1
»Schritt, Schritt, Arme in die Dritte, Beine in die Fünfte, Attitude, Battement.« Mr de Waal geht mit großen Schritten im Ballettsaal herum. Seine Worte schwingen im Takt der Klaviermusik, die aus der Stereoanlage dringt.
Wir haben soeben das Warm-up beendet und uns über den ganzen Raum verteilt. Links neben mir hebt meine Freundin Shasa ihre Arme. Auf der anderen Seite geht Wylie in die fünfte Position. Er platziert seine Füße parallel nebeneinander, der kleine Zeh des linken Fußes steht genau neben der Ferse des rechten.
Hinter mir erklingt ein leises Keuchen. Über dem Klaviergeklimper ist es kaum zu hören, aber natürlich entgeht es Mr de Waal nicht. Ihm entgeht nie etwas.
»Was war das?«, fragt er scharf. Über den Spiegel sehe ich, wie er neben Dimitri tritt. Die harten grauen Augen des Trainers durchbohren meinen Mitschüler, der scheinbar ungerührt mit den Übungen weitermacht. Dimitris linkes Bein wandert jetzt nach hinten und hebt sich zur Attitude.
»Schon kaputt, Dimitri?«, erkundigt sich Mr de Waal. »Oder was soll das Gestöhne?«
Dimitri zieht die Mundwinkel leicht nach oben und schweigt.
Wir sind erst seit fünf Monaten in der Royal Ballet School, aber das haben wir alle längst gelernt – auf die scharfen Bemerkungen von Mr de Waal geht man am besten gar nicht ein. Seine Korrekturen setzen wir um, die Kommentare lassen wir an uns abprallen. Auch wenn sie manchmal ziemlich gemein sind.
Mr de Waals Spitzname in der Schule ist die Peitsche. Das passt perfekt, seine Kritik ist streng und gnadenlos und trifft einen wirklich wie ein Peitschenhieb. Man lernt allerdings auch unglaublich viel von ihm, das muss man ihm lassen.
Jetzt greift der Tanzlehrer nach Dimitris Fußspitze und zieht sie höher, wobei er dessen Knie leicht nach außen dreht. Dimitri ist mit seinen dreizehn Jahren bereits ein kleines Stück größer als Mr de Waal, aber seltsamerweise habe ich den Eindruck, dass der Lehrer ihn um Kopfeslänge überragt. Vermutlich ist es sein Ego, das ihn so übergroß erscheinen lässt.
Während Mr de Waal Dimitris Bein dehnt, schaut er in den Spiegel. Unsere Blicke begegnen sich. Das bringt mich prompt aus dem Gleichgewicht. Meine Pose gerät ins Wackeln, ich muss mein Bein absetzen, um nicht umzufallen.
»Konzentration«, sagt Mr de Waal.
Dimitri ist sichtlich erleichtert, dass er ihn jetzt loslässt und stattdessen zu mir kommt. Ich strecke den linken Arm nach oben, der rechte wandert nach vorn, gleichzeitig hebe ich das linke Bein und bringe es, angewinkelt und mit leicht nach außen gedrehtem Knie, nach hinten.
Ich neige den Kopf, lächle sanft und fühle mich wie eine Maus, über der ein Habicht schwebt.
»Sooo«, sagt Mr de Waal langsam und gedehnt, dann geht seine Stimme wieder in den Rhythmus der Musik über. »Battement, zwei, drei, vier, fünf, Plié, Arme in die zweite, Passé en relevé und Fouetté!«
An die hohen Fensterscheiben des Ballettsaals prasselt heftiger Regen. Die Bäume im Richmond Park haben ihre letzten Blätter verloren, mit ihren nackten Zweigen wirken sie so verfroren wie wir Schüler, als wir den Raum vor einer halben Stunde betreten haben.
Die ganze Klasse war angezogen wie für eine Polarexpedition: Alle trugen dicke Stulpen über den Ballettschläppchen, Sweatshirts, Schals und Pulswärmer, Shasa hatte sogar ihre Daunenjacke an. Gelenke, Sehnen und Muskeln werden beim Ballett stark beansprucht, es ist wichtig, sie immer schön warm zu halten.
