×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Aufs Gefühl kommt es an«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Aufs Gefühl kommt es an« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Aufs Gefühl kommt es an

hier erhältlich:

Carly Phillips: Einfach sexy

Grace Montgomery ist entschlossen, ihr Leben endlich in die eigenen Hände zu nehmen. In vollen Zügen will sie ihren Neuanfang in New York genießen. Da kommt ihr Nachbar Ben Callahan wie gerufen: sexy und ein bisschen verwegen. Was macht es da schon, dass sie nicht viel über ihn weiß? Mehr als Grace ahnt …

Jennifer Crusie: Beim zweiten Mann ist alles anders

Seit der Scheidung schwebt Lucy in Gefahr -- jemand hat es auf die abgesehen! Wie es scheint, ist ihr Exmann in kriminelle Machenschaften verstrickt. Trotz dieser brisanten Umstände hat der Cop Tom Warren seine liebe Not, Lucy davon zu überzeugen, dass er für ihren Schutz nur garantieren kann, wenn er bei ihr einzieht. Und Tag und Nacht ein Auge auf sie hat -- natürlich alles rein beruflich, oder?


  • Erscheinungstag: 07.08.2017
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955766924
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Stirnrunzelnd betrachtete Ben Callahan die Tasse aus feinstem chinesischem Porzellan, die auf einem Tablett aus massivem Silber vor ihm stand. Er überlegte, wie er sie anheben sollte, ohne dass sie in tausend Stücke zersprang. Freiwillig hätte er eine derart zerbrechliche Kostbarkeit niemals angefasst. In diesem Fall blieb ihm jedoch keine andere Wahl. Die Dame, die ihm gegenüber auf einem Sofa saß und ihn scharf beobachtete, Mrs. Emma Montgomery, hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht zum Geschäftlichen kommen würde, ehe Ben eine Tasse Tee mit ihr getrunken hatte.

Was in den Köpfen der Reichen vor sich ging, würde Ben wohl auf ewig ein Rätsel bleiben, ganz egal wie oft er mit ihnen zu tun hatte. Er konnte damit leben, aber besonders sympathisch fand er die Vertreter dieser Gesellschaftsschicht nicht. Das lag vielleicht auch daran, dass seine Mutter sich jahrelang als Putzfrau verdingt hatte und am eigenen Leib erfahren musste, wie willkürlich die oberen Zehntausend mit ihren Bediensteten umsprangen.

Ben amüsierte sich oft darüber, dass er sich ausgerechnet in diesen Kreisen einen Namen als Privatdetektiv erworben hatte. Die meisten seiner Auftraggeber hatten wirklich Geld wie Heu und bezahlten seine Honorare, ohne mit der Wimper zu zucken. Er kam ganz gut über die Runden, ja, er konnte sogar genug abzweigen, um seine Mutter in einem gepflegten Seniorenheim unterzubringen.

Gerade saß er wieder einer potenziellen Klientin gegenüber, der er offenbar mit besonderem Nachdruck empfohlen worden war. Sie hatte ihm sogar das Flugticket von New York nach Hampshire, Massachusetts, gezahlt, nur damit sie ihm höchstpersönlich erklären konnte, wozu sie seine Dienste benötigte.

Ben war schon gespannt, was ihn erwartete. Oft versuchten nämlich gerade Kunden, die sich ein ganzes Heer von Detektiven leisten könnten, die Spesenrechnung zu drücken oder sein Honorar zu kürzen. Nicht so Mrs. Montgomery. Sie hatte ihm ein Erfolgshonorar geboten, bei dem es ihm die Sprache verschlagen hatte, und – als wäre das noch nicht Ansporn genug – ihm freie Hand mit den Spesen gewährt.

Für jemanden ihrer Herkunft macht sie einen ganz netten Eindruck, fand Ben. Aber immer noch hatte er keinen Schimmer, was sie dafür von ihm erwartete. Unter den gegebenen Umständen allerdings war ihm das beinahe gleichgültig. Bens Mutter litt an einer unheilbaren Augenkrankheit. In nicht allzu ferner Zeit würde sie erblinden und nicht mehr imstande sein, alleine für sich zu sorgen. Was dann? Natürlich konnte sie in ihrem Wohnheim auch rund um die Uhr betreut werden, nur würde ihn das eine hübsche Stange Geld zusätzlich kosten. Da kam das Honorar, das Mrs. Montgomery zu zahlen bereit war, gerade recht. Und um diesen Preis nahm Ben auch eine altmodische Prozedur wie diese Teezeremonie bereitwillig in Kauf.

