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Cato und die Dinge, die niemand sieht

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

„Ein Buch, das von Anfang bis Ende bewegt und fasziniert.“ (Jurybegründung Goldener Griffel, Niederlande 2022)

Es gibt Momente im Leben, die möchte man unbedingt noch einmal erleben. Und es gibt Momente im Leben, die möchte man ungeschehen machen. Beides ist unmöglich, denkt Cato, bis sie eines Tages eine Visitenkarte auf dem Klavier ihres Vaters findet: „Filme, die nirgends laufen, die du aber schon immer sehen wolltest“, steht darauf. Die Adresse führt Cato zu der mysteriösen Frau Kano, die in ihrem Kino besondere Zeitreisen anbietet. Hat Cato hier vielleicht die Möglichkeit, zum ersten Mal ihre Mutter zu treffen? Auf der Suche nach der Wahrheit begibt sie sich auf eine gefährliche Reise durch Zeit und Erinnerungen, bis sie vor einer Entscheidung steht, die ihr Leben für immer verändern wird.

Ein berührender Kinderroman über Familie, Identität und die Besonderheit der kleinen Momente im Leben


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 240
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802600

Leseprobe

Widmung

Für

Mama,

Tante Zeni,

Omi,

Ien

CATO

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Cato war zwölf, als ihr Vater sagte, dass sie endlich erwachsen werden sollte. Weil er nur selten etwas zu ihr sagte, war das für sie etwas Besonderes. Schade nur, dass er sich ausgerechnet etwas so Unsinniges ausgesucht hatte. Cato war ein Kind und brauchte noch lange nicht erwachsen zu werden. Und auf keinen Fall wollte sie jemals auf die Art erwachsen werden, wie er es war.

Ihr Vater machte nämlich so gut wie nichts, außer geistesabwesend zu sein. Er starrte geistesabwesend auf den Fernseher, an die Wand, durchs Fenster. Morgens stieg er schon geistesabwesend aus dem Bett, schnappte sich geistesabwesend einen Kaffee und starrte ungefähr eine halbe Stunde geistesabwesend nach draußen. Cato war überzeugt, dass er gar nichts von dem wahrnahm, was draußen zu sehen war. Nicht die Kondensstreifen der Flugzeuge, die sich langsam im Blau verloren, nicht die Frau, die wie eine Ballerina hinter ihren Hunden durch die Straße tänzelte. Sein Blick war leer, und wenn seine Kaffeetasse auch leer war, trat er oft ohne ein Wort aus dem Haus, um zur Arbeit zu gehen. Wenn das bedeutete, erwachsen zu sein, dann wollte Cato es niemals werden. Auch nicht, wenn sie längst erwachsen war.

Jetzt stand sie selber am Fenster und starrte hinaus. Nicht geistesabwesend, aber mit Kaffee und dem Kopf voller Gedanken.

Auf dem Weg, der durch den Garten führte, erschien Cornelia mit einem Eimer voller Putzmittel in der einen Hand und Schrubber und Sprühflasche in der anderen. Und einem so angewiderten Gesichtsausdruck, als ob sie schon von draußen riechen konnte, wie schmutzig es im Haus war. Cornelia war die Nachbarin, aber sie verhielt sich oft so, als wäre sie Catos Mutter.

Und das, obwohl niemand Catos Mutter war. Zumindest niemand, der lebte.

EIN WEITES ROTES SOMMERKLEID

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Als Cato auf die Welt kam, hat ihre Mutter diese Welt verlassen. Sie war fast auf die Minute genauso lange tot, wie Cato alt war. Das Einzige, was Cato über sie wusste, waren die wenigen Dinge, die ihr Vater ihr erzählt hatte. Sie hatte nur ein einziges Foto von ihrer Mutter. Und ein Kleid.

Auf dem Foto waren Cato und ihre Mutter zusammen zu sehen. Ihre Mutter auf einer Bank im Gras in der Sonne, in einem weiten roten Sommerkleid und mit strahlendem Lächeln im Gesicht. Cato im Bauch ihrer Mutter, wahrscheinlich ohne zu lächeln, denn dafür war sie natürlich noch viel zu klein. Das Foto war ein paar Wochen vor ihrer Geburt gemacht worden, ein paar Wochen vor dem Tod ihrer Mutter.

