Cousinen behauptete, daraus solle ein richtiges Bermudadreieck für Touristen werden, schließlich waren Disneyland und die Knott's Berry Farm nur ein paar Meilen entfernt.

Diese Cousine betrachtete so etwas natürlich als “kulturellen Imperialismus”. Bei Familienzusammenkünften schwadronierte sie dauernd über die Übel der “Anpassung” und die fundamentalen Fragen der “Kommerzialisierung” und “Verflachung” der vietnamesischen Kultur – was immer das auch heißen mochte.

Trisha machte sich um so etwas keine Gedanken. Sie war nicht auf der Welt, um das Los der vietnamesischen Einwanderer in Südkalifornien zu verbessern. Im Augenblick wollte sie nichts anderes, als ihre Mutter endlich vom Hals haben.

Sie umklammerte das Lenkrad und sprach sich in Gedanken Mut zu. Schließlich hatte sie sogar ihren Vater dazu gebracht, Tommy zu akzeptieren, da sollte alles andere doch eine Kleinigkeit sein – sogar ein Besuch bei Tante Mimi.

Sie bog in die vertraute Wohnstraße ein, konzentrierte sich auf nichts anderes. Sicher, auch ihr war die vietnamesische Herkunft nicht gleichgültig, aber sie war nicht besessen davon. Was immer gleich passieren würde, im Herzen wusste sie, dass sie und Tommy füreinander bestimmt waren.

Die Einfamilienhäuser in dieser Straße sahen nach nichts Besonderem aus. Allerdings konnten sie bei dem durchgeknallten südkalifornischen Immobilienmarkt beinahe eine halbe Million Dollar wert sein.

Das Haus von Tante Mimi unterschied sich nicht von den anderen, bloß ein einstöckiges Gebäude im Ranchstil mit cremefarbenem Stuck und Ziegeldach. Erst im Inneren war zu sehen, wie lukrativ das Wahrsagergeschäft sein konnte. Mimi hatte Kunden in der ganzen Welt. Má hatte mal gesagt, Tantchen könnte für eine einzige Sitzung mehrere Tausend Dollar verlangen.

Eigentlich war Mimi gar nicht ihre Tante. Sie gehörte irgendwie zu der erweiterten Familie, eine entfernte Cousine ihres Vaters oder so. Aber sie war vermutlich das mächtigste Mitglied des Tran-Clans. Trisha hatte vor einiger Zeit versucht, Tommy zu erklären, wie das funktionierte. Ein Wahrsager in Little Saigon war etwas ganz anderes als eine dieser esoterischen Telefon-Hotlines, die im Kabelfernsehen Reklame machten. Da gab es kein Neonschild mit einer ausgebreiteten Handfläche vor Tantchens Tür. Mimi war wohlbekannt und hoch angesehen, eine Hellseherin für die Oberklasse. Anders als bei den meisten Wahrsagern und Astrologen im Viertel erstreckte sich ihr Einfluss weit über die Gemeinde der Einwanderer hinaus. Mimi prahlte oft mit ihrer hochgestochenen Kundschaft, zu der viele Weiße gehörten.

Trisha stellte sich ihre Tante vor. Mimi trug gern Hosenanzüge von St. John und Goldschmuck. Eine Menge Goldschmuck. Trisha erinnerte sich an eine Familienfeier anlässlich des Tet, des vietnamesischen Neujahrsfestes. Tet war der wichtigste Feiertag des Jahres und wurde wochenlang vorbereitet. Für die vietnamesische Diaspora in Little Saigon bedeutete Tet die Ankunft des Frühlings und den Tag, an dem jeder Mann, jede Frau und jedes Kind ein Jahr älter wurde. Und bei so einer Feier hatte Trisha ein schweres Smaragd-Armband an Mimis Handgelenk bewundert. Má hatte ihr hinterher erzählt, dieser Armreif wäre sicher fast zehntausend Dollar wert.

Manchmal machte sich Trisha darüber ihre Gedanken. Ob es wirklich in Ordnung sein könnte, aus den Ängsten und Träumen der Menschen so viel Geld zu schlagen … Nicht, dass sie jemals etwas Schlechtes über Tante Mimi sagen würde. Das käme gar nicht infrage.

Sie parkte vor dem Haus, atmete tief durch und versuchte, etwas von Tommys Zuversicht bei sich hervorzurufen: Das wird schon, Trish …

Sie half Má aus dem Honda und eilte voran, um das schmiedeeiserne Tor zu öffnen. Ihre Mutter war mittlerweile nicht mehr so gut zu Fuß. Arthritis, sagte der Arzt.

Als sie das Tor aufmachte, bemerkte Trisha die schweren Stahlgitter vor den Fenstern von Tante Mimis Haus. Sie runzelte die Stirn. Die sind neu.

Der Vorgarten war vom Duft nach Jasmin erfüllt. Die üppigen tropischen Pflanzen überwucherten den Zaun und schützten das Haus so von der Straße her vor neugierigen Blicken. Weißer Ginster rankte über dem Eingang und bildete einen duftenden Schirm. Ob das Gewächs die Kunden vor den Blicken neugieriger Nachbarn bewahren sollte?

Trish nahm den Arm ihrer Mutter, während sie die zwei kleinen Stufen zur Tür hochstiegen, und tat so, als würde sie den Ratschlägen zuhören, wie sie sich benehmen und was sie sagen sollte. Má nannte Trisha natürlich bei ihrem vietnamesischen Namen, Tuyen, was Engel bedeutet. Alle vietnamesischen Namen bedeuten irgendwas.

Tommy hatte vor Kurzem damit angefangen, sie so zu nennen, nachdem er das von ihren Eltern aufgeschnappt hatte. Trisha war ihr mittlerer, ihr englischer Name. Tommy meinte, für ihn wäre es ein ganz besonderes Gefühl, sie Tuyen zu nennen, und bei ihm, mit seinem amerikanischen Akzent, klang es irgendwie romantisch. Aber bei Tommy klang alles sexy.

Sie lächelte. Manchmal nannte er sie auch Angel.

Sie half ihrer Mutter, sich auf die Holzbank vor der Tür zu setzen, dann klingelte sie und war leicht überrascht, eine daumengroße Kamera über der Tür zu entdecken, die sie fixierte. Sie erinnerte sich nicht daran, dass Tante Mimi so ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem hatte – obwohl das sicher sinnvoll war. Mimi lebte allein und hatte jede Menge teures Zeug da drin.

Trisha setzte sich neben Má auf die Holzbank und hoffte, dass Tante Mimi sie nicht zu lange warten ließ. Dieser kleine Wartebereich war extra herausgeputzt für Besucher. Aus dem aufgerissenen Maul eines Löwen, der eine Inkarnation des Hindu-Gottes Wischnu ebenso wie königliche Macht symbolisieren sollte, plätscherten Wassertropfen. Körbe und Blumentöpfe flossen über von blühenden rosa Fleißigen Lieschen und Fuchsien. Ein angenehmer Ort, an dem Mimis verzweifelte Kundschaft warten konnte. Trisha fand, dass Mimi in Wirklichkeit nur teilweise eine Hellseherin war, teilweise aber auch eine Therapeutin. Die Leute waren bereit, für Ratschläge zu praktisch jedem Thema zu bezahlen.

Trish rief sich ins Gedächtnis, dass sie nur wegen ihrer Má hier war. Einige ihrer frühesten Erinnerungen bestanden daraus, dass ihre Mutter nach Sandelholz duftende Räucherstäbchen anzündete, die neben Schälchen mit süßem Reis standen, dekoriert mit gebratenen Melonenkernen und gezuckerten Kokosnussstreifen, die rosa, gelb und grün gefärbt waren. Eine Mahlzeit für die Geister der Ahnen. In der Vorstellung ihrer Mutter gab es keinen Konflikt zwischen der althergebrachten Ahnenverehrung und dem Katholizismus, den die Familie von den französischen Kolonialherren übernommen hatte.

Das Leben ihrer Mutter drehte sich, wie bei vielen Vietnamesen, um thay boi, die Orakel, die man benutzte, um den richtigen Zeitpunkt für Hochzeiten, Beerdigungen, Geschäftseröffnungen und auch so ziemlich alles andere herauszufinden. Jeden Herbst buk Má Mondkuchen; jeden Winter suchte sie das Grab von Bá auf, um sich auf Tet vorzubereiten.

Trisha schnitt eine Grimasse. Hatte sie den Glauben ihrer Eltern mit der Entscheidung für Tommy nicht schon genug herausgefordert? Ihre Eltern sollten nicht denken, dass sie ihre Identität aufgeben wollte, nur weil sie einen Weißen heiraten würde.

Als ihre Mutter jedoch mit einem Thema anfing, das sich bestimmt zu einem weiteren langatmigen Vortrag entwickeln würde, warf Trisha einen Blick auf ihre Uhr. Lieber Gott. Wie lange soll das denn noch dauern? Sie entschuldigte sich, stand auf und klopfte an die Tür.

Zu ihrer Überraschung schwang die Tür auf, unverschlossen.

Was ziemlich merkwürdig war. Was sollten die Kamera und die Gitter vor den Fenstern, wenn Mimi die Tür offen ließ? Trisha blickte sich zu ihrer Mutter um, die sich langsam erhob. Sie schob ihre Tochter beiseite und eilte durch die Tür, während sie laut Mimis vietnamesischen Namen rief.

