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BERLIN – 1918–1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte

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»Man kann das zwanzigste Jahrhundert nicht verstehen, ohne Berlin zu verstehen; und man kann Berlin nicht verstehen, ohne die Erfahrungen der Menschen dort zu verstehen.«

Sinclair McKay, Berlin


Kaum eine andere Stadt stand im zwanzigsten Jahrhundert so sehr im Zentrum des Weltgeschehens wie Berlin: Ihr Aufstieg zur kosmopolitischen Metropole während der Weimarer Republik, der wirtschaftliche Absturz, die Machtübernahme der Nationalsozialisten, der Zweite Weltkrieg, ihre Teilung, die Wende und der Mauerfall.

Zwischen Kaufhäusern der Moderne, UFA-Studios, Uranium-Clubs und Rosinenbombern erzählt Sinclair McKay die Geschichte der Stadt durch die Augen derer, die in ihr lebten: Vom idealistischen Wissenschaftler Albert Einstein bis zum Nazi-Architekten Albert Speer, von der Revolutionärin Rosa Luxemburg bis zum ersten deutschen Nachkriegsstar Hildegard Knef – von einfachen Hausfrauen, Büroangestellten, Zwangsarbeitern in einer Marmeladenfabrik oder übermütigen Jugendlichen, die das Dauerwellenverbot der Nationalsozialisten, umgingen.

Generationen von Berlinern gibt Sinclair McKay eine Stimme und zeichnet dabei ein fesselndes, lebendiges und mit neuen Details gespicktes Portrait dieser Stadt und ihrer Bewohner, die von den Ereignissen der Geschichte immer wieder durchgerüttelt wurden – ihren Überlebenswillen und ihren Sinn für Humor jedoch nie verloren.


  • Erscheinungstag: 23.05.2023
  • Seitenanzahl: 560
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003145

Leseprobe

VORWORT:
»JEDE STADT HAT IHRE GESCHICHTE, ABER BERLIN HAT ZU VIEL DAVON!«

Berlin ist eine nackte Stadt. Eine Stadt, die ihre Wunden und Narben offen zur Schau stellt. Gestein und Gemäuer sind in zahllosen ihrer Straßen schartig, mit Löchern übersät, verbrannt – Erinnerungen an Geschosse. Diese Entstellungen sind Echos eines großen, blutigen Traumas, über das die Berliner viele Jahre lang nur widerwillig öffentlich sprachen. Im Schatten des schmutzigen Völkermordes galt es als Tabu, anzudeuten, dass auch sie selbst Opfer von Hitlers Krieg gewesen sind. Die Wunden der Stadt als solche sind längst verheilt, aber diese Verletzungen sind noch deutlich zu erkennen: Da ist die Wand der alten Brauerei Friedrichshöhe mit ihren bis heute erkennbaren, schwerem Beschuss geschuldeten, Einsprenkelungen, die Darstellung des gekreuzigten Christus im Hintergrund eines der Reliefs am Fuß der Siegessäule aus dem neunzehnten Jahrhundert, dem ein Schrapnellsplitter das Herz durchbohrt hat, das fragmentierte Eingangsportal des von Bomben zerstörten Anhalter Bahnhofs, dessen gemauerte Torbögen nun allein dastehen und ins Nichts führen. Im Humboldthain, einem üppigen Park nördlich des Stadtzentrums, sprießen Bäume rund um die Überreste einer imposanten Betonfestung, die gegen Ende des Krieges als Schutzbunker, Lazarett und Flakstellung diente. Das berühmteste Bauwerk ist der halb zerstörte Kirchturm an der geschäftigen Einkaufsstraße Kurfürstendamm: die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Bis auf den Turm ist so gut wie nichts vom Originalbau der Jahrhundertwende übriggeblieben; die Kirche wurde in einer Nacht im Jahr 1943 bei einem Bombenangriff getroffen und ging in Flammen auf (nach dem Krieg wurde das zerstörte Kirchenschiff abgerissen, und es entstand direkt neben dem Turm ein modernes, sechseckiges Kirchengebäude). Auf jemanden, der nichts über die Geschichte der Stadt weiß, dürfte der merkwürdige Anblick befremdlich wirken: Was soll die seltsame Ruine mitten in einem gleichgültigen Shopping-Bezirk? Andere europäische Hauptstädte erinnern an die dunkle Vergangenheit durch elegante Denkmäler; sie bemühen sich, die scharfen Kanten der Geschichte abzuschleifen. Nicht so hier.

Das gesamte zwanzigste Jahrhundert hindurch bildete Berlin den Mittelpunkt einer von Erschütterungen geplagten Welt. Die Stadt galt über die nationalen Grenzen hinweg mal als große Verführerin, mal als Moloch. Ihr Wesen schien von einer scharfen Dualität geprägt: Da waren der Glanz der Boulevards und das lärmende Chaos der Mietskasernen, die dunklen, Rauch ausstoßenden Hochburgen der Schwerindustrie und die sonnigen Gewässer und Wälder in der Umgebung, die ausgelassenen pansexuellen Revuen und die steife Ehrwürdigkeit der Oper, die bunten Exzesse der dadaistischen Kunstwelt und die düstere Uniformität der Hakenkreuzaufmärsche. Und mit dem Erstarken des Nationalsozialismus setzte ein stetig lauter werdender Trommelschlag des Todes ein. Der Großteil der jüdischen Bevölkerung Berlins, die trotz des Nazi-Regimes in der Stadt blieb – rund 80.000 Menschen –, wurde zwischen 1941 und 1943 deportiert und ermordet. Außerdem kamen 1945, in den letzten Wochen des Krieges, geschätzt 25.000 Berliner und Berlinerinnen durch Bombenangriffe der Alliierten ums Leben. Doch die Angst war auch vorher und nachher ein ständiger Begleiter der Menschen: Wer um das Jahr 1900 in Berlin geboren wurde und das Glück hatte, bis in die 1970er- oder 1980er-Jahre in der Stadt zu leben, wurde Zeuge einer endlosen Reihe von Revolutionen, eines Mahlstroms aus Chaos und Ungewissheiten. In diese Zeit fiel das Trauma des Ersten Weltkriegs, gefolgt von einer Pandemie und um sich greifender Gewalt; der schwindelerregende Aufstieg der modernen Industrie und der trotzig revolutionären Architektur, die diese widerspiegelte und einst vertrauten Straßen und Arbeitsstätten ein ganz neues Gesicht verlieh; der dramatische Kollaps der Wirtschaft, der Elend und Hunger auslöste; die Herrschaft der Nationalsozialisten, der Wahnsinn des Völkermordes und der Feuerbrand des Krieges sowie schlussendlich die durch konkurrierende Ideologien bedingte Zweiteilung der Stadt. Im Zentrum all dieser Erschütterungen, quasi ihr Flucht- wie ihr Ausgangspunkt, standen einige Wochen im Frühjahr 1945, als der Krieg zu Ende ging und Berlin und seine Bewohner einer Zerstörungswut ausgesetzt waren, die dem Vergleich mit den infernalischen Rachefeldzügen der klassischen Antike standhält.

An aufrichtigen Würdigungen den Toten gegenüber mangelt es der Stadt nicht: Das beeindruckende und relativ junge Holocaust-Mahnmal, ein Labyrinth aus Betonstelen, die immer höher über den Kopf des Besuchers hinausragen, je weiter er sich hineinbegibt, ist einer der wenigen Orte in Berlin, an denen das hastige Schritttempo vieler Berliner gezwungenermaßen etwas gebremst wird. Ein paar Straßen weiter befindet sich ein deutlich älteres, aus hellem Stein errichtetes Bauwerk: die klassizistische Neue Wache, die 1818 entstand, gleichermaßen Wachgebäude wie Denkmal für die Kriege, von denen Europa jahrelang von Kriegen gebeutelt worden war. In der jüngeren Vergangenheit ist sein Zweck deutlich ausgeweitet worden, sodass es nun als eindrucksvolle Gedenkstätte für die »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« dient, in die das Licht durch eine kreisrunde Öffnung in der Decke hinabfällt. Doch das Gedenken an die einzigartige Katastrophe, die Hitlers Krieg und die daraus resultierende Zerstörung über die Stadt brachten, fällt Berlin nicht leicht. Im Frühjahr 1945, als die Amerikaner und Briten sich quer durch Deutschland kämpften und ihre Bomber immer mehr Straßenzüge und Gebäude, darunter reihenweise Wohnhäuser, in Trümmer legten, während die gewaltige sowjetische Armee rund um die Stadt Stellung bezog und ihre Geschosse durch die Luft pfeifen ließ, saßen die ganz normalen Berliner in ihrer Stadt fest und erlebten ausweglose Schrecken. Für das folgende Gemetzel empfand die Welt kein Mitleid. Die Stadt wurde zu einem Schlachtfeld, aus dem die absolute Gewissenlosigkeit des totalen Krieges sprach. Alles, was die Zivilisation ausmachte, wurde dem Erdboden gleichgemacht, und die Berliner mussten derart mühsam um ihr Überleben kämpfen, dass es geradezu unmenschlich war.

