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Baskischer Neid

hier erhältlich:

Ein Krimi-Leckerbissen nach baskischer Art

Comisario Rafael Ibara kümmert sich eigentlich hauptsächlich um die Sorgen und Nöte der Touristen im spanischen Baskenland - doch mit seiner Ruhe ist es vorbei, als Paola Ortiz, die Besitzerin eines angesagten Restaurants, tot aufgefunden wird. Wieder einmal übernimmt Miguel Arbós von der Mordkommission aus Bilbao die Ermittlungen und legt sich sofort auf den Inhaber einer weiterentabernafest. Er ist ein Konkurrent hat somit ein Motiv, davon ist Arbós überzeugt. Ibara zweifelt jedoch an dessen Verdacht. Dazu kommen Gerüchte um ein legendäres Rezeptbuch in Paolas Besitz auf, auch die Liste der Verdächtigen wird immer länger. Kann Ibara den wahren Täter überführen?


  • Erscheinungstag: 22.03.2022
  • Aus der Serie: Rafael Ibara Ermittelt
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903481
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Michaela

PROLOG

Paola Ortiz schnaufte vor Anstrengung, während sie blindlings mit der Fußspitze nach der nächsten Stufe tastete. Die Kartons mit den Konservendosen voller passierter Tomaten schienen Tonnen zu wiegen. Die wievielten waren es? Sie konnte schon nicht mehr zählen, wie oft sie von der Straße in den Keller gegangen war – der Laderaum des Transporters wurde einfach nicht leerer. Immerhin waren die verderblichen Lebensmittel schon sicher im Kühlschrank verstaut.

Mit der Zungenspitze zwischen den Lippen trat Paola einen Schritt tiefer. Die hölzernen Stufen der alten Kellertreppe knarzten unheilvoll. Ungefähr die Hälfte hatte sie geschafft. Paola lief der Schweiß über den Rücken, trotz des kühlen Luftzugs, der aus dem jahrhundertealten Gewölbe emporwehte. Vielleicht hatte sie sich doch etwas zu viel aufgeladen. Ihre Arme brannten vor Schmerz.

Zwei weitere Stufen schaffte sie noch, dann gab sie auf. Polternd setzte sie die Kartons auf den Stufen ab und ließ sich danebenplumpsen. Im Geiste hörte sie Raul schimpfen, weil sie so stur war, immer alles selbst machen wollte und allein zum Großhandel gefahren war, statt auf ihn zu warten. Und jetzt lud sie auch noch die ganzen schweren Kisten selbst aus … Es war März, ein grauer Tag mit kühlem Nieselregen. Die Lebensmittel würden keinen Schaden nehmen, wenn sie ein paar Stunden länger im Transporter liegen würden.

Aber dann hätte sie den Wagen wegfahren und unten im Hafen parken müssen, dann, sobald Raul eingetroffen war, wieder hinlaufen und ihn herbringen. Zu viele Umstände. Besser, sie hielt sich ran und verstaute die restlichen Vorräte, damit sie nachmittags in der Küche herumexperimentieren konnten. Denn darum ging es hier doch.

Entschlossen streckte Paola sich und stand auf. Sie nahm nur die beiden obersten Kartons und stieg im dämmrigen Licht in den Keller, den sie in den vorangegangenen Wochen frisch gestrichen und mit Metallregalen ausgestattet hatten. Die Decke des alten Gewölbes hing tief, es bestand sogar für Paola, die kaum ein Meter sechzig groß war, an manchen Stellen die Gefahr, sich den Kopf zu stoßen. Wie viele Beulen sich Raul schon geholt hatte, wusste sie nicht.

Sorgfältig räumte sie die Kartons neben Olivengläsern ins Regal, dann holte sie den Rest. Dabei stellte sie fest, dass es viel besser war, mit weniger Gewicht häufiger zu laufen. Paolas Stärke war Ausdauer, nicht Kraft. Übermütig nahm sie auf dem Weg nach oben zwei Stufen auf einmal.

Das hätte sie nicht tun sollen – die Treppe war uneben, die alten Holzbretter tückisch. Prompt stolperte sie ein paar Stufen vor der Kellertür und schlug sich das Knie an. Fluchend landete sie auf dem Hintern und konnte sich gerade noch am Geländer festhalten, bevor sie die gesamte Treppe wieder hinunterfiel. Das Geländer knackte und schwankte jedoch so sehr, als würde es jeden Augenblick unter der Belastung nachgeben. Hastig rappelte Paola sich auf. Sie hatte sich die linke Handfläche an der rau verputzten Wand aufgerissen, ihr Knie pochte.