Dass Má wie panisch ins Haus lief, überraschte Trisha kein bisschen. Ihre Mutter und Mimi standen sich sehr nahe. Mimi kam dauernd zum Tee. Meistens gab sie Má sehr gute Ratschläge. Nur ein einziges Mal hatte sie ihre Mutter zum Weinen gebracht. Má hatte kein Wort über das Gespräch mit Mimi verloren, aber zwei Wochen später war Bá, Trishas Großmutter, plötzlich gestorben. Unfassbar.

Solange sie sich erinnern konnte, war Trisha der Frau, die sie Tantchen nannte, bewusst aus dem Weg gegangen. Mimi benutzte auch Tarotkarten, und was sie darin las, war manchmal beunruhigend korrekt. Wie bei der Sache mit Bá, und einmal hatte sie die Familie vor einer “freundlichen Schlange” gewarnt. Ein paar Wochen später stellte sich heraus, dass ein Geschäftspartner ihres Vaters eine ganze Menge Geld unterschlug. Es gab haufenweise Geschichten wie diese über Mimi. Trisha wurde ganz anders bei dem Gedanken, dass jemand ihre Zukunft so sicher vorhersagen könnte.

Sie fühlte sich ausgesprochen unwohl, als sie in die Eingangshalle trat und das Stakkato ihrer hochhackigen Schuhe auf dem Marmorboden hörte. Das Haus war seltsam still.

In ihr wuchs die Angst. Sie versuchte, das Gerede ihrer Mutter aus ihrem Kopf zu verbannen. Was, wenn Tommy nicht der Richtige ist, Tuyen? Oder eher: Was, wenn Mimi der Familie einredete, er wäre es nicht? Könnte Trisha wirklich mit ihm durchbrennen, wie sie angedroht hatte?

Plötzlich stand sie einem furchterregenden Bild gegenüber und verzog das Gesicht. Das riesige Ölgemälde bedeckte die halbe Wand im Wohnzimmer und zeigte einen untersetzten, grinsenden Dämon, der fröhlich auf einem himmlischen Thron hockte. Mimi hatte ihr einmal erzählt, was dieses Bild bedeutete. Ein Dämon aus einem buddhistischen Text, der den Zorn anderer Menschen abwehren sollte. Eine Art schwerer roter Nebel sickerte aus seinem schuppigen Körper und bildete einen blutroten Heiligenschein.

Tante Mimi sammelte alles mögliche dämonische Zeugs. Sie war davon überzeugt, dass ihre kleinen Dämonen sie beschützen würden. Trisha ging an der Leinwand vorbei und wendete nervös ihren Blick ab von der Figur auf dem Bild mit den hervorquellenden Augen.

Ihre Tante war wirklich todschick eingerichtet. Möbelstücke aus exotischen tropischen Harthölzern standen auf wunderschönen orientalischen Seidenteppichen. Über dem Kamin hing ein großer Spiegel mit einer komplizierten Schnitzarbeit, die einen chinesischen Phoenix darstellte. Am anderen Ende des Raums befand sich eine wunderschön lackierte Stellwand mit Einlegearbeiten aus Perlen und Muscheln. Auf jede der Tafeln waren vier mythische Figuren gemalt: ein Drache, eine Schildkröte, ein Einhorn und ein Phoenix. Diese vier wurden oft zusammen abgebildet, um Wohlstand, Glück, Liebe und Kraft zu bringen.

Trisha folgte ihrer Mutter hinter die Zwischenwand, wo moderne weiße Ledersofas um den traditionellen Rosenholztisch standen. In einer schwarzen Vase mitten auf dem Tisch steckten mehrere bösartig aussehende lederne Scherenschnitte aus Bali. Diese Darstellungen hatten angeblich große spirituelle Macht. Sie wurden bei besonderen Zeremonien von einem “Schattenspieler” zum “Leben erweckt”. Eigentlich sollten sie Gut und Böse darstellen, aber diese Ansammlung tendierte eindeutig zur bösartigen Seite. Nun ja, dachte Trisha, wer die Zukunft sowieso schon kennt, kann wohl auch in einem Haus voller Dämonen ruhig schlafen.

Ihre Mutter ging an einem Altar vorbei, auf dem ein eindrucksvoller steinerner Buddha stand, davor war ein kleiner Porzellanteller platziert, der Orangen wie Opfergaben darbot. Brennende Räucherstäbchen verbreiteten den Duft von Sandelholz. Ein enormer Flachbildschirm dominierte die gegenüberliegende Wand.

Aber neben dem Sandelholz nahm Trisha noch einen anderen Geruch wahr – einen weit weniger angenehmen. Sie rümpfte die Nase und folgte ihrer Mutter in die Küche.

Es war wirklich geisterhaft still. Trisha wohnte in einer Studentenbude mit vier anderen Mädchen zusammen. Irgendwer machte dort immer Krach, Tag und Nacht. Einen Augenblick dachte sie, dass Mimi vielleicht nicht zu Hause wäre und sie um die ganze Tortur herumkäme.

Das allerdings ergab gar keinen Sinn. Sie hatten einen Termin, und Mimi war überaus professionell. Und die unverschlossene Tür – auf keinen Fall hätte Mimi beim Verlassen des Hauses die Tür aufgelassen.

Trisha beobachtete, wie ihre Mutter die Tür von der Küche zur Garage öffnete und auf den weißen BMW zeigte, der – ja, tatsächlich – auf seinem Platz stand. Wieder roch Trish etwas Seltsames, vermischt mit dem Sandelholzduft. Es erinnerte sie an den Geruch von Stahlschwämmen. Oder an die schwere eiserne Bratpfanne zu Hause bei ihren Eltern. Sie sah sich um; hatte Mimi vielleicht etwas herumliegen lassen, zum Beispiel ein schlecht gewordenes Stück Fleisch? Aber die Küche war blitzblank.

Ihre Mutter schloss die Garagentür und wirkte zum ersten Mal alarmiert.

“Vielleicht sollten wir draußen warten?”, schlug Trish vor, in der Hoffnung, sie könnten das alles einfach vergessen und heimgehen.

So viel Glück hatte sie natürlich nicht. Ihre Mutter rief erneut auf Vietnamesisch nach Mimi. Trisha hörte an ihrer Stimme, dass sie inzwischen das Schlimmste befürchtete. Vielleicht zu Recht. Sie wusste, Mimi bewahrte ein Vermögen an Juwelen hier im Haus auf.

Als sie aus der Küche gingen, fiel Trisha plötzlich ein, aus welchem Grund ihr das stille Haus so merkwürdig vorkam. Mimi hatte einen Vogel. Einen kleinen Sittich. Der Käfig stand in ihrem Arbeitszimmer. Bei jedem Besuch hatte der krächzende Vogel Trisha fast in den Wahnsinn getrieben. Es war eine Art schriller Wachhund, der jedes Mal loslegte, wenn jemand das Haus betrat.

Trisha hörte ihre Mutter im Wohnzimmer aufschreien.

“Má!”

Sie rannte hin, um ihrer Mutter zu helfen, die hinter der Stellwand vor dem Altar stand, mit offenem Mund den Buddha anstarrend.

Trisha entdeckte den Vogel sofort. Oder was davon übrig war.

Vorhin hatte sie ihn nicht bemerkt, denn der kleine Papagei war farblich kaum von den Orangen auf dem Porzellanteller zu unterscheiden. Er war wie eine Opfergabe vor den Buddha gelegt worden.

Ohne Kopf.

Ihre Mutter bedeckte den Mund mit beiden Händen, als ob sie einen Schrei unterdrücken wollte. Trisha ging rückwärts aus dem Raum, die Augen ständig auf den Buddha und seine absonderliche Opfergabe gerichtet. Mit ihrem Kopf prallte sie gegen den Türrahmen. Nur ein unterdrückter Schmerzschrei entwich ihrer Kehle.

Má drehte sich um, sah ihre Tochter an. Sie stand ganz still, und ihr Gesichtsausdruck erinnerte Trisha an ein Wild, das gerade etwas gewittert hat.

Má flüsterte Mimis Namen, dann rief sie ihn immer lauter. Sie schob Trisha aus dem Weg und rannte zurück in die Eingangshalle.

Sie fanden Mimi auf dem Boden des Raums, den sie als Arbeitszimmer benutzte. Sie trug einen ihrer schönen weißen St.-John-Hosenanzüge. Das Blut der Stichwunden ergab ein hässliches Muster auf dem weißen Stoff.

Ihre Augen waren leere blutige Höhlen. Und etwas war in ihren Mund gestopft worden.

Der Kopf des Papageis.

Trisha und ihre Mutter schrien gleichzeitig los.

2. KAPITEL

Kein Mensch gewöhnt sich jemals an den Tod.

Der Tod kann ganz plötzlich kommen, mit einem Stich ins Herz oder einer Kugel durch den Kopf, die dein Hirn über der Wand verspritzt. Der Tod kann dich auf irgendeinem Bürgersteig treffen und dich aus den Schuhen hauen.

Schnell. Sauber.

Er kann aber auch eine finstere Angelegenheit sein. Unheimlich und verrückt. Durchgeknallt.

Detective Stephen “Seven” Bushard beobachtete, wie seine Partnerin um die Leiche des Opfers herumschritt. Die Frau lag wie auf einer Leinwand, die aus ihrem eigenen Blut bestand, Arme und Beine verdreht, als hätte es sie mitten im Lauf erwischt. Der weiße Hosenanzug wirkte wie bewusst gewählt, als wäre das ein Versuch des Täters, eine Botschaft zu übermitteln. Weißer Teppich, rotes Blut – weißer Hosenanzug, rotes Blut.

Sevens Partnerin Erika Cabral kniete neben dem Opfer, um das Gesicht zu betrachten.

“Der Papageienkopf in ihrem Mund ist eine nette Zugabe”, sagte sie.