Dieses Leid wurde 1945 noch durch einen weiteren Aspekt verstärkt, einen Aspekt, der hinausging über die Bomben und Granaten, die bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leichen ohne Hoffnung auf ein Begräbnis in den Straßen hinterließen, über die um sich greifende Selbstmorde, durch die Menschen es vorzogen durch die eigene Hand zu sterben statt in die des gefürchteten Feindes zu fallen, ja, sogar über die im wahrsten Sinne des Wortes unzähligen Vergewaltigungen, die überall in der Stadt Jahrzehnte andauernde Familientraumata auslösten. Die Rede ist von der Tatsache, dass der unversöhnliche Rest der Welt diese Gewalttaten und Grausamkeiten als nachvollziehbar betrachtete – ein letztes Aufbäumen der Sehnsucht nach Vergeltung, so unaufhaltsam wie die Natur selbst. Das Nazi-Regime hatte enormes Leid und den Tod über Millionen Menschen in Europa gebracht. Die einstmals bedeutende und beträchtliche jüdische Bevölkerung Berlins war jahrelang terrorisiert worden, bevor man sie schließlich vertrieb, deportierte und auslöschte. Wie hätten deren Berliner Nachbarn es sich herausnehmen können, der Welt ihr Leid zu klagen? Das sühnende Schweigen legte eine verwirrende Wolke moralischer Ambiguität über die Stadt. Wie total war der Totalitarismus der Nationalsozialisten hier eigentlich?

Der Fall Berlins im Jahr 1945 ist einer dieser Augenblicke in der Geschichte, die gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft erhellen; er rückt ins Licht, was vorher war und was danach kam. Was diesen Augenblick ausmachte, war nicht nur der armselige Tod des Mannes, der sich im Mittelpunkt des Mahlstroms befand, oder die Art und Weise, wie sein selbst gesetztes Ende in einem unterirdischen Bunker nach außen drang und offenbar die Auflösung der Grundfesten der Stadt nach sich zog. Genauso wenig handelt es sich um ein Ereignis, das ausschließlich als Teil der Militärgeschichte verstanden werden kann, da es auch eine große Anzahl von Zivilisten betraf – normale Berliner, die die verbliebenen Soldaten, die sie nicht mehr schützen konnten, zahlenmäßig weit übertrafen und mühsam gegen den Wahnsinn kämpften, während ihr Leben aus den Angeln gerissen wurde. Ebenso wichtig sind diejenigen, die bereits in den Jahren zuvor die warnenden Schatten der Gewalt wahrgenommen hatten. 1945 gab es ältere Berliner, die schon den Ersten Weltkrieg und die Novemberrevolution von 1918 erlebt hatten, die sich bereits damals ihren Weg durch vereiste, von Scharfschützen belagerte Straßen gebahnt hatten und nicht das erste Mal unter chronischem Lebensmittelmangel und erbarmungsloser Kälte litten. 1919 war überall in der Stadt ein Plakat aufgetaucht, das eine elegant gekleidete Frau (die personifizierte Stadt Berlin) eng umklammert mit einem Skelett beim Tango zeigte. »Berlin, halt ein! Besinne Dich. Dein Tänzer ist der Tod«, hieß es dort. Das Plakat, das von Paul Zechs gleichnamigem Gedicht inspiriert war, bezog sich auf die öffentlichen Hygienemaßnahmen nach dem Krieg, verwies aber auch auf eine morbide Grundstimmung in der Stadt.

Auf ähnliche Weise wirkte auch der Albtraum von 1945 bis weit in die Zukunft nach. Für die ganz normalen Bürger zog das Ende des Nationalsozialismus noch mehr Gewalt, Entbehrungen, Elend und einen neuen totalitären Zyklus nach sich. Das Todesgrau der Berliner Mauer, deren Bau 1961 begann, war eine Spätfolge des Jahres 1945, und als potenzieller Schauplatz eines Atomkrieges stand die Stadt weiter im Zentrum der weltweiten geopolitischen Spannungen. Doch selbst diese Neuauflage der Dualität änderte nichts am Humor, den künstlerischen Bestrebungen und dem unbefangen-trotzigen Geist der Stadt.

Menschenleben spielen sich nicht innerhalb festgelegter Epochen ab; ein Zeitabschnitt kann enden, doch die Menschen leben weiter wie zuvor (oder versuchen es zumindest). Die jüngere Geschichte Berlins wird häufig als Abfolge klar getrennter Einheiten betrachtet: das Wilhelminische Zeitalter, die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus, der Kommunismus im Osten, die Orientierung an den USA im Westen – jede Epoche gilt als in sich geschlossen. Doch das Leben der Stadtbewohner bildete ein unruhiges Kontinuum über diese verschiedenen Zeitalter hinweg; die Menschen kämpften hart darum, sich immer wieder an eine Stadt anzupassen, die sich rasant veränderte. Wie müssen all diese gewaltsamen Umbrüche auf die Berliner gewirkt haben, die einfach nur leben und lieben und arbeiten wollten? Diejenigen, die in der Weimarer Republik aufwuchsen, dann den Schatten der Nazis auf sich spürten und in den Jahren nach dem Krieg schließlich miterlebten, wie ihre Stadt von anderen Mächten eingenommen und beherrscht wurde – wie bewahrten sie sich ihre geistigen Landschaften, ihre Erinnerungen an bestimmte Viertel, als es in der konkreten Umgebung immer wieder zu verwirrenden Veränderungen und Zerstörungen kam, in einem Ausmaß, dass sich selbst Menschen, die in der Stadt aufgewachsen waren, in den einst so vertrauten Straßen verliefen? Es wäre falsch, davon auszugehen, dass diese scharfzüngigen Bewohner ausschließlich vom Albtraum des Krieges geprägt waren; wer heute ihr Leben und ihre Geschichte erforschen will, muss anerkennen, dass auch das ganz besondere kulturelle Umfeld Berlins eine Rolle spielte – nicht nur die weltweites Aufsehen erregenden Innovationen in den Bereichen Kunst, Kino und Musik oder die beträchtlichen wissenschaftlichen Forschungen, sondern auch das zutiefst gespaltene Verhältnis zum alten Adel und die brutalen Auseinandersetzungen des Klassen- und Straßenkampfes.

Vor Hitler war Berlin eine kosmopolitische Stadt gewesen, die faszinierte Touristen und Immigranten aus der ganzen Welt anzog. Zwischen den eleganten Wohnblöcken und den futuristischen Kaufhäusern der Zwanzigerjahre flanierten Künstler, die mit sinnlichem oder satirischem Blick auf eine ganz neue Form des Stadtlebens schauten. Diese ausgelassene Atmosphäre wurde zeitweise fast vollständig erstickt (wenn auch nie komplett, nicht einmal von den Nazis). Doch gleich nach Kriegsende im Mai 1945 sprang der Funke wieder über, genährt vom Sauerstoff der Befreiung. Dann war da noch das wegweisende Versprechen der persönlichen Erfüllung, das Berlin in der Zeit vor den Nazis ausstrahlte. Eine Zeit lang konnten Männer und Frauen ihre sexuelle Orientierung relativ frei ausleben. In Berlin erfuhren sie, anders als in den meisten Weltstädten jener Zeit, keine Ablehnung; sie konnten sich den Formen der Liebe hingeben, die ihnen sonst verwehrt blieben. Auch hier taten die Nazis alles in ihrer Macht Stehende, um diese Seite des Stadtlebens – zum Teil mit brutalsten Mitteln – zu unterdrücken. Nicht wenige Berliner wurden deswegen in einen grausamen Tod geschickt. Doch schon bald regte sich der Trotz in der Stadt, und so lebte das Faible für Sinnlichkeit wieder auf.

Auch das intellektuelle Leben verzeichnete einen Aufschwung. In ganz Berlin fanden in Laboren und Ateliers die Kunst wie die Wissenschaft ihren Weg in ganz neue Welten. Vor dem Nationalsozialismus war Berlin, was die Physik anging, die Stadt Einsteins gewesen, doch er war nicht der einzige herausragende Innovator. Andere Köpfe drangen ebenfalls in ganz neue und zuvor unvorstellbare Bereiche der Quantenphysik vor. Das Flammenmeer, in dem die Stadt 1945 aufging, mag auch erhellen, wie weit Stalin zu gehen bereit war, um das geheime Wissen der deutschen Atomforschung in seinen Besitz zu bringen.