Die Aufwärmkleidung flog allerdings schon nach kurzer Zeit auf den Boden unter den Stangen. Jetzt tragen wir nur noch Leggings und ärmellose Tops.
Immer wieder spürt man beim Tanzen einen kühlen Luftzug. Die White Lodge, in der die Junior School der Royal Ballet Academy sich befindet, ist nicht sehr gut isoliert. Ich genieße die Luft in meinem erhitzten Gesicht.
Mr de Waal legt jetzt eine schnellere Musik ein. Wir beginnen mit dem Petit Allegro – das sind kleine, sehr schnelle Sprünge. Wir stellen uns dazu in Zweiergruppen auf, immer ein Mädchen und ein Junge laufen zusammen los. Den Abschluss bildet eine Dreiergruppe, wir sind nämlich zu elft in der Klasse, während es in allen anderen Klassen zehn Schüler gibt. Das liegt an mir, denn ich war eigentlich nicht vorgesehen und wurde zusätzlich aufgenommen. Ich bin sozusagen die Extrawurst in der Klasse.
Shasa und Nils machen den Anfang.
»Sieben, acht, Glissade«, kommandiert Mr de Waal. »Coupé, Pas de chat, Entrechat quatre, Soubresaut.«
Die beiden fliegen durch den Raum, Shasas Arme bewegen sich weich wie die Zweige der Bäume vor dem Fenster. Die Sprünge wirken bei ihr so leicht und mühelos, dabei erfordert der schnelle Schrittwechsel höchste Konzentration und Körperbeherrschung.
Shasa tanzt, seit sie vier Jahre alt war, und die anderen in unserer Klasse sind auch schon seit dem Kindergartenalter dabei. Alle, außer mir. Ich habe erst vor zwei Jahren mit dem Ballett angefangen. Oder eigentlich hat das Ballett mit mir angefangen – ich hab mich nämlich zuerst mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, mich darauf einzulassen.
Meine Mutter war eine berühmte Primaballerina – Lara O’Neill. Ihr Bild hängt unten in der Eingangshalle der White Lodge. Mum hat auch in der Royal Ballet School tanzen gelernt, bevor sie als Solistin an die Londoner Oper gegangen ist. Später ist sie auf den großen Ballettbühnen in der ganzen Welt aufgetreten, man kann die Aufzeichnungen davon immer noch auf YouTube sehen. Ich hab mir die Filme so oft angeschaut, dass ich sie allesamt auswendig nachtanzen könnte. Meine Mutter kenne ich dagegen gar nicht. Sie ist bei einem Autounfall gestorben, als ich ein Jahr alt war.
Mein ganzes Leben lang war ich überzeugt, dass ihre Leidenschaft für den Tanz sie das Leben gekostet hat. Erst hier in der Schule habe ich herausgefunden, dass ihr Tod nichts mit dem Ballett zu tun hatte.
Jetzt sind Wylie und ich an der Reihe. Wylie ist mein bester Freund in der Ballet School. Er kommt aus Irland und hat ein offenes, sommersprossiges Gesicht. Auch seine Arme und die Beine, sogar die Füße und Finger sind mit Sommersprossen überzogen, er ist von Kopf bis Fuß gepunktet. Wylie wirkt auf den ersten Blick schlaksig und irgendwie ungelenk, aber der Eindruck täuscht total. Er ist ein super Tänzer und ungeheuer kraftvoll – sonst hätte er es ja auch nicht an diese Schule geschafft.
»Sieben, acht, Glissade jeté«, sagt Mr de Waal.
Wir heben die Arme und setzen uns in Bewegung. Ich liebe es zu springen, meine Jetés sind weiter und höher als die der anderen. Beim Petit Allegro kommt es jedoch nicht so sehr auf die Sprungkraft an als auf Schnelligkeit und Präzision.
Wylie und ich wischen beide mit dem rechten Fuß über den Boden. Mit dem anderen Bein stemmen wir uns in die Höhe und landen danach wieder in der fünften Position. Unsere Arme heben sich erneut, wir wollen gerade in den Pas de chat springen, als Mr de Waal in die Hände klatscht und die Musik mit der Fernbedienung stoppt.
»Wartest du auf ein Auto, Ryan?«, erkundigt er sich. In letzter Zeit hat er angefangen, Wylie bei seinem Nachnamen zu nennen, den er ausspricht, als wäre es ein Schimpfwort.