“Sieht aus, als hätte Polly nicht bloß einen Keks gekriegt.”

Erika verdrehte die Augen, sie hielt nicht viel von seinen Witzen. Jeder anderen Frau in ihrem Outfit, einfache Cordjacke und Jeans, das dicke kastanienfarbene Haar unordentlich zusammengesteckt, hätte niemand hinterhergeguckt. Aber die hautengen Jeans, das kleine bisschen Brustansatz, das sie sehen ließ … wenn sie nicht so eine Spielverderberin wäre, könnte seine Latino-Partnerin das halbe Polizeipräsidium an einem Nasenring hinter sich herziehen.

“Wenn du mich fragst”, sagte sie, “fand jemand nicht toll, was das Opfer zu sagen hatte.”

“Könnte sein”, gab er zu.

“Schon mal davon gehört, dass man den Überbringer schlechter Nachrichten nicht umbringen soll?”, fragte Erika.

Der Techniker von der Spurensicherung, Roland Le, auch ein Vietnamese, hatte bereits ein Video des Tatorts gemacht und fotografierte jetzt. Er machte seine Aufnahmen in einer Art sorgfältig choreografiertem Tanz, den sie nur zu gut kannten. Seven hatte das ein paar Hundert Mal gesehen, den Tod. Aber er hatte sich nie daran gewöhnt.

Wer immer Mimi Tran umgebracht hatte, war ein erstklassiger Irrer.

Das Opfer war einundsechzig Jahre alt, hatte der uniformierte Beamte mitgeteilt, der als Erster am Tatort eintraf und ihn absicherte. Dann hatte er die beiden Frauen verhört, Verwandte von Tran, die das Pech hatten, in diesen Albtraum hineinzuplatzen. Der Gerichtsmediziner würde den Todeszeitpunkt noch genau feststellen, aber Seven konnte schon jetzt durch den bloßen Geruch eine Schätzung abgeben. Ein weiterer knallheißer Tag im sonnigen Kalifornien, und das ganze Haus würde nach Tod riechen.

Mimi Tran hatte offenbar die Farbe Weiß gemocht: weißer Teppich, weiße Ledercouch, weiß lackierte italienische Büromöbel. Die Farbe bildete einen starken Kontrast zu all dem Blut.

Er kniete sich hin, um die fast schwarzen Spritzer auf dem Teppich zu untersuchen. Tränenförmige Tropfen führten zur Tür, dann führte die Blutspur abrupt zurück – beinahe, als ob sie herumgewirbelt worden wäre –, und dicke Tropfen, wie Brotkrumen, führten dahin, wo das Opfer zusammengebrochen war. Seven schätzte ihre Größe auf einsfünfundsiebzig, sie war annähernd achtzig Kilo schwer, nicht leicht zu tragen. Aber trotzdem hatte sie jemand hin und her geworfen wie eine Puppe.

Es gab keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens. Das Opfer besaß ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem, das ausgeschaltet worden war. Beides deutete darauf hin, dass Opfer und Mörder sich kannten.

Seven starrte auf das Blut an den Wänden und auf dem weißen Sofa. Wie immer es sich zugetragen hatte, das Opfer hatte um sein Leben gekämpft.

Jetzt lag die Leiche auf dem Teppich, blutige Höhlen, wo die Augen sein sollten, und der Kopf des Papageis in den Mund gestopft. Wo die Stichwunden waren, sah das Blut auf dem weißen Stoff des Hosenanzugs blütenartig aus, wie diese aufsehenerregenden Designermuster, von denen seine Schwägerin schwärmte. Chanel oder Gucci. Außerdem trug Tran ziemlich eindrucksvollen Schmuck – Diamanten, so groß wie dicke Bohnen, goldene Armreife glänzten an ihren Gelenken, an einem Ohr hing ein kleiner Drache mit feurigen Rubinen als Augen – Raub kam als Motiv nicht infrage.

An einer Wand standen merkwürdige Zeichen, als hätte jemand einen Finger in Mimi Trans Blut getaucht und angefangen, etwas an die Tapete zu malen, es sich aber anders überlegt. Es gab genau fünfzehn dieser Zeichen, keins größer als eine Männerhand. Für Seven sahen sie aus wie ägyptische Hieroglyphen oder vielleicht Höhlenmalereien, wie man sie in Museen findet. Einer der Techniker hatte bereits einen Test gemacht und vorläufig festgestellt, dass es tatsächlich Blut war.

“Wollt ihr wissen, was ich glaube?”, fragte Roland. “Er hat eine Feder von dem Papagei benutzt. Ihr wisst schon, wie einen Pinsel.”

Erika stellte sich neben Seven. Immer noch auf die Leiche starrend, sagte sie: “Bist du okay?”

Sie sagte das einfach so, bloß ein kleiner Austausch unter Freunden. Aber er wusste, was sie meinte.

Natürlich musste sie fragen.

Er schüttelte das ab. “Mir hängt diese Scheiße zum Hals raus, das ist alles.”

Fälle wie diesen bekamen sie nicht oft. Schießereien unter Straßengangs, Verkehrsunfälle, außer Kontrolle geratene Ehestreitigkeiten – klar, der übliche Kram. Aber das hier war anders, sah aus wie eine Art Ritualmord.

“Ich will ein paar Nahaufnahmen von diesen Zeichen an der Wand”, sagte Seven zu dem Mann von der Spurensicherung.

“Erzähl mir mal was Neues.” Aber Roland kniete sich hin und machte die Fotos.

Sie hatten alles nach Fingerabdrücken untersucht und die Verwandten verhört. Sie hatten Trans Laptop und Adressbuch konfisziert. Jedes noch so kleine Fitzelchen am Tatort war dokumentiert worden. Demnächst würde die Leiche zur Gerichtsmedizin transportiert werden.

Und dann mussten sie herausfinden, was zum Teufel das alles bedeuten sollte.

Seven trat näher an die blutigen Symbole, die an die Wand geschmiert waren. Er starrte sie an, runzelte die Stirn, versuchte zu erkennen, was sie darstellen sollten. Zwei geschwungene Linien umspielen einen kleinen Kreis … ein Auge? War das sinnvoll, in Anbetracht des Zustands der Leiche? Er holte einen Stift und einen Notizblock aus der Jackentasche und versuchte, eine Kopie anzufertigen.

Was könnte das bedeuten? Jemand beobachtet – allwissend und alles sehend – und beherrscht mit seiner Omnipotenz das jetzt blinde Opfer?

“Roland? Kannst du mit diesen Zeichen was anfangen?”, fragte Seven und zeigte auf die blutigen Symbole an der Wand. “Sind das Schriftzeichen?”

Der Techniker schüttelte den Kopf. “Vietnamesisch ist es nicht, falls du das wissen willst.” Er blickte zu der Leiche. “Das da allerdings auch nicht.”

In dieser Hinsicht war Seven nicht derselben Meinung. Solche Gewalt konnte in allen Kulturen vorkommen.

“Die Nichte sagt, sie hätten einen Termin gehabt, um einen Glückstag für ihre Hochzeit auszusuchen”, sagte Seven und ging weiter zum nächsten Symbol, einer verwackelten Kopie des ersten.

“Nicht mein Ding”, sagte Roland. “Wahrsager sind eher alte Schule. Als Wendy und ich geheiratet haben, sind wir einfach zum buddhistischen Tempel marschiert, um uns einen Termin geben zu lassen.”

“Alte Schule oder nicht, das Geschäft lief jedenfalls nicht schlecht. Habt ihr euch mal die Karre in der Garage angeguckt?” Erika seufzte sehnsüchtig. “Ein BMW 735i. Mein Traumauto.”

“Es ist nie zu spät, Geld zu heiraten”, neckte Seven.

“Klar. Wo ich beruflich so viele reiche Typen treffe.” Erika schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln, mit dem sie Reklame für Zahnpasta machen könnte.

Erika war nicht ganz einssechzig groß und wog vielleicht fünfzig Kilo, wenn sie sich mit durchnässten Klamotten auf die Waage stellte. Aber sie lief mit dem Selbstvertrauen einer Frau herum, die eine Polizeimarke vorzeigen und den Kerlen auf dem Schießstand zeigen konnte, wo sie hingehörten. Sie hatte das klassische gute Aussehen vieler lateinamerikanischer Frauen. Ihre Kleidung stellte ihre Kurven nicht gerade zur Schau, aber man konnte sehen, dass sie stolz auf ihre Figur war.

Sie drehte sich zum Schreibtisch des Opfers und blätterte mit dem Ende eines Bleistifts die oberste Seite des Terminkalenders um. “Wie meine Mom mir immer gesagt hat, Seven: Eine Frau braucht einen Kerl so dringend, wie ein Stier Titten braucht.”

“Aber sicher. Bestimmt hat sie das genauso ausgedrückt.”

Seven war Erikas Mutter einmal begegnet, einer eleganten Exilkubanerin, die den Eindruck machte, als würde sie sonntags immer noch verschleiert in die Kirche gehen. Allerdings musste er zugeben, dass Erikas Mom auch nicht gerade das Idealbild der ewig treuen Gattin darstellte. Erst letztes Jahr hatte Milagro sich Ehemann Nr. 3 gekrallt.

Erika machte eine Handbewegung, damit Seven zu ihr hinter den Schreibtisch trat. Drei Holzstatuen standen darauf, in einer Reihe wie Paradesoldaten. Sie sahen alt aus, vielleicht sogar museumsreif. Sie hatten monströse Köpfe, und ihre Körper schienen vollständig mit Haaren bedeckt zu sein, was sie wie Yetis aussehen ließ.