Der Preis der Innovationen im frühen zwanzigsten Jahrhundert waren Ungewissheit und Entfremdung; das Tempo, in dem immer neue Entdeckungen gemacht wurden und gesellschaftliche, sexuelle und künstlerische Veränderungen aufkamen, wirkte auf manche Menschen beflügelnd, auf andere beängstigend. Die quecksilbrige Identität Berlins war schwer zu greifen. Die ungewöhnliche Sinnlichkeit der Stadt – die sich noch inmitten des Gestanks des Todes und der Trümmer des sowjetischen Einmarschs bemerkbar machte – war keine neue Entdeckung. »Berlin war immer schon eine Stadt«, schrieb der Dichter Stephen Spender, »deren Einwohner ihre Gedanken und Gefühle auf der Zunge trugen«. 1 1930 erklärte der Schriftsteller und Satiriker Joseph Roth: »Berlin ist eine junge, unglückliche und zukünftige Stadt.« 2 Er lief durch die Straßen im Osten der Stadt und äußerte über die Hirtenstraße, einer Aneinanderreihung grimmig wirkender Mietshäuser: »So traurig ist keine Straße der Welt.« 3 Dennoch bewarb sich Berlin Ende der Zwanzigerjahren selbst als »die neue Lichtstadt Europas« 4 . 1929 hieß es: »Es gibt keine Stadt auf der Welt, die so rastlos ist wie Berlin. Alles ist in Bewegung.« 5 Der international renommierte Theaterregisseur Max Reinhardt beobachtete vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus: »Das Schöne an den Festspielen ist, dass sie den Geschmack der Vergänglichkeit haben und jedes Jahr das letzte sein kann.« 6 Selbst im flackernden Neonlicht, das das Zwielicht des Herbstnebels durchdrang, war die Dunkelheit niemals fern. Den Künstler George Grosz beschäftigte die »schwelende Bürgerkriegsstimmung«, er verglich die Stadt mit »einer grauen, steinernen Leiche«. 7 Nach dem Krieg, als man Berlin zwischen den Besatzungsmächten aufgeteilt hatte, verstärkte sich das durchdringende Gefühl der urbanen Entfremdung, und Dramatiker wie Bertolt Brecht spürten diese Risse und Spalten auf. Sowohl im kommunistischen Osten der Stadt als auch im amerikanisch dominierten Westen kam es zu einem Wiederaufleben einer fließenden ästhetischen Energie. Und genau wie nach dem Ersten Weltkrieg vermischte sie sich mit etwas Fieberhaftem, Schwindeligem, fast schon Unbändigem.

Das heutige Berlin ist der Traum jedes Flaneurs; das Fehlen eines klar definierten Zentrums macht das Erkunden der Stadt zu einem faszinierenden Erlebnis. Man könnte das Herz der Stadt am Brandenburger Tor und dem restaurierten Reichstag daneben verorten. Aber nein: Hier wird kein großes Trara gemacht, man hat das Gefühl, dass einfach ohne viel Aufhebens die Arbeit des Regierens verrichtet wird. Vielleicht schlägt das Herz inmitten der ehrwürdigen Museen und dem Dom auf der sogenannten Museumsinsel, unter den klassizistischen Kolonnaden und Kuppeln? Wieder nein: Obwohl die prachtvollen Bauten aus dem neunzehnten Jahrhundert zweifellos verlockend und reizvoll angelegt sind, wirken sie beinahe bewusst deplatziert: Ihr Zweck besteht darin, Besucher zu beeindrucken, aber es gibt keinen architektonischen Hinweis darauf, dass sie Teil des urbanen Alltagslebens sind. Möglicherweise findet sich der Schlüssel aber auch in der Geschichte der verfolgten jüdischen Einwohner Berlins. Nicht weit von der Museumsinsel, nur ein kleines Stück nördlich des Spreeufers, steht ein beeindruckendes Gebäude: die Neue Synagoge, deren maurisch anmutende Kuppel golden im Licht der Sonne glänzt. Doch sie ist ein Wiedergänger; die Synagoge wurde 1943 halb zerstört. Nach dem Krieg verfiel die geplünderte Ruine noch weiter, bis sie schließlich abgerissen wurde. Das Gebäude, das dort heute zu sehen ist, ist ein originalgetreuer Nachbau. Es ist ein wichtiger Bestandteil der Ereignisse, aber nicht die ganze Geschichte.

Die wiederaufgebaute Neue Synagoge. Das Gebäude überstand die Brände der Pogromnacht, wurde aber später durch Bomben der Alliierten schwer beschädigt. Bis in die späten 1980er-Jahre lag es teilweise in Ruinen.

Das Gleiche lässt sich über eine weitere riesige Replika sagen: das Berliner Schloss – im achtzehnten Jahrhundert für die Hohenzollern-Dynastie als barocker Prachtbau errichtet, während der Novemberrevolution 1918 besetzt, von den Nazis größtenteils ignoriert und von den Sowjets 1950 gesprengt – ist nun zumindest teilweise auf der Spreeinsel wiederauferstanden. Drei der vier gewaltigen Außenfassaden sind in all ihrer barocken Pracht nachgebildet worden, und das Gebäude beherbergt heute das Humboldt Forum. Das hat eine große Kontroverse ausgelöst. Die erbittertsten Kritiker sind der Ansicht, dass der bewusste Nachbau des Sitzes der kaiserlichen Macht etwas zutiefst Neokoloniales an sich habe. »Jede Stadt hat ihre Geschichte«, bemerkte der führende Architekt Berlins, David Chipperfield, »aber Berlin hat zu viel davon.« 8

Doch es gibt eine etwas ruhigere, eher der Arbeiterklasse zuzurechnende Enklave im Nordwesten Berlins: Straßen voller trostloser und angestaubt wirkender Wohnblöcke, wo in gewisser Weise ein Teil des historischen Wesens der Stadt eingefangen wird. Dort finden sich die Büroräume eines bemerkenswerten Projekts. Die ZeitZeugenBörse hat es sich zum Ziel gesetzt, die Stimmen gewöhnlicher Berliner aus dem vergangenen Jahrhundert festzuhalten, ihr Leben und ihre Erfahrungen über die traumatischen Jahrzehnte hinweg. Das Gefühl der Deutschen, ihre eigene Leidensgeschichte unterdrücken zu müssen, hatte den unerwünschten Effekt, dass historisch gesehen eine Menge dunkler Materie entstand: Sobald es um bestimmte epochale Ereignisse ging, erntete man nur Schweigen und diffuse Aussagen. Die wunderbaren Forscher und Ehrenämtler der ZeitZeugenBörse arbeiten seit einiger Zeit daran, das Wissen einer ganzen Generation von Berlinern vor dem unwiederbringlichen Verlust zu bewahren. Gerade deren Stimmen können uns durch ein Jahrhundert führen, das ebenso von furchtbaren Gräueltaten wie von starrsinniger Standhaftigkeit geprägt war.

Und sie können uns lebhafte, eindringliche Einblicke verschaffen – das gilt etwa für die Erinnerungen von Helga Hauthal, die in den Vierzigerjahren in Berlin zu Schule ging und deren unschuldige Besessenheit vom Kino sie mit den unerbittlichen Autoritäten in Konflikt brachte; oder für Horst Basemann, der als junger Berliner 1945 an der Ostfront kämpfte und sich an seine Kindheit und die berauschenden Lagerfeuerabende erinnerte, die die Hitlerjugend in den Dreißigerjahren im Wald veranstaltete; für die junge Büroangestellte Mechthild Evers, die 1945 auf der Flucht vor den herannahenden Alliierten in noch größere Gefahr geriet; für Reinhart Crüger, der 1941 als zwölfjähriger Junge zutiefst schockiert miterlebte, wie die Gestapo der Reihe nach alle seine jüdischen Nachbarn abholte; und auch für Christa Ronke, die sich als Jugendliche wie so viele Mädchen in ihrem Alter am liebsten auf die Schule konzentriert hätte, als die Welt um sie herum 1945 in sich zusammenbrach, und die wie ihre Freundinnen irgendwie lernte, ihre Traumata nach dem Krieg zu verdrängen, um inmitten der Trümmerhaufen ein neues Leben anzufangen.

Während das Treiben der Mächtigen immer detailliert dokumentiert wird, verfügen die Erfahrungen der normalen Menschen, deren Alltag durch die Taten und Ideologien der Mächtigen erschüttert und auf den Kopf gestellt wurde, häufig über ein Eigenleben, das uns viel über die Moral und die Entscheidungen dieser Menschen verrät. Und das gilt ganz besonders für Berlin: Da seine Bürger dem Bösen so nahe waren, war ihr Leben von einer ganz besonderen Faszination. Was in Berlin – und im Rest von Deutschland – geschah, hätte überall passieren können, aber wie kam es, dass die Ideologien – die unerbittliche, kalte Grausamkeit des Nationalsozialismus und die allumfassende Unterdrückung des Kommunismus – hier so üppige Blüten trieben? Und wie haben sich deren Nachwehen auch später noch in Europa und dem Westen bemerkbar gemacht, bis zu der bemerkenswerten Nacht im Herbst 1989, als die Mauer – dieser letzte Ausdruck der totalitären Unterdrückung – endlich fiel?