Er merkte, dass ihn seine Gastgeberin über den Rand ihrer Tasse hinweg fixierte. Sie schien auf etwas zu warten. Natürlich, der Tee! Schnell hob Ben die Tasse und nippte von der dampfenden Flüssigkeit, die so heiß war, dass er sich die Zunge verbrannte.

Offenbar hatte die alte Dame wirklich nur darauf gewartet. Sie räusperte sich und begann zu sprechen: „Es geht um meine Enkelin. Sie braucht einen Babysitter. Fällt das in Ihr Ressort?“

Beinahe wäre Ben die wertvolle Teetasse doch noch aus den Fingern geglitten. So ein Batzen Geld für einen Babysitter? Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Wie bitte?“

Emma griff sich an die Stirn. „Verzeihen Sie, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Beschützer trifft die Sache besser. Es ist so: Meine Enkelin befindet sich in einer Art Selbstfindungsphase. Deshalb sollen Sie sie beschützen.“

Behutsam stellte Ben seine Tasse auf den Unterteller zurück, ehe er tatsächlich noch Schaden anrichtete. Eines musste er sofort klarstellen: Geld hin oder her, den Babysitter spielte er nicht. „Ich fürchte, da liegt ein Missverständnis vor, Mrs. Montgomery.“

„Bitte nennen Sie mich doch Emma.“ Emma schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Also, Emma, um es vorweg zu sagen: Ich bin Privatdetektiv und nicht der Babysitter für irgendwelche verwöhnten Gören. Wie alt ist Ihre Enkelin denn?“

Statt einer Antwort nahm Emma ein Foto von einem Beistelltisch neben dem Sofa und reichte es ihm. Eine wunderschöne junge Frau mit honigblondem Haar, warmen braunen Augen und einem engelsgleichen Lächeln blickte ihm darauf entgegen. Bens Puls beschleunigte sich. Sie sah genauso aus wie seine Traumprinzessin!

„Eine richtige Schönheit, nicht wahr?“ Emma konnte ihren Stolz nicht verbergen. „Sie wird in ein paar Tagen dreißig.“

Unbehaglich rutschte Ben auf seinem Stuhl herum. In seinem Beruf brachte man es nicht weit ohne gute Menschenkenntnis. Von einem hübschen Gesicht ließ Ben sich nicht so leicht täuschen, und es war ihm bisher immer gelungen, Distanz zu den Menschen zu bewahren, über die er Erkundigungen einzog. Aber diese Frau faszinierte ihn vom ersten Moment an. Ihre Augen blickten dem Betrachter offen entgegen, doch Ben ahnte, dass dahinter Geheimnisse steckten, die nur darauf warteten, entschlüsselt zu werden. Wenn der Auftrag mit ihr zu tun hatte, musste er ihn annehmen, auch wenn ihn eine Stimme in seinem Inneren eindringlich davor warnte.

„Grace ist vor einiger Zeit nach New York gezogen“, erklärte Emma. „Sie lebte bisher vom Einkommen aus einem Fonds, den ihre Eltern für sie angelegt haben. Kein fester Job – kein fester Freund.“ Den letzten Satz betonte sie besonders auffällig und bedachte Ben dabei mit einem merkwürdigen Blick.

Siedend heiß fiel ihm ein, dass sein dunkles Haar dringend einen Schnitt vertragen hätte. Und erst die Stiefel! Hätte er sie bloß mal wieder eingecremt oder wenigstens ordentlich abgebürstet!

„Ich verstehe trotzdem nicht, warum Sie meine Dienste benötigen“, meinte er verlegen.

„Vor Kurzem hat sie aus heiterem Himmel beschlossen, den Fonds nicht mehr anzurühren, sondern aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.“

„Bedrohlich klingt das nicht gerade.“ Im Gegenteil, Grace gefiel Ben immer besser, je mehr er über sie erfuhr.