Und das Kleid, das Cato besaß, war das Kleid, das ihre Mutter auf dem Foto trug. Es hatte einen festen Platz in Catos Kleiderschrank, und jeden Morgen, wenn sie die Schranktür öffnete, warf sie einen kurzen Blick darauf. Abgesehen von Cato selbst waren diese beiden Dinge der einzige Beweis im ganzen Haus, dass es ihre Mutter wirklich gegeben hatte.

Cato war noch lange nicht erwachsen, aber alt genug, um Narben auf dem Herzen zu haben. In erster Linie wegen der Schuldgefühle. Natürlich hatte sie es nicht mit Absicht getan, aber die Sache war nun mal eindeutig: Wäre Cato nicht geboren worden, würde ihre Mutter noch leben. Manchmal schaute Cato eine Stunde lang in den Spiegel und fragte sich, was sie von dem Mädchen halten sollte, das sie dort sah. Manchmal fühlte sie Abscheu und Wut auf sich selbst. Manchmal fühlte sie Wut auf alles und jeden, auf die ganze Welt. Weil es eine Welt war, in der es Cato und ihre Mutter nicht gleichzeitig geben konnte. Cato glaubte zwar nicht, dass im Himmel jemand saß und sich schadenfroh die Hände rieb, aber sie fand es trotzdem gemein von der Welt. Als ob sich die Wirklichkeit vom Moment ihrer Geburt an gegen sie verschworen hätte.

Und manchmal – in den letzten Jahren immer öfter – fühlte sie gar nichts. Als ob ihre Mutter immer stärker verblasste, je mehr Zeit verstrich, und sie selbst immer gleichgültiger wurde. Und das fühlte sich eigentlich am schlimmsten an.

Als die Haustür aufging, schauderte Cato kurz. Das lag teils am Kaffee, teils an Cornelias widerlich süßem Parfum, das in die Küche strömte. Und vielleicht auch ein kleines bisschen an ihrer Mutter.

HINEIN INS STÜBCHEN

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Man nehme einen exakt gestrichenen Teelöffel Rattengift – exakt gestrichen, also nicht geschätzt, sondern mit der Lupe abgemessen. Es ist sehr wichtig, genau zu sein, wenn es um Genauigkeit geht. Rezepte müssen streng nach Regeln zubereitet werden und Regeln müssen streng den Regeln folgen. Man nehme also einen exakt gestrichenen Teelöffel Rattengift. Außerdem eine halbe Tasse Essigreiniger – wieder perfekt abgemessen. Fünfzig Gramm Fischgräten, aber nur die ganz harten, die einem im Hals stecken bleiben. Eine ganze Flasche Flüssigreiniger, zwei Putzschwämme und zum Schluss zehn winzige giftige Äpfelchen. Alles zusammen in einer großen Pfanne weich kochen, bis im ganzen Haus grüne, gelbe und braune Schwaden wabern. Und schon ist sie fertig, nach einem Originalrezept von Meisterköchin Cato: Cornelia.

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Cornelia kam mehrmals die Woche zu ihnen, um zu putzen. Dafür wurde sie bezahlt. Nicht bezahlt wurde sie allerdings dafür, sich überall einzumischen. Das erledigte sie gratis. Und für Cato fühlte es sich an, als ob sich Cornelia bei wirklich allem einmischte, vor allem bei Dingen, die sie absolut nichts angingen. Zum Beispiel die Unordnung in Catos Zimmer. Cato fand sie gemütlich, und sie wusste auch immer genau, wo alles lag, was sie suchte. Aber Cornelia war der Meinung, dass es aussah wie im Schweinestall und man nichts finden konnte außer verschimmelten Pizzaresten. Und obwohl Cato Cornelia schon sehr oft lautstark klargemacht hatte, dass sie die Finger von ihren Sachen lassen sollte, war ihr Zimmer nach der Schule immer wieder perfekt aufgeräumt und alles ganz ordentlich in Schubladen und Schränken verstaut, gefaltet, gestapelt und sortiert.

Als Cornelia mit ihren hohen Absätzen in die Küche geklackert kam, nahm Cato einen extra großen Schluck Kaffee, den sie nur mit Mühe herunterbekam. Sie mochte gar keinen Kaffee. Aber sie trank ihn, weil Cornelia gesagt hatte, dass er schlecht für sie sei.