In diesem Sinne ist es unmöglich, das zwanzigste Jahrhundert zu verstehen, ohne Berlin zu verstehen. Im Grunde barg der Fall der Stadt zu Kriegsende 1945 das gesamte nihilistische Grauen: ein sinnloses Massensterben unvorstellbaren Ausmaßes. Doch selbst in jener unheilvollen Atmosphäre schimmerten hier und da noch Funken der typischen Berliner Rastlosigkeit und Unruhe durch. Wer heute durch die Stadt läuft, spürt diese Vergangenheit mit all ihren Schichten. Mit großer Sensibilität haben sich die verantwortlichen Stellen in den vergangenen Jahren darum bemüht, die verschiedenen Aspekte des vergangenen Berlins zu würdigen. Die dunkelste Phase 1945 lehrt uns, dass einige Berliner selbst damals, als sich die Schatten immer weiter verdichteten, noch so lebten und liebten und träumten, wie es der wahren Seele ihrer Stadt entsprach.

I

ZERFALL

1
LEBEN IM DUNKELN

Sie verbrachten ihr Leben entweder unter der Erde oder umgeben von Betonmassen. Sie waren wie begraben. Irgendwie war es aushaltbar. Auf ganz Berlin verteilt hatte man rund tausend Luftschutzbunker gebaut, doch darin fand nur ein Bruchteil der knapp drei Millionen Einwohner Platz. Es gab Keller unter Wohnblöcken, Gewölbe unter Häusern und die U-Bahn-Stationen. Es gab auch Splittergräben. Unterirdische Gänge – aus rauem Beton, dekoriert mit aggressiven Propagandaplakaten – boten eine dürftige Zufluchtsstätte. Dicht an dicht gedrängt starrten die Menschen entweder zur gewölbten Decke hinauf oder einander an, und bei jedem gedämpften Knall, der von oben hinabdrang und ihnen in die Knochen fuhr, schlossen sie kurz die Augen.

In der ersten Aprilwoche des Jahres 1945 hatte sich das Alltagsleben der Berliner Zivilbevölkerung auf ganz einfache Abläufe reduziert: Tagsüber drehte sich alles darum, Lebensmittelrationen – oder überhaupt irgendetwas zu essen – aufzutreiben, in schweigenden, fast unbeweglichen Schlangen, in denen man stundenlang anstand. Erschöpfte Menschen in staubbedeckten Schuhen mit abgelaufenen Sohlen auf dem Weg durch zerstörte Straßen, ganze Stadtviertel, die nun völlig anders aussahen, mit neuen Einblicken und verwirrenden Lücken, und dadurch unbekannt wirkten – die Folgen der monatelangen schweren Luftangriffe. Im vergangenen Monat war das Bombardement besonders heftig ausgefallen, als hätten sich die alliierten Bomber vorgenommen, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Dennoch gab es in den Außenbezirken einige Fabriken, die bisher noch nicht getroffen und zerstört worden waren. Dort schufteten weiterhin zahllose Zwangsarbeiter aus ganz Europa, auch wenn zwischendurch immer wieder der Strom ausfiel oder die Wasserversorgung unterbrochen wurde. Die noch funktionsfähigen Kraftwerke der Stadt brummten weiter, aus den hohen Schornsteinen stieg weißer Rauch auf; die ausgedehnte und architektonisch ansprechende Anlage des Kraftwerks Klingenberg, dessen Schatten im Osten der Stadt auf die Spree fiel, wurde von einer Reihe kluger Zwangsarbeiter in Betrieb gehalten, die Überlegungen anstellten, was für eine Zukunft Berlin bevorstand und wer von den Alliierten das Kraftwerk als Erstes einnehmen würden. Irgendwie fuhren auch noch große Teile der U-Bahn, wenn auch nur die Linien, die nicht direkt von Bomben getroffen worden waren. Sie waren strikt denjenigen vorbehalten, die zur Arbeit fuhren oder zu militärischen Zwecken unterwegs waren.

In deprimierend kurzen Abständen löste das müde Aufheulen des Fliegeralarms, tief und kehlig, ein wildes Rennen zurück in die Unterwelt aus. Seit Herbst 1943 hatten die Bombenangriffe der Alliierten Tausende Menschen getötet oder verstümmelt und ganze Straßenzüge und Stadtviertel praktisch unbewohnbar gemacht, obwohl es immer noch Menschen gab, die weiter in den Ruinen lebten und sich weigerten, sie zu verlassen. Die Bürger, deren Keller und Schutzräume nicht eingestürzt waren, traten jeden Morgen in einen Tag heraus, der kaum von der Nacht zu unterscheiden war: Der Himmel war grau und verhangen, manchmal »schwelt[e] [er] gelb« vor lauter Staub und Asche. 1 Die Luft an sich wirkte verbrannt: Aus ungelöschten Flammenherden stieg der Rauch von Holz, Farbe und Gummi auf. Mit Taschentüchern vor dem Mund schauten Mütter und Großmütter dabei zu, wie Angehörige des Zivilschutzes unter den grauen Steinbrocken und Ziegeln Leichen hervorzogen – viele davon in Einzelteilen. Der Tod war zum Alltag geworden. Obwohl man sehr effizient Massenbegräbnisse organisierte, lag der durchdringend-süßliche Geruch der Verwesung in der Luft. Offensichtlich gelang es nicht, alle sterblichen Überreste aus den Trümmern zu bergen. Das lag nicht an mangelndem Einsatzwillen: die Feuerwehr, die Polizei und zivile Hilfskräfte legten enorme Bemühungen an den Tag. Doch wie die Krankenhäuser waren auch sie völlig überfordert. Es gab Augenblicke, in denen die Ideologie inmitten der Zerstörung die Bedeutung verlor. Das kleine jüdische Krankenhaus im Ortsteil Gesundbrunnen – gegründet im achtzehnten Jahrhundert und die einzige jüdische Einrichtung in Berlin, die den Krieg überstand, vor allem aufgrund ihrer Ausstattung und des dort versammelten Fachwissens – war zu Kriegsende ein Ort, an dem sich zugleich jüdische Flüchtlinge versteckten und Nichtjuden verarztet wurden. Im Gegensatz dazu war die zentral gelegene Charité, die ebenfalls im achtzehnten Jahrhundert gegründet worden war – einige der Ärzte dort führten in den Dreißiger- und Vierzigerjahren im Dienst der Nazis groteske medizinische Experimente und Euthanasie-Morde an Menschen mit geistigen, psychischen und körperlichen Behinderungen durch –, stark beschädigt; es gab zu wenig medizinisches Material und Morphium, um die stetig eintreffenden Verwundeten zu versorgen. Viele Bewohner der Stadt, für die die Charité ein vertrauter Anblick war, begriffen nicht, wie nah an ihrem Alltag sich die Gräueltaten aus vorgeblich eugenischen Gründen des Regimes abgespielt hatten.

Anfang April 1945 ließen die Bombenangriffe der Amerikaner am helllichten Tag nach, aber die nächtlichen Attacken der Briten gingen weiter. Viele Berliner, die durch die Bomben ihren Wohnraum verloren, lebten Tag und Nacht in den Schutzräumen; für sie war das Leben im Dunkeln alles, was ihnen noch blieb. Die städtischen Behörden hatten bereits Jahre zuvor vorhergesehen, dass solche Unterkünfte nötig sein könnten. Berlin ist auf Sandboden errichtet, sodass Grabungen in den Untergrund immer schon problematisch waren, egal, ob für das Abwassersystem oder die U-Bahn, die ab der Jahrhundertwende gebaut wurde. 1935 ordneten die Nazis an, dass jedes neue Gebäude in der Stadt über einen Keller verfügen musste, der als Schutzraum geeignet war. Die Entrüstung über den ersten britischen Luftangriff im Spätsommer 1940 hatte ein Bunkerbauprogramm für die Reichshauptstadt zur Folge. Im April 1945, nach achtzehn Monaten alliiertem Bombardement, hatte sich ein beträchtlicher Teil dieser Bunker und Keller in hermetisch versiegelte Grabstätten verwandelt. Abertausende Pfund Sprengstoff hatten ganze Straßenzüge kollabieren lassen, und zurückgeblieben waren nur mit Trümmern gefüllte Kellerräume und Durchgänge, in die die Rettungstrupps kaum vordringen konnten. Eine besondere Gefahr für die Schutzsuchenden waren Bomben, die Wasserleitungen trafen; in dem Fall ertranken die Menschen, weil das Wasser so schnell bis zur gemauerten Kellerdecke stieg, dass sie es nicht mehr nach draußen schafften. Auch die U-Bahn-Stationen boten keine Sicherheit, weil die Züge relativ nah unter der Erdoberfläche verkehrten.