„Ganz meine Meinung! Wissen Sie, ich habe meine Enkelin zur Selbstständigkeit erzogen, aber Sie sehen ja, wohin das geführt hat! Sie hat Hampshire einfach verlassen. Ich kann sie auch verstehen. Es war höchste Zeit, dass sie sich dem Einfluss ihres tyrannischen Vaters, meines Sohnes, entzieht. Aber …“ Emma lachte bekümmert.

Ben, der befürchtete, dass sie sich noch weiter vom eigentlichen Thema ihrer Unterhaltung entfernen würden, nutzte die kurze Atempause und warf ein: „Sie wollen also, dass ich Grace überrede, wieder nach Hause zu kommen?“

Emma schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn sie sich in New York wohl fühlt. Leider habe ich keine Möglichkeit, das zu beurteilen. Ich höre zwar, es ginge ihr gut, ich solle mir keine Sorgen machen.“ Emma schnaubte empört. „Keine Sorgen, wenn ich weiß, dass Grace mit der Kamera um den Hals durch die Großstadt zieht und vor lauter Fotografieren ihre Umgebung nicht mehr wahrnimmt!“

„Sie ist erwachsen und kann auf sich selbst aufpassen“, warf Ben ein.

„Liest man nicht jeden Tag in der Zeitung von Überfällen auf junge Frauen, gerade in New York? Grace behauptet, sie hätte einen Kurs in Selbstverteidigung belegt, aber ich glaube ihr kein Wort! Seit sie volljährig ist, versucht sie, mich zu schützen, indem sie mir vieles verschweigt. Ich kann Ihnen sagen, das ist Gift für mein angegriffenes Herz.“

Ben nickte stumm. Sein Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, als Ben gerade acht Jahre alt war. Von seinem kleinen Angestelltengehalt hatte er keine Rücklagen gebildet, geschweige denn Vorsorge für einen Unglücksfall getroffen, sodass Ben und seine Mutter mittellos dastanden. Daraufhin musste sich Bens Mutter eine Arbeit suchen. Da sie keinen Beruf erlernt hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als in fremder Leute Häusern zu putzen.

Emmas Stimme holte Ben in die Gegenwart zurück. „Damit wir uns recht verstehen, Mr. Callahan: Ich bin sehr froh, dass Grace endlich auf eigenen Füßen stehen will. Es wurde wirklich Zeit, in ihrem Alter! Ich befürchte nur, dass sie mit der großen Freiheit nicht umgehen kann. Leider ist sie ein Mensch, der sich scheuen würde, um Hilfe zu bitten, wenn sie alleine nicht weiterkommt. Das ist der Grund, warum ich Sie engagieren will, verstehen Sie?“

Bens Gedanken überschlugen sich. Aus Emmas Worten folgerte er, dass diese Grace offenbar zu der Sorte Frauen gehörte, die Probleme magisch anzogen. Fragte sich nur, welche Art von Problemen. Außerdem musste er abwägen, ob er sich wegen möglicher Schwierigkeiten Emmas großzügiges Honorar durch die Lappen gehen lassen sollte.

Nein, ein derartiges Angebot schlug man nicht aus! Er würde den Fall übernehmen. Jeder hat etwas davon, redete er sich ein. Emma kann ruhig schlafen, weil sie weiß, dass das Leben ihrer Enkelin nicht bedroht ist, und ich kann mit dem Geld, das ich für diese Information von ihr erhalte, meine eigenen Probleme lösen.

Emma hatte ihn genau beobachtet und schmunzelte. „In der Hoffnung, dass Sie den Auftrag annehmen, habe ich bereits ein paar Vorkehrungen getroffen. Grace wohnt in einem Apartmenthaus in Murray Hill, ganz in der Nähe der Third Avenue. Ich habe mir die Freiheit genommen, ein wenig mit dem Eigentümer zu plaudern, und erfahren, dass sein Bruder genau gegenüber von Grace lebt. Wie es der Zufall will, muss dieser Bruder für einen Monat geschäftlich ins Ausland, und sein alter Freund – ein gewisser Ben Callahan – hat sich bereit erklärt, die Wohnung bis zu seiner Rückkehr zu hüten. Sehr nett von diesem Mr. Callahan, finden Sie nicht?“ Triumphierend schwenkte sie einen Schlüsselbund vor Bens Augen.