»Kaffee und Zucker und Cola sind Gift für deinen Körper, Schätzchen«, hörte Cato ihre süßliche Stimme in Gedanken. »Davon bekommst du bloß noch mehr Wutausbrüche.«

Und das, obwohl Cato gar keine Wutausbrüche hatte. Gut, vielleicht ganz manchmal bei Cornelia, aber die würde auch das letzte Faultier aus der Ruhe bringen.

»Aber wir geben ihnen einfach einen Ort«, sagte Cornelia immer. »Einen kleinen Ort in einem winzigen Stübchen in deinem Kopf. Dort stecken wir sie rein und dann schieben wir einen Deckel darauf.«

Das war Cornelias Lösung für alles, was ein bisschen störte oder stach, für alles, bei dem sie sich ungefragt einmischte: hinein ins Stübchen. Augen zu, weg damit und so tun, als ob es nicht da wäre.

Das machte Cato verrückt.

Sie schüttelte sich, nahm ihren Rucksack vom Küchentisch und lief direkt an Cornelia vorbei zur Haustür. Die sah sie im Vorbeigehen nur kopfschüttelnd an und streckte schnuppernd die Nase in die Luft.

»Rieche ich da schon wieder Kaffee, Schätzchen?«

MUSIK VON FRÜHER

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Sehr kalt war es noch nicht, der Herbst hatte gerade erst begonnen. Es waren die Wochen, in denen alles flammend rot und orange und leuchtend gelb war, jene Wochen, in denen die Sonne die Welt noch nachglühen ließ, die Wochen, bevor die Welt verstummte. Von allen Jahreszeiten liebte Cato den Herbst am meisten. Es war die Jahreszeit, in der alles eine größere Bedeutung bekam. All das, was früher war, all das, was später sein würde. Und all das, was jetzt war, das direkt vor der eigenen Nase vorbeispazierte. Der Herbst hatte etwas Trauriges an sich, in das sie eintauchen wollte. Sie hatte im Internet nach dem Wort gesucht, das dazu passte. Und als sie es fand, stellte sie fest, dass es ein sehr schönes Wort war: Melancholie.

Sie radelte zur Wiese-die-es-nicht-gab am anderen Ende des Ortes. So wie fast jeden Tag. Dort lehnte sie ihr Fahrrad gegen einen Baum und legte sich, auf einen Ellbogen gestützt, mitten auf die Wiese ins Gras. Sie riss einen Grashalm ab, steckte ihn sich in den Mund und schaute zur Straße. Dort schlenderte der Morgen vorbei. Ein Mann mit einer Einkaufstasche, eine Frau, die telefonierte, ein paar Autos und Fahrräder, das erste fallende Laub.

Die Wiese-die-es-nicht-gab gab es natürlich doch, sonst hätte Cato dort nicht liegen können. Aber außer ihr schien sie niemand zu bemerken. Alle sahen nur das auffällige Haus links davon. Mit den leuchtend roten Fensterrahmen und der blauen Fassade wirkte es wie ein Haus aus der Zukunft. Und auch das noch auffälligere Haus rechts sahen alle – mit Türmchen, die wie Raketen aus den Mauern ragten. Aber die Wiese-die-es-nicht-gab, genau zwischen diesen beiden unglaublichen Häusern, entzog sich hartnäckig den Blicken der Leute.

Außer Catos. Sie hatte trainiert, »umgekehrt zu schauen«, wie sie es selbst nannte. Nicht auf die Dinge zu gucken, die automatisch die Aufmerksamkeit auf sich zogen, sondern genau daneben. Dort fand sie eine ganze Welt, unbekannt und versteckt vor aller Augen.

Cato hatte immer ihre Kamera dabei, um die ungesehenen Dinge festzuhalten. Nie machte sie Fotos von verträumt blickenden Menschen oder tollen Gebäuden oder romantischen Sonnenuntergängen oder Gewitterstimmungen. Stattdessen machte sie Bilder von Dingen, die so nichtssagend und unauffällig waren, dass niemand sie sah. Dass wirklich niemand sie sah, gerade so, als ob es sie gar nicht gäbe. So wie die Wiese-die-es-nicht-gab. Ihr Computer war voll mit Fotos von Vorgärten, Zäunen, Nischen, Statuen, Türgriffen. Alles Dinge, die es gab, aber für wen? Wer würde es bemerken, wenn sie nicht mehr da wären? Und wenn sie niemand je bemerkte, existierten sie dann überhaupt? Vermutlich nicht, war Catos Meinung. Vermutlich gab es sie erst wirklich, wenn sie die Linse ihrer Kamera darauf richtete. Ein unglaublich großartiger Gedanke, fand sie.

