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Blackcoat Rebellion - Das Schicksal der Zehn

hier erhältlich:

Entscheidung im Zentrum der Macht

Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Kitty enthüllt der Welt, wer sie in Wirklichkeit ist und dass der sadistische Premierminister Daxton Hart sie nur als seine Nichte ausgegeben hat. Neben Knox, der die Blackcoat-Rebellion anführt, kämpft sie für Freiheit und Unabhängigkeit. Aber Hart ist ein gewiefter Gegner, der vor nichts mehr zurückschreckt, um an der Macht zu bleiben. Wenn Kitty nicht aufpasst, ist alles verloren. Und am Ende ist sie es, die über Leben und Tod entscheidet.

»Das Tempo ist hoch, die Spannung geht ins Mark, die Heldin ist eine tolle Identifikationsfigur, und die Bösen sind glatt und furchteinflößend.«
School Library Journal


  • Erscheinungstag: 25.08.2020
  • Aus der Serie: Blackcoat
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850298

Leseprobe

Für Matrice

I

SPRICH

Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich den Blick über die Menschenmenge schweifen ließ. Die Bürger von Anderswo, die mit ihren roten und orangen Overalls Farbe in die graue Winterlandschaft brachten, bewegten sich rastlos, ich konnte spüren, dass sie langsam ungeduldig wurden.

Und nicht nur sie.

»Knox, alle warten«, sagte ich. Ich stand in der Ecke der Bühne, die die Blackcoats in den letzten Tagen gebaut hatten. Sie bestand aus allen möglichen Materialien, die sie in den bei der Schlacht von Anderswo zerstörten Gebäuden gefunden hatten. Auch jetzt, zwei Wochen später, wurden noch immer Leichen aus den Trümmern geborgen.

Knox Creed, einer der Anführer der Blackcoat-Rebellion und mein ehemaliger Scheinverlobter, stand unten an der Treppe und sah zu mir hoch. Er hatte die Stirn gerunzelt, seine Verärgerung war nicht zu übersehen. »Dessen bin ich mir durchaus bewusst, danke«, sagte er. »Leider kann ich nicht viel tun, um die Sache zu beschleunigen.«

Ich sprang die Stufen zu ihm und den anderen Blackcoats hinunter, die dort herumstanden. Knox hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihn mein Starrsinn ärgerte, und obwohl ich mich seit dem Ende der Schlacht wirklich bemühte, nach den Regeln zu spielen, war unser gegenseitiges Vertrauen noch immer sehr zerbrechlich. Ich wusste nicht, ob wir jemals wieder richtig gute Freunde werden konnten, egal wie diese Rebellion enden würde. Im Moment jedoch mussten wir uns um wichtigere Dinge kümmern: Er musste eine Rebellion anführen und ich eine Rede halten, sobald die Kameras bereit waren.

»Benjy meinte, dass der Probelauf heute Morgen gut war«, sagte ich. »Gibt es jetzt ein Problem?«

»Es gibt immer ein Problem«, antwortete Knox. Er wandte sich von mir ab, um in das Mikrofon an seinem Handgelenk zu sprechen. »Warum diese Verzögerung?«

Ich wartete schweigend ab, als er der Antwort über seine Ohrhörer lauschte. Dann murmelte er etwas, was wie ein Fluch klang und mich die Stirn runzeln ließ. »Wie lange noch?«

»Sie haben Schwierigkeiten, sich in den Fernsehsender zu hacken. Irgendwas mit Verschlüsselungen und Passwörtern.«

Also nichts, wobei ich helfen konnte. Genauso wenig wie Knox. »Dann zeichnen wir die Ansprache eben auf und senden sie, sobald sie es geschafft haben. Wäre das nicht einfacher?«

»Das machen wir, wenn es sein muss, aber wir sollten ihnen vorher noch ein paar Minuten geben.« Als würde er mich erst jetzt richtig bemerken, stutzte er bei meinem Anblick und betrachtete mich mit seinen dunklen Augen von oben bis unten. »Hast du gebadet?«

Ich blinzelte. »Sehr witzig. Sie haben eine ganze Stunde gebraucht, um mir die Haare zu machen und mein Make-up aufzutragen.«

»Und dich dabei die ganze Zeit lang nur angestarrt?« Er fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, um … was auch immer damit zu erreichen. »Du siehst Lila überhaupt nicht mehr ähnlich.«

Lila Hart war eine der Gründerinnen der Blackcoats und zufällig auch die Nichte von Premierminister Daxton Hart. Vor vier Monaten, an meinem siebzehnten Geburtstag, hatte man mich entführt und mein Aussehen chirurgisch so verändert, dass ich ihren Platz einnehmen konnte. Sie war Knox’ echte Verlobte. Ich hingegen hatte die Rolle nur gespielt.

Aber nachdem sich die Aufregung etwas gelegt hatte, sollte heute die ganze Welt erfahren, dass es zwei von uns gab. Lila hatte sich plötzlich auf Daxtons Seite geschlagen, der irgendetwas gegen sie in der Hand haben musste. Und zwar etwas Lebenswichtiges, denn die Lila Hart, die ich kannte, war zwar nicht besonders mutig, würde aber auch niemals freiwillig die Regierung unterstützen, die ihren Vater ermordet und aus ihrer Mutter eine Rebellin auf der Flucht gemacht hatte. Niemals, es sei denn, jemand drückte ihr eine Waffe an die Schläfe – oder jemand anderem.

Gegen Lilas plötzlichen Sinneswandel konnten wir leider nicht viel ausrichten, aber zumindest konnte ich in der Zwischenzeit für Knox und die Blackcoats arbeiten. Er hatte zwar eine Menge gegen mich in der Hand, doch das spielte keine Rolle, denn er wollte mich eigentlich gar nicht hier haben. Ich war in Anderswo, weil ich es so wollte. Und gleich würde ich vor unzähligen Amerikanern sprechen – denn es war das Richtige. Er konnte mich einschüchtern, so viel er wollte, damit ich endlich verschwand, ich würde meine Meinung nicht ändern.

»Ich sehe haargenau so aus wie Lila, und das könnte dir jeder an diesem verfluchten Ort bestätigen«, sagte ich mit fester Stimme. »Es liegt bloß daran, dass dir langsam die Unterschiede auffallen. In meinem Gruppenheim gab es zwei Jungen – sie waren eineiige Zwillinge, und anfangs konnte sie niemand auseinanderhalten. Doch je besser wir sie kennenlernten, desto leichter …«

»Erspar mir das. Ich weiß, wie man Zwillinge voneinander unterscheidet.« Seine Miene verfinsterte sich, und ich fragte mich, womit ich ihn so verärgert hatte. Doch der Ausdruck verschwand so schnell, wie er gekommen war, und dann schien erneut jemand über den Ohrhörer mit ihm zu sprechen, denn er hörte auf, an meinem Haar herumzuspielen, um sich die Hand gegen das Ohr zu drücken. »In Ordnung. Kitty … sie sind jetzt so weit. Denk an deine Stichworte, und es wäre nett, wenn du dich ausnahmsweise einmal an sie halten würdest.«

Ich schüttelte mein Haar aus, damit der schulterlang geschnittene blonde Bob so fallen konnte, wie er wollte. »Möchtest du, dass ich auch über meine Version der Ereignisse spreche oder nur über deine?«

»Ich möchte, dass du die Wahrheit sagst«, entgegnete er. »Die ganze Wahrheit. Wir können uns keine Lügen und Irreführungen mehr leisten, vor allem nicht, da Lila und Daxton schon das Volk damit bombardieren.«

Ich spürte, wie sich meine Mundwinkel langsam zu einem Lächeln hoben. »Wirklich? Die ganze Wahrheit?«

Er sah mir tief in die Augen und beugte sich so weit vor, dass ich den grauen Ring um seine Iris erkennen konnte. »Bis ins letzte Detail.«

Was immer er sich auch dabei dachte – wofür auch immer er mich benutzen mochte –, es war mir egal. Zum ersten Mal seit Monaten durfte ich ganz ich selbst sein, und diese Möglichkeit würde ich mir keinesfalls entgehen lassen.