Immer noch fluchend beugte sie sich vornüber und rang um Atem. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Das hatte sie nun davon. Raul würde sich ganz sicher kaum entscheiden können, ob er sie für ihre Dummheit ausschimpfen oder auslachen sollte. Geschah ihr recht. Und zu allem Überfluss war jetzt auch noch die Treppe kaputt. Eines der beiden Holzbretter der Stufe war geborsten und stand nun in einem gefährlichen Winkel aufrecht.

Paola zerrte an dem Holz, um das Brett komplett zu entfernen. Beiläufig bemerkte sie, dass sie mit der linken Hand blutige Flecken hinterließ.

Dann stutzte sie und beugte sich weiter hinab, um in der trüben Beleuchtung etwas zu erkennen. Unter der Stufe war ein Hohlraum. Sie zögerte. Neugierig, wie sie war, wollte sie hineingreifen, aber der Gedanke an fette Spinnen, Asseln oder Mäuse hielt sie davon ab.

Paola wischte sich die Hand an der Jeans ab und zog ihr Smartphone aus der hinteren Hosentasche. Damit leuchtete sie in die Nische. Ihr Blick fiel auf ein Päckchen, das gegen die Feuchtigkeit mit einer Plane umwickelt war, wie Fischer sie benutzten. Wie nannte sich die, »Ölhaut«?

Vorsichtig zog sie das Päckchen zu sich heran. Alte Schnur zerbröselte zwischen ihren Fingern. Sie richtete sich auf und ließ die Reste der Schnur achtlos fallen. Die Ölhaut fühlte sich glatt und weich unter ihren Fingern an. Wie viele Jahre hatte sie den Inhalt trocken gehalten?

Dann hielt sie eine verblasste blaue Kladde in der Hand und schlug sie auf. Auf der ersten Seite stand ein Name. Er wäre kaum zu entziffern, wenn Paola ihn nicht gekannt hätte: »Maria Izguierre« stand dort in zittriger Handschrift, der Name der verstorbenen Vorbesitzerin dieses Hauses, das bis vor einigen Jahren eine taberna gewesen war und nun wieder ein Restaurant werden sollte.

Paola blätterte durch die eng beschriebenen Seiten und traute ihren Augen nicht. Das waren Rezepte. Allein vom Lesen lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Sie ließ sich auf die Treppe sinken und blätterte, darauf bedacht, die Seiten nicht mit Blut zu verschmieren. Sie erinnerte sich, dass Marias taberna einen ausgezeichneten Ruf gehabt hatte. Das war einer der Gründe für sie und Raul gewesen, genau dieses Haus zu kaufen und das Abenteuer der eigenen Gastronomie überhaupt einzugehen. Sie hofften, dass die Einheimischen in Getaria sich an diesen Ruf erinnerten und neugierig genug waren, Paolas und Rauls Küche auszuprobieren. Lachend hatte Raul behauptet, dass dieser Ort eine ganz besondere Aura hätte, die ihnen die nötige Energie für ihre ambitionierten Pläne geben würde. Dabei hatte er gezwinkert und behauptet, natürlich nicht an so etwas zu glauben. Paola war sich bei Bemerkungen wie dieser nicht immer so sicher, ob er es nicht zumindest ein klein wenig ernst meinte. Ihr Lebensgefährte war gebürtiger Jamaikaner, und seine Mutter kannte sich bestens mit allerlei Voodoo-Praktiken aus, sprach sogar angeblich mit Loas.

Paola rieb sich ihr pochendes Knie.

Aber vielleicht war an solchem Glauben wirklich etwas dran. Nicht in Form von Geistererscheinungen, sondern der eines dummen Stolperns und eines schmerzenden Knies, das einem ein altes Rezeptbuch bescherte. Ihre Mutter, tiefgläubige Katholikin, würde behaupten, ein wohlmeinender Engel habe ihr dieses Buch in die Hände gelegt. Loa oder Engel, war das jetzt wirklich ein so großer Unterschied?

Paola war sich jedenfalls sicher, dass sie die Möglichkeit in den Händen hielt, sich in die oberste Liga der kulinarischen Genüsse zu kochen.

Lautes, anhaltendes Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Der Transporter versperrte immer noch die Straße.

Sie klappte das Buch zu und wickelte es behutsam wieder in die Ölhaut. Sie würde den Rest der Lebensmittel erst einmal ausladen und oben an die Treppe stellen, und dann musste sie diese Stolperfalle beseitigen. Bis dahin war Raul hoffentlich zurück, und sie konnten sich gemeinsam in der Küche über das Buch hermachen.