“Was sollen diese kleinen Burschen deiner Ansicht nach darstellen?”, fragte sie. “Irgendwelche Götzen?”

“Jedenfalls sind sie nicht die übliche Tischdekoration.”

Sie blickte zu der Leiche. “Vielleicht wirklich ein Ritualmord.”

“Oder der Mörder ist total krank im Kopf.”

Genau das war das Problem. Wenn sie irgendein armes Opfer mit durchschnittener Kehle vorgefunden hätten und der ganze Schmuck weg gewesen wäre, hätten sie den Fall als simplen Raubüberfall mit bösem Ende betrachtet. Die asiatischen Gemeinden waren wie geschaffen für Raubüberfälle. Ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber den Banken bedeutete, dass sich unter den Matratzen jede Menge Kohle finden ließ.

Aber das hier war anders. Draußen hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt, die Nachbarn tuschelten über die bizarren Umstände von Mimi Trans Tod. Die faszinierende Natur ihrer Erwerbstätigkeit würde auch nicht gerade dazu beitragen, diese Sache unter der Decke zu halten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Reporter um diesen Fall herumschwirren würden wie Fliegen um einen Misthaufen.

Und dann begannen die Spekulationen: War dies bloß ein einmaliger Mord oder der Beginn einer ganzen Serie?

Zwar hatte der Uniformierte, der zuerst am Tatort eingetroffen war, einen ziemlich guten Job gemacht, aber dennoch waren die Geschehnisse nach draußen gedrungen. Eine der Zeuginnen, die Nichte des Opfers – eine Studentin der Chapman University –, hatte die ganze Zeit das Handy am Ohr gehabt. Ihr Verlobter stand schon draußen und wollte sie unbedingt sehen. Außerdem begannen einige Leute damit, eine Art Denkmal vor der Tür zu errichten, komplett mit Räucherstäbchen, Schalen mit Reis und Früchten und einem gerahmten blumenbedeckten Foto des Opfers.

“Haken wir erst mal das Offensichtliche ab. Mimi Tran ist eine Hellseherin”, sagte er, laut denkend.

“Und zwar eine, die gern Hosenanzüge von St. John trägt”, fügte Erika hinzu, die sich mit so was auskannte. “Und andere hübsche Sachen. Uhr von Patek Phillipe, Halsband von Daniel Yurman, Schuhe von Shelly Segal. Nicht billig.”

Er warf ihr einen Blick zu. “Was bist du doch für eine fashionista.”

Sie zuckte die Achseln, klimperte mit den Augenlidern. “Ich bin ein Mädchen, oder?”

Die vietnamesische Familie schwor, dass nichts am Tatort irgendetwas mit ihren traditionellen Gebräuchen oder ihrer Religion zu tun hätte. Soweit sie wussten, war Mimi Tran niemals von irgendjemand bedroht worden. Sie war in der Gemeinde beliebt und hoch angesehen.

“Schade, dass dies alles nicht ein bisschen weiter die Straße rauf passiert ist”, sagte Seven zu seiner halb kubanischen Partnerin.

“Santeria?”, fragte Erika, womit sie einen auf Kuba blühenden Kult meinte, der mit Voodoo vergleichbar war. Sie verdrehte erneut die Augen. “Weil ich so eine geborene Expertin für dieses Zeug bin?”

Zu ihrem Revier in Westminster gehörte die größte Bevölkerungsgruppe von Vietnamesen außerhalb Vietnams, gewürzt mit ein paar Einwanderern aus Kambodscha und Korea. Aber gleich die First Avenue rauf fand sich in Santa Ana eine von Latinos dominierte Gegend. Seven konnte durchaus Elemente von Santeria oder etwas Ähnlichem in diesem Mordfall erkennen.

Aber was immer in diesem Raum vorgefallen war, dafür war keiner von ihnen ein Experte.

Seven ging auf die Leiche zu, wobei er sorgfältig um die Blutspritzer herum trat. Er wollte kein Beweismaterial zerstören. Sie war in die Brust, den Rücken und den Unterleib gestochen worden, drei lebenswichtige Organe: Herz, Lunge, Bauch.

Aber irgendwas an dem Blut kam ihm merkwürdig vor. Er erinnerte sich, wie er diesen Raum zuerst betreten hatte. Blut war überall und der Geruch davon. Aber als er jetzt genauer hinsah, schien es längst nicht genug Blut zu sein. Als ob jemand strategisch überall Blutspritzer verteilt hätte, damit es nach mehr aussah.

Diese Häuser hier waren alle auf einer bloßen Betonplatte gebaut, meistens mit Linoleum unter dem Teppich, einem Berber – nichts davon saugt viel Blut auf. Die Fasern des Teppichs müssten geradezu schwimmen in Blut.

Mimi Tran war alles andere als eine kleine Frau. Wenn sie hier auf dem Teppich ausgeblutet wäre …

Er spann den Gedanken weiter, untersuchte noch einmal den Tatort, fügte in seinem Kopf Einzelteile zusammen, als sich plötzlich alles änderte. Auf einen Schlag starrte er auf eine andere Leiche, war in einem anderen Fall.

Er schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung zu verscheuchen, stolperte zurück, fiel beinahe hin.

Mist.

Seven zwang sich, die Augen zu öffnen, hier zu sein, in der Gegenwart. Er verhielt sich vollkommen still, bis das Arbeitszimmer vor seinen Augen wieder klar wurde. Dann atmete er tief durch, um wieder ruhig zu werden. Jetzt auch noch auf Beweismaterial herumzutrampeln wäre wirklich das Letzte.

Er trat noch ein paar Schritte zurück. Am besten sollen die Spurensicherer sich darum kümmern. Er redete sich ein, er würde nur Platz für Roland machen und ignorierte die Tatsache, dass Erika in dieser Hinsicht keine Skrupel hatte.

Er wollte sich nicht eingestehen, dass es etwas anderes sein könnte. Dass dieser Mordfall für ihn plötzlich zu etwas Persönlichem geworden war.

Erika, mit ihrem sechsten Sinn, stand sofort neben ihm.

“Mir geht's gut”, sagte er, etwas harscher als er wollte. “Wirklich”, fügte er in sanfterem Tonfall hinzu.

Sie machte sich Sorgen um ihn. Aber das war ja gerade das Problem. Er wollte ihr Mitleid nicht. Er wollte nicht, dass irgendwer eine Verbindung herstellen und zu dem Schluss kommen könnte, dass ein Detective von der Mordkommission nicht mehr in der Lage ist, seinen Job anständig zu tun, dass er sich nicht mehr der Leiche nähern und diese blutigen Höhlen betrachten kann, wo Augen sein sollten, dass er so eine Situation nicht mehr wie ein Profi meistern kann.

Also hielt er sich an die Zeichen an der Wand, konzentrierte sich darauf.

Der Mörder hatte es eilig gehabt. Ist vielleicht sogar beinahe von den Verwandten überrascht worden, die die Leiche entdeckten. Zunächst hatte Seven angenommen, dass es sich um irgendwelche Schriftzeichen handelte, wie man sie an den Fensterscheiben der Geschäfte fand. Aber aus der Nähe betrachtet sah es nicht nach etwas Geschriebenem aus. Trotz seiner Frage an Roland Le vorhin war er mit den unterschiedlichen Schriftzeichen der verschiedenen Kulturen in seinem Revier ziemlich vertraut.

Er würde die Firma anrufen, die das Sicherheitssystem installiert hatte. Er kannte sich ein bisschen mit solchen Systemen aus, sein Bruder Ricky hatte bei sich zu Hause etwas Ähnliches installiert und gern damit angegeben.

Soweit Seven sehen konnte, war Trans System ziemlich gut, genau wie das von Ricky. So etwas würde man in dieser Gegend nicht vermuten.

“Es ist ausgeschaltet worden”, sagte Erika, die von hinten auf ihn zutrat. “Vielleicht von dem Kerl.”

“Oder vom Opfer selbst”, sagte er.

“Wer immer es war”, antwortete sie, “er kannte den Code.”

“Was vermutlich bedeutet, dass das Opfer ihn reingelassen hat. Jemand, den sie kannte?”

“Ein Kunde vielleicht?”, überlegte Erika.

“Ein Kunde? Du meinst – wen immer sie reingelassen hat –, sie war gerade dabei, ihm die Zukunft vorherzusagen?” Er sah seine Partnerin an. “Und sie hat nicht gesehen, was er vorhatte?”

“Sehr witzig. Wirklich, Seven, du solltest bei der Sache bleiben.”

In diesem Augenblick ertönte sein Handy. Es war ein besonderer Ton, den er erst kürzlich eingespeichert hatte. Er fühlte, wie sich seine Eingeweide bei dem vertrauten Klang zusammenzogen, ein neutrales Arpeggio.

Erika sah auf. Sie erkannte die Tonfolge ebenfalls und wusste, was er zu bedeuten hatte. “Ich erledige hier den Rest”, sagte sie.

Er wollte den Anruf ignorieren. Er wollte nicht, dass sein Privatleben sich mit seiner Arbeit vermischte. Er wollte vor seinem privaten Drama davonlaufen, sich lieber mit all seinen Sinnen dem Tran-Mordfall widmen.

Er wollte die andere Leiche nicht vor seinem inneren Auge sehen.

“Sei nicht dämlich.” Erika kapierte sofort, was in ihm vorging. “Hau schon ab.”

Er fummelte an dem Handy herum, stellte die Verbindung aber nicht her. Seine Partnerin schüttelte den Kopf und ließ ihn stehen, machte klar, dass sie ihre Hände in Unschuld wusch.