Trotz dieser Widrigkeiten verloren die Berliner niemals ihren schwarzen Humor. Die Abkürzung LSR, die für Luftschutzraum stand, bedeute in Wahrheit »Lernt schnell Russisch«, lautete ein Witz. 2 Doch gegen die Angst konnte der Humor nichts ausrichten. Seit Beginn des Jahres, als die gnadenlose Berliner Kälte der Luft draußen auf den Straßen eine metallische Qualität verliehen hatte, wimmelte es in der Stadt vor erschöpften und traumatisierten Flüchtlingen aus den Ostgebieten. Manche waren mit dem Zug gekommen, andere hatten sich zu Fuß über kopfsteingepflasterte Straßen und in eisig kalten Straßenbahnen herbeigequält und dabei immer nur nach Westen gezeigt, wenn es um ihr Ziel ging. Sie hatten ihre Höfe im bereits eroberten Osten des Reiches verlassen und trugen schwer an den Erinnerungen an diejenigen, die sie zurücklassen mussten, die es nicht geschafft hatten, der Roten Armee zu entkommen: an Frauen, die mehrfach vergewaltigt und häufig später auch gefoltert und ermordet wurden.

Einige Berliner Bürger waren sich bewusst – und hatten Angst –, dass die unzähligen sowjetischen Soldaten, die sich in der Ferne zu einem riesigen Heer versammelten und unaufhaltsam auf die Stadt zukamen, selbst abscheuliche und unmenschliche Gräueltaten der Nazis erlebt hatten, etwa das bewusste Verhungernlassen von geschätzt drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die man bei eisigen Temperaturen draußen in Gehegen eingepfercht hatte. Im August 1944, als die Rote Armee das Sowjetreich verließ und sich auf den Weg Richtung Deutschland machten, dürften die meisten der Beteiligten den Furcht einflößenden Bericht über ein Lager in Polen mit dem Namen Majdanek gelesen haben, den der Soldat und Schriftsteller Konstantin Simonow für die Zeitung Krasnaja Swesda verfasst hatte. Simonows qualvolle Beschreibungen der Gaskammern bis hin zu den »zehntausende[n] Paar Kinderschuhe[n]« 3 , die dort aufgehäuft waren, zählten zu den ersten erschütternden Berichten über die Gräueltaten – so erschütternd, dass einige Vertreter der britischen und amerikanischen Regierungen sie nicht so ganz glauben wollen. Gerüchte über das, was in den Todeslagern ablief, waren auch schon nach Berlin durchgedrungen. Brigitte Lemke, damals ein Schulmädchen, erinnerte sich daran, wie eine Klassenkameradin sie beiseitezog und sagte: »Ich muss dir was erzählen, aber du darfst kein Wort weitererzählen, sonst passiert noch etwas ganz Schlimmes.« Leicht verängstigt willigte Brigitte ein, und daraufhin erzählte ihr das Mädchen, dass sein Onkel, ein Arzt, aus dem Osten zurückgekehrt sei. Eines Abends, als diese Freundin eigentlich schon im Bett liegen sollte, habe sie heimlich belauscht, was der Onkel ihren Eltern mit gebrochener Stimme berichtete. Er habe geweint, sagte sie, und von Öfen gesprochen, in denen sie Menschen verbrennen wollten. Das Mädchen schenkte Brigitte ein heiteres Lächeln: »So wie man Brote in den Backofen schiebt, werden die Menschen hineingeschoben.« 4 Dieses Bild ließ Brigitte nie wieder los.

Für die Rotarmisten hatte das Wesen derer, die sie bezwingen wollten, mit der Entdeckung von erst Treblinka und dann im Januar 1945 Auschwitz noch schärfere Konturen angenommen. Das Wort »Befreiung« wirkte viel zu euphorisch für die Rettung der lebenden Gerippe inmitten obszöner Leichenberge. Darüber hinaus hatte man mehrere Massengräber in dunklen Wäldern gefunden. Die jungen sowjetischen Soldaten mussten also dem Feind gegenüber nicht weiter aufgestachelt werden, und doch ließen ihre Vorgesetzten anfangs über Zeitungsartikel und Radiobeiträge verbreiten, dass diese Lager nicht das Werk einiger weniger Nazi-Größen gewesen seien, sondern des gesamten deutschen Volkes. Sie seien Auswüchse seines ureigenen Wesens. Später, nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, sollten die Sowjets eine Kehrtwende hinlegen und darauf beharren, dass die deutsche Arbeiterklasse keine Schuld träfe, doch bis das Monstrum besiegt war, mussten die Soldaten der Roten Armee die Menschlichkeit jedes einzelnen deutschen Zivilisten, auf den sie trafen, infrage stellen.

Der Teufelskreis der Vergeltung drehte sich furchtbar schnell. Das lag Anfang April zum Teil auch an den Spannungen zwischen den Alliierten. Die amerikanischen und britischen Einheiten, die sich von Westen an Berlin herangekämpft hatten, waren fest entschlossen, mit einem letzten Streich auch die Hauptstadt einzunehmen. (Über die Aufteilung der Stadt und die Zonen, die den einzelnen Siegermächten zugesprochen würden, hatten sich die Alliierten längst geeinigt, auch wenn es nicht leicht gewesen war; die Verhandlungen der European Advisory Commission in London hatten im Herbst 1943 angefangen, wobei Vertreter wie Philip E. Mosely, ein Diplomat des US-Außenministeriums, mit den Briten und den Sowjets über »hastig mit dem Bleistift gezogene Linien« 5 auf Landkarten feilschten.) Nun vermutete Lieutenant-General H. G. Martin in der Londoner Tageszeitung Daily Telegraph, dass Hitlers Truppen noch »einen Rest an Leben in sich« hätten, was dafür sorgen würde, dass Marschall Schukows Rote Armee nicht an die Stadt herankäme. Er sagte voraus, dass es entweder die Amerikaner unter General Bradley oder die Briten unter Feldmarschall Montgomery sein würden, die die »Festung Nr. 2 Berlin« einnahmen. 6 Der britische Premierminister Winston Churchill wusste, dass die Eroberung der Stadt die Flamme der Nationalsozialisten endgültig zum Verlöschen bringen würde; aber die Amerikaner unter dem Kommando von General Eisenhower hatten das Rennen bereits stillschweigend aufgegeben, denn Präsident Roosevelt, selbst nur noch wenige Tage von seinem Tod entfernt, befürchtete eine langfristige Verstrickung der USA in europäische Angelegenheiten und war fest entschlossen, die Sowjets als Erste in Berlin eintreffen zu lassen. Diese Entscheidung war Stalin durch Eisenhower übermittelt worden, doch Stalin, der ewige Paranoiker, hatte sie einfach nicht geglaubt. Stattdessen hatte er seinen Verbündeten gegenüber zu einem Bluff gegriffen, indem er ihnen mitteilte, dass er Berlin nicht länger die oberste Priorität einräume, bevor er seine Oberkommandeure, die Marschälle Georgi Schukow und Iwan Konew, am 1. April 1945 anwies, sie müssten Berlin unbedingt als Erste erreichen. Schukow, der damals 48 Jahre alt war, war in einem Dorf gut hundert Kilometer Luftlinie von Moskau entfernt zur Welt gekommen und aufgewachsen. Er hatte eine ländlich geprägte Kindheit erlebt, in einer weitläufigen Landschaft voller Birken und rauschender Flüsse, wo die staubige Armut allgegenwärtig war, in der Erinnerung aber durch frisch geangelten Fisch und Sommerbeeren gelindert wurde. In diesem Sinne ähnelte Schukow trotz seines durch die Wirren der russischen Geschichte und Revolution bedingten Aufstiegs den jüngeren Männern und Frauen, die jetzt unter seinem Kommando standen (auch wenn viele von diesen eher den – zum Teil lebensbedrohlichen – Hunger infolge von Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft in den Dreißigerjahren erlebt hatten als die Ausbeutung der Kleinbauernhöfe zur Zarenzeit). In jüngerer Zeit hatten Schukow und seine Truppen mitansehen müssen, wie die Nazis ihr geliebtes Land verwüstet hatten, weshalb sie nun von einer unaufhaltsamen Wut angetrieben wurden, in deren Fokus Berlin stand.

Als sich die Neuigkeiten über die Rote Armee, verbreitet durch die deutschen Flüchtlinge, die der grausamen Rache entkommen waren, langsam unter den Berlinern verbreiteten, begriffen diese, dass ihre eigene Auffassung von Zivilisation schon bald auf den Prüfstand gestellt werden würde. Daher war der Impuls, sich im Zwielicht der Schutzräume zu verkriechen, eine durchaus rationale Reaktion auf die Schrecken der Außenwelt.