Paola seufzte. Und das, wo Geduld nun wirklich nicht zu ihren Stärken zählte.

1.

»Und, was denkst du?« Es fiel Rafael Ibara schwer, die Miene seiner Kollegin Casta Zamorra zu deuten.

Sie stand beinahe unbeweglich in dem schmalen Hausflur und beugte sich in Richtung einer der drei Türen, um in die Räume dahinter zu schauen, als hätte sie Sorge, etwas kaputt zu machen.

»Du kannst ruhig hineingehen. Es riecht zwar noch nach Farbe, aber die sollte inzwischen trocken sein.«

»Danke.« Ungewöhnlich wortkarg war sie auch.

»Weißt du, was? Ich warte draußen. Nimm dir Zeit.« Ibara wandte sich zur Haustür und verließ die Wohnung. Im Hof hielt er Ausschau nach Josh, Zamorras kleinem Sohn. Er entdeckte ihn in der Nähe des ehemaligen Hühnerstalls, wo er auf den Fußballen hockte und mit dem konzentrierten Ernst eines Vierjährigen einen Stock in den sandigen Boden bohrte. Einen guten Meter hinter ihm stand Whoopy, die Australian-Shepherd-Hündin der Ibaras, und beobachtete ihrerseits das Menschenkind mit geneigtem Kopf.

Ibara ging zu den beiden. »Und, was gefunden, Josh?«

Der Junge hielt ein weißes Etwas in die Höhe. »Was ist das?«

Ibara trat näher. Von diesem Fundstück wäre Joshs Mutter ganz sicher wenig begeistert: Das war der vergammelte Rest eines Schinkenknochens. Ibara warf einen tadelnden Blick auf die Hündin. Whoopy begann zu hecheln, was ein wenig so aussah, als lachte sie. Dazu blickte sie zu ihrem Herrchen auf und wedelte unsicher mit dem Schwanz.

»Oh, Josh, leg das wieder hin. Das ist … ein Spielzeug von Whoopy.«

»Ach so. Okay.« Er sprang auf die Füße und warf seinen Fund zu Boden. Wie ein beigebrauner Blitz sprang Whoopy nach vorn, schnappte sich den Knochen und rannte damit hinter den Hühnerstall, wo sie ihn vermutlich wieder verbuddeln und dann vergessen würde.

Ibara ging in die Hocke und streckte die Hand aus. »Komm, Josh, wir gehen zu deiner Mutter. Wie gefällt es dir hier?«

»Gut. Ich mag den Esel.«

»Rucio? Ja, der ist wirklich nett.«

»Und der Baum da, darf ich darauf klettern?«

»Da müssen wir erst deine Mama fragen. Aber heute nicht.«

»Och, schade.« Josh schürzte die Unterlippe.

Gemeinsam überquerten sie den Hof von Ibaras Schwiegermutter Finia in Richtung der beiden Wohngebäude. Vor dem kleineren blieben sie stehen. Ibara nahm Josh auf den Arm, der begonnen hatte, die Rinde von seinem Stock abzupulen. Er betrachtete die Kate und empfand ein wenig Stolz. Über den gesamten Sommer hatte er, immer wieder mit tatkräftiger Unterstützung, die Außenmauern neu verputzt, neue Fenster eingesetzt und abgedichtet. Außerdem hatten sie von der frei liegenden Holzkonstruktion unter dem Dach und den Fensterläden die alte Farbe abgebeizt und alles in leuchtendem Blau neu gestrichen. Auch die Holzelemente und die Tür des größeren Wohnhauses rechts daneben strahlten in frischem Blau. Im Inneren der Kate waren die Holzböden abgeschliffen und die Wände tapeziert worden. Fehlte nur noch die geplante Außentreppe, um in die obere Etage zu gelangen, ohne die untere zu betreten, und es wären zwei schöne Ferienwohnungen, die sie eigentlich im kommenden Frühjahr an Gäste hatten vermieten wollen. Eigentlich.

Zamorra kam aus dem Haus und schloss ihre Uniformjacke als Schutz gegen den Wind. Als sie Ibara und Josh sah, huschte ein wehmütiges Lächeln über ihr Gesicht. »Ihr versteht euch schon gut, was?«

»Ja, warum nicht?« Ibara ließ den Jungen zu Boden. Eher zögernd lief er zu seiner Mutter und zeigte ihr den Stock.

Sie bewunderte ihn angemessen und wandte sich dann Ibara zu. »Das ist eine schöne Wohnung. Die Zimmer sind etwas klein, aber völlig ausreichend für mich und den kleinen Señor.« Sie stockte.