»Was?« Wylie wischt sich nervös mit dem Handrücken über die Nase, und seine Schultern sacken ein bisschen nach vorn. Das ist ein Fehler, vor der Peitsche darf man keine Nervosität zeigen, und man darf sich auf keinen Fall klein machen. Ängstliche und unsichere Menschen sind Mr de Waal zuwider, die piesackt er ohne Ende.
Wylie hatte er von Anfang an auf dem Kieker, und es wird von Stunde zu Stunde schlimmer. Je mehr Mr de Waal an Wylie rummäkelt, desto unsicherer wird er, desto schlechter tanzt er, desto mehr hat die Peitsche auszusetzen und so weiter. Es ist eine Spirale, die zielsicher in die Tiefe führt.
Shasa und ich haben alles versucht, um Wylie aufzubauen. Eine Weile lang haben wir jeden Abend mit ihm geübt, wie er Mr de Waal gegenüber auftreten soll.
Solange Shasa oder ich die Peitsche spielen, klappt das super. Wylie ist selbstbewusst und total entspannt. Aber sobald er dem echten Mr de Waal gegenübersteht, ist alles vergessen, was wir ihm vorher eingetrichtert haben.
Gerade möchte ich ihm am liebsten auf den Fuß treten, weil er den Kopf senkt und auf seine Schläppchen starrt, anstatt Mr de Waal fest in die Augen zu blicken.
»Dein Daumen«, sagt Mr de Waal.
»Hä?« Wylie schielt auf seine Hände. Ich habe ebenfalls keine Ahnung, worauf die Peitsche hinauswill.
»Was ist denn damit?«, erkundige ich mich, um die Sache abzukürzen.
»Du siehst aus, als ob du trampen willst.« Mr de Waal macht einen Pas de chat, allerdings springt er total schief und wackelt mit seiner rechten Hand über dem Kopf rum, wobei er den Daumen nach außen abspreizt.
»So hat er das doch gar nicht gemacht!«, sage ich.
Mr de Waal spannt seinen Körper an und dreht sich elegant zu mir um. Er war viele Jahre Profitänzer in allen möglichen großen Häusern, das sieht man jeder seiner Bewegungen an. Also, wenn er nicht gerade extra rumhampelt, um einen Schüler fertigzumachen.
»Ich hab ein bisschen übertrieben«, sagt er. »Aber die Tendenz war genau so. Noch mal von vorn, Ryan.«
2
»Reiß dich bloß zusammen«, flüstere ich Wylie zu, während wir zurück auf die Ausgangsposition gehen. Ich habe beschlossen, auch noch mal mitzumachen, zu zweit ist es immer einfacher.
Die Ermahnung wirkt, Wylie strafft die Schultern und hebt den Kopf. Mr de Waal hat mich ebenfalls gehört, ich sehe, wie er den Mund öffnet, um eine abfällige Bemerkung loszuwerden. Ich starre ihn wütend an, und zu meiner Überraschung klappt er den Mund wieder zu.
Er startet die Musik, wir legen los, und diesmal lässt die Peitsche uns den Durchgang beenden. Danach nickt er kurz, mehr Lob ist von ihm nicht zu erwarten.
Als Shasa und ich aus der Mädchenumkleide kommen, wartet Wylie im Flur auf uns. Wir haben geduscht und uns umgezogen, nach der Pause geht es nämlich im Nebengebäude mit Englisch weiter. Außer Tanzunterricht stehen in der Royal Ballet School auch die ganz normalen Schulfächer auf dem Stundenplan, wir müssen schließlich am Ende der Schulzeit die üblichen Abschlussprüfungen machen. Ich war früher keine besonders gute Schülerin, doch seit ich auf der Ballettschule bin, hab ich mich total verbessert. Und das liegt nicht daran, dass hier die Ansprüche niedriger sind – im Gegenteil, es ist eher schwieriger als in der alten Schule. Aber als Ballettschülerin gewöhnt man sich daran, alles schnell und effektiv zu erledigen, um mehr Zeit fürs Tanzen zu haben. Ich bin jetzt viel aufmerksamer im Unterricht und trödle bei den Hausaufgaben nicht lange rum.