Über meinem Platz hinter dem behelfsmäßigen Podest hatte jemand einen hellen Scheinwerfer angebracht, und ich stieg wieder die Treppe hinauf und ging darauf zu, meine Stiefel dröhnten dumpf auf dem Holzboden. Hunderte Gesichter starrten mich erwartungsvoll an, doch als ich genauer hinsah, registrierte ich eine gewisse Unzufriedenheit. Die Leute in Anderswo, die nicht nur diese Schlacht, sondern in einigen Fällen ein ganzes Leben in Gefangenschaft überlebt hatten, waren insgesamt weniger versöhnlich als die meisten Menschen. In meiner kurzen Zeit als Gefangene an diesem Ort war ich mehr als einmal verprügelt und bedroht worden. Hier war man aggressiv und gnadenlos, es ging allein darum, die eigene Haut zu retten.

Doch das hier war etwas anderes. Die Regierung hatte einige der wichtigsten Versorgungsleitungen nach Anderswo gekappt und die meisten Vorräte bei der Schlacht zerstört, und je mehr Zeit verging, desto schwieriger wurde es für Knox und die Blackcoats, die Leute zu ernähren. Sie hatten Hunger, und wenn ich es jetzt nicht schaffte – wenn ich die Leute nicht dazu brachte, zuzuhören –, würden wir alle bald verhungern. Und das wussten sie.

Ich räusperte mich. Das Mikrofon, das an dem Podium angebracht war, verstärkte das Geräusch und ließ es über den gesamten Platz hallen. Vor zwei Wochen hatte hier noch ein Käfig gestanden, in dem jeden Abend ungehorsame Bürger gezwungen worden waren, bis zum Tod miteinander zu kämpfen, in der Hoffnung auf eine zweite Chance. Davon war jetzt nur noch ein Klumpen geschmolzener Stahl übrig.

Die Situation in Anderswo war nicht leicht, und daran würde sich so bald auch nichts ändern. Doch zumindest bewies dieser zerstörte Käfig, dass sie sich bereits um einiges gebessert hatte.

Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass Knox mit verschränkten Armen dastand, und ich verstand auch ohne Worte, was er mir sagen wollte. Nämlich, dass sie den Kanal für die Übertragung nicht ewig offen halten konnten. Wenn ich also von den fünfhundert Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten gehört werden wollte, musste ich endlich zu reden beginnen.

Ich verdrängte die Zahl und hob den Kopf. Hierbei ging es nicht um mich. Hierbei ging es um die Rebellion, um Freiheit, darum, das Richtige für die Menschen zu tun – ich war nur das Sprachrohr. Nichts weiter.

»Guten Tag«, sagte ich und benutzte zum ersten Mal seit Langem meine eigene Stimme, ließ also Lilas Akzent weg, den ich im September so mühsam erlernt hatte. »Wie ihr sicher schon herausgefunden habt, ist mein Name nicht Lila Hart.«

Ein Murmeln durchlief die Menge, Knox atmete tief durch, seine Schultern hoben und senkten sich langsam. Er hatte die Lippen zusammengepresst, und auch aus einer Entfernung von fünf Metern konnte ich die Mischung aus Angst und Erwartung in seinen Augen erkennen. Uns beiden war sehr bewusst, wie viel von meiner Rede abhing.

»Mein Name ist Kitty Doe, ich wurde vor siebzehn Jahren hier geboren, in Sektion X von Anderswo«, sagte ich. »Meine biologische Mutter ist Hannah Mercer, und mein biologischer Vater war Premierminister Daxton Hart.«

Diese Tatsachen hatte ich selbst erst vor zwei Wochen herausgefunden, als Hannah – meine Mutter – mir ihre Affäre mit dem Premierminister gestanden hatte. Die Worte blieben mir fast im Halse stecken, denn obwohl ich sie mir selbst unzählige Male vorgesagt hatte, fühlten sie sich noch immer nicht real an.

»Ich hatte Glück«, fuhr ich fort. »Weil mein Vater der Premierminister war, hatte er die Möglichkeit, mich außerhalb von Anderswo unterzubringen, in einem Gruppenheim für Extras und Waisenkinder in Washington, D. C. Ich bin, soweit ich weiß, der einzige Mensch, der Anderswo jemals verlassen hat.«

Sobald ein Bürger wegen eines Verbrechens verurteilt worden war, schickte man ihn für immer nach Anderswo, unabhängig davon, wie belanglos das Verbrechen oder wie unschuldig der Verurteilte sein mochte. Bevölkerungskontrolle nannte man das, wie mir Augusta Hart, Daxtons kaltblütiges Miststück von einer Mutter, erklärt hatte. In Wahrheit handelte es sich lediglich um eine weitere Möglichkeit, das Volk zu kontrollieren.

»Ich wuchs in einem Gruppenheim mit neununddreißig anderen Kindern auf«, rief ich. »Und das hielt ich für ein relativ normales Leben. Ich ging zur Schule. Ich spielte mit den anderen Kindern. Wir machten einen großen Bogen um die Shields, schlichen uns in die Märkte und stellten uns vor, wie unser Leben mit siebzehn aussehen würde, wenn wir die Prüfung abgelegt hatten und erwachsen waren. Doch eines hatte man uns nie gesagt – nämlich, dass die Freiheit, wie wir sie uns vorstellten, nur eine Illusion war, dass wir niemals unsere eigenen Entscheidungen treffen und bestimmen könnten, wie unser Leben aussehen sollte. Es war naiv von uns, daran zu glauben, doch hatten wir es einfach nie infrage gestellt, bis es zu spät war«, fügte ich hinzu. »Wir alle bekommen Ränge, basierend auf einer einzigen Prüfung. Damit vergleicht man uns mit dem Rest der Bevölkerung, teilt uns entsprechend ein. Ob es eine niedrige II oder eine hohe VI ist – ganz egal, unser eigenes Leben haben wir nie selbst in der Hand. Denn unser Rang bestimmt alles. Unsere Jobs. Unser Zuhause. Unsere Nachbarn. Wo wir leben, was wir den ganzen Tag tun, wie viel Essen und Gesundheitsvorsorge wir erhalten – er kann sogar darüber entscheiden, wann wir sterben. Manche von euch hatten das Glück, einfache Jobs zu bekommen, die den Körper nicht besonders strapazieren, aber andere hatten nicht so viel Glück. Ich gehörte nicht zu den Glücklichen.«