»Höre ich da ein Aber? Was spricht dagegen?«

»Der Preis.«

»Es ist kein Problem, wenn du weniger …«

»Nein, ich will nicht noch weniger bezahlen. Wenn ihr das als Ferienwohnung vermietet, bekommt ihr das, was ich im Monat bezahlen würde, in einer Woche. In der Hochsaison mindestens noch ein Drittel mehr. Ich dagegen … Das geht nicht.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Dafür zahlst du Monat für Monat, das gesamte Jahr hindurch. Es sind sichere und kalkulierbare Einkünfte für Finia. Eine Ferienwohnung steht im Winter leer und bringt dann nichts ein. Am Ende kommt es auf dasselbe raus.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

Ibara schwieg resigniert. Sie hatten das mindestens schon ein Dutzend Mal diskutiert. Seit Joshs Vater sie vor ungefähr vier Monaten hatte sitzen lassen, versuchte Zamorra, sich allein mit ihrem Sohn durchzuschlagen. Als einfache Polizistin verdiente sie keine Reichtümer, daher kam es für sie nicht infrage, weniger zu arbeiten. Sie hatte aber auch keine Verwandten, die in der Nähe lebten und zumindest zeitweise auf den Kleinen aufpassen oder ihn aus dem Kindergarten abholen konnten. Daher war Ibara im Laufe der Renovierung in den Sinn gekommen, ihr eine der beiden Wohnungen anzubieten. Es musste ja nicht für immer sein, nur, bis sich eine andere Lösung anbot.

Insgeheim hatte Ibara sogar den Gedanken, dass seine Tochter Isobel die ein oder andere Stunde auf Josh aufpassen konnte. Sie würde das gern machen, da war er sicher. Aber davon hatte er noch nichts gesagt. Er wusste genau, dass Zamorra nur mit Abwehr und Trotz auf so einen Vorschlag reagieren würde, denn sie war überzeugt, dass solche Angebote aus reinem Mitleid gemacht wurden. Im Gegensatz zu ihr ging Ibara davon aus, dass sich das alles von selbst finden würde, sobald sie und Josh erst einmal auf den Hof gezogen wären. Wenn sie aber nicht einmal dieses Angebot annahm?

Whoopy kam hinter dem Hühnerstall wieder hervorgelaufen, die Nase und die Vorderpfoten voller rotbraunem Dreck. Mitten auf dem Hof hielt sie inne und reckte die Nase witternd in die Luft. Dann rannte sie plötzlich wild kläffend in Richtung Pferdeweide, wo Isobels Stute Cinderella und der Esel Rucio sie mit neugierig gespitzten Ohren beobachteten, ohne sich dabei aus der Ruhe bringen zu lassen. Josh klatschte begeistert in die Hände und sagte etwas auf Baskisch zu seiner Mutter, die ihm lächelnd zustimmte.

Ibara gab sich einen Ruck. »Überlege es dir. Wir …«

Das Klingeln von Zamorras Smartphone unterbrach ihn. Sie zog es hervor und steckte es sofort wieder weg, ohne das Gespräch anzunehmen. »Was soll das? Ich habe den Rest des Tages frei.«

Das Telefon verstummte, und fast zeitgleich ertönte Ibaras. Er zog es heraus. »Scheint wichtig zu sein.«

»Rafael, gut, dass ich dich erreiche«, klang ihm die Stimme seiner Kollegin Alba Olea aus der Comisaría entgegen.

»Was gibt es, Alba?«

»Stell dir vor, in Getaria haben sie die Leiche von Paola Ortiz gefunden. Kennst du sie? Ihr gehört dieses geniale Restaurant. Die Meldung ging heute früh ein, der Chef hat sich persönlich darum gekümmert. Inzwischen sind die Kollegen aus Bilbao da, das große Aufgebot.«

»Bitte sag jetzt nicht, dass …?«

»Doch, Humpty Dumpty ist wieder vor Ort. Du kannst ja nach Getaria fahren und ihn fragen, ob du schon das Büro vorbereiten sollst.« Sie lachte.

Ibara fand das weniger witzig. Während der Ermittlung vor einigen Monaten, die Comisario General Miguel Arbós geleitet hatte, hatte er ohne zu fragen sein und Zamorras Büro in Beschlag genommen und komplett zugemüllt. Es hatte Ibara einen ganzen Vormittag gekostet, wieder alles aufzuräumen. Der Karton mit den Akten und Papieren, die dort großzügig verstreut und dann zurückgelassen worden waren, hatte Arbós erst Wochen später abholen lassen.