Es war der erste Sonntag in den Herbstferien. Der Trubel des Samstags war vorbei und die Luft von einer seltsamen Stille erfüllt, als ob der Himmel so groß wäre, dass jeglicher Lärm darin verloren ging.

Die Sonne wärmte Catos Gesicht und mit der Wärme schlich sich wie aus dem Nichts wieder ihre Mutter in ihre Gedanken. Cato erschrak jedes Mal, wie unerwartet sie auftauchte. Es geschah zwar immer seltener, aber an diesem Morgen bereits zum zweiten Mal. Und obwohl sie das kaum zu denken wagte, wollte Cato diesen Vormittag eigentlich gar nicht mit Gedanken an ihre Mutter verbringen.

Sie spuckte den Grashalm aus, öffnete ihren Rucksack und zog eine große Flasche Cola und einen Stapel Comics heraus.

Dann setzte sie sich aufrecht hin, sodass ihr die Sonne genau auf den Kopf schien und sich Gänsehaut auf ihrem Rücken und ihren Armen ausbreitete, bis es sie in den Zehen kitzelte. Als ob über ihre Füße die eiskalte Brandung eines riesigen Ozeans schwappte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie nahm eins der Comichefte vom Stapel (Zombie-Apokalypse II: Das Gemetzel des Babyzombiekönigs) und begann zu lesen.

Aber gerade in dem Moment, als sie in ihrem Comic versinken wollte, überfiel sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Wiese-die-es-nicht-gab war verlassen, fühlte sich aber nicht verlassen an. Cato war sich sicher: Wenn sie von ihrem Comic aufsähe, würde sie dort jemanden stehen sehen. Aber als sie schließlich wirklich aufblickte, sah sie niemanden.

Sie stand auf, drehte sich um sich selbst und ließ den Blick an den Büschen entlangwandern. Dann schüttelte sie den Kopf. Bestimmt hatte sie sich das alles nur eingebildet. Cornelia hätte gesagt, dass sie zu viele Reize zuließ. Jede Menge unpraktische Gewühle (Cornelia nannte Gefühle, die sie missbilligte, weil sie für Cato nicht gut waren, »Gewühle«). Und natürlich hatte Cornelia auch eine Lösung für die schlechten Gewühle parat.

»Weg damit. Ins S…?«

(Leerer Blick von Cato)

»Ins St…St…St«

(Leerer Blick)

»Ins Stü…Stü…Stü…«

(Leerer Blick)

»Ins Stüb…Stüb…Stüb…«

»Stübidübidü.«

»Ins Stübchen, genau. Ins Stübchen.«

Aber Gewühle oder nicht, als Cato sich hinsetzte, um weiterzulesen, fühlte sie immer noch diesen Blick auf sich. Zuerst versuchte sie, ihn zu ignorieren, doch irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und sah mit einem Ruck auf.

Niemand.

Cato seufzte. So langsam wurde sie nervös. Und was sie vor allem nervös machte, das war der Funken Hoffnung, der auf einmal in ihrem Herzen aufflammte, so völlig aus dem Nichts. Als ob er sich jahrelang mucksmäuschenstill dort versteckt und klammheimlich auf den passenden Moment gewartet hätte, um zuzuschlagen.

Mama, dachte sie.

Gleich danach hätte sie sich ohrfeigen können.

»Idiotisches Kleinkind«, murmelte sie in sich hinein.

Ins St…St…St…

»Hau ab.«

Sie steckte die Nase wieder in ihren Comic, hatte aber die Lust am Lesen verloren. Als es auch noch zu regnen anfing, raffte sie ihr Zeug zusammen und fuhr schlecht gelaunt nach Hause.