Ich drehte mich um, strich mein Haar zur Seite und enthüllte auf diese Weise die tätowierte VII in meinem Nacken und das vernarbte X, das sie durchzog. Ich ließ die Kamera einige Sekunden darauf verweilen, bevor ich mich wieder umwandte. »Was man jetzt sieht, ist eine VII, aber die Erhebungen darunter verraten meinen wahren Rang – ich bin eine Drei. Mir wurde die Aufgabe zugeteilt, Kanalisationen zu reinigen, und zwar weit weg von meinem Zuhause, von der einzigen Familie, die ich je hatte. Ja, es war gute und ehrliche Arbeit«, fuhr ich fort. »Aber es war nicht das, wovon ich geträumt hatte. Ich war nur ein kleines Zahnrad in einer Maschinerie, die zu groß war, als dass einer von uns sie vollständig verstehen könnte. Da ich den Gedanken, meine Liebsten zu verlassen, nicht ertragen konnte, beschloss ich, in den Untergrund zu gehen und mich in einem Bordell zu verstecken.«

Inzwischen hatte Benjy sich neben Knox gestellt, sein rotes Haar funkelte in der Sonne, und der Ausdruck auf seinem sommersprossigen Gesicht war entspannt und ermutigend. Ich warf ihm ein kleines Lächeln zu. Er war der Grund, warum ich hiergeblieben war und damit mein Leben und meine ganze Zukunft riskierte, doch er gehörte zu mir … und das ging niemanden etwas an. Auch wenn jeder in Anderswo sehen konnte, wie wir zusammen herumliefen, Schießübungen machten oder uns um die Verwundeten der Schlacht kümmerten, wollte ich nicht, dass die Welt von uns erfuhr. Er war der Riss in meiner Rüstung, und deswegen konnte ich nicht riskieren, dass ihn irgendjemand gegen mich verwendete.

»Hört bitte noch kurz zu, ich verspreche euch, es gibt einen Grund, warum ich euch das alles erzähle«, sagte ich schnell, als immer mehr Menschen unruhig wurden und auf ihre Nachbarn schauten. Mit der Offenbarung, dass ich in Wahrheit die uneheliche Tochter des Premierministers war, konnte ich ihre Aufmerksamkeit nicht mehr allzu lange halten. Doch die Blackcoats wollten, dass ich meine Geschichte erzählte. Ich war nicht das einzige Opfer der Familie Hart, aber ich war das Einzige, das die Leute wirklich interessiert hatte, noch bevor sie wussten, wer ich in Wahrheit war.

»Im Bordell hat Daxton Hart mich ersteigert. Doch statt mit mir … nun ja, ihr wisst schon … hat er mir eine VII angeboten.« Das war der höchste Rang in unserem Land, in den man eigentlich hineingeboren werden musste. »Ich hatte damals keine Ahnung, dass ich tatsächlich bereits eine Hart war, aber selbst dann hätte ich die VII sicher nicht abgelehnt, das hätte niemand. Eine VII bedeutet Luxus, genug zu essen, und alles dafür, was ich damals für ein gutes Leben hielt. Deswegen fiel mir die Wahl leicht, ich sagte natürlich Ja.« Ich richtete meinen Blick auf eine unfassbar dünne Frau in einem roten Overall. Ich kannte sie nicht, musste aber einfach jemanden ansehen. »Zufällig sah uns meine beste Freundin zusammen das Bordell verlassen. Daxton Hart ließ sie in der Gasse ermorden, und noch während ich schrie, verabreichte er mir etwas, das mich bewusstlos werden ließ. Als ich zwei Wochen später aufwachte, musste ich feststellen, dass ich chirurgisch maskiert worden war, in Lila Hart verwandelt, die von ihrer eigenen Familie Tage zuvor ermordet worden war.«

Erneutes Raunen durchlief die Menge, und die Frau, die ich betrachtete, sah mich unverwandt an. Also hatte ich wieder ihre Aufmerksamkeit gewonnen. Gut.

»Ich hatte die Wahl, mich als Lila auszugeben oder zu sterben. Was natürlich keine echte Wahl ist, nicht, wenn man dem Lauf einer Waffe entgegenblickt und jeden Moment damit rechnen muss, dass jemand den Abzug drückt. Und ich dachte, dass mein Leben immer so weitergehen würde – dass ich ständig den Kugeln ausweichen müsste, bis mich eines Tages das Glück verlassen würde.

Doch nachdem ich zugestimmt hatte, Lila zu verkörpern, eröffnete sich mir eine völlig neue Welt. Es war nicht nur der unvergleichliche Luxus, in dem die Familie Hart tagtäglich lebt, nein, ich bekam auch die Möglichkeit, etwas zu verändern. Als Celia, Lilas Mutter, und Knox, Lilas Verlobter, mir beibrachten, mich wie Lila zu verhalten, erzählten sie mir auch von einer Rebellengruppe namens Blackcoats.

Sie mussten mir natürlich nichts über die Ungerechtigkeit erzählen, die unsere Bürger Tag für Tag erfahren. Davon, dass Shields oft genug unschuldige Menschen töten oder verhaften, um ihre Quoten zu erfüllen, oder einfach nur, weil sie einen schlechten Tag haben und ihre miese Laune an uns auslassen. Das wusste ich bereits, da ich den Shields, seit ich denken konnte, aus dem Weg gegangen war. Aber Celia und Knox erzählten mir auch, dass man den Zweien verrottetes Essen und Häuser mit undichten Dächern gab und dass sie nicht den geringsten Respekt und keinerlei Unterstützung von Hochrangigeren erhalten. Dass die meisten zusätzlichen Kinder von Zweien und Dreien nach Anderswo geschickt werden, wo sie in einem Gefängnis leben und die Außenwelt niemals zu sehen bekommen. Dass unser gesamtes Leben von einer einzigen Prüfung bestimmt wird, die nur eine einzige Art von Intelligenz abfragt, und dass Kinder, die das Glück haben, Fünfen oder Sechsen als Eltern zu haben, auch hier bestimmte Vorteile haben und gefördert werden. Nachhilfelehrer, Insiderinformationen – und jeder einzelne der zwölf Minister der Union hat eine VI bekommen, nicht aus eigener Leistung heraus, sondern allein wegen der Familie, in die sie hineingeboren wurden. Keiner von ihnen hat die Prüfung je abgelegt, und ihre Erben werden das auch nicht.

Bevor ich mich in Lila verwandelte, glaubte ich an all die Lügen, die die Regierung uns auftischt, dass wir für unser eigenes Leben verantwortlich sind, dass man sich um uns kümmert, wenn wir bei der Prüfung gut abschneiden. Uns sagt, wohin wir gehören, und dass jeder Einzelne von uns einen Platz in der Gesellschaft hat. Ich glaubte es, als man uns sagte, dass wir alle wichtig wären und gebraucht würden. Vielleicht gefiel mir das Leben nicht, das sie für mich vorsahen, aber ich habe ihnen trotzdem geglaubt.

Die erste Lektion, die ich lernen musste, erhielt ich an dem Tag, an dem ich bereit war, Lila offiziell zu verkörpern. Daxton Hart nahm mich mit zur Jagd. Doch wir haben weder Hirsche noch Wachteln gejagt«, sagte ich leise. »Wir waren in Anderswo, und wir machten Jagd auf Menschen.«

Ich ließ diese Worte einen Moment lang wirken. Die Menschen starrten mich mit eingefallenen Wangen und blassen Gesichtern an. In meiner kurzen Zeit als Gefangene hatte ich schnell herausgefunden, dass die Bürger von Anderswo nicht wussten, warum so viele aus ihren Reihen ohne Vorwarnung verschwanden und nie wiedergesehen wurden. Jetzt wussten sie es. Jetzt wusste jeder, dass Sechsen und Siebenen aus Spaß Menschen jagten, einfach weil es niemanden gab, der sie daran hindern konnte.