Er warf Zamorra, die sich inzwischen neugierig genähert hatte und fragende Gesten in die Luft malte, einen Seitenblick zu. »Ich fahre auf jeden Fall sofort nach Getaria, schließlich ist das immer noch mein Revier. Dann sehen wir ja, wie Humpty Dumpty sich die Zusammenarbeit vorstellt. Danke, Alba. Adios!«

Mit kurzen Worten erzählte er Zamorra, was passiert war. Dann erst wurde ihm die gesamte Tragweite bewusst. »Schon wieder eine Tote.«

Zamorra scheuchte ihren kleinen Sohn bereits vor sich her Richtung Auto. »Ich bringe Josh zum Kindergarten. Wir treffen uns auf dem Parkplatz am Hafen.«

»Ich dachte, du hast frei?«

»Ja. Aber eine Tote, und noch dazu eine so prominente? Das lasse ich mir doch nicht entgehen.«

2.

Gegen elf Uhr stieg Ibara auf dem Parkplatz am Hafen aus seinem Seat Arona. Es war ruhig, zu früh für die wenigen Reisenden, die es noch im Herbst hierher verschlug. Sie würden erst am Nachmittag in die Stadt kommen, wenn sie ihre Wanderungen und Spaziergänge entlang der Küste beendet hatten. Ibara setzte seine Sonnenbrille auf und erlaubte sich einen ganz kurzen Moment, die spätsommerliche Wärme auf seinem Gesicht zu genießen.

Da Zamorra noch auf sich warten ließ, schlenderte er gemächlich in Richtung einer Treppe, die hinauf zur Altstadt von Getaria führte. Soweit er wusste, musste das Restaurant von Paola Ortiz hier ganz in der Nähe der Katrapona Plaza liegen. Auf halben Weg die Treppe hinauf schaute er sich noch einmal um und entdeckte den VW Touran seines Chefs, Subcomisario Andoni Mendoza, und eins der Polizeiautos in der Nähe der Mauer.

Ibara erreichte gerade das Ende der Treppe, als er Zamorra auf den Parkplatz einbiegen sah. Sie stieg aus und blickte sich suchend um, während er zu ihr hinabwinkte. Nachdem sie ihn entdeckt hatte und auf ihn zusteuerte, lehnte Ibara sich gegen die hüfthohe Mauer und beobachtete die Menschen auf der Plaza. Vor dem Restaurant, dessen kryptischer Name XoX in schwungvollen Goldbuchstaben auf den Panoramafensterscheiben zu lesen war, standen einige Neugierige und reckten die Hälse. Ein Polizist in der Uniform der lokalen baskischen Polizei Ertzaintza stand vor dem Eingang und hielt die Menschen davon ab, noch näher zu kommen. Die meisten gaben schnell auf und gingen weiter, neue Passanten gesellten sich zu den Wartenden. Zeigefinger wurden gereckt und Schultern gezuckt. Ibara konnte sich ziemlich gut denken, wie die Gespräche verliefen. Er war sicher, dass die gesamte Stadt bereits Bescheid wusste und sich den Rest, über den alle bis jetzt nur vermuten konnten, dazugedichtet hatte.

»Da bin ich.« Zamorra schnaufte kurz durch, bevor sie in Richtung Restaurant wies. Gemeinsam überquerten sie den Platz. Aus der Nähe erkannte Ibara auch den Polizisten, es war Javier Arbizu. Das bedeutete wohl, dass nicht nur die Comisaría in Zarautz alarmiert worden war. Die Polizeistationen waren heutzutage längst nicht mehr rund um die Uhr besetzt, und es konnte sein, dass ein Notruf etliche Kilometer weiter entfernt einging. Ibara konnte sich nicht genau erinnern, woher Arbizu kam, irgendwo aus einem Ort weiter im Landesinneren. Seinem Lächeln nach hatte jedenfalls sein Kollege nun auch ihn und Zamorra entdeckt.

Er winkte sie heran. »Kaixo, Casta, wieso in Uniform? Ich hatte gehört, du hättest frei.«

Erstaunt bemerkte Ibara, wie seine Kollegin sich verlegen abwandte. »Ich war bis heute Mittag im Dienst und hatte direkt danach etwas zu erledigen. Bin eher zufällig hier.«

»Neugierig, ja?« Arbizus Lächeln nach meinte er das nicht vorwurfsvoll.