Ben, der von seinen Klienten schon allerhand gewöhnt war und sich eingebildet hatte, gegen jede Art von Überraschung gefeit zu sein, verschlug es die Sprache.

„Sie wissen, dass ich eine eigene Wohnung habe, Emma?“, stieß er nach einer Weile mühsam hervor. Er musste wohl ein ausgesprochen dummes Gesicht dabei gezogen haben, denn Emma lachte hell auf.

„Ich gebe keine Ruhe, ehe ich nicht weiß, dass Grace glücklich, zufrieden und in Sicherheit lebt. Das können Sie nur herausfinden, wenn Sie sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufhalten. Es heißt, dass Sie ein Meister Ihres Faches sind, Ben!“ Sie beugte sich vor und nahm Bens Hand. In ihren Augen lag eine stumme Bitte, die Ben nicht leichtfertig ignorieren konnte.

Insgeheim bewunderte er die Dreistigkeit, mit der Emma ihn manipulierte. Obwohl er wusste, dass sie ihm den sprichwörtlichen Honig ums Maul schmierte, konnte er nicht ablehnen. Was war schon groß dabei, wenn er sich mit der Enkelin anfreundete, damit die Großmutter besänftigt war? Das Honorar für diesen Auftrag käme ausschließlich seiner Mutter zugute, und die hatte sich, weiß Gott, ein paar Annehmlichkeiten verdient.

„Was ist?“, fragte Emma erwartungsvoll.

Noch einmal betrachtete Ben nachdenklich das Foto. Wenn ihm schon beim Anblick eines Fotos der jungen Frau die Knie weich wurden, was würde dann erst geschehen, wenn er ihr leibhaftig gegenüberstand? Vor sich selbst konnte er ruhig zugeben, dass er die Distanz zu diesem Fall eingebüßt hatte, ehe er überhaupt daran arbeitete. Im Grunde musste er das Angebot ablehnen. Nur würde Emma dann im Handumdrehen einen anderen Privatdetektiv beauftragen, Erkundigungen über ihre Enkelin einzuholen. Und das ging Ben aus irgendeinem Grund massiv gegen den Strich.

Was für ein herrlicher Tag! Grace hatte den ganzen Nachmittag im Park zugebracht, immer auf der Suche nach Motiven für den Auftrag, an dem sie zurzeit mit vollem Einsatz arbeitete. Ihre Aushilfstätigkeit in einem Fotostudio füllte sie nicht aus. Passfotos und Porträtaufnahmen hatten wenig mit der Art von Fotografieren zu tun, die sie schätzte. Wirklich als Profi fühlte sie sich erst, wenn sie mit der Kamera bewaffnet im Park umherstreifte. Die Bilder, die sie dort aufnahm, würden über ihre Zukunft entscheiden, deshalb legte sie ihren ganzen Ehrgeiz in diese Streifzüge.

An diesem Tag hatte sie eine Reihe fantastischer Motive vor die Linse bekommen. Sie war sehr zufrieden mit ihrer Leistung. Nicht einmal die endlos lange Schlange vor der Kasse im Supermarkt konnte ihr die Stimmung vermiesen.

Nun stand sie schwer bepackt vor der Tür ihres Apartments und fischte unter mühsamen Verrenkungen nach dem Schlüssel. Sie trug einen weiten Poncho, der so weich war, dass sich der Eingriff der nachträglich eingenähten Tasche jedes Mal aufs Neue ihren tastenden Fingern entzog. Verflixtes Ding, langsam kapierte sie, warum der Schneider sie gewarnt hatte, eine Tasche in den Umhang nähen zu lassen.

Grace betete, dass sie den Schlüssel zu fassen bekäme, ehe sich die Tüten, die ihre Einkäufe enthielten, selbstständig machten. Selber schuld, dachte sie, warum hast du nicht einfach eine Jeansjacke angezogen, wie sie hunderte anderer, vernünftiger Mädchen tragen.