»Alle Sechsen und Siebenen nahmen an solchen Jagdausflügen teil, und von mir als Lila war erwartet worden, dass ich den Mund hielt und mitmachte. Was ich auch tat, denn sosehr ich es hasste, unschuldige Menschen sterben zu sehen, war mir dennoch klar, dass ich nur dann anderen helfen konnte, wenn ich zunächst tat, was von mir erwartet wurde.

Amerika ist angeblich eine faire Leistungsgesellschaft. Wir alle bekommen angeblich, was wir verdienen, basierend auf unseren Talenten und unserer Intelligenz. Aber es gibt einen kleinen Teil der Bevölkerung, der in ein luxuriöses Leben hineingeboren wird, ohne auch nur einen Tag dafür arbeiten zu müssen. Wie beispielsweise die Familie Hart.

Doch in ein Leben voller Privilegien hineingeboren zu werden, ist nicht der einzige Weg, um eine VI oder VII zu bekommen. Ich zum Beispiel habe eine VII erhalten, nachdem ich maskiert worden war. Und ich war nicht die Einzige.« Ich umklammerte die Kante des Podiums so fest, dass ich spürte, wie sich ein Splitter in meine Handfläche grub. »Vor über einem Jahr wurde ein weiterer Bürger als Hart maskiert – ein Mann namens Victor Mercer. Nur wurde er nicht zu einer Hintergrundfigur wie Lila, zu weit von der Macht entfernt, um viel mehr als ein Bauer in einem Schachspiel zu sein. Nein, Victor Mercer wurde als Daxton Hart maskiert – als Premierminister der Vereinigten Staaten.«

Ein hörbares Keuchen erhob sich aus der Menge, und die Zuschauer begannen, vorwärtszudrängen, um eine bessere Position zu ergattern und mich besser hören zu können. Victor Mercer war ein hochrangiger Beamter gewesen, der jahrelang mit seinem Bruder zusammen Anderswo geleitet hatte, und zweifellos erinnerten sich viele der ehemaligen Gefangenen noch sehr gut an seine ganz besondere Art von Sadismus. Mehrere schrien mich jetzt an und forderten Beweise, und ich schüttelte den Kopf und hob die Stimme.

»Ich habe die V in seinem Nacken selbst ertastet. Zwar hat er fast alle Beweise, dass er maskiert worden ist, zerstört, doch ein paar existieren noch. Und wenn die Zeit reif ist, werden die Blackcoats sie freigeben und zeigen, dass der Mann, der sich als Daxton Hart ausgibt – der Mann, der über unser Leben bestimmt, der mächtigste Mann des Landes –, ein Betrüger ist.«

Ich musste die letzten Worte ins Mikrofon schreien, um über das empörte Gebrüll des Publikums hinweg gehört zu werden. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Knox zustimmend nickte, obwohl er immer noch nicht lächelte. Aber immerhin. Endlich waren wir uns einmal einig – darüber, dass das Aussprechen der Wahrheit, der vollen Wahrheit, der Rebellion zum Sieg verhelfen könnte.

»Dieses Land gehört dem Volk, nicht der herrschenden Klasse«, schrie ich über den Lärm hinweg. »Wir sind die Mehrheit – wir sind es, die nach ihren Gesetzen und Entscheidungen leben, während sie selbst über dem Gesetz stehen. Sie machen einen Sport daraus, die unteren Ränge zu töten. Sie leben in Luxus, während Zweien und Dreien verhungern. Wir haben die Macht, sie aufzuhalten, doch nicht ein einziges Mal in den siebzig Jahren, in denen die Harts und die Minister der Union an der Macht sind, haben wir uns gemeinsam erhoben, um dieser Ungerechtigkeit ein Ende zu setzen. Jetzt können wir genau das tun. Es liegt in unserer Hand, gegen diese Monster – gegen die Betrüger, die unsere Regierung stellen – zu kämpfen. Das ist unser Land, und wir müssen es zurückgewinnen, bevor der Mann, der sich Daxton Hart nennt, es komplett zerstört.«

Endlich brach die Menge in Jubel aus, und ich atmete scharf aus. Meine Hände zitterten, mein Herz klopfte, aber zugleich hatte ich das Gefühl, zu schweben. Wobei ich noch nicht fertig war, und was als Nächstes kam, würde nicht einfach werden. Tagelang hatte ich mit Knox darüber diskutiert, aber die Wahrheit zu sagen bedeutete, die ganze Wahrheit zu sagen – und das wiederum bedeutete, über die echte Lila Hart zu sprechen.

»Daxton wird versuchen, euch einzureden, dass jedes Wort, das ich sage, gelogen ist«, rief ich. »Er wird Beweise fordern. Er wird sagen, dass das alles nur ein Trick wäre, um euch auf unsere Seite zu ziehen. Er wird behaupten, dass ich für die Führung der Blackcoats nur eine Marionette bin. Aber die eigentliche Marionette hier ist Lila Hart. Ich habe die Reden gesehen, die sie nach der Schlacht von Anderswo gehalten hat. Ich habe gehört, wie sie um Frieden gebettelt hat. Und wir, die Blackcoats, werden alles in unserer Macht Stehende tun, damit nicht noch mehr Blut in diesem Krieg vergossen wird. Doch wenn Frieden bedeutet, aufzugeben und uns von der Regierung hinrichten zu lassen, weil wir für unsere Freiheit eingetreten sind und für diejenigen gekämpft haben, die nicht selbst dazu in der Lage waren, können wir leider nichts tun. Frieden ohne Freiheit bedeutet Gefangenschaft. Es bedeutet Unterdrückung. Sie können versuchen, uns Angst einzujagen. Sie können versuchen, unsere Familien und unser Leben zu bedrohen, aber letztendlich haben wir gar kein echtes Leben, wenn wir nicht selbst darüber entscheiden können, wie wir es führen wollen.

Ich kann es Lila nicht verübeln«, rief ich. »Ich weiß, dass sie, wenn sie hier sein könnte, diese Ansprache viel eloquenter als ich halten würde. Und ich sage ihr, jetzt in diesem Moment …« Ich blickte direkt in die Kamera. »Du bist nicht allein. Was auch immer Victor gegen dich in der Hand hat, was auch immer er tut, um dich zum Gehorsam zu zwingen – wir wissen, dass das nicht deine Worte waren und es sich nicht um deine Überzeugungen handelt. Wir werden alles tun, um dir zu helfen, so wie wir alles tun, um dem Volk zu helfen. Du bist eine von uns, und wir werden dich nicht hängen lassen.«

Ich hielt inne, damit meine Worte nachwirken konnten. Während sich die Bürger von Anderswo nicht besonders für Lila interessierten, tat es der Rest des Landes durchaus, und die Menschen mussten erfahren, dass sie nur eine Marionette war. Das würde Daxtons Behauptungen zwar nicht vollständig untergraben, aber vielleicht reichte es aus, um Zweifel zu säen.