Das Handy verstummte. Aber er wusste, sie würde gleich wieder anrufen.

Seven Bushard, Detective bei der Mordkommission, drehte sich zur Tür und ging, um sich mit den Geistern seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

3. KAPITEL

Seven saß in seinem Jeep Cherokee und starrte auf das Display seines Handys. Drei verpasste Anrufe, alle von derselben Nummer.

Beth war immer schon ziemlich hartnäckig gewesen.

Er lehnte sich zurück gegen die Kopfstütze, seine unfreundlichen Gedanken vermischten sich mit Schuldgefühlen. Nach acht Monaten kannte er das alles in- und auswendig: Beth wurde mit der Wagenladung hässlicher Realität nicht fertig, die auf einmal über ihr ausgekippt wurde. Jedenfalls nicht allein.

Und er war Rickys Bruder. Nick, sein Neffe, verließ sich auf ihn. Beth gehörte zur Familie. Mehr war dazu nicht zu sagen.

Als das Handy erneut ertönte, ging Seven ran.

“Ich bin in einer Viertelstunde da, Beth”, sagte er und fuhr los.

Er kurvte um die Menge herum, die sich vor dem Haus versammelt hatte, und fuhr aus der Einfahrt. Bei Beth waren vor einiger Zeit Panikattacken diagnostiziert worden. Er hätte es nicht bis zum vierten Anruf kommen lassen dürfen.

Andererseits ging ihm Erikas Einschätzung der Situation nicht aus dem Kopf.

Wenn du Beth mal die Möglichkeit geben würdest, allein mit ihren Panikattacken fertig zu werden, anstatt dich ständig um sie zu kümmern …

Erika war der Ansicht, Beth müsse langsam lernen, mit sich selbst zurechtzukommen. Wie hatte sie das noch mal ausgedrückt? Irgendein Psychogelaber, er hätte ein Helfersyndrom?

“Das sind bloß die Schuldgefühle, Seven. Schlicht und ergreifend”, konnte er sie geradezu sagen hören.

Als er zehn Minuten später von der Autobahn abfuhr, machte er sich immer noch Gedanken darüber, wie lange er es sich noch leisten konnte, Erika so viel von ihrer gemeinsamen Arbeit allein aufzubürden. Der Chef hatte Seven angeboten, sich längere Zeit freizunehmen. So viel Zeit, wie Sie brauchen … Aber Seven brauchte seinen Alltag wieder, und der hieß Arbeit.

Er hatte verdammtes Glück, dass Erika für ihn den Kopf hinhielt, das war sicher. Es hatte eine Menge Gerede darüber gegeben, wie schnell sie die Leiter raufgeklettert und Detective geworden war. Manche meinten, das läge nur daran, dass sie eine Frau und eine Latina war, als hätte sie in beruflicher Hinsicht im Lotto gewonnen, weil sie gleich zwei Minderheiten angehörte. Aber für Seven zählte nur, dass sie eine verdammt gute Polizistin war – die beste Partnerin, die er kriegen konnte.

Dummerweise hatte er da auch was vermasselt. Nach einem Abend mit reichlich Tequila war er diesem verführerischen Körper ein bisschen zu nahegekommen. Was ihre Partnerschaft wert war, konnte man daran ablesen, dass sie es den Morgen und die Monate danach zusammen ausgehalten hatten.

Er fuhr die Bolsa Chica entlang nach Süden, Richtung Huntington Harbor. Das Haus seines Bruders lag in einer schicken Gegend, wo die meisten Häuser direkt am Strand standen. In einer der Nachrichtensendungen war mal diese Liste erwähnt worden: Huntington Beach stand auf Platz acht in den USA, was Häuser betraf, die mehr als eine Million Dollar wert waren.

Ricky hatte einen Mordsreibach gemacht, als er das Haus kaufte, denn zu diesem Zeitpunkt lag der Immobilienmarkt gerade am Boden. Ein Schnäppchen für eine knappe Million; jetzt war es über fünf Millionen wert. Was auch nichts half. Ricky war am Ende. Vermutlich würde Beth alles verlieren.

Seven wollte sich lieber nicht vorstellen, was passierte, wenn sie herausfand, dass das Einzige, worauf man sich bei Ricky immer verlassen konnte – Geld – nicht mehr zur Verfügung stand.

Na ja, sie würden irgendwie zurechtkommen. Seven hatte etwas Geld beiseitegelegt. Wenn der Sommer kam, konnten Beth und Nick in das Apartmenthaus ziehen, das Seven vor ein paar Jahren gemeinsam mit seinem Vater gekauft hatte. Er rechnete alles im Kopf durch, schob die Ruinen ihres Lebens herum wie Schachfiguren. Tolle Vorstellung: Er, das schwarze Schaf der Familie, musste sich plötzlich um alles kümmern, während Ricky, der “gute Sohn”, der erfolgreiche Schönheitschirurg, im Knast saß. Es war geradezu biblisch.

Die ganze Sache klang wie so eine verdammte Soap im Fernsehen. Ricky hatte eine Affäre mit einem Mann, einem Krankenpfleger. Die Affäre geriet außer Kontrolle – Scott wollte, dass Ricky seine Frau verließ.

Ricky bot ihm nicht nur Geld, sondern auch endlose Liebe. Aber das reichte nicht. Scott wollte alles. Sie stritten sich immer gnadenloser. Scott fing an, Drohungen auszustoßen und Beth zu verfolgen. Er fand heraus, auf welche Schule Nick ging, solche Sachen.

Es sollte aussehen wie ein Verkehrsunfall. Bloß, dass Ricky sich beim Versuch, seine Spuren zu verwischen, verdammt dämlich angestellt hatte. Das Beweismaterial wies eindeutig darauf hin, dass Scott lange vor dem Unfall tot gewesen war. Es gab merkwürdige L-förmige Blutspritzer an den Scheiben. Offenbar war Scotts Blut an das Glas gespritzt, bevor der Wagen abrupt stoppte. Durch den Aufprall war das Blut über das Glas nach vorn geflossen.

Mit dieser Tatsache konfrontiert, hatte Ricky alles gestanden. Bei der Mordkommission von Laguna, wo der “Unfall” passiert war, hatte er satte zwei Stunden lang das Tonband vollgelabert, bevor er auf den Gedanken gekommen war, einen Anwalt zu verlangen.

Seven erinnerte sich an die ganze Sache, als ob sie erst gestern passiert wäre. Erika hatte im Morgengrauen vor der Tür gestanden.

Setz dich erst mal, Schätzchen. Ich habe ziemlich schlechte Nachrichten …

Wenn die stahlharte Erika mit Worten wie Schätzchen um sich wirft, muss wirklich was passiert sein.

Und das Sahnehäubchen war, dass Laurin, Sevens Exfrau, sich plötzlich meldete … gleich nachdem Ricky es in die Sechsuhrnachrichten geschafft hatte. Da steckte er mitten in einer Hölle, und seine Exfrau ruft an, um ihm zu versichern, Jesus, Seven, es tut mir so furchtbar leid … Kann ich irgendwas für dich tun? Und übrigens, ich erwarte Zwillinge! Zwillinge von ihrem neuen Gatten, lieber Himmel noch mal. Für Seven war das eine kaum zu verkraftende Neuigkeit.

Klar, er freute sich für Laurin. Aber er konnte nichts daran ändern, dass er sich selber ziemlich leid tat. Als hätte Laurin ihn zurückgelassen, um glücklich zu werden. Sie führte dieses vollkommen normale Leben mit einer richtigen Familie … während er sich wie wild darum bemühte, dass ihm die Überreste seiner Familie nicht aus den Händen glitten wie Sand.

Seven drehte die Musik lauter, die Beatles grölten am Ende von “Hey Jude” immer lauter. Er rief sich ins Gedächtnis, dass es hier nicht um ihn ging, sondern um die Menschen, die er liebte. Nick und Beth.

Als er in Rickys Straße bog, sah er Beth schon in der Einfahrt stehen. Sie trug einen babyblauen Sweater und lange Hosen. Sie hatte Ballettschuhe an den Füßen, und ihre schulterlange blonde Mähne wurde von einem schwarzen Band zusammengehalten. Sie hatte ihre Arme um ihren Oberkörper geschlungen, als würde sie sonst in Stücke zerbrechen.

Sie waren ein tolles Paar gewesen, Beth und Ricky. Beide blond und mit blauen Augen, hatten sie ausgesehen wie ein Gott und eine Göttin. Wenn die beiden Brüder nebeneinanderstanden, konnte sich keiner vorstellen, dass sie verwandt waren. Nicht ganz einsachtzig groß, mit braunem Haar und dunklen Augen, sah Seven neben seinem fantastischen Bruder wie ein Niemand aus.

Nick spielte Basketball in der Sackgasse. Während er sich voll auf seine Korbwürfe konzentrierte, war er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.

Seven fuhr langsamer und sah sich an, was auf den ersten Blick wie das Heim einer perfekten, glücklichen Familie wirkte. Ricky hatte die Stange mit dem Basketballkorb erst letztes Jahr aufgestellt. Es war gerade mal acht Monate her, dass Seven gemeinsam mit seinem Bruder Blut und Wasser geschwitzt hatte, um das Ding in den Asphalt zu kriegen.

Er war kaum in der Einfahrt zum Stehen gekommen und aus dem Jeep gestiegen, als Beth schon auf ihn zurannte und sich in seine Arme warf.

“Tut mir leid”, sagte sie. “Ich weiß, dass ich dich bei der Arbeit nicht anrufen soll. Aber ich hab's einfach nicht mehr ausgehalten.”