Ihr schien seine Vermutung dagegen unangenehm zu sein. Sie hob unsicher die Schultern und blickte ihn immer noch nicht an. Natürlich konnte es bei Leuten, die Zamorra nicht so gut kannten, als sensationslüstern ankommen. Dabei war das nicht ihre Art – im Gegenteil, sie war eher von der besonnenen Sorte und hielt sich meistens zurück. Doch Getaria war ihr Revier, die Tote lag sozusagen mitten in ihrem Wohnzimmer, und das durfte einfach nicht sein. Da war Zamorras Motivation nicht nur verständlich, sondern geradezu obligatorisch.

»Javier, kannst du uns sagen, was passiert ist?«, fragte Ibara.

Arbizu wollte ansetzen, stockte jedoch und blickte sich hilflos um. Auf einmal war es Ibara so, als hätte sich die Menschenmenge während des kurzen Wortwechsels unauffällig etwas näher geschoben und schwieg nun erwartungsvoll, statt aufgeregt weiter zu tuscheln.

Ibara verstand. »Casta, komm, lass uns reingehen. Danke, Javier.«

Gerade, als sie das Restaurant betreten wollten, klingelte abermals Zamorras Telefon. Ibara wartete geduldig, während sie ein paar Schritte von ihm und der Menge fortging und das Gespräch annahm. Es folgte ein kurzer erregter Wortwechsel, den Zamorra schließlich resigniert beendete. Mit wütenden Schritten pflügte sie durch die Wartenden, die erschrocken zurücktraten, und zog ein Gesicht, als wollte sie am liebsten jemandem die Augen auskratzen.

»Josh hat sich nur fünf Minuten nach seiner Ankunft das Knie aufgeschlagen. Sie wollen, dass ich ihn abhole und sofort mit ihm zum Arzt fahre.« Sie blickte Ibara hilflos an, ihre Wut schlagartig wieder verpufft. »Ich habe den Eindruck, dass sie total überreagieren. Josh spielt schon wieder mit den anderen Kindern, sie sagen, dass ihm überhaupt nichts anzumerken wäre. Aber ich soll trotzdem kommen.«

»Dann musst du das.« Ibara drückte ihr mitfühlend die Schulter und schob sie dann in Richtung Treppe. »Na los. Ich werde dir alles bis ins letzte Detail berichten. Aber jetzt braucht dich dein Sohn.«

Zamorra knurrte ungehalten. »Ich habe eher den Eindruck, diese Erzieherin braucht mich. Aber natürlich hast du recht. Wir treffen uns später!«

Fort war sie.

Ibara blickte ihr kurz nach, dann hielt ihm Arbizu die Tür auf, und er betrat allein das XoX. Ein geschmackvoll eingerichteter Gastraum empfing ihn. Obwohl die Straßenfront mit dem Eingang komplett aus Glasfenstern bestand, brannten sämtliche Deckenleuchten und tauchten den Raum in grelles Licht. Zehn Tische standen entlang der Wände verteilt. Alle waren mit Tischdecken, Stoffservietten, mehreren Gläsern und dezenter Blumendekoration eingedeckt. In der Mitte des Raumes befand sich ein gemauerter Ziehbrunnen, auf dem verschiedene Weinflaschen, Gläser mit eingelegtem Gemüse und Oliven sowie kleine Holzkisten mit Käse präsentiert wurden. Efeuranken waren kunstvoll darum herum arrangiert. Ibara trat näher. Wie erwartet war der Brunnen eine Attrappe, im Inneren derselbe hellgraue Fliesenboden wie im Rest des Raumes. Sogar der Efeu war nicht echt, was aber nur aus der Nähe zu erkennen war. Zwischen einigen Flaschen Txakoli stand ein Buch aufgeschlagen auf einem Ständer. Die linke Seite zeigte ein Paar, eine kleine Frau mit olivfarbenem Teint und schwarzem, sanft gewelltem Haar sowie einen dunkelhäutigen Mann mit Dreadlocks, der die Frau um mindestens einen Kopf überragte. Eine Fußzeile verriet, dass es sich um Paola Ortiz und Raul Fornier handelte. Beide trugen schwarze Kochkleidung. Gemeinsam lächelnd hielten sie ein Tablett mit pintxos vor sich. Rechts beschrieb ein Text die Zubereitung von geröstetem Brot mit einer raffinierten Tomatensalsa.

Ibara wandte sich von dem Brunnen ab und schaute sich weiter um. In der rückwärtigen Wand befanden sich zwei Durchgänge. Er steckte kurz den Kopf durch den rechten und erblickte wie erwartet eine Garderobe und eine Tür mit der Aufschrift »Toiletten«. Der linke Durchgang führte durch einen kurzen Flur in einen Vorraum mit Regalen voller Teller und Besteck. Von hier aus gingen zwei weitere Türen ab. Eine stand offen, dahinter war unverkennbar die Küche mit weiß gekachelten Wänden und silberfarbenen Anrichten und Herden.