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Zu Hause roch zwar alles nach Putzmitteln, aber Cornelia selbst schien zum Glück schon gegangen zu sein. Im Haus war es still. Doch als Cato gerade ihren Rucksack in eine Ecke des Flurs schleuderte, ertönte aus dem Wohnzimmer ein einzelner Klavierton.

War Cornelia doch noch da? Wischte sie vielleicht die Tasten ab?

Leise schlich Cato in den Flur und spähte durch einen Türspalt ins Wohnzimmer.

Am Flügel saß ihr Vater. Von hinten wirkte er sehr alt und gebrechlich: Sein langer, dünner Oberkörper war über die Tasten gebeugt, die langen Beine steckten ungeschickt gefaltet darunter. Sein Zeigefinger ruhte auf einer Taste. Er starrte durch das linke Fenster, und Cato konnte seinen Blick erhaschen: Er verlor sich in der Ferne, wirkte aber nicht ganz so leer wie sonst. Für einen Moment schien es Cato sogar möglich, dass er da draußen den gleichen prächtigen Herbst sah wie sie. Als wenn er sich aus seiner zugemauerten Festung geschlichen und einen Moment tief durchgeatmet hätte. Auf jeden Fall zitterte er, ein Schauder lief ihm über den Rücken.

Dann drückte er eine zweite Taste nach unten. Und eine dritte. Er nahm die linke Hand dazu und begann zu spielen. Langsam, sanft, getragen.

Der Flügel wurde nie benutzt. Es stand nur da, um zu stehen, einzustauben und nach und nach immer hässlicher zu werden. Der schwarze Lack war grau gesprenkelt, als ob jemand graue Farbe darüber gesprüht hätte. Das kommt bestimmt von Cornelias Putzmitteln, dachte Cato.

Cato hatte ihren Vater in ihrem ganzen Leben nur wenige Male spielen hören. Und bei diesen paar Malen hatte er immer das Gleiche gespielt. Auch jetzt erkannte sie die Melodie sofort wieder. Sie hatte sie noch nirgendwo anders gehört, kannte sie nur vom Klavierspiel ihres Vaters.

Sie lauschte mit angehaltenem Atem, während ihr Vater sich wie ein träger Riese auf dem Hocker hin und her wiegte, seine langen dünnen Finger so elegant wie Tänzer auf den Tasten.

Auf einmal schrak er hoch und der Zauber war gebrochen. Als ob die Tasten mit einem Schlag glühend heiß geworden wären, zog er die Hände zurück, sprang auf und lief zur Tür, von wo aus Cato ihn heimlich beobachtet hatte. Aber er nahm sie kaum wahr, sondern lief sie beinahe um.

»He, Catolein, wie war es in der Schule?«

»Sonntags habe ich keine Schule, Papa. Auch nicht in den Herbstferien.«

Ihr Vater, der inzwischen schon halb die Treppe hinauf war, drehte sich zu ihr um.

»Ach ja«, sagte er. »Sonntag, ja.«

Dann ging er weiter nach oben und verschwand in seinem Zimmer.

Cato starrte noch eine Weile auf die leeren Stufen, bevor sie das Wohnzimmer betrat. Der Flügel stand wie ein Denkmal in der Mitte des Raums. Er sah zwar hübsch aus, aber Cato verstand nicht, warum er da stand, so mitten im Wohnzimmer. Er schien zu einem anderen Haus und einem anderen Leben zu gehören.

Manchmal hatte Cato das Gefühl, in einem fremden Haus voller unbekannter Dinge aufzuwachsen. Während bei anderen Familien Fotos an der Wand hingen oder kleine Gegenstände auf der Fensterbank standen, von denen jeder einzelne eine Geschichte zu erzählen hatte, wirkte das Haus von Cato und ihrem Vater wie ein Ausstellungsraum in einem Möbelgeschäft. Alle Erinnerungen schienen systematisch daraus entfernt worden zu sein.

Sie setzte sich an den Flügel und versuchte, die Melodie, die ihr Vater gespielt hatte, nachzuspielen. Es gelang ihr gar nicht schlecht, sie kannte sie inzwischen auswendig und ihre Finger fanden schnell die richtigen Tasten. Dann fiel ihr Blick auf den Zettel, der auf dem Instrument lag. Es war eine Visitenkarte aus leuchtend gelbem Papier. Darauf stand in knallroten Buchstaben:

FRAU KANOS KINO

Filme, die nirgends laufen, aber die du
schon immer sehen wolltest
.