Nicht alle Schutzräume lagen unter der Erde. Es gab auch bemerkenswerte Bauten an Straßenecken oder im Schutz der Bäume in den Stadtparks. Manche davon waren nicht mehr als anonyme Betonzylinder mit geneigter Dachfläche, während andere den Gebäuden in ihrer Umgebung angepasst waren und Büros oder Wohnhäusern glichen, auch wenn ihre raue Außenwand und die blinden, winzig kleinen Fenster ihnen ein leicht unheimliches Aussehen verliehen. Einige erhoben sich aus dem Sandboden von Spielplätzen, die Eingänge nicht mehr als schräg stehende Betonplatten. Im Inneren verliefen Tunnel, die in Sackgassen mündeten. Im nördlichen Ortsteil Wittenau gab es zwei quadratische Betonbunker, die fünfzehn Meter in die Höhe ragten und deren Eingänge aus einem schlichten Torbogen bestanden, was eine makabre Assoziation weckte, ähnelten sie doch großen Familiengruften. Im zentralen Ortsteil Kreuzberg fand sich einer der einfallsreicheren Schutzbunker: ein riesiger, gemauerter Gasometer aus dem neunzehnten Jahrhundert war in den Fichte-Bunker umgewandelt geworden (er stand in der Fichtestraße), indem man die Wände verstärkt und das unbeleuchtete Innere, das sich über sechs Stockwerke erstreckte, in 750 kleine Kammern unterteilt hatte. Damit war der Bunker auf sechstausend Menschen ausgelegt. Anfang 1945 befanden sich gelegentlich bis zu dreißigtausend darin. Zu den Kreuzbergern kamen hilflose Flüchtlinge vom Land, die es gerade noch so in die Stadt geschafft hatten, als das bedrohliche Brummen der herannahenden Bomber schon zu hören gewesen war.

Angesichts ihrer geringen Tiefe boten die Zufluchtsstätten im U-Bahn-Netz einen trügerischen Schutz. Obwohl sich am Moritzplatz noch eine zweite Tunnelebene unterhalb der Bahnstrecke befand, löste sich im Februar 1945 jedes Sicherheitsgefühl mit einem Schlag in nichts auf, als die Station über den Tunneln getroffen wurde und 36 Menschen sofort tot waren.

In den letzten achtzehn Kriegsmonaten sollen geschätzt dreißigtausend Zivilisten bei Bombenangriffen ums Leben gekommen sein. In jener Zeit gewöhnten sich die Augen Hunderttausender Berliner an das Leben in den Katakomben, an nackte Glühbirnen, grob gezimmerte Holzmöbel und Toiletteneimer. Einige von ihnen verspürten enorme Wut über das, was sie als barbarisches Auftreten eines bestialischen Feindes betrachteten, und über das Leben, das sie nun gezwungenermaßen führten. Im Herbst 1944 schrieb die Fotografin Liselotte Purper, die für Goebbels’ Propagandaministerium arbeitete, in einem der letzten Briefe an ihren im Osten stationierten Mann Kurt Orgel vor dessen Tod: »Zorn kommt mich an! […] [D]enkt an die Brutalität, mit der wir vergewaltigt und hingemordet würden, denkt nur an das unbeschreibliche Elend, das der Luftterror allein schon über unser Land bringt.« 7

Die Mehrheit derer, die vor den Bomben Zuflucht suchten, waren Frauen, viele von ihnen mit kleinen Kindern. Was den ständigen Fliegeralarm so erschöpfend machte, war unter anderem, in welchem Tempo sie die unwilligen Kinder aus ihren warmen Betten reißen, sie anziehen und mit ihnen in den nächstgelegenen Schutzraum hasten mussten, zum Teil mit unförmigen Kinderwagen. Anschließend wollten die verängstigten Kinder im seltsamen Halbdunkel getröstet werden, während von draußen das Krachen der Einschläge hereindrang. Im nördlichen Stadtzentrum befand sich ein großer Park, der Volkspark Humboldthain. Er war nach einem der angesehensten Bürger der Stadt benannt worden, dem Forschungsreisenden Alexander von Humboldt, der im neunzehnten Jahrhundert über den Atlantik gesegelt war, um die botanischen und geografischen Wunder der Neuen Welt zu erkunden. Zu Friedenszeiten hatte der Park einen stillen, blumenübersäten Gegensatz zu den belebten Straßen drum herum dargestellt. Jetzt verkörperte er die tiefreichende Unruhe der Stadt. Trotz der Brände durch unablässige nächtliche Bombenangriffe und der Plünderungen durch verzweifelte Stadtbewohner auf der Suche nach Brennmaterial wuchsen hier immer noch prachtvolle Bäume, die sich vor dem kühlen, grauen Himmel abhoben. Doch Teile der Grasflächen wurden von frisch ausgehobenen, blitzförmigen Gräben durchschnitten, und über allem ragte ein riesiger würfelförmiger Betonbau auf, sechzig Meter hoch und breit, mit achteckigen Plattformen für Flugabwehrgeschütze auf dem Dach. Nachts wurden diese Geschütze von Jungen im Teenageralter bedient, die kaum eine Ausbildung erhalten hatten und die Flugabwehrkanonen relativ hilflos auf den von Flammen erleuchteten Himmel richteten. Hierher flohen die Einheimischen, wenn die alliierten Bomber nahten.

Die Form des Flakturms im Humboldthain – einer von dreien in der Stadt – war fremdartig und dennoch auf unheimliche Weise vertraut: Seine schmalen Fenster erinnerten an jahrhundertealte Festungen. Die Luft im halbdunklen Inneren war vom typischen Geruch vieler Menschen erfüllt. In den vergangenen Monaten hatten sich in diesen Bunkern täglich Tausende Personen versammelt. Offiziell hätten es maximal rund zwanzigtausend sein sollen, die sich in den düsteren Stockwerken aufhielten, doch in ihrer Panik drängten oft deutlich mehr Menschen hinein. Zwischen den vertrauten Gesichtern auf den vertrauten Bänken und Feldbetten kauerten auch Fremde, im Dämmerlicht und bei schlechter Luft. Die niedrigen Kammern und Gänge wurden vom schwachen, kalten Licht nackter Glühbirnen beleuchtet, das die Gesichter gespenstisch blass erschienen ließ. Die Sanitäranlagen waren simpel und wenig einladend. In den eisigsten Nächten jenes frostigen Frühlings sorgten die mehrere Meter dicken Wände für Isolation, erschwerten aber die Frischluftzufuhr, und die winzigen Fenster waren verhangen, damit das schwache Licht nicht von den Bombern entdeckt wurde. An den Wänden standen reihenweise einfache, quietschende Etagenbetten. Auf einige der Schutzsuchenden wirkte allein schon der Gedanke an einen ungestörten Nachtschlaf wie Hohn. Und dennoch gab es Familien, die sich an das neue Leben im Dämmerlicht gewöhnt hatten, die den Bunker nur verließen, um sich ihre Lebensmittelrationen zu besorgen. Viele von ihnen hatten erlebt, wie ihr Zuhause im unerbittlichen Bombenhagel der Alliierten zerstört wurde. Ihr Verlust belief sich auf mehr als nur das Dach über dem Kopf und eine Zufluchtsmöglichkeit, er umfasste auch sämtliche Besitztümer, die das Gedächtnis der Familie ausmachten: die Fotoalben, die alten Mahagonimöbel, das Porzellan und das Sonntagsservice – Symbole der Stabilität und Beständigkeit. All diese Fäden, die die Schutzsuchenden mit der Vergangenheit verbunden hatten, waren durchtrennt. Der dunkle Betonturm war jetzt ihr Zuhause. Andere waren seltener hier, nur in absoluten Notfällen, wenn die Bomber der Stadt ganz nahekamen. Sie wussten, dass es kein zuträglicher Aufenthaltsort war. »Wenn die Flaks auf dem Dach schossen«, erinnerte sich Gerda Kernchen, die damals sechzehn Jahre alt war, »bebte das ganze Gebäude, was ziemlich nervenaufreibend war.« 8

Allein die Tatsache, dass der Turm existierte – er wuchs 1943 in die Silhouette des Ortsteils Gesundbrunnen hinein und wurde unter Einsatz von Zwangsarbeitern errichtet –, deuteten viele Berliner als Zeichen dafür, dass der Krieg eine Wende genommen hatte. In den eisig kalten Tagen im Februar und März 1945, als die Alliierten Deutschland von Westen und von Osten einnahmen, entwickelte er sich zu einem düsteren Symbol der Belagerung. Ähnliches galt für einen weiteren Flakturm, der deutlich sichtbar über dem Zoo aufragte. Dieser Bunker erfüllte in mancher Hinsicht einen noch dringlicheren Zweck: Im dritten Stockwerk – auch hier war nur trostloser, nackter Beton zu sehen – befand sich ein Lazarett. Die Ausstattung und die Beleuchtung waren kümmerlich, ein Bereich diente als Entbindungsstation. Selbst im Frühjahr 1945 kamen in dieser kalten, vom Krieg verheerten Stadt noch Babys zur Welt.