»Es geht hier aber nicht um Lila«, sagte ich schließlich. »Es geht nicht um mich, und es geht nicht einmal darum, dass Victor Mercer sich als Daxton Hart ausgibt. Es geht um euch – um jeden Einzelnen, der gerade zusieht. Es geht um eure Zukunft, eure Familien, eure Gesundheit und Hoffnungen, euer Glück. Unser ganzes Leben lang schon leben wir unter einem Diktator, der sich als unser Freund ausgibt, ohne dass wir ihn stürzen und die Freiheit zurückerobern können, die Amerikaner vor hundert Jahren noch genossen haben. Die Blackcoats haben diese Tür geöffnet. Sie haben den Weg für echte Veränderungen geebnet, und nun liegt es an uns, diese Gelegenheit zu nutzen und real werden zu lassen. Unsere Realität. Keinen Traum, sondern etwas, das wir leben können. Die Chance, unsere eigenen Wege zu gehen. Mehr zu sein als die Zahl auf unserem Nacken.

Die Blackcoats haben das Militär lahmgelegt und die Kontrolle über ihre Waffenarsenale gewonnen. Sie haben die Regierung infiltriert, und sie haben unermüdlich daran gearbeitet, uns die unveräußerlichen Rechte zurückzugeben, die uns schon vor unserer Geburt genommen wurden. Aber es liegt an uns, die Sache zu beenden. Wir müssen gemeinsam gegen die Shields, die Harts und die Minister der Union kämpfen. Wir müssen sie daran erinnern, dass wir die Verantwortlichen sind, nicht sie – dass dies unser Land ist, und nach allem, was sie uns, unseren Familien und unseren Freunden angetan haben, verweigern wir ihnen das Privileg, weiter zu regieren. Weil es ein Privileg ist«, stoße ich heftig hervor. »Kein Recht. Ein Privileg, das wir ihnen durch unser Schweigen erteilt haben. Jetzt ist die Zeit gekommen, uns zurückzuholen, was uns gehört. Gemeinsam werden wir siegen, und wir werden frei sein.«

Der Jubel der ehemaligen Gefangenen war ohrenbetäubend. Ich konnte es in ihren Gesichtern sehen – in diesem kurzen Augenblick vergaßen sie ihren Hunger und ihre Verzweiflung. Sie glaubten an das, was ich sagte. Sie glaubten an die Hoffnung, und allein dafür hatte sich alles gelohnt, was ich durchgemacht hatte.

Knox kam zu mir auf die Bühne, aber anstatt etwas zum Publikum zu sagen, legte er nur eine Hand auf meine Schulter und führte mich weg. »Gut«, sagte er. »Lila hätte es nicht besser machen können.«

Das war ein großes Lob von ihm, wenn man bedachte, dass es Lila sogar gelungen war, nur leicht unzufriedene Bürger für die Blackcoats zu gewinnen. »Glaubst du, sie werden auf mich hören?«, fragte ich.

Er presste die Lippen zusammen, als wir die Treppe hinunterstiegen, an deren Ende Benjy auf uns wartete. Das Schreien der Menge dröhnte in meinen Ohren. »Das hoffe ich sehr, denn ohne sie schaffen wir es nicht.«

Und wenn wir außerhalb von Anderswo nicht die Unterstützung des Volkes hatten, dann waren wir praktisch schon tot.

II

ANGEBOT UND NACHFRAGE

Die ranghöchsten Blackcoats versammelten sich im Wohnzimmer des Mercer-Anwesens, einem luxuriösen Herrenhaus mitten in Anderswo, in dem Jonathan und Hannah Mercer gewohnt hatten. Jetzt diente es als unser Hauptquartier. Bei den meisten der Rebellenführer handelte es sich um bullige und kampferprobte Soldaten, die neben den Kristallvasen mit unechten Blumen und pastellfarbenen Landschaftsgemälden an den Wänden äußerst fehl am Platz wirkten. Tatsächlich schienen sie sich auf dem eleganten vergoldeten Sofa genauso unwohl zu fühlen wie ich mich unter einem Porträt von Daxton Hart. So wie einige der Soldaten es anstarrten, würde es wohl nicht mehr lange an der Wand hängen.

Während wir darauf warteten, dass Knox aus seinem Büro kam, stellte sich Benjy zu mir und verschlang die Finger mit meinen. Nach meiner Ansprache war er in ein Gespräch mit einigen Offizieren verwickelt worden, weshalb wir bisher keine Gelegenheit zum Reden gehabt hatten. Während die anderen leise miteinander sprachen, drückte ich seine Hand. »Das war beängstigend.«

Er beugte sich zu mir, seine Lippen streiften mein Ohr. »Ich kann nicht glauben, dass Knox dir endlich erlaubt hat, allen von Daxton zu erzählen.«

Ich versteifte mich. »Er hat es mir nicht erlaubt. Wir haben das zusammen beschlossen, und immerhin war ich es, die vor den Kameras stand.«

Benjy stutzte, und ich erwartete halb, dass er meine Hand losließ. Doch zu meiner Überraschung küsste er mich auf die Wange, bevor er sich wieder aufrichtete. »So habe ich das nicht gemeint.«

Ich zwang mich, den Kiefer zu entspannen. Nur weil ich einen langen, stressigen Morgen gehabt hatte, durfte ich meine Laune nicht an ihm auslassen. »Ich weiß. Es tut mir leid.«

»Das braucht es nicht.«

Benjy verstand besser als jeder andere in diesem Raum, warum Knox und ich ständig miteinander stritten. Zwar hatte Knox mir oft geholfen, seit ich als Lila maskiert worden war, andererseits aber auch immer wieder mein Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt, ganz so als wäre es ihm egal, ob ich die Sache hier überlebte oder nicht. Und das warf ich ihm vor, obwohl ich selbst nicht allzu sehr auf meine Sicherheit achtete. Doch wenn ich ein Risiko einging, dann mit voller Absicht und wohl wissend, wie die Konsequenzen aussehen konnten. Knox hingegen riskierte nie seinen eigenen Hals. Immer nur meinen. Und ohne mir vorher zu sagen, was er vorhatte.

Meistens geriet dabei dann auch irgendwie Benjy in die Schusslinie. Knox war sogar so weit gegangen, seinen Tod vorzutäuschen, ihn nach Anderswo zu schicken und damit auch sein Leben aufs Spiel zu setzen. Er konnte noch so oft behaupten, das alles nur für Benjys Sicherheit getan zu haben, doch seit er Benjy als seinen Assistenten angeheuert und damit in die ganze Sache hineingezogen hatte, glaubte ich ihm kein Wort mehr. Ich war der Bauer in diesem Spiel, nicht Benjy. Ich war die Drei, die gar keine andere Wahl hatte, als diese Rebellion zu unterstützen. Benjy war eine Sechs – der höchste Rang, den ein Staatsbürger erreichen konnte – mit einer blühenden Zukunft. Einer echten Zukunft. Ich durfte nicht zulassen, dass sie ihm genommen wurde, schon gar nicht von Knox.