Er roch den Alkohol in ihrem Atem – nicht, dass er ihr deswegen Vorwürfe machen konnte. Beth hatte sich seit einiger Zeit den Schnaps selbst verschrieben, um den Schmerz zu lindern. Seven beobachtete seinen Neffen über ihre Schulter. Nick dribbelte einfach weiter mit dem Ball und tat so, als würde er gar nicht mitkriegen, dass sein Onkel nur ein paar Meter entfernt von ihm stand und versuchte, seine Mutter festzuhalten, damit sie nicht zusammenbrach.

Das war Nicks Art, mit der Katastrophe umzugehen. So tun, als ob nichts wäre.

Abrakadabra. Nichts passiert. Ich fühle gar nichts.

Seven spürte, wie in ihm plötzlich die Wut hochkam, was selten passierte. Er wünschte, Beth würde sich wenigstens um Nicks willen nicht gehen lassen. Dem Jungen ging es auch miserabel.

Aber es brachte gar nichts, mit Schuldzuweisungen um sich zu werfen. Gerade deshalb wollte er sich mit Arbeit ablenken. Um einen Mord wie den Tran-Fall zu untersuchen, musste man ein leidenschaftsloser Beobachter sein. Da konnte er sich an jenen emotionslosen Ort in seinem Kopf zurückziehen, wo nichts als die Beweislage zählte.

Da musste er nicht an Ricky denken und nicht an die ganze Scheiße, die er seiner Familie angetan hatte. Musste nicht jedes Mal fühlen, wie sein Herz herausgerissen wurde, wenn er seinen zehnjährigen Neffen sah und darüber nachdachte, was die Zukunft für ihn bringen würde.

“Ich habe so einen Handel mit dem Herrgott abgeschlossen”, sagte Beth, die sich immer noch an ihm festklammerte. “Wenn alles wieder in Ordnung kommt, dann werde ich auch wieder stärker werden.”

“Schon gut” sagte Seven, legte einen Arm um sie und führte sie ins Haus. “Kann ich einen Kaffee haben?”

Sie nickte und wischte sich die Tränen ab. Ricky hatte sich im Haus eine Art Espressobar eingerichtet. Er hatte einen guten Kaffee geschätzt.

“Hey, Nick”, rief Seven seinem Neffen zu. “Geht's dir gut?”

“Klar geht's mir gut”, antwortete er und warf einen Ball, der weit danebenging.

Seven folgte Beth ins Haus und wusste, dass das gelogen war. Keinem von ihnen ging es gut. In den Fernsehkrimis kam immer nur die Familie des Opfers vor – ihr Verlust, ihr Hunger nach Gerechtigkeit. Aber Seven hatte als Detektiv der Mordkommission auch die andere Seite gesehen, was eine einzige unentschuldbare Tat bei der Familie des Täters anrichtete.

Sein Bruder hatte einen Mann getötet. Und es war nicht nur Ricky, der jetzt dafür bezahlen musste.

Erika musterte den Mund der Toten. Mimi Tran hatte dünne Lippen und einen schlimmen Überbiss, außerdem eine Vorliebe für dunklen Lippenstift. Detective Cabral hätte ihr einen helleren Ton empfohlen.

Sie ging langsam um die Leiche herum, schaltete in ihren Gedanken alles andere außer die Fakten, die in diesem Mordfall vorlagen, aus.

Grundsätzlich gibt es drei Methoden, um den Todeszeitpunkt festzustellen. Die Leichenstarre setzt normalerweise drei Stunden danach ein; sie beginnt in den Gesichtsmuskeln, dehnt sich langsam zu den Extremitäten aus. Nach etwa sechsunddreißig Stunden dreht sich der Prozess um, und der Körper wird wieder beweglich. Für Erikas geübtes Auge sah Mimi Tran steif wie ein Brett aus.

Neben einer Untersuchung der Leichenstarre misst der Gerichtsmediziner auch die Körpertemperatur. Eine Reihe verschiedener Faktoren, neben Mimi Trans Leibesumfang auch die Hitze im Raum, würde auf einen bestimmten Todeszeitpunkt hinweisen, aber das Ergebnis wird alles andere als exakt sein.

Dann gibt es noch die Hautverfärbungen, wenn die roten Blutkörperchen aus den Adern ins Gewebe sickern und die Haut dort dunkelrot färben, wo das Blut sich ablagert wie Sediment auf dem Grund eines Schlammlochs. Mit ihrem Stift schob Erika den Kragen des St.-John-Hosenanzugs beiseite, um die Haut dort freizulegen, wo ein Schulterblatt auf den Teppich drückte. Die Haut war von einem tiefen Weinrot, was bewies, dass der Körper nicht bewegt worden war, seit das Herz aufgehört hatte zu schlagen.

Erika holte eine Lupe aus ihrer Jackentasche und kniete sich hin. Sie trug natürlich Plastikhandschuhe. Dieser Vogelkopf im Mund des Opfers … das war etwas Elementares, beinahe Primitives. Auf jeden Fall hatte es eine religiöse oder sakrale Bedeutung.

Erika war nur zu vertraut mit dieser Art von Ritualen. Sie war oben in Santa Ana aufgewachsen, als Tochter einer kubanischen Einwanderin, die einen Amerikaner mexikanischer Abstammung geheiratet hatte. Ihre Mutter war eine gebildete Frau, aber Santeria hatte dennoch in ihrer Kindheit eine große Rolle gespielt.

Selbst erfahrene Mordermittler konnten durch den Anblick dieser blutigen, leeren Augenhöhlen ins Wanken geraten. Aber Erika wich nicht zurück vor dem grotesken Bild. So etwas war nicht ihre Art. Sie ließ sich darauf ein und versuchte, ihre Schlüsse daraus zu ziehen.

Wie jeder gute Kriminalist besaß Erika eine gesunde Dosis Intuition. Mit der Zeit hatte sie festgestellt, dass ihre Eingebungen oft zutreffender waren als die der meisten anderen. Seven bezeichnete diese Fähigkeit als “unheimlich”. Ihre Mutter hatte dafür einen anderen Begriff: El don de la doble vista. Nur dass Erika nicht an diesen Blödsinn vom siebten Sinn glaubte. Ihr Job verlangte ein scharfes Auge und Durchhaltevermögen während der langen, ermüdenden Stunden beim Sammeln von Beweismaterial. Nur so kam man im Gerichtssaal zu Verurteilungen. Wenn gute Instinkte und ein bisschen Vorstellungskraft dabei halfen, na ja, zum Teufel. Wieso nicht?

Sie senkte nachdenklich den Kopf. Das Opfer war ein Medium. Und zwar ein erfolgreiches, nach der exklusiven Ausstattung des Hauses und dem teuren Schmuck zu urteilen.

Also drehte sich hier alles um Macht. Aber welche Art? Geld? Prestige? Waren irgendwelche Gruppen der okkulten Welt hier in Little Saigon in Streit geraten?

Oder ging es um etwas noch viel Finstereres? Hatte Mimi Tran versucht, mit irgendwelchen dunklen, jenseitigen Mächten in Kontakt zu treten?

Erika verzog das Gesicht. Sie hatte ihre Erfahrungen mit dem Schaden, den solche Bemühungen anrichten konnten. Der Zwang, Wunder zu produzieren. Die Lügen hinter dem Wunsch, die Kontrolle zu behalten.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Hände des Opfers. Kratzer, die von einem Kampf herrührten. Aber die fehlenden Augen … es schien fast ein Klischee zu sein. Die Vorstellung, dass Mimi Tran als weissagendes Medium “den Blick” gehabt hatte.

“Also, wo ist die Verbindung mit dem Papageienkopf?”, fragte Erika sich selbst.

Sie holte eine Stablampe hervor und richtete den Lichtstrahl auf den Mund des Opfers. Mit der Lupe in der anderen Hand lehnte sie sich vor.

War da etwas? Im Schnabel des Papageis?

“Hey, Roland?” Sie winkte den Techniker heran und wies ihn an, ein paar Nahaufnahmen zu machen. Dann holte sie einen Plastikbeutel und eine Pinzette aus einer Tasche. Mit der Stablampe zwischen den Zähnen beugte sie sich nochmals vorsichtig über die Leiche.

Plötzlich fiel ihr ein Spiel ein, dass sie als Kind mit ihrem Bruder gespielt hatte. Operation. Es ging darum, mit einer Pinzette kleine versteckte Plastikspielsachen vom Körper des anderen zu fischen, ohne den Körper selbst zu berühren. Ihr Bruder hatte das nie hingekriegt, aber Erika schon.

Langsam löste sie das Objekt aus dem Schnabel des kleinen Papageis. Im Lichtstrahl der Stablampe glühte das Ding in einem tiefen Saphirblau.

Es sah aus wie eine Glasperle. Oder vielleicht wie ein ungeschliffener Edelstein?

“Ach du Scheiße”, sagte der Techniker und machte Aufnahmen davon. “Was zum Teufel ist das?”

Erika ließ das mysteriöse Stück sorgfältig in den Beweisbeutel fallen. “Da kann ich bloß genauso raten wie du.”

Sie steckte die Stablampe weg und hielt den Plastikbeutel hoch vor die Deckenlampe. Die Glasperle färbte sich plötzlich blutrot.

Erika blickte nach oben. Das Licht in diesem Raum fluoreszierte …

Sie schirmte die Perle mit ihrem Körper ab und griff erneut nach der Stablampe. Sobald das weiß glühende Licht die Perle traf, nahm sie eine tiefblaue Färbung an.