Der dritte Flakturm im Volkspark Friedrichshain, südöstlich von dem im Humboldthain der Stadt, barg ein erbittert gehütetes Geheimnis: Dort lagerten Unmengen von Kunstwerken und Antiquitäten, die aus dem Kaiser-Friedrich-Museum (heute Bode-Museum) und anderen Ausstellungsräumen stammten oder ihren jüdischen Besitzern geraubt worden waren. Zu den Werken, die im Turm im Friedrichshain versteckt waren, zählten Gemälde von Caravaggio (»Der Evangelist Matthäus«, »Brustbild einer jungen Frau«) und Botticelli (»Maria mit dem Kind und Leuchter tragenden Engeln«); die Sammlung war extrem empfindlich. Anfang 1945 war noch geplant gewesen, einen sicheren Ort zur Verwahrung der Bilder und Skulpturen in Pommern ausfindig zu machen, doch der rasante Vormarsch der Sowjets hatte diese Überlegung durchkreuzt. Die nächstgelegene Option war ein Salzbergwerk in Schönebeck (einer Stadt gut hundertzwanzig Kilometer südwestlich von Berlin), doch da jeder verfügbare Mann an den Waffen gebraucht wurde und jede verfügbare Frau anderweitig eingesetzt war, verlor man das Vorhaben aus den Augen. Stattdessen waren nur wenige Wochen zuvor, nachdem ein Museum in der Stadt durch eine Brandbombe in Flammen aufgegangen war, noch weitere Kunstwerke in den Flakturm im Friedrichshain geschafft worden. Im März ersannen mehrere Museumsdirektoren einen neuen Plan: Nun wollte man die Schachtanlagen Grasleben (in der Nähe von Helmstedt) und Heimboldshausen-Ransbach (noch weiter südwestlich, nahe Philippsthal in Osthessen) nutzen. Einige der Kunstgegenstände wurden sorgfältig verpackt aus der Stadt gebracht, an riesigen Bombentrichtern vorbei aufs Land hinaus. Der letzte dieser Konvois verließ Berlin am 7. April, doch es waren noch viele Werke übrig.

Immer wieder stöberten Zivilisten auf der Suche nach Konserven zwischen den Schätzen herum, denn anders als die Kunstwerke wurden die Bewohner der Hauptstadt nicht evakuiert. Es hatte nie zur Debatte gestanden, den Berlinern in einer konzertierten Aktion eine zeitweilige Zuflucht in den Dörfern und Orten rund um die Stadt zu verschaffen. Sie waren praktisch Gefangene innerhalb der Stadtgrenzen und konnten nirgendwohin. Auf der anderen Seite war eine ganze Reihe von Menschen in den vergangenen achtzehn Monaten nach Berlin heimgekehrt. Unter ihnen waren Kinder, die zuvor von den Behörden massenhaft ins Alpengebiet verschickt worden waren, umgeben von Bergen und frischer Luft. Viele hatten unbedingt nach Berlin zurückgewollt, was auch für die Mütter und Großmütter galt, die sich nach der vertrauten Umgebung ihrer Heimat sehnten, auch wenn diese Umgebung im Chaos versank.

Die Stadt wurde weiter verteidigt, auch wenn die Wehrmacht vernichtende Verluste erlitten hatte; seit dem 20. März 1945 stand die Heeresgruppe Weichsel – deren Auftrag darin bestand, sich gegen die herannahenden sowjetischen Truppen zur Wehr zu setzen – unter dem Befehl von Generaloberst Gotthard Heinrici, einem 58 Jahre alten Veteranen aus einer Familie evangelischer Theologen, dessen religiöse Überzeugungen von seinen Vorgesetzten misstrauisch beäugt wurden. Im früheren Verlauf des Krieges hatten heftige Auseinandersetzungen mit den Parteioberen ihn vorübergehend in den unfreiwilligen Ruhestand gezwungen, doch nun, da die Rote Armee achtzig Kilometer östlich von Berlin stand, war Heinrici rehabilitiert worden und sollte das riesige Heer davon abhalten, die Oder zu überqueren und in Richtung Reichshauptstadt vorzudringen. Obwohl man sich unter den Zivilisten in den Bunkern Gerüchte über potenzielle neue Wunderwaffen zuflüsterte, die noch durchschlagkräftiger seien als die V1- und V2-Raketen, die hoch am Himmel über den Ärmelkanal geflogen waren und in London für Verheerungen gesorgt hatten, war Heinrici sich schmerzlich bewusst, dass das Militär von solchen Waffen weit entfernt war. Der vorherige Kommandeur der Heeresgruppe Weichsel – Reichsführer SS Heinrich Himmler – hatte eingewilligt, von der Position abgezogen zu werden, da er sich als absolut glücklos erwiesen hatte. Der Mann, der heute als Organisator des Holocaust gilt und abscheuliche Methoden ersonnen hatte, um Millionen Menschenleben auszulöschen, hatte sich in ein Privatsanatorium in Hohenlychen rund hundert Kilometer nördlich von Berlin zurückgezogen, weil er an einer selbstdiagnostizierten Grippe litt. In den Straßen der Stadt, die er verlassen hatte, hallten Durchhalteparolen aus Lautsprechern, verfasst von Propagandaminister Joseph Goebbels, der darin zum Glauben an den Sieg mahnte. In den frühen Zwanzigerjahren hatte Goebbels Berlin als »Asphaltungeheuer« beschrieben, das die Menschen »herz- und gemütlos« mache 9 ; »Asphalt [sei] die künstliche Decke, die den Großstadtbewohner vom natürlichen Boden trennt« – den Weg ins Verderben »asphaltierte der Jude«. 10 Ab 1926 war Goebbels Gauleiter von Berlin, und diese Position hatte er bis zu seinem Tod inne. In einer klugen und gekonnten Analyse von Goebbels’ Sprachgebrauch zeichnete der zeitgenössische Philologe Victor Klemperer den Wandel in dessen Einstellung der Hauptstadt gegenüber nach. Klemperer stellte dar, wie der Gegensatz zwischen »Boden« und »Asphalt« immer weiter abgemildert und romantisiert wurde, bis Goebbels 1944 erklären konnte: »Wir stehen in tiefer Ehrfurcht vor diesem unzerstörbaren Lebensrhythmus und diesem durch nichts zu brechenden Lebenswillen unserer großstädtischen Bevölkerung.« 11 Deren Wahlmöglichkeiten in dieser Sache waren begrenzt.

Auch viele Berliner Bürger äußerten leise Zweifel an der Existenz der neuen Wunderwaffen. Hinter dem rebellischen Flüstern – bei dem große Vorsicht geboten war, da man in der Öffentlichkeit immer noch unter der strikten Überwachung durch die örtlichen Blockwarte stand – verbarg sich die bleierne Kälte der Erkenntnis: Es würde keine Wendung, keine Rettung geben. Die Jugendlichen, die enthusiastisch, aber vergeblich mit den auf den Bunkerdächern aufgestellten Flugabwehrkanonen auf die hochfliegenden Bomber feuerten, waren allgemein unter der Abkürzung LH bekannt, was für Luftwaffenhelfer stand. Doch die Zivilisten in den Bunkern unter den Plattformen interpretierten die Buchstabenkombination anders (genau wie bei »Lernt schnell Russisch«): Sie nannten die Jungen »Letzte Hoffnung«. Dem Witz lag eine gewisse Verbitterung zugrunde. Paradoxerweise basierte die zwanghaft säkulare Gesellschaft, die die Nazis seit Mitte der Dreißigerjahre herangezogen hatten, auf einem Gerüst parareligiöser Überzeugungen: Eine Voraussetzung war der absolute Glaube an den »Führer« und diejenigen, die seinen Plan umsetzten. Diese Vision von Deutschland – und Berlin – konnte nur aufgehen, wenn die Bevölkerung fest davon überzeugt war, dass der Staat das Recht hatte, ihren Körper und Geist vollkommen unter seine Kontrolle zu bringen und das dann zu nutzen, um das Volk zu schützen und zu ernähren. Auch der Glaube an die Wunderwaffen verlangte Vertrauen. Und dieses Vertrauen schmolz in den Schutzräumen und Kellern dahin. Es gab Menschen wie Generaloberst Heinrici, die trotz aller Anstrengungen des Regimes, die verhasste Kirche und ihre Vertreter loszuwerden, an ihrem christlichen Glauben festgehalten hatten. Sie taten gut daran, nicht allzu laut darüber zu sprechen. Wenn sie im Privaten beteten, behielten sie es für sich.