Auf der Rückseite stand eine Anschrift, die Cato kannte. Es war die Adresse vom LUX, einem alten Kino, das schon seit Jahren leer stand. Hatte ihr Vater diese Visitenkarte bekommen? Und was waren das wohl für Filme, diese »Filme, die nirgends laufen«?

Die Haustür wurde geöffnet und gleich darauf hörte Cato Cornelia vor sich hin summen. Hastig stopfte sie die Visitenkarte in ihre Hosentasche und ging in den Flur, um schnell in ihrem Zimmer zu verschwinden und Cornelia nur so kurz wie möglich zu begegnen.

»Ach, sieh an, die Drückebergerin ist auch mal wieder zu Hause«, sagte Cornelia, als sie Cato erblickte. Sie stand mit zwei Taschen an der Tür und lächelte Cato süßlich an.

Die sagte nichts, sondern lächelte nur süßlich zurück, während sie Cornelia mit der Hand in der Hosentasche den Mittelfinger zeigte. Dann raste sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

EINE UNBEKANNTE BEKANNTE

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Beim Abendessen schaute Cato immer wieder heimlich zu ihrem Vater, um zu sehen, ob von dem verträumten Mann am Flügel noch irgendetwas übrig geblieben war. Aber es war nichts mehr davon zu erkennen. Sein Mund lächelte sie an, aber seine Augen schwiegen.

Cornelia kaute währenddessen winzige Mäusebissen. Sie hatte wie üblich auch für sich selbst gedeckt, ganz so, als ob sie dazugehörte. Wie Cornelia nach und nach immer tiefer in ihr Leben eingedrungen war, konnte Cato eigentlich nur bewundern. Begonnen hatte sie als besorgte, hilfsbereite Nachbarin, die dem hilflosen, alleinstehenden Nachbarn helfen wollte. Sehr langsam, fast schon unbemerkt war sie immer weiter in ihren Alltag eingetaucht. Und jetzt saß sie hier mit ihnen am Tisch, als wenn es die normalste Sache der Welt wäre. Wie Unkraut, das in einer kleinen Ecke beginnt und langsam, aber sicher den ganzen Garten einnimmt.

»Noch etwas Soße, Har?«, fragte Cornelia.

Har.

Was dachte sie sich eigentlich? Dass sie seine Frau war, oder was? Mein Vater heißt Harold! wollte Cato rufen, aber sie schwieg. Am liebsten hätte sie Cornelia mit der Gabel ins Auge gestochen, doch sie wusste, dass ihr eine solche Aktion eher Stress als Vergnügen einbringen würde. Auch wenn die Welt mit einer Gabel in Cornelias Auge ein bisschen besser gewesen wäre. Aber ihr Vater und die Polizei würden ganz sicher anders darüber denken. Und obwohl Cato es nicht zugeben wollte, hatte sie eigentlich auch Angst vor Cornelia. Im Ort gab es nämlich Gerede über sie. Vor allem über ihren Mann Markus. Der war plötzlich krank geworden, und es war ihm völlig unerwartet immer schlechter gegangen, bis er schließlich gestorben war. Manche Leute munkelten, dass Cornelia ihn langsam vergiftet hätte, weil sie ihn loswerden wollte. Er war viel älter gewesen als sie, und angeblich hatte sie ihn nur geheiratet, weil er so ein großes Haus besaß. Natürlich waren das nur Geschichten und das Ganze war schon vor Catos Geburt passiert. Aber trotzdem …

Irgendwas wird an den Geschichten schon dran sein, flüsterten die Leute.

Cato mochte keinen Tratsch, aber die Sache mit Markus spukte ihr trotzdem immer wieder im Kopf herum. Mit schiefem Blick musterte sie Cornelia, die in aller Ruhe ihre Mäusebissen verspeiste. Ihr Vater starrte auf seinen Teller, statt Cornelia eine Antwort zu geben.

Und da beschloss sie, einfach zu fragen, bevor er noch mehr in sich versank. »Papa, wer ist Frau Kano?«

»Was?«

»Frau Kano.«

Ein spöttisches Kichern kam aus Cornelias Mund.