»Danke für vorhin«, sagt Wylie.
»Nichts zu danken«, sage ich. »Ich hab doch gar nichts gemacht.«
»Ich verstehe es einfach nicht«, sagt Wylie.
»Was?«, fragt Shasa.
»Wieso kann sich April bei der Peitsche alles erlauben?«, fragt Wylie. »Sie widerspricht ihm, sie sagt, was sie denkt, sie ist total aufsässig. Und er nimmt es einfach so hin. Ich muss nur was Freches denken, und er macht mich schon fertig.«
»Das sind wir doch schon hundertmal durchgegangen, Wylie«, sage ich ein bisschen genervt. »Du darfst dich nicht immer wegducken. Wenn du ihm nur einmal die Stirn bieten würdest …«
»So einfach ist es nicht«, unterbricht mich Shasa.
»Was?« Ich sehe sie verwirrt an.
»Es liegt nicht an Wylie, dass die Peitsche ihn mobbt. Mr de Waal hat sich dazu entschieden. Weil ihm Wylies Sommersprossen nicht gefallen oder seine Augenfarbe oder aus irgendeinem anderen Grund. Genau wie er beschlossen hat, dass du dir alles bei ihm erlauben kannst.«
»Das ist doch Quatsch.« Aber noch während ich das sage, wird mir bewusst, dass Shasa recht hat.
»Wenn das stimmt, dann ist alles sinnlos.« Wylie lässt den Kopf hängen. »Es geht immer so weiter.«
»Lass es nicht so an dich ran«, sagt Shasa. »Zieh dein Ding durch und ignorier ihn.«
»Wenn das so einfach wäre«, antwortet Wylie.
»Ist es nicht.« Shasa nickt. »Aber was ist hier schon einfach?«
Die Unterrichtsräume im Seitentrakt der White Lodge sind hell und modern. Wir haben gerade unsere Plätze eingenommen, als Mrs Doright ins Zimmer kommt. Unserer Klassenlehrerin sieht man auf den ersten Blick an, dass sie keine Tänzerin ist, sie ist nämlich ziemlich füllig und nicht besonders gelenkig.
Hinter ihr betritt Mrs Turner den Raum. Sie ist die Direktorin der Junior School, eine hochgewachsene Frau mit dunklen Haaren, die an einigen Stellen von grauen Strähnen durchzogen sind.
Shasa und ich wechseln einen überraschten Blick. Was will Mrs Turner denn hier?
Mrs Doright begrüßt uns kurz, dann lehnt sie sich mit verschränkten Armen ans Fensterbrett. Mrs Turner tritt neben das Pult.
»Guten Morgen zusammen«, sagt sie fröhlich. »Ich will nicht lange stören, aber ich habe gerade so eine tolle Nachricht bekommen, die muss ich jetzt einfach loswerden. Ich hoffe, ihr seid auch so begeistert wie ich.«
Wieder sehe ich Shasa an, die ratlos ihre Mundwinkel nach unten zieht.
»Luna Avens kommt als Lehrerin an unsere Schule!«, verkündet Mrs Turner.
Ein ungläubiges Gemurmel erhebt sich im Klassenzimmer.
»Das gibt’s doch nicht«, sagt Shasa.
Luna Avens. Diesen Namen kennen offensichtlich alle. Auch ich hab ihn schon oft gehört, aber ich weiß nicht mehr, wann und wo. In Situationen wie dieser wird mir bewusst, dass ich immer noch eine Außenseiterin in der Ballettwelt bin. In den letzten zwei Jahren habe ich mir unzählige Inszenierungen im Internet angesehen und war auch schon einige Male live im Ballett. Aber meine Klassenkameraden kennen sich einfach viel besser aus, wenn es um angesagte Stücke, Choreografen und Tänzerinnen geht.
»New York City Ballet«, murmelt Shasa mir zu, der mein Stirnrunzeln offenbar nicht entgangen ist.
Natürlich. Luna Avens ist Principal Dancer bei der renommierten New Yorker Ballett-Compagnie. Erst vor ein paar Monaten wurde sie mit dem Titel Tänzerin des Jahres ausgezeichnet.