Doch es gab auch andere Menschen in der Stadt – genauer: im Untergrund, und das im wörtlichen wie im übertragenen Sinn –, die trotz der drohenden Vernichtung an ihren alten Überzeugungen und Weltbildern festhielten. Obwohl die große jüdische Bevölkerung Berlins systematisch nach Auschwitz oder in andere Todeslager deportiert worden war, gab es immer noch eine beträchtliche Anzahl von Juden, möglicherweise rund 1700, die es schafften, sich in Berlin zu verstecken und erstaunlicherweise sogar zu überleben. In den sehr kleinen, diskreten Kreisen, in denen man Bescheid wusste, waren sie als »U-Boote« 12 bekannt. Viele von ihnen fanden Unterschlupf bei nicht jüdischen Freunden und Bekannten. Manche waren genötigt, einen Großteil ihres Lebens in fast durchgängig dunklen Kellerräumen zu verbringen. Zu ihnen zählte Rachel R. Mann, die sich daran erinnerte, dass sie am Tag, an dem die Gestapo sie und ihre Mutter abholen kam, zufällig nicht zu Hause war. Als sie heimkehrte, nahm eine freundliche Nachbarin sie auf, doch im Winter und Frühling 1945, als die Nazi-Funktionäre zunehmend hysterisch wurden, war sie gezwungen, die ganze Zeit über im Keller zu bleiben. »[Die Nachbarin] brachte mir jeden Tag etwas zu essen, und manchmal holte sie mich auch nach oben in ihre Wohnung, damit ich ein Bad nehmen konnte. Bis zum Kriegsende war ich hier unten.« 13

Ein anderer Fall war Marie Jalowicz-Simon, damals Marie Jalowicz, die seit 1942 vor den Behörden auf der Flucht war, seit sie eines Morgens einem Gestapo-Mitarbeiter entkommen war. Zuvor hatte sie sich bereits der Zwangsarbeit entzogen, indem sie einem Postboten, der einen an sie adressierten Brief bei ihr abgeben wollte, erzählte, ihre »Nachbarin« Marie sei in den Osten deportiert worden. Diese Information wurde auf dem Briefumschlag vermerkt und bahnte sich offensichtlich ihren Weg durch die städtische Bürokratie. Marie – die keinen gelben Stern mehr auf ihrer Jacke trug – stellte bald fest, dass ihr bei ihrer Suche nach Arbeit in einer Fabrik trotz ihres eindeutigen Mittelschichtshintergrundes vor allem in den Arbeitervierteln der Stadt Freundlichkeit und Großzügigkeit begegneten. 14 Im Frühjahr 1945 lebte sie in einem kleinen Haus im nördlichen Teil der Stadt, inmitten von Menschen, von denen nur einige ganz wenige über ihre wahre Identität Bescheid wussten. Sie betrachtete diese Berliner Arbeiter als ihre Retter; ihrer Meinung nach verkörperten sie die Seele der Stadt. Sie hatten das enorme Ausmaß der durch den Staat begangenen Verbrechen begriffen, so Jalowicz-Simon, anders als die Mittelschicht, die vor der Nazi-Philosophie kapituliert hätte: »Es war vor allem das deutsche Bildungsbürgertum, das versagt hatte.« 15

Einige Vertreter dieses Bildungsbürgertums hätten wohl argumentiert, dass ihnen keine Wahl geblieben sei, dass die kollektive Schuldzuweisung unberechtigt sei und dass die Nächte, die sie unterhalb der Erdoberfläche verbrachten, in der ständigen Erwartung, dass ihnen eine Bombe auf den Kopf fiel, in gewisser Weise als Vergeltung oder Strafe anzurechnen seien.

Rassenlehren und Rassismus sowie die Begeisterung für eugenische Theorien waren in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen keine rein deutsche Erscheinung; derartige Ansichten waren in einigen Kreisen so verbreitet und angesehen, dass sie als ganz natürlich und selbstverständlich galten (Lord Dawson of Penn, der Leibarzt von König George V., war nur einer von vielen Vertretern des britischen Establishments, der sich für die Rassenlehre interessierte, ebenso wie eine Reihe linker Politiker). Als die Berliner von den Bomben unter die Erde getrieben wurden, machten sich nur sehr wenige von ihnen Gedanken darüber, wie sehr die Obsession für die Themen Überlegenheit der arischen Rasse und Entartung die gesamte deutsche Gesellschaft vergiftet hatte. Sie waren noch zu nah dran. Bei einigen von ihnen blieb die Erkenntnis allerdings auch nach dem Krieg aus.

Doch während all diese Menschen, ob wohlhabend oder nicht, ihren Lebensmittelrationen – winzigen Portionen Roggenbrot und Fleisch sowie sorgsam gehorteten Mengen an Alkohol, von Merlot bis hin zu Weinbrand – hinterherjagten, waren sie sich unterbewusst darüber im Klaren, dass sich auch ihr »Führer« mittlerweile rund um die Uhr in einem Bunker verbarrikadierte. Obwohl im Radio in immer schrilleren Tönen darüber berichtet wurde, dass der Sieg bevorstehe und alle »Volksgenossen« unbedingt ihre Heimat verteidigen müssten, war es offensichtlich, dass Hitler selbst keine öffentlichen Auftritte mehr absolvierte. Viele derjenigen, die ihn bei Aufmärschen aus nächster Nähe erlebt hatten, hatten eine Art Energieschub verspürt, als ihr Blick seinem begegnete – sie hatten das Gefühl gehabt, dass er sie irgendwie kenne, und eine starke Verbindung zu ihm verspürt. Doch im Frühjahr 1945 drohte seine Abwesenheit diesen Bann zu brechen.

Doch wer sich dieses geheime unterirdische Hauptquartier vorstellte, hätte sich wohl kaum ausgemalt, wie karg und speziell sich das Leben in den Tunneln unter dem Stadtzentrum abspielte. An der Oberfläche, im Garten der Reichskanzlei, ragte ein Betonwürfel mit Türen auf – einer von mehreren Zugängen zum Komplex. Wer als Besucher die Wachen passiert hatte und die notorisch gründliche Leibesvisitation über sich hatte ergehen lassen, gelangte über eine Wendeltreppe in die Tiefen einer anderen Welt hinab. Am Fuß der Treppe befanden sich noch mehr Wachen und noch mehr Türen, und dahinter ein schlecht belüftetes Geflecht aus winzigen Räumen und engen Gängen, ein Labyrinth aus rauem Beton. Die Bauarbeiten waren erkennbar hastig ausgeführt worden: Auf dem Boden standen kleine Pfützen, wo Wasser von der Decke getropft war. In diesem Teil des Kaninchenbaus befanden sich karge Konferenzräume, Küchen, rudimentäre Sanitäranlagen, Schlafzimmer und eine Telefonzentrale. Eine weitere Treppe führte mehr als acht Meter tief unter die Erde in ein noch stickigeres unterirdisches Reich. Hier war Hitler am 1. April 1945 dauerhaft eingezogen, zusammen mit seiner Partnerin (und bald darauf Ehefrau) Eva Braun, ihrer Schäferhündin Blondi und einigen Welpen. Das kleine Arbeitszimmer war mit Teppichboden ausgelegt, an den Wänden hingen Landkarten. Die Belüftungsanlage surrte lautstark, wie eine große, gefangene Schmeißfliege. Sie war nicht besonders effektiv. Die Atmosphäre war beengt. Auf den Gängen waren immerzu Funktionäre anzutreffen, die zu den absurdesten Uhrzeiten vom stark gebeugten Hitler einbestellt wurden. In dieser Welt entschied nur er, wann Tag war und wann Nacht; Besprechungen mit hochrangigen Kommandeuren begannen kurz vor Mitternacht und zogen sich manchmal bis zum Morgengrauen hin.

An anderen Orten der Stadt litten Kinder unter quälenden Albträumen. Die neunjährige Sabine K. »schlief […] sehr schlecht« im Luftschutzkeller, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute. 16 Sie hatte geträumt, dass »ein Russe« in den Keller gekommen sei und sie »um Wasser« gebeten habe. Daraufhin sei sie durch einen Korridor gelaufen, der sich nach mehreren Kurven in einen unbekannten Gang verwandelte, in dem »gelbliches Licht« schien. Dort traf sie zu ihrem Erschrecken auf einen Mann mit »chinesischen« Gesichtszügen, der ihr den Mantel vom Leib riss und sie »betastete«. 17 War dieser Albtraum eine Folge der Nazi-Propaganda, die den herannahenden Feind als »asiatische Horden« bezeichnete? 18

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