Aber da war noch etwas. Irgendwas im Inneren der Perle blitzte weiß. Das Ding schien das Licht aufzunehmen wie einer dieser Sternensaphire. Nur tauchte hier ein einziger weißer Streifen auf, durch den das glasartige Stück wie ein Katzenauge wirkte.

“Verrückt”, sagte der Techniker und fotografierte für alle Fälle noch ein paarmal.

Erika blickte herab auf die augenlose Leiche von Mimi Tran.

“Auge um Auge”, sagte sie zu dem Techniker.

4. KAPITEL

David Owen Gospel II spürte, wie die Frau neben ihm im Bett sich bewegte. Dass sie immer noch schlief überraschte ihn nicht. Es war noch früh.

Er beugte sich zu ihr und streichelte ihr schwarzes glänzendes Haar, bewunderte ihren schönen nackten Rücken. Er betrachtete sich selbst als Sammler, und diese Frau war eins seiner schönsten Stücke.

Ihr Name war Velvet – Samt. Er war sicher, dass sie nicht wirklich so hieß. Vermutlich war das eine Übersetzung ihres vietnamesischen Namens. In Vietnam haben die meisten Vornamen eine besondere Bedeutung, Kim zum Beispiel heißt Gold, oder Tam heißt Herz.

David fand, dass der Name zu ihr passte. Ihre Haut, ihre dunklen, glänzenden Augen und das hüftlange Haar, alles war weich und schimmernd.

Er schenkte ihr immer Juwelen. Sie war hochklassig, nie auf sein Geld scharf, das mochte er an Velvet am liebsten. Ihr Juwelen zu geben schien ein viel zivilisierterer Handel zu sein. Und er wusste, dass sie ihn attraktiv fand; das taten viele Frauen, die die Aura der Macht schätzen, die nur mit dem Alter und der Erfahrung kommt. Außerdem hielt David sich fit. Velvet machte ihm oft Komplimente für sein silbernes Haar und seine grauen Augen. Sie hatte kein Problem mit dem Altersunterschied – fast vierzig Jahre.

Als sie seine Berührung spürte, drehte sie sich um und küsste ihn, beschenkte ihn mit diesem wunderbaren perfekten Lächeln, als sie sein Gesicht liebkoste. Aber Velvet wusste, was von ihr erwartet wurde. Schnell schlüpfte sie unter der Seidendecke hervor, warf sich den Morgenmantel über, den er ihr gekauft hatte, ein kunstvoll spitzenbesetztes Teil aus einem besonders fabulösen Dessousladen in Paris, und eilte in die Küche.

Beim Frühstück – dänische rote Grütze und vietnamesischer Kaffee – las er die Zeitung. Seine schöne Velvet saß ihm im nach Jasmin duftenden Wohnzimmer gegenüber und studierte irgendeinen Wälzer über Steuerrecht. Sie machte gerade ihren Abschluss an der University of Whittier. Er träumte davon, sie als Firmenanwältin von Gospel Enterprises zu engagieren, ein privates Unternehmen, das Grundstücke entwickelte und mehr Umsatz machte als das Bruttosozialprodukt der meisten kleineren Länder.

Es würde nicht leicht werden, sie dazu zu bewegen – sie würde sicher eine Menge lukrativer Angebote bekommen. David war klar, dass Sam Vi, Velvets Cousin und ein wirklicher Gauner, sein schärfster Rivale sein würde. David lächelte hinter der Kaffeetasse. Er wusste, ein Job bei Gospel Enterprises würde Velvet ungeahnte Möglichkeiten erschließen. Was sollte sie für Sam schon anderes tun, als dafür zu sorgen, dass sein Hintern nicht im Knast landete?

Natürlich müsste sie dieses ganze Mit-dem-Chef-ins-Bett-gehen-Thema überwinden. Das war eins der Dinge, die er bei Velvet so frappierend fand: Sie hatte Skrupel.

Später würde sie ein wunderschönes Paar Rubinohrringe auf ihrem Nachttisch finden – die hatte er erst letzte Woche gekauft. Es waren antike Stücke, die angeblich Marie Antoinette höchstpersönlich getragen hatte, obwohl er natürlich nicht so naiv gewesen war, einen Sonderpreis für etwas derart Unwahrscheinliches zu bezahlen. Aber Velvet würde die Geschichte toll finden.

David blätterte gedankenverloren die Zeitung durch, vor seinem geistigen Auge nichts anderes sehend als Velvet, die ihre Rubinohrringe trug und sonst nichts. Doch schlagartig verschwand das Bild von ihr.

Fassungslos starrte David in die Zeitung. Sein Lächeln löste sich in nichts auf, als er die Schlagzeile las: Vietnamesische Wahrsagerin einem Ritualmord zum Opfer gefallen.

Ein Bild von Mimi war abgedruckt. Sah nach einem Werbefoto aus, mehrere Jahre alt. Er fühlte, wie sein Körper erstarrte.

“Was ist los, David?”

Velvet hatte nicht den Hauch eines Akzents. Obwohl ihre Eltern aus Vietnam eingewandert waren, war sie in Orange County geboren und durch und durch Amerikanerin. Sie sah ihn besorgt an, griff nach der Zeitung.

“Oh mein Gott!” Das Buch über Steuerrecht fiel auf den Boden, als sie aufsprang. “Mein Gott. Ich muss sofort Sam anrufen.”

David schloss die Augen und hörte Velvets nackte Füße über den Küchenboden zum Telefon laufen. Nein, sein Leben brach nicht gerade um ihn herum zusammen, sagte er sich selbst. Nein, das tut es nicht.

Er wartete nicht, bis Velvet ihr Gespräch beendete. Er würde nicht mit Sam um ihre Aufmerksamkeit kämpfen, diesmal nicht. Im Schlafzimmer zog er sich schnell an. Ein paar Minuten später raste er wie ein Verrückter über die Autobahn, schlängelte sich durch den dichten Verkehr und verschwendete keinen Gedanken daran, dass er in seinem schwarzen Aston Martin von einem Verkehrspolizisten gestoppt werden könnte. David Gospel zahlte für teure Abendessen bei schicken Partys, mit denen wichtige Kandidaten für kommunale oder staatsweite Ämter um Wahlkampfspenden warben. Für so ordinäre Sachen wie Geschwindigkeitsübertretungen zahlte er nicht.

Als er zu Hause ankam, wartete seine Frau schon auf ihn. Meredith erhob sich von dem Sofa, eine mausgraue Erscheinung, die wirkte, als wollte sie sich selbst zum Verschwinden bringen, so dünn war sie. Auf dem gläsernen Kaffeetisch lag die Morgenzeitung, aufgeschlagen auf der Seite mit Mimi Trans Bild.

“Es ist nicht das, was du annimmst”, sagte sie mit diesem Flüstern in der Stimme.

In den letzten Jahren hatte David gemerkt, dass er ihre Stimme am meisten hasste – mehr als das ständige Bibellesen oder das dünne braune Haar und sogar mehr als diese Besenstielfigur, die sie sich bewahrte wie eine Primaballerina. Die Sanftheit ihrer Stimme tat ihm in den Ohren weh. Diese Stimme schien zu hauchen: Beachte mich gar nicht, ich bin nicht da. Ich werde bestimmt nicht stören.

“David?”

Er ignorierte sie und eilte zur Treppe. Das Haus war um diese schwungvolle Treppe herum entworfen worden, mit einem Geländer, das vollständig aus Lalique-Kristall bestand. Aber er nahm die Schönheit seines Heims gar nicht wahr, als er zu seinem Arbeitszimmer lief, mit seiner Frau auf den Fersen.

“Hörst du, David? Du liegst falsch! Du liegst die ganze Zeit schon falsch! Bitte, David …”

Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Seine Frau machte einen zaghaften Versuch, an die Tür zu klopfen, aber nicht mal im Zorn konnte sie die Kraft aufbringen, ernsthaft zu hämmern. David hätte in so einer Situation beide Fäuste benutzt. Die verfluchte Tür eingeschlagen.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der Meredith genauso austeilen wie einstecken konnte. Aber alles veränderte sich, als Gott ihr Lebensinhalt wurde … Inzwischen war seine Frau nichts anderes als eine ausgetrocknete Puritanerin. Eine Fanatikerin.

Er griff nach der Fernbedienung auf dem Tisch und richtete sie auf die Spiegelwand in seinem Arbeitszimmer. Dann gab er den Code ein. Sofort glitt ein Teil der Wand zur Seite und enthüllte einen verborgenen Raum hinter dem Spiegel.

Gospel Enterprises kontrollierte viele verschiedene Tochtergesellschaften, darunter auch eine Firma für Sicherheitsangelegenheiten, die auf versteckte Zimmer, sogenannte “Panikräume”, spezialisiert war, eine Art Bunker im Haus, in den die Hausbesitzer bei einem Überfall flüchten konnten, um von dort aus die Polizei oder private Wachmannschaften zu alarmieren.

Davids verstecktes Zimmer diente einem besonderen Zweck. Es war eher ein begehbarer Tresor. Er konnte hier drin die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit regeln. Er könnte sogar die verfluchte Mona Lisa hier verwahren, falls es sein musste, vermutlich unter weit besseren Bedingungen als im Louvre mit diesen unüberschaubaren Schlangen von Touristen.

Er gab einen weiteren Code ein, diesmal auf einer Tastatur an der Wand über der eingebauten hölzernen Vitrine; es war eine von fünf weiteren kleinen Tastaturen. Eine mit Samt ausgelegte Schublade ging auf, wie sie oft zum Aufbewahren wertvoller Edelsteine benutzt wird. Davids Sammlung war allerdings völlig anderer Art.