Doch so verbittert ich auch sein mochte wegen allem, was seit meiner Maskierung als Lila Hart vorgefallen war, glaubte ich nach wie vor an Knox. Ich glaubte, dass er das Richtige tat, und auch wenn ich nicht immer mit seinen Methoden einverstanden war – oder genauer gesagt mit der Tatsache, dass er mir seine Pläne nicht einmal dann anvertraute, wenn ich eine wichtige Rolle darin spielte –, wusste ich zumindest, dass er mich nur opfern würde, wenn ihm keine andere Wahl blieb. Und wenn mein Tod über Sieg oder Niederlage entschied, würde ich mein Leben sowieso aus freien Stücken aufgeben. Er wusste, dass ich alles daransetzen würde, Daxton Hart zu vernichten, damit die Menschen endlich in Freiheit und Gleichheit und mit echten Chancen leben konnten.

Also ja, er benutzte mich. Und ich ließ es geschehen, sosehr ich mich auch darüber beklagte.

Wir waren beide dickköpfig und überzeugt, im Recht zu sein. Das funktionierte gut, wenn wir auf derselben Seite standen, doch wenn nicht, dann setzten wir unsere Stärken gegeneinander ein. Was für keinen von uns bisher gut ausgegangen war.

Benjy und ich standen schweigend da, noch immer Hand in Hand, als Knox endlich erschien. Er sah sogar noch schlechter aus als zuvor, mit tiefen Schatten unter den Augen und abstehendem Haar, als ob er zu oft mit den Fingern durch sie hindurchgefahren wäre. Er trat vor den Kamin, mit Benjy und mir auf der einen Seite und seinem Leutnant, einem grimmigen Mann namens Strand, auf der anderen. Ich konnte Strand nicht leiden, seit er mich und Hannah beim Angriff der Blackcoats auf Anderswo verhaftet hatte, aber Knox vertraute ihm, also musste ich ihn wohl oder übel tolerieren. Letztlich hatte er ja nur seinen Job gemacht.

»Jetzt, wo das Land über Daxtons wahre Identität Bescheid weiß, müssen wir auf die Reaktionen vorbereitet sein«, begann Knox ohne große Vorrede. »Die so oder so ausfallen können. Wir könnten Unterstützung bekommen – ich bin mir sicher, dass wir nach Kittys Ansprache Unterstützung bekommen. Doch die Regierung hat ebenfalls Anhänger. Mächtige Anhänger, die nicht einfach bereit sein werden, ihren Rang als Fünfen oder Sechsen aufzugeben und auf einmal mit Zweien und Dreien gleichgestellt zu sein. Das ist es, womit wir es zu tun haben werden. Die klügsten und privilegiertesten Menschen des Landes sind nicht an Gleichheit interessiert, und auch wenn es sich nur um einen kleinen Prozentsatz handelt, haben sie genug Macht und Erfahrung, um sich für alles, was wir unternehmen, jeweils einen klugen Gegenzug auszudenken.«

»Dann müssen wir eben cleverer sein als sie«, sagte Benjy und ließ meine Hand los. »Für jeden Schritt, den wir machen, müssen wir ihre Gegenmaßnahmen voraussehen und Lösungen finden, noch bevor sie handeln. Wir müssen ihnen immer drei Schritte voraus sein.«

»Wir sind bereits zwei Schritte hinter ihnen«, meinte Strand. »Sie haben mehrere unserer Hauptversorgungsleitungen abgeschnitten. Die wenigen Vorräte, die wir noch haben, reichen nicht mehr lange, und meistens ist es zu riskant, Lieferungen überhaupt zu versuchen. Wir haben vielleicht genug Waffen, um D. C. zu stürmen, aber ohne Lebensmittel und medizinische Versorgung bleiben nicht genug von uns übrig, um das zu tun.«

»Die Bürger von Anderswo stehen kurz vor einem Aufstand«, erklärte eine wild aussehende Frau mit einer Narbe auf der Wange. Ich kannte sie noch aus dem Bunker der Blackcoats in D. C. »Wenn wir keinen Weg finden, sie mit Essen zu versorgen, sind wir tot, bevor die Schlacht überhaupt begonnen hat.«

Sie hatte recht. Es gab Tausende und Abertausende von ehemaligen Gefangenen in Anderswo, die sich entschieden hatten, zu bleiben und mit den Blackcoats zu kämpfen. Wir hatten eine Armee zur Verfügung, die sich aber jederzeit gegen uns wenden konnte, wenn wir den Leuten nicht das gaben, was wir ihnen versprochen hatten: ein besseres Leben, als sie unter den Mercers und Harts je hatten. Bisher war es uns aber nicht gelungen, zu liefern.

»Gibt es einen anderen Weg, Vorräte zu beschaffen?«, fragte ich. Mehrere Augenpaare richteten sich auf mich, und ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte keine militärische Erfahrung und besaß kein strategisches Talent wie Benjy. Aber ich war ausgezeichnet darin, dumme Fragen zu stellen.

»Wie zum Beispiel?« Strand konnte seine Ungeduld nur schwerlich verbergen. Er mochte mich genauso sehr wie ich ihn.

»Ist Anderswo nicht fast vollständig von Seen umgeben? Wir könnten aus einer Richtung kommen, die sie nicht auf dem Radar haben«, schlug ich vor.

»Gute Idee«, rief Benjy, er sah mich lächelnd an. Es war das gleiche Lächeln, das er mir im Gruppenheim immer zugeworfen hatte, wenn ich ihm ausnahmsweise bei meinen Hausaufgaben half, und kein Applaus konnte mich so sehr wärmen wie dieses Lächeln. »Wir haben hier eine starke Verteidigung, und wir wissen, dass jeder ihrer Angriffe von Süden kommen wird, über Land. Doch was die Seen rund um den Rest des Gebietes betrifft – wir haben genügend Schiffe unter unserer Kontrolle, um auf diese Weise Vorräte hereinzuschaffen. Nicht genug für ein Leben im Luxus, aber wir hätten zumindest das Nötigste.«

»Damit rechnen sie«, sagte Strand. »Was der Grund ist, weshalb wir es gar nicht erst versucht haben.«

»Dann lenken wir sie ab. Wir richten eine weitere Versorgungslinie ein – geben ihnen das Gefühl, dass wir verzweifelt sind. Lenken ihre Aufmerksamkeit vom Wasser ab.« Benjy blickte zu Knox. »Was haben wir zu verlieren?«

»Leben, wir haben Leben zu verlieren«, sagte Strand. »Menschenleben.«

»Die Leute sterben sowieso, wenn wir nichts unternehmen«, rief ich. »Wir werden nach Freiwilligen suchen. Niemand, der nicht will, muss das machen. Aber wir sind alle bereit, für diese Sache zu sterben, sonst wären wir nicht hier. Und was mich betrifft, habe ich nicht vor, an Hunger zu sterben.«

Alle Augen waren jetzt auf Knox gerichtet. Er starrte auf den Teppich, die Arme verschränkt, und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Er war erst Mitte zwanzig, aber in den wenigen Monaten, die ich ihn kannte, schien er um ein Jahrzehnt gealtert zu sein.

»Wenn wir nichts tun, ändert sich auch nichts«, sagte er, ohne aufzusehen. »Also werden wir tun, was nötig ist, um unsere Soldaten zu ernähren. Benjy, du bist verantwortlich für den Aufbau einer neuen Versorgungslinie und die Ablenkung. Strand, du assistierst ihm.« Er zählte weitere Namen auf und wies alle an, Freiwillige für die Mission zu finden und außerdem die Vorräte zusammenzusuchen, die noch übrig waren. Als er schließlich nichts mehr zu sagen hatte und das Treffen beendet war, wusste jeder, was er zu tun hatte.