Gerade als Ibara den Raum betreten wollte, kam ihm sein Chef Andoni Mendoza entgegen.

»Rafael, schön, dich zu sehen.« Der Ältere strich sich über den eisgrauen Schnurrbart und zog eine Grimasse. »Schreckliche Sache! Ich hatte Alba gesagt, dass sie dich anrufen soll, damit du dir ein Bild machen kannst.«

»Comisario Arbós wird weniger begeistert sein, mich zu sehen.«

»Das ist mir egal. Er mag viel Erfahrung haben und der leitende Mordermittler sein, doch das ist immer noch mein Revier. Ich habe ja nicht gesagt, dass du auf eigene Faust ermitteln sollst. Ich lasse mir aber nicht verbieten, hier auch meine eigenen Leute die Augen offen halten zu lassen.« Er verzog die Mundwinkel zu einem grimmigen Lächeln.

Ibara nickte zustimmend. Niemand in der Comisaría war bei der vorangegangenen Ermittlung mit Arbós’ Verhalten einverstanden gewesen, es gab kaum eine Person, der der Ermittler aus Bilbao nicht auf die Füße getreten war. Mendoza verabschiedete sich mit einem Klaps auf die Schulter und verließ den Vorraum.

Ibara blieb unter dem Türrahmen zur Küche stehen. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits abgeschlossen, von der Leiche war nichts mehr zu sehen. Nur ein einziger schlanker junger Mann stand noch über eine Metallkiste gebeugt und räumte geräuschvoll darin herum. Neben ihm auf der Ablage lag ein achtlos dahingeworfener weißer Ganzkörperoverall aus Gaze und Handschuhe neben einem Topf Basilikum sowie einem Netz Zitronen.

»Thierry? Thierry Arriola?«

Der junge Mann hob den Kopf und blickte sich um. Als er Ibara erkannte, lächelte er breit. »Der Spürhund von Zarautz! Dieses Mal hast du die Leiche aber nicht entdeckt, oder?«

»Nein, zum Glück nicht. Einmal reicht mir.« Ibara winkte lachend ab. Sie waren einander vor einigen Monaten begegnet, als Ibara die Leiche einer jungen Frau auf einem Haufen alter Knochen gefunden hatte. Im Rahmen der Ermittlung hatte Ibara außerdem in einem Ziegenstall eine Entdeckung gemacht, die niemand erwartet hätte, und Arriola, den eigentlich alle »Iturriko« nannten, war davon damals ziemlich beeindruckt gewesen. Ibara konnte nicht sagen, ob Iturriko und sein Spurensicherungsteam das Versteck im Stall nicht auch gefunden hätten – auf ihn hatte der junge Mann mit dem schwarzen Vollbart sehr gründlich und kompetent gewirkt.

»Darfst du mir erzählen, was sich hier abgespielt hat?«

»Warum nicht?« Er kickte mit dem Fuß gegen die Kiste, deren Deckel zuklappte. »Das ist kaum Täterwissen, hier ist außer der Policía schon die halbe Stadt durchgelaufen.« Er zog eine gequälte Grimasse. »Was uns die Arbeit nicht gerade leichter macht, logisch.«

Er zeigte auf den Boden. Ibara umrundete die frei im Raum stehende Anrichte und erblickte einen getrockneten dunklen Fleck. Darum herum waren unzählige teils verschmierte Schuhabdrücke auf den hellen Fliesen zu sehen. Dem Eimer mit rosa gefärbtem Wasser nach zu urteilen hatte bereits jemand notdürftig aufgewischt. Ibara wurde ein wenig flau im Magen. Unwillkürlich fragte er sich, ob hier jemals wieder jemand kochen würde.