Mrs Turner hebt ihre Hand und sorgt damit für Ruhe. »Mrs Avens ist gerade in London und kuriert eine Verletzung aus«, fährt sie fort. »In dieser Zeit kann sie nicht auftreten und darf nur mäßig trainieren. Deshalb konnten wir sie dafür gewinnen, dass sie für eine gewisse Zeit als Gastdozentin bei uns einspringt. Eigentlich war sie nur für die Upper School vorgesehen, aber Mrs Avens hat sich ausdrücklich gewünscht, mit einer Nachwuchsklasse zu arbeiten. Und ihr seid die Glücklichen, die dafür ausgewählt wurden. Mrs Avens übernimmt ab nächster Woche die Fächer Spitzentanz und Pas de deux.«
»Wow«, sagt Zara, die an unserem Nachbartisch sitzt. »Das ist ja unfassbar.«
»Du sagst es.« Mrs Turner rückt ihre kantige dunkle Brille zurecht. »Ich hoffe, ihr macht der Schule alle Ehre.«
»Da müssen wir April ja dankbar sein, dass sie Mrs Renoir rausgeekelt hat.« Dieser Kommentar kommt vom Tisch hinter uns, und weil es inzwischen wieder ziemlich laut im Klassenzimmer ist, dringt er nicht bis zu Mrs Turner durch.
Shasa dreht sich so schnell um, dass ihre schwarzen Locken fliegen. Sie wirft Heidi, von der die Bemerkung kam, einen finsteren Blick zu.
Ich selbst tue so, als hätte ich nichts gehört. Heidi hat ja recht. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte Mrs Renoir die Schule nicht verlassen. Sie war mit Abstand die beliebteste Lehrerin hier, und Heidi ist bestimmt nicht die Einzige, die sauer auf mich ist.
»So, das war’s auch schon.« Mrs Turner nickt uns freundlich zu. »Jetzt will ich euch nicht länger aufhalten und wünsche euch noch einen guten Englischunterricht.«
Während sie zur Tür geht, tritt Mrs Doright neben das Pult. Sie holt ein paar Unterlagen aus ihrer Tasche, legt sie auf den Tisch und will gerade mit dem Unterricht beginnen, als Mrs Turner noch einmal stehen bleibt.
»Ach, fast hätte ich es vergessen«, sagt sie. »Entschuldigung, Janet, aber ich hab noch was.«
3
Mrs Doright lächelt, aber man sieht ihr deutlich an, dass sie genervt ist. Sie nimmt ihren Beruf nämlich genauso ernst wie die anderen Lehrer, und nächste Woche steht eine Englischarbeit an.
»Mr Caspar Moriarty hat leider Bescheid gegeben, dass er den Workshop, der für Mittwoch und Donnerstag geplant war, verschieben muss.«
»Oh nein!«, ruft Shasa.
Caspar unterrichtet Contemporary Dance und ist Shasas und mein absoluter Lieblingslehrer. Ich verdanke ihm alles – ich wurde nämlich nur seinetwegen an der Royal Ballet School angenommen. Caspar sitzt im Auswahlkomitee der Schule und hat bei der Audition eine Art Wildcard – das heißt, er kann sich eine Schülerin oder einen Schüler aussuchen. Und wundersamerweise hat er sich bei der letzten Aufnahmeprüfung für mich entschieden.
Das ist allerdings nicht der einzige Grund, warum ich ihn so toll finde. Caspar ist ein Wahnsinns-Choreograf, seine ungewöhnlichen Inszenierungen werden in der ganzen Welt gefeiert. Und er ist ein geduldiger und einfühlsamer Lehrer.
Also – wenn er mal Zeit für uns hat.
Denn Caspar unterrichtet nicht im Rahmen des Stundenplans, seine Stunden werden gebündelt, sodass wir immer mal wieder mehrere ganze Tage in Folge bei ihm haben. Er hat schließlich auch noch seine Compagnie, um die er sich kümmern muss.
Für nächste Woche war eigentlich ein zweitägiger Workshop bei ihm geplant. Shasa und ich haben schon damit begonnen, die Tage zu zählen, bis es endlich so weit ist – und nun soll das Ganze ausfallen. So ein Mist.