Außer ich.

Benjy drehte sich zu mir um, seine Augen leuchteten vor Begeisterung. So entschlossen hatte ihn nicht mehr gesehen, seit wir nach Anderswo gekommen waren, und ich freute mich, dass Knox trotz unserer Streitereien seinen Frust nicht an Benjy ausließ. »Hast du Lust auf ein Brainstorming mit mir und Strand?«

»Wenn die Versorgung von Anderswo davon abhängt, dass Strand und ich zusammenarbeiten, werden wir alle verhungern«, verkündete ich nur halb im Spaß. »Aber ich warte hier auf dich.«

Benjy blickte zögernd zu Strand, der vor der Küchentür ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden klopfte. »Bist du sicher?«

»Ich bin mir sicher. Jetzt hau ab, bevor er versucht, mich zu erschießen oder so was.«

Benjy gab mir hastig einen Kuss und eilte dann zu Strand. Knox und ich blieben allein im Wohnzimmer zurück. Sosehr ich mich auch nützlich machen wollte, hatte es doch keinen Sinn, mich in Benjys Aufgabenbereich zu drängen. Er würde sowieso die ganze Zeit versuchen, mir entweder etwas zu erklären oder mir den Rücken zu stärken, wenn Strand meine Ideen in der Luft zerriss, und jetzt, wo wir endlich die Chance auf eine Zukunft ohne die Harts hatten, durfte ich Benjy keinesfalls bremsen. Das hatte ich schon oft genug getan.

»So.« Ich sah Knox an. »Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«

Knox ließ sich schwer auf eines der Sofas fallen und vergrub den Kopf in den Händen. Er war in den letzten Wochen immer mehr in sich zusammengefallen, und es war schwer genug, dabei zusehen zu müssen. Als noch schwieriger empfand ich es jedoch, mit ansehen zu müssen, wie er versuchte, vor allen anderen die Fassung zu bewahren. Warum er jetzt ausgerechnet vor mir die Fassade fallen ließ, wusste ich nicht, aber ich begriff, dass ich es als Kompliment betrachten konnte. Es sei denn, es war ihm inzwischen einfach egal, was ich von ihm hielt.

»Mir erklären, wieso du Lila Hart vor der ganzen Nation in Schutz genommen hast«, murmelte er.

Ich blinzelte. »Von all den Dingen, die ich gesagt habe, ärgerst du dich ausgerechnet darüber?«

»Ihretwegen werden unzählige meiner Männer und Frauen sterben.«

»Deinetwegen auch. Er erpresst sie, Knox. Sie hat keine andere Wahl …«

»Natürlich hat sie die.« Endlich sah er mich an, die Augen zusammengekniffen. Die dunklen Schatten darunter wirkten noch ausgeprägter als sonst. »Wir alle haben eine Wahl, Kitty. Jeder Einzelne von uns, und sie hat ihre getroffen. Lieber lässt sie alle hier in Anderswo sterben, als sich dem zu stellen, womit Daxton ihr droht.«

»Und was, wenn sie zwischen uns und Celia wählen muss?

Oder uns und Greyson?«, fragte ich. »Erzähl mir doch nicht, dass du dann nicht ebenfalls mitmachen würdest.«

Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. »Es würde mir nicht leichtfallen, aber …«

»Richtig. Du gehörst ja zu denjenigen, denen es nichts ausmacht, ein oder zwei Bauern zu opfern, wenn dadurch das Spiel gewonnen werden kann.« Ich stierte ihn an. »Das Volk liebt sie. Du kannst sie nicht als Kriegsverbrecherin darstellen, egal was sie tut. Der beste Weg, auf ihre Ansprache zu reagieren, war, genau das zu tun, was ich getan habe – sie dafür nicht zu verdammen. Sondern hervorzuheben, dass sie in Wahrheit auf unserer Seite ist, aber erpresst wird. Damit diskreditieren wir alles, was aus ihrem Mund kommt.«

»Falls die Menschen uns glauben. Sie könnten allerdings auch ganz leicht den Spieß umdrehen.«

»Unsere Geschichte ist glaubwürdig«, sagte ich fest. »Ihre nicht.«

Schweigen breitete sich aus. Er starrte mich an, und von seinem unerschütterlichen Blick gebannt, fühlte ich mich entblößter als vor der Kamera, die mein Gesicht Millionen Zuschauern gezeigt hatte. »Verstehst du, wie Wahrnehmung funktioniert?«, fragte er schließlich.

»Ich bin kein Idiot«, antwortete ich, bereute die Worte aber, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte. Wie erwartet hob Knox die Augenbrauen und begann, freudlos zu grinsen.

»Kommt darauf an, wen man fragt, und genau das ist es, worauf ich hinauswill. Für uns ist die Wahrheit offensichtlich. Lila wird erpresst. Sie glaubt kein Wort von dem, was sie sagt. Aber andere, besonders diejenigen, die keinen Krieg wollen, die mit ihrem Platz in der Gesellschaft zufrieden sind und sich nicht für die Grausamkeiten gegen die unteren Ränge interessieren, sehen nur das, was sie sehen wollen. Deswegen werden sie alles blind glauben, was ihre Überzeugung bestätigt. Daxton weiß das natürlich. Er ist vielleicht keine Sechs, aber er weiß, wie man die Öffentlichkeit manipuliert – das hat er möglicherweise von Augusta gelernt, oder vielleicht verfügt er auch einfach über ein angeborenes Talent, wegen dem sie ihn für diese Aufgabe ausgewählt hat. Und obwohl wir auch wissen, wie Manipulation funktioniert, war er zuerst da. Es ist immer schwieriger, eine Lüge zu widerlegen, als den Menschen von Anfang an die Wahrheit zu sagen.«

»Dann bleiben wir bei unserer Geschichte«, sagte ich. »Das heißt, wir schleimen uns nicht ein, indem wir den Leuten sagen, was sie hören wollen. Nein, wir sagen ihnen die Wahrheit, wenn es sein muss, immer und immer wieder. Daxton wird irgendwann einen Fehler machen, oder Lila findet einen Ausweg. Was auch immer er gegen sie in der Hand hat …«

»Sie wird trotzdem für den Tod unzähliger Menschen verantwortlich sein.«

»Genauso wie du.« Ich verschränkte die Arme fest vor der Brust. »Wir alle sind für das, was als Nächstes passiert, verantwortlich, also müssen wir dafür sorgen, dass wir die Oberhand behalten. Lila ist nicht unser Feind. Das war sie nie. Aber wenn du sie so behandelst, dann verlieren wir die Unterstützung derer, die seit der Schlacht auf unserer Seite sind, und dann wird die Rebellion scheitern. Manchmal muss man einen Bauern opfern, um den Krieg zu gewinnen, schon vergessen?«, fuhr ich ihn an. »Aber das muss nicht immer eine Person sein. Manchmal ist es auch der eigene verdammte Stolz.«

Knox starrte mich an. Die Zähne zusammengebissen, vergrub er die Finger in der Armlehne der Couch. Ich rechnete damit, dass er gleich über mich herfallen würde, doch stattdessen sagte er mit zitternder, aber ruhiger Stimme: »Wenn du unbedingt jemanden beschützen willst, der gerade dabei ist, uns alle umzubringen, dann sorge dafür, dass sie keinen Erfolg damit hat. Was auch immer ihretwegen geschieht, liegt jetzt in deiner Verantwortung, hast du das verstanden?«

»Nur noch ein weiterer Punkt auf meiner Liste«, versetzte ich. »Ich habe Victor nicht getötet, als ich die Chance dazu hatte … mein Fehler. Ich habe den Blackcoats verraten, dass er maskiert wurde, ebenfalls mein Fehler. Lila ist da nur ein weiterer Tropfen im Fass.«

»Bis Millionen von Menschen gestorben sind, weil du keine Ahnung hast, was du tust«, sagte er. »Muss ein riesengroßes Fass sein.«

»Weißt du, was wirklich toll wäre?«, fauchte ich ihn an. »Wenn du mal fünf Minuten lang aufhören könntest, mich wie ein Problem zu behandeln. Ich bin nämlich nicht völlig nutzlos, um das mal klarzustellen. Ohne mich hättest du in Anderswo niemals die Macht übernehmen können.«

»Darüber lässt sich streiten«, sagte er kühl.