Aber der Poncho war ihr erklärtes Lieblingskleidungsstück. Ihre Großmutter hatte ihn ihr vor langer Zeit geschenkt, damit Grace die Kamera aus dem Haus schmuggeln konnte, ohne dass der Rest der Familie, der weder für sie, geschweige denn für ihre künstlerische Ader Verständnis aufbrachte, etwas bemerkte.

Auch aus diesem Grund war Grace in diese große Stadt in einem anderen Staat geflüchtet. Es war Zeit, dass sie das wirkliche Leben kennenlernte – und die wirkliche Grace Montgomery, sofern es die gab. Leider war es mit dem Umzug alleine nicht getan. Zunächst einmal hatte sich dadurch nämlich nicht viel verändert. Unbewusst suchte Grace wohl doch ständig nach Anerkennung durch ihre Eltern, obwohl sie genau wusste, dass das ein aussichtsloses Unterfangen war. Trotzdem hatte sie zunächst weiterhin vom Geld ihrer Eltern gelebt und sich, gutes Kind, das sie war, auch brav an deren Regeln gehalten.

Aber dann traf sie Catherine, das sympathische Mädchen aus einfachen Verhältnissen, das Grace’ Bruder Logan gegen den erbitterten Widerstand seines Vaters zur Frau nahm. Der Kontakt zu ihrer Schwägerin, einer jungen Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, rüttelte Grace auf und half ihr, sich über ihr Ziel klar zu werden: Sie wollte endlich auf eigenen Füßen stehen.

Wie so oft im Leben kam ihr der Zufall zu Hilfe: Obwohl Grace das Leben, das ihre Eltern führten, weit hinter sich lassen wollte, hielt sie Kontakt zu ihren Schulfreundinnen. Eine von ihnen, Cara Hill, arbeitete für „Chances“, eine Wohlfahrtsorganisation, die sich für Kinder aus sozial schwachen Familien einsetzte. Cara war für die Mitgliederwerbung und das Auftreiben von Spendengeldern zuständig. Zu diesem Zweck plante sie, eine Artikelserie in einer der bekanntesten Illustrierten des Landes zu veröffentlichen. In eindringlichen Texten und mit bewegenden Fotos wollte sie die Notlage der Kinder schildern, um an die Spendenbereitschaft der Leserschaft zu appellieren.

Cara war begeistert, als sie erfuhr, dass Grace Fotografin war. Ohne lange zu fackeln, erteilte sie ihr den Auftrag, Bilder von Kindern aus den ärmeren Vierteln zu machen. Grace war sehr geschmeichelt über Caras bedingungsloses Vertrauen und schwor sich bei ihrer Berufsehre, die Freundin nicht zu enttäuschen.

Es gab einen zweiten Grund, weshalb die Fotos ein Erfolg werden mussten: Die Bilder würden ein breites Publikum erreichen und Grace möglicherweise Chancen eröffnen, von denen sie andernfalls nicht zu träumen gewagt hätte.

Endlich spürte sie das kalte Metall des Wohnungsschlüssels zwischen den Fingern. Doch zu spät: Eine der braunen Einkaufstüten rutschte ihr aus den Händen und ergoss ihren Inhalt auf den Boden. Bestürzt betrachtete Grace die Schweinerei auf dem Korridor und stöhnte bei genauerem Hinsehen entsetzt auf. „Ausgerechnet die Eier!“

„Damit wäre die Party wohl geplatzt“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter Grace. Was für eine Stimme: männlich, aufregend tief und sehr sexy. Bei ihrem Klang überlief Grace eine Gänsehaut, und in ihrem Magen kribbelte es. Sie schloss die Augen, um das Prickeln intensiver genießen zu können. Das musste der neue Nachbar sein, den sie, wann immer sich die Gelegenheit ergab, heimlich vom Fenster aus beobachtete. Er war ihr vom ersten Tag an aufgefallen, als er in einem schwarzen, voll beladenen Mustang vorgefahren war. Da sie der Hausverwalter vorgewarnt hatte, wusste sie, dass es sich um den jungen Mann handeln musste, der vorübergehend in der Nachbarwohnung einziehen würde.