»Mr Moriarty bietet an, den Workshop aufs Wochenende zu verschieben«, sagt Mrs Turner. »Ihm ist natürlich klar, dass viele von euch samstags zu ihren Eltern fahren wollen. Aber er ist im Moment beruflich so eingespannt, dass sich kein anderer Termin finden ließ.« Die Direktorin schiebt ihre Brille mit dem Zeigefinger nach oben. »Weil der Workshop außerhalb der offiziellen Unterrichtszeit stattfindet, ist die Teilnahme freiwillig. Wer möchte, macht mit, aber ihr könnt natürlich auch nach Hause fahren.«
Jetzt wird es wieder laut im Klassenzimmer, weil alle durcheinanderreden. Das mit der Freiwilligkeit ist ein Witz, das ist allen klar. Viele Dinge, die in der Schulordnung nicht vorgeschrieben sind, sind eigentlich doch Pflicht, weil sie von uns Schülern einfach erwartet werden. Aber in diesem Fall ist mir das egal. Ich würde auch mitmachen, wenn ich für den Workshop eine Reise auf die Malediven absagen müsste.
Shasa hebt die Hand.
»Shasa?« Mrs Turner runzelt unwillig die Stirn. »Der Rest ist bitte mal still.« Sie nickt Shasa zu. »Also?«
»Ich bin dabei.«
»Ich auch!«, rufe ich.
Die Direktorin lächelt. »Ihr habt bis Montag Zeit, euch zu entscheiden. Meldet euch per E-Mail bei Mr Moriarty. So, das war’s jetzt aber wirklich. Danke, Janet.«
Um halb eins gibt es Mittagessen in der Mensa, die in einem weiteren Anbau untergebracht ist. Um zu dem flachen Holzgebäude mit den großen Fenstern zu kommen, muss man ein kleines Stück durch den Park laufen. Da es immer noch schüttet wie aus Kübeln, bin ich pitschnass, als ich am Eingang ankomme.
Shasa ist schon vorgegangen, sie sitzt mit Marjam und Kaito an dem langen Tisch in der Mitte des Speisesaals. Ich hole mir mein Essen und will gerade zu ihnen gehen, als mein Blick auf einen kleinen Tisch am Fenster fällt.
Mein Körper reagiert, bevor mein Gehirn begriffen hat, was los ist. Mein Herz macht einen großen Satz und beginnt, hektisch loszuhämmern, meine Wangen fangen an zu glühen, und meine Finger krampfen sich an meinem Tablett fest.
Da drüben schiebt sich Wylie gerade eine Gabel Nudeln in den Mund. Aber er ist nicht der Grund für meine Aufregung. Ihm gegenüber sitzt ein großer Junge mit markantem Gesicht, hohen Wangenknochen und einer zackigen Narbe auf der linken Wange.
Raoul Veloso, der zwei Klassen über uns ist und in der Ballettwelt jetzt schon als größtes Nachwuchstalent im Modern Dance gilt. Vor Kurzem hat er den Yanowski-Preis gewonnen, das ist der Nobelpreis für junge Tänzer. Obwohl er noch in die Junior School geht, tanzt Raoul regelmäßig in Caspars Inszenierungen mit.
Wenn Raoul mir vor ein paar Wochen nicht geholfen und mit mir trainiert hätte, hätte ich die Aufnahmeprüfung niemals geschafft. Ich verstehe bis heute nicht, warum er sich damals die Zeit genommen hat und Abend für Abend mit mir gearbeitet hat. In dieser Zeit habe ich nicht nur unendlich viel gelernt, ich hab mich auch Hals über Kopf in Raoul verliebt.
Nachdem ich die Prüfung bestanden hatte und in die Schule aufgenommen wurde, war ich mir sicher, dass etwas Wunderbares zwischen uns beginnen würde. Vielleicht sogar eine Liebesgeschichte, obwohl Raoul so angesagt ist und ich jung und unbedeutend bin.
Ich bin auf jeden Fall davon ausgegangen, dass wir Freunde werden.
Großer Irrtum.
Seit dem Vortanzen herrscht absolute Funkstille. Wenn Raoul und ich uns im Treppenhaus oder auf dem Schulgelände begegnen, lächelt er mich jedes Mal freundlich an und fragt: »Alles klar, April?«
Und ich sage: »Alles super.« Und lächle zurück.
Und dann geht er weiter, und das war’s.