»Wie auch immer. Es auf deine Weise zu tun, hat uns das hier doch erst eingebrockt – abgeschnittene Versorgung und Tausende von Menschen am Rande der Anarchie, bereit, dich aufzuhängen und dir bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen, weil du ihnen nichts zu essen geben kannst. Während ich gerade ein paar Tage Zeit für dich herausgeschlagen habe.«

»Was willst du? Eine Medaille?«, fragte er. »Wenn sie hinter mir her sind, sind sie auch hinter dir her.«

»Wahrscheinlich. Aber jetzt haben wir zumindest etwas mehr Zeit, um zu verhindern, dass genau das passiert, oder?« Ich ging auf den Torbogen zu. »Wenn du diese Reden selbst halten könntest, würdest du es tun. Aber wir wissen beide, dass du es eben nicht kannst. Deshalb bin ich hier. Um der Rebellion eine Stimme zu geben, jetzt, wo Victor deine erste Wahl kontrolliert. Ob es dir passt oder nicht, du brauchst mich, Knox, und je früher du das kapierst, desto einfacher wird es für uns beide.«

Er sprang auf und durchquerte den Raum, dabei war er schneller, als ich ihn seit der Schlacht gesehen hatte. Er packte mich am Arm und starrte mich an, seine Haut fühlte sich heiß an. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er mich das letzte Mal freiwillig berührt hatte, als ob er leugnen wollte, dass ich überhaupt existierte. Und ich redete mir ein, dass das der Grund war, warum ich nicht zurückwich. Weil es nett war, mal so richtig beachtet zu werden.

»Du willst mehr als ein Bauer sein?«, rief er. »Dann mach dich nützlich. Finde heraus, wie du die Versprechungen, die du den Menschen hier gegeben hast, halten kannst. Wenn du noch eine von ihnen wärst, was würdest du dir dann wirklich wünschen? Wie sieht für dich diese ideale Welt tatsächlich aus?«

Ich starrte ihn an. »Wenn du nicht weißt, wie die Freiheit aussehen soll, die du den Menschen geben willst, warum tun wir das hier dann überhaupt?«

»Weil Menschen wie du es wissen«, antwortete er. »Ich kann diesen Krieg für uns gewinnen, wenn du mich lässt. Das ist meine Aufgabe. Deine könnte so viel wichtiger sein, wenn du endlich aufhören würdest, gegen mich zu kämpfen, und stattdessen über Lösungen nachdenken würdest.«

»Hör du auf, ständig so zu tun, als wäre ich vollkommen inkompetent, und gib mir diese Chance«, zischte ich.

»Hör du auf, dich inkompetent zu verhalten, dann werde ich genau das tun.«

Ich riss mich von ihm los, stieß einen leisen Fluch aus, stürmte aus dem Raum und durch die Haustür hinaus in die kalte Winterluft. Die Zeiten, in denen Knox und ich auf Augenhöhe miteinander gesprochen hatten, waren endgültig vorbei, und nie zuvor war mir so klar gewesen, dass man an die gleichen Prinzipien glauben konnte, ohne am selben Strang zu ziehen. Ich wollte so gern auf Knox’ Seite sein. Das wollte ich im Moment mehr als alles andere auf der Welt, aber er ließ es einfach nicht zu.

Vielleicht ging es Knox ja genauso? Ich stapfte die schlammige Hauptstraße von Anderswo entlang, vorbei an Männern und Frauen in orangefarbenen und roten Overalls, und mein Magen zog sich bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen. Nein. Ich war nicht völlig im Unrecht. Schließlich war Knox trotz seiner vielen guten Eigenschaften noch nie ein verständnisvoller oder versöhnlicher Typ gewesen. Seiner Ansicht nach, das wusste ich verdammt gut, stellte ich ein Problem dar. So arrogant sich Lila auch aufgeführt haben mochte, sie hatte doch immer getan, was er und Celia ihr gesagt hatten, und zum Dank war sie dafür beinahe ums Leben gekommen. Ich hingegen hinterfragte ihn ständig. Ich weigerte mich, zu tun, was er von mir verlangte, weil ich glaubte, es besser zu wissen, und er wiederum weigerte sich, mir zu verraten, warum er anderer Ansicht war.

Manchmal hörte ich auf ihn, doch normalerweise machte ich, was ich wollte, egal, was er davon hielt. Immer wieder hatte ich in den Monaten, die wir uns kannten, seine Wünsche ignoriert. Zwar war es meistens gut ausgegangen, doch erst nachdem er sich alles Mögliche hatte einfallen lassen, um die Probleme zu lösen, die ich verursacht hatte. So war unsere Beziehung: Ich verursachte Probleme, und er löste sie.

Ich blieb vor einem ausgebrannten Gebäude stehen, das früher eine Baracke gewesen und jetzt nur noch eine schwarz verkohlte Ruine war. Fairerweise musste man mir aber auch zugestehen, dass die von mir verursachten Probleme den Erfolg der Blackcoats überhaupt erst ermöglicht hatten. Gut, ich war nicht besonders gehorsam gewesen, doch Knox hatte immer einen Weg gefunden, daraus das Beste zu machen, Türen zu öffnen und Möglichkeiten zu finden, die wir sonst nicht gehabt hätten. Mich wegen meines Ungehorsams nach Anderswo zu schicken, sosehr ich ihn auch noch immer dafür hasste, hatte ihm die Möglichkeit gegeben, für die Rebellen zu spionieren, ohne dass jemand Verdacht geschöpft hatte.

Auf einmal wurde mir klar, dass wir somit bereits ein Team waren. Ein verkorkstes und fehlerhaftes Team, aber immerhin ein Team. Und genau aus diesem Grund konnte ich Anderswo nicht verlassen. Wenn ich mich mit Hannah zusammen in einem Häuschen im Wald versteckte, so wie Knox es gern hätte, konnte er niemandem mehr die Schuld in die Schuhe schieben, wenn die ganze Sache den Bach runterging. Und anderen die Schuld zu geben, statt selbst Verantwortung für seine Fehler zu übernehmen – das brauchte Knox nun einmal für sein Ego. Wenn er nicht fest daran glauben würde, ganz allein diese Rebellion stemmen zu können, hätte er bestimmt schon vor langer Zeit das Handtuch geworfen.

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