»Ist das wieder eine deiner Fantasiegestalten? Eine Frau in einem Kanu vielleicht?«

Mit Cornelias Vorstellungskraft war es so schlecht bestellt, dass sie bei dem Namen Frau Kano nur an eins denken konnte: an eine Frau in einem Kanu. Cato ignorierte sie und zog die Visitenkarte hervor.

»Wer ist das?«, fragte sie ihren Vater.

»Ach, die stand einfach heute Morgen vor der Tür. Sie hatte sich vertan. Sie dachte, sie würde mich kennen.«

Aber Cato sah, wie ihr Vater auf die Karte starrte. Verwirrt, als würde er in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung graben. Cornelia schien es auch zu bemerken und schielte misstrauisch auf die Karte.

»Filme, die nirgends laufen …«, las sie laut vor. Aber Cato zog ihr die Karte schnell unter der Nase weg. Das ging sie nichts an.

»Und sie dachte, dass sie dich kennt?«, fragte sie ihren Vater.

»Hmm?«

»Diese Frau Kano? Kannte sie dich wirklich nicht? Sie hat nur gedacht, dass es so wäre?«

»Ja. So in der Art«, sagte ihr Vater.

Cato musterte ihn eine Weile.

»Das war einfach eine Vertreterin oder so«, sagte er dann. »Die erzählen dir alles Mögliche, nur um dir etwas anzudrehen.« Und er beugte sich wieder über seinen Teller.

»Darf ich aufstehen?«, fragte Cato da und stand bereits.

»Ähm, Cato?«, fragte Cornelia. »Wir bleiben sitzen, bis alle fertig sind.«

»Als ob Sie das zu bestimmen hätten.«

Ihr Vater nickte langsam. »Geh ruhig«, sagte er.

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Am Abend saß Cato am Fenster in ihrem Zimmer. Von der Zimmerdecke bis direkt unter den Fensterrahmen verlief ein Stützbalken, der mit der Bettdecke darüber einen gemütlichen Lehnstuhl bildete. Cato hatte die Beine über die Fensterbank gehängt, sodass ihre bloßen Füße aus dem Fenster hingen. Neben ihr war eine Kreuzspinne dabei, ein neues Netz zu spinnen, und Cato dachte darüber nach, wie verrückt es eigentlich war, dass zwei Wesen, eine Cato und eine Kreuzspinne, so dicht nebeneinander existieren konnten, obwohl sie sich gleichzeitig in vollkommen verschiedenen Welten befanden.

Sie ließ den Blick über die Gasse hinter dem Haus und die Gärten und Rückseiten der Häuserreihe dahinter schweifen, während der frische Abendwind an ihren Füßen entlangstrich. Die Spinne wusste von alldem nichts, die wusste nur etwas vom Fädenspinnen und von Fliegen und vom Essen und Jagen.

Ihr Vater war nicht da. Auf einem Spaziergang, wie so oft. Cornelia war schon lange wieder zu Hause und Cato genoss die Stille des Alleinseins in ihrem Zimmer. Wie herrlich würde es sein, wenn sie erst einmal alt genug war, um ganz alleine zu sein. Weg von ihrem Vater und weg von Cornelia. Nur Beggar So würde sie mitnehmen. Das war ihr weißes Kaninchen. Ein Riesenkaninchen. Und, soweit Cato wusste, das einzige Kaninchen der Welt, das grunzte. Als wäre es ein Schwein. Sie hatte es nach dem Kung-Fu-Meister aus dem Film Drunken Master benannt. Der war immer so betrunken, dass es aussah, als würde er beim Kampf die ganze Zeit stolpern. Trotzdem gewann er immer. Beggar So, das Kaninchen, sah Beggar So aus dem Film verblüffend ähnlich, denn beide hatten Hasenzähne. Aber Catos Beggar So war viel zu dumm, um zu kämpfen. Er starrte immer nur etwas schläfrig vor sich hin. Und dabei grunzte er eben wie ein Schwein.