Er blickte herab auf die mit Keilschrift beschriebene Tontafel, eins der ältesten schriftlichen Artefakte überhaupt. Diese besondere Tontafel datierte aus dem siebten Jahrhundert vor Christus, aber die Geschichte aus dem alten Sumer, die sie erzählte, war noch wesentlich älter. Das Gilgamesch-Epos war tatsächlich das älteste bekannte Schriftwerk auf dieser Erde.

Es gab unter Archäologen und Linguisten eine hitzige Debatte darüber, ob dieses Epos aus elf oder zwölf solcher Tontafeln bestand. Bei vielen Übersetzungen fehlte die zwölfte Tafel, weil sie von manchen Experten als unabhängige Geschichte oder vielleicht auch als eine Art Fortsetzung betrachtet wurde. Aber David wusste es besser. Er betrachtete in diesem Augenblick eine verloren gegangene, der Wissenschaft nicht bekannte dreizehnte Tontafel, die er für seine Sammlung durch die Bemühungen von Menschen wie der nunmehr toten Mimi Tran hatte erwerben können.

Rechts neben der Tafel lag ein Halsband. Es war ein wunderschönes Stück, die perlenartigen Kristalle im Halbkreis um einen Stein in der Mitte angeordnet, ein Schmuckstück, das der Legende nach der Göttin Athene höchstpersönlich gehört haben soll. Bei diesem Licht schienen die Edelsteine tiefblau zu sein. Aber er wusste, wie leicht sie eine blutrote Farbe annehmen konnten.

Der Stein in der Mitte, das “Auge der Athene”, wirkte wie ein milchiger Rohdiamant von der Größe eines Pfirsichkerns. Bei dem matten Licht hatte er einen angenehm blauen Schimmer. Kleine Metallteile schwebten, darin gefangen, wie Wolken herum. Mehrere dünne Drähte waren als eine Art Schnur darumgeschlungen worden, damit der Stein um den Hals getragen werden konnte. Das “Auge der Athene” blickte zu ihm hoch, wolkig und blind.

Er spürte, wie er anfing zu zittern. Es gab nicht viel auf dieser Welt, vor dem David Angst hatte. Üblicherweise waren es Dinge jenseits der physischen Daseinsformen, die ihn in Bann hielten. Nur sein Sohn – Owens Fähigkeit, alles zu ruinieren – konnte David in die Knie zwingen.

Er ließ die Schublade offen und trat aus dem Tresorraum heraus, um sich auf die Ledercouch in seinem Arbeitszimmer fallen zu lassen. Noch immer starrte er die verspiegelte Wandöffnung an, die Fernbedienung in der Hand. In diesem Tresor lagerten einige der grandiosesten Schätze, die die Welt des Okkulten zu bieten hatte. Kostbare Stücke, die er sorgsam zusammengetragen hatte, wobei er klaglos die Preise der gierigsten Grabräuber bezahlte.

David war kein junger Mann mehr. Er hatte zweiundvierzig seiner sechzig-plus Jahre für diese Sammlung investiert. Die Tontafel war natürlich das Herzstück, eine Art Karte, die ihn zum Auge der Athene geführt hatte. Er hatte beobachtet, wie dieser tote Kristall in Mimis Händen plötzlich zum Leben erwacht war. Und in der dreizehnten Tontafel wurden noch weitere Schätze erwähnt, Geschenke die der Legende zufolge der wilde Enkidu dem Gilgamesch einst gemacht hatte. Magische Objekte. Mimi Tran hatte geschworen, diese Objekte für David aufzutreiben, und zwar mit der Hilfe von Sam Vis Kontakten in der Welt des illegalen Handels mit Artefakten.

Aber jetzt war Mimi Tran tot.

“Dieser beschissene Owen”, sagte er, seinen Sohn verfluchend.

Das Problem war natürlich, dass all dies schon einmal passiert war. Auch eine Frau, eine Hellseherin, genau wie Mimi Tran. Vor sieben Jahren hatte die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl vor Davids Tür gestanden. Auf der Suche nach irgendwelchen Beweisen hatten sie das ganze Haus auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden. Dafür hatte David gesorgt …

Damals war Owen achtzehn gewesen – alt genug, hatte David gehofft, um seine Spuren zu verwischen. Aber nein. Er hatte Owen neben dem Pool sitzend vorgefunden, in ihrem Haus in Newport, und er hatte so getan, als ob überhaupt nichts passiert wäre.

Nur dass der Junge sich das Blut von den Fingern leckte.

David hatte instinktiv gewusst, dass es nicht Owens eigenes Blut war. Unglücklicherweise war es eine Unmenge Blut. Der Idiot hatte es durchs ganze Haus getragen … Sein Auto war total vollgeschmiert damit gewesen. Eine Heidenarbeit, die Sauerei zu beseitigen.

Zum Glück hatte David seinen Blödmann von Sohn erwischt, bevor die Bullen ihn in die Finger kriegen konnten.

Vor sieben Jahren hatte David angenommen, er hätte diese Sache aus der Welt geschafft, indem er seine knallharten Anwälte auf die Stadt hetzte und jeden zu verklagen drohte, der mutig genug wäre, mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Lieber Himmel, er hatte in dieser Schlacht eine ganze Menge Karrieren ruiniert.

Und jetzt sollte dieser Albtraum noch mal von vorn anfangen? Nichts da!

Von der Tür kam ein weiteres Klopfen, ein so zurückhaltender Ton, dass er ihn gar nicht gehört hätte, wenn es nicht so still gewesen wäre. Seufzend gab er den Code ein, um seinen Tresorraum zu verschließen.

“Komm verdammt noch mal rein, Meredith.”

Wie eine gute Magd öffnete sie die Tür und schlüpfte herein, ihre besänftigende Opfergabe auf einem Tablett vor sich hertragend: ein Martiniglas und einen Cocktailshaker. Mann, hatte die Frau ein Timing.

Sie lächelte nervös. “Ich dachte, du hättest vielleicht gern einen Drink.”

“Dachtest du.” Seine Frau trank selbst nicht, aber sie war gut darin, das Zeug unter die Leute zu bringen. Sie war eine Art Narkoseärztin der Familie, die ihre Medikamente verteilte, damit die Welt keinem mehr wehtat.

Lautlos stellte sie das Tablett auf den Glastisch vor der Couch, auf der er saß. Sie goss den Martini aus dem Shaker in das Glas und setzte sich, so weit entfernt von ihm wie möglich.

“Du liegst falsch, was Owen angeht.” Sie strich den Rock über ihren Knien glatt und faltete ihre manikürten Hände artig im Schoß. In einem früheren Leben hatte Meredith Designersachen von Prada getragen. Jetzt wirkten ihre einfachen Kleider, als hätte sie sie bei Wal-Mart vom Wühltisch gekauft.

“Owen hat Fehler gemacht”, fuhr sie fort, “aber wir sind seine Eltern, David. Wir müssen vergeben und vergessen. Er hat sich geändert, er ist durch seine Missionsarbeit ein anderer Mensch geworden.”

Sie wagte nicht, ihn anzusehen, während sie sprach. Stattdessen blickte sie geradeaus und bot ihm ihr Profil dar. Meredith besaß eine vollkommene Nase, dank der Bemühungen eines Schönheitschirurgen. Noch ein Überbleibsel des anderen Lebens … das sie vor Owen geführt hatten.

David war klar, dass alle Eltern nur das Beste von ihrem Kind glauben wollten. Schließlich war er selbst in diese Falle getappt. Er hatte Owen jeden Vorteil für sein Leben verschafft, oder nicht? Was konnte ein Vater mehr tun?

Aber irgendwann kommt der Tag, an dem auch Eltern die Wahrheit nicht mehr verleugnen können. Ihre Welt bricht zusammen, wenn sie sich dessen bewusst werden.

Für David, den großen Sammler, war dieser Tag schon vor langer Zeit gekommen. An jenem Tag hatte er schließlich begriffen, dass sein Sohn, sein wunderbarer kleiner Junge, mit seiner eigenen, ganz besonderen Sammlung begonnen hatte.

Owen war damals zehn Jahre alt gewesen. Es drehte David immer noch den Magen um, wenn er an diese blutigen Überreste dachte, die er in einer im Rosengarten vergrabenen Blechdose entdeckt hatte. Nicht mehr erkennbar, was für ein kleines Tier das gewesen war. Als er Owen damit konfrontierte, hatte der Junge nur aus diesen merkwürdigen, reglosen Augen zu ihm aufgesehen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Selbst nach diesem Vorfall hatte David noch nach Entschuldigungen gesucht. Er redete sich selbst ein, diese blutigen Teile, das alles wäre ein Dummerjungenstreich. Er selbst hatte vielleicht ein paar drastische Anekdoten erzählt, die den Jungen verwirrt hatten. David und Meredith besprachen die Angelegenheit mit Owens Psychiater, dem sie vertrauen konnten. Der Doktor hatte beigepflichtet. Ihr Sohn war nicht gefährlich. Nur fehlgeleitet.

Dr. Friedman wies darauf hin, dass Davids Erziehungsmethode womöglich nicht hilfreich sei. Aber da war David anderer Meinung. Aus Owen die Scheiße rauszuprügeln tat seinem Sohn vielleicht nicht gut, aber David fühlte sich danach auf jeden Fall viel besser.

Eine Zeit lang sah es so aus, als ob alles wieder in Ordnung kommen würde. Bis David achtzehn wurde und die Polizei vor der Tür stand, um nach Michelle Larson zu fragen.

“Wo ist er jetzt?”, fragte David, ohne seinen Drink anzurühren.

Meredith starrte weiter geradeaus. “Ich weiß nicht.”

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