»Dort hat die Inhaberin des Restaurants gelegen. Erstochen mit einem langen Küchenmesser, das wir blitzblank gesäubert im Spülbecken gefunden haben. Vermutlich ist das gestern am späten Abend passiert. Heute Morgen gegen halb acht kam ihr Lebensgefährte aus der gemeinsamen Wohnung und hat sie entdeckt. Er hat geschrien wie am Spieß, was dazu führte, dass die gesamte Nachbarschaft sich hier versammelt hat. Einige sind sogar durch das Blut getrampelt, kannst du dir das vorstellen? Na ja, um fair zu bleiben, sie haben es wohl auch mit Wiederbelebungsmaßnahmen versucht. Sie hätte ja wirklich noch leben können, du ahnst gar nicht, wie viel Blut ein Mensch verlieren und trotzdem überleben kann! Jedenfalls haben sie die Leiche gründlich hin- und herbewegt, bis sie eingesehen haben, dass sie tot ist.« Er seufzte. »Viele Spuren, aber die, mit denen wir etwas anfangen könnten, sind vermutlich rettungslos verloren.«

»Das tut mir leid.«

»Ach, das muss es nicht, du kannst ja nichts dafür. Und das ist eben mein Job.« Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass Iturriko seine Arbeit trotz aller Hindernisse gerne machte. Er nahm den Overall und die Handschuhe und stopfte alles in einen Plastiksack.

»Die Tote war Paola Ortiz«, sagte Ibara.

»Richtig. Kennst du sie?«

»Ich habe nur von ihr gehört – das XoX hat hier eingeschlagen wie eine Bombe, was für mich etwas schwer zu begreifen ist, denn das ist weder das erste noch das einzige Restaurant mit einem guten Angebot an pintxos

Iturriko nickte zustimmend.

»Wurde etwas gestohlen?«

»Gar nichts, soweit ich das auf den ersten Blick beurteilen konnte. In der Kasse liegt ohnehin nicht viel. Das Restaurant hat montags und dienstags zu, und die meisten Leute zahlen mit EC- oder Kreditkarte.«

»Und der Mörder?«, fragte Ibara weiter.

»Täter.«

»Wie bitte?«

»Wir sprechen noch von einem Täter. Oder einer Täterin, wer weiß? Wenn du diese Person einen Mörder nennst, unterstellst du bereits Vorsatz, Motiv, Absicht. Es kann sich aber nach allem, was wir bisher wissen, auch um einen schrecklichen Unfall gehandelt haben.«

»Ein Unfall? Sie wird sich doch kaum selbst in ein Messer gestürzt haben.«

»Nein, das nicht.« Iturriko blickte sich um, dann wies er auf ein umgestürztes Gewürzregal am Ende der Anrichte, vor der sie standen. Gläser mit verschiedenfarbigen Pulvern waren herausgefallen und hatten ihren Inhalt über die Arbeitsfläche und den Boden darunter verteilt.

»Siehst du das dort? Wenn ich in diesen Raum gekommen wäre, bevor eine Herde sensationslüsterner Zombies hier durchzog, würde ich sagen, das sind Kampfspuren. Davon gab es einige. Da ich aber nicht weiß, ob das vorher schon so aussah oder irgendwer das abgeräumt hat, kann ich nur sagen, dass ich gar nichts sagen kann.« Er deutete auf den Eimer mit dem rosafarbenen Wasser. »Eine alte Frau wollte sauber machen, noch bevor wir da waren. Davon haben die anderen sie immerhin rechtzeitig abgehalten.«

Ibara lehnte sich gegenüber der Anrichte an einen Herd und verschränkte die Arme. »Komm schon, du hast doch eine Idee.«

Iturriko zögerte. »Bei einigen Spuren hier gehe ich schon davon aus, dass sie von einem Kampf herrühren. Die Untersuchung des Opfers wird meinen Verdacht vielleicht bestätigen. Arbós verhört gerade den Lebensgefährten von Paola Ortiz, diesen Raul Fornier. Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, die meisten Tötungsdelikte geschehen innerhalb der eigenen Familie oder dem Freundeskreis. Nach allem, was ich gehört habe, muss Fornier aber ziemlich entsetzt reagiert haben, als er seine tote Freundin entdeckt hat – klar, sonst wären die Leute hier nicht im Dutzend angerückt. Jedenfalls glaube ich nicht, dass er uns da etwas vorspielt. Wenn doch, dann ist er verdammt überzeugend.«

»Wo ist er? Darf ich mit ihm reden?«

»Warum nicht? Besser gesagt, wenn Arbós etwas dagegen hat, wirst du es schon merken.«

»Dem würde ich nicht widersprechen.«

Iturriko zeigte nach oben auf die Decke. »Die Wohnung liegt direkt hier über dem Restaurant. Du gehst zurück in den Zwischenflur und nimmst die andere Tür. Sie müsste offen sein.«

»Danke. Und wenn ich etwas für dich tun kann, sag einfach Bescheid.«

Iturriko ließ die Verschlüsse der Kiste einschnappen und grinste breit. »Du kannst die Kiste hier zum Auto schleppen.«

»Ich meinte eher … Aber sicher, warum nicht?«

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