»Ich hab dich gehört, Beggar So«, sagte Cato. »Aber ich habe gerade keine Zeit für dein Grunzen, ich muss nach draußen schauen.«

Zwischen den dunklen Baumkronen hing ein fast kompletter Vollmond. Es war eine wunderschöne, helle Nacht, perfekt für ihr Teleskop, doch sie saß hier viel zu gemütlich, um aufzustehen und das Gerät zu holen. Aber ihre Kamera hatte sie bei sich. Also knipste sie einige Zufallsfotos vom Himmel. Sie lauschte dem Rauschen der Autobahn in der Ferne und raste in Gedanken über den schwarzen Asphalt durch ein Gewimmel aus gelben und orangefarbenen Lichtern. Eine Autobahn ist wie ein sehr schmaler Meeresarm, dachte sie: eine Öffnung in eine schwindelerregend große, unbekannte Welt.

In ihrer Hosentasche steckte immer noch die Karte von Frau Kano. Cato zog sie raus und dachte kurz daran, wie verwirrt ihr Vater gewirkt hatte, als sie ihm die Karte unter die Nase gehalten hatte. Und sie dachte an sein Klavierspiel. Seinen Blick, als er nach draußen gestarrt hatte. Hatte er in diesem Moment an ihre Mutter gedacht? Dachte er überhaupt noch manchmal an sie? So etwas würde sie ihren Vater niemals fragen. Mit ihm hatte sie noch weniger gemeinsam als mit der Kreuzspinne neben sich. Das war nicht ihre Schuld, sie hatte oft genug seine Aufmerksamkeit gesucht. Auf verschiedene Weise, in letzter Zeit vor allem durch wütendes Herumschreien, mit dem sie alles verdarb. Cato war das durchaus bewusst. Dies waren die Wutausbrüche, die Cornelia meinte. Die hatte sie wirklich manchmal, das musste sie zugeben. Aber es war Cato inzwischen völlig egal. Auch ihr Vater interessierte sie schon lange nicht mehr. Er würde schon noch sehen, genauso wie Cornelia. Sobald sie sechzehn war, würde sie abhauen, und dann sahen die beiden sie niemals wieder.

Filme, die nirgends laufen, aber die du schon immer sehen wolltest, las sie noch einmal auf der Visitenkarte.

Wie geheimnisvoll das klang. Morgen früh würde sie sich gleich mal am alten LUX-Kino umschauen.

Während ihre Gedanken wieder langsam zur Autobahn in der Ferne wanderten, sah Cato unten in der Gasse plötzlich etwas zwischen den Mülltonnen entlanghuschen. Erst dachte sie, dass es die streunenden Katzen waren, die dort immer nach Essen suchten und ihre Kämpfe ausfochten. Aber als Cato hörte, wie sich direkt unter ihr jemand an der Hintertür zu schaffen machte, begriff sie, dass es keine Katzen waren. Mit einem Ruck zog sie die Füße ins Zimmer zurück. Und blieb mit der Ferse an der Kante hängen. Beinahe hätte sie »Au!« geschrien, konnte es aber gerade noch rechtzeitig herunterschlucken. Danach versuchte sie so wenig wie möglich auf den stechenden Schmerz in ihrem Fuß zu achten, sondern lieber zu lauschen, was an der Hintertür geschah.

»Verstehst du jetzt, wieso ich ein eigenes Handy brauche …«, flüsterte sie Beggar So wütend zu. Sie hatten ein Festnetztelefon im Haus, aber um dahin zu gelangen, hätte sie nach unten schleichen müssen, und das hatte sie jetzt ganz sicher nicht vor. Ihr Vater hielt ein eigenes Handy für Unsinn. Fand, dass sie noch zu klein war. Und das, obwohl er letztens erst gesagt hatte, dass sie endlich mal erwachsen werden sollte. Tja, das kommt davon, dachte sie. Jetzt musste sie hier ganz allein ohne Handy groß genug sein, um sich mit einem mordlustigen Einbrecher anzulegen! Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich Cato, dass Cornelia da wäre. Denn dann hätte sie vielleicht unbemerkt die Polizei anrufen können, während der Einbrecher damit beschäftigt gewesen wäre, Cornelia zu verhauen. Aber Cornelia war nicht da, um sich verhauen zu lassen, und das war aus mehreren Gründen schade. Cato war ganz allein.

Das Rumoren verstummte. Langsam und quietschend wurde die Hintertür geöffnet. Gefolgt von Schritten unten im Haus. Zuerst direkt unter Cato in der Küche, dann im Flur, von dem die Treppe abging.

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