Langsam und bedächtig, um das Durcheinander nicht noch zu verschlimmern, aber auch um ein wenig Zeit zu gewinnen, stellte Grace ihre Tüten und Taschen auf den Boden. Dann erst drehte sie sich um. Er war es tatsächlich. Aus der Nähe betrachtet, stellte Grace fest, war er noch weitaus attraktiver, als sie es aus der Ferne bereits vermutet hatte.

Er lehnte lässig an der Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors. Seine Jeans und das ausgewaschene blaue T-Shirt saßen wie eine zweite Haut an seinem durchtrainierten Körper. Sein Haar war so schwarz, dass es selbst gegen den schmuddelig grauen Farbton, den die Wand im Laufe der Zeit angenommen hatte, deutlich abstach. Es war verstrubbelt und reichte ihm bis auf die Schultern. Am liebsten hätte Grace die Hand ausgestreckt und Ordnung in die rabenschwarze Mähne gebracht.

Aber hallo! Grace stutzte. Wieso interessierst du dich auf einmal für die Frisur eines Kerls? Das ist ja ganz was Neues.

Nun, dieser junge Mann war in mehr als einer Hinsicht außergewöhnlich, ganz anders als die Softies mit manikürten Händen, die Grace von früher kannte. Einen Prachtburschen wie den hier fand man in Hampshire nicht. Einmal mehr gratulierte sich Grace im Stillen zu ihrem Entschluss, nach New York zu ziehen.

Sie hatte wirklich noch keinen Mann getroffen, der sie auf Anhieb so beeindruckte. Er strahlte etwas aus, das eine Seite ansprach, die Grace an sich bislang noch gar nicht entdeckt hatte. Sie spürte, wie sich Gefühle in ihr regten, wie sie sie noch nie empfunden hatte.

Dieser Knabe war gefährlich. Er war ein Bild von einem Kerl und deshalb, das hatte man Grace jahrelang eingebläut, nicht der passende Umgang für eine junge Frau aus gutem Hause. Aber gerade das machte ihn so anziehend.

„Kann ich Ihnen helfen? Ich bin Ben Callahan, Ihr neuer Nachbar.“

Der Klang seiner Stimme riss Grace aus den Gedanken. Automatisch reichte sie ihm die Hand und stellte sich vor, wie man es ihr beigebracht hatte: „Grace Montgomery, sehr erfreut.“ Im gleichen Moment verwünschte sie ihre gute Erziehung. Jetzt hält er mich bestimmt für einen schrecklichen Snob, dachte sie verärgert.

Doch der Neue überging den Patzer, lachte kurz und rau und schüttelte ihre Hand herzlich. „Nett, Sie kennenzulernen.“

Grace wurde es ganz flau im Magen, als sich ihre Finger trafen. Sein Händedruck war warm und fest, aber als sich ihre Handflächen berührten, war es, als spränge ein heißer Funke über. Der junge Mann schien es ebenfalls gespürt zu haben, denn er räusperte sich und ließ Grace’ Hand schnurstracks wieder los und bückte sich nach den Tüten. „Sie werden sehen, das haben wir gleich.“

Beneidenswert, wie schnell er die Fassung wiedergewinnt, fand Grace. Sie selbst brachte zunächst keinen Ton heraus, sondern schüttelte nur abwehrend den Kopf. „Danke, ich schaff das schon“, stammelte sie schließlich. Die Tüten waren im Augenblick wirklich das geringste ihrer Probleme.

„Das glaube ich gerne, aber ich weiß, was sich für einen Gentleman schickt. Besonders“, hier schenkte er Grace ein strahlendes Lächeln, „wenn eine schöne Frau in Not ist.“

Grace hielt immer noch den Schlüssel in der Hand. Ihre Finger zitterten, als sie ihn ins Schloss steckte und aufschloss. Die Nähe dieses Nachbarn beunruhigte sie.

„Wohin mit dem Zeug?“, fragte er jetzt.

„Stellen Sie alles in die Küche.“ Mit einer fahrigen Geste wies Grace ihm den Weg durch den engen Flur in ihre kleine Küche.

Gehorsam deponierte Ben die ganze Ladung, einschließlich der zerbrochenen Eier, auf der Arbeitsplatte. „Echt schade um die Party“, meinte er.

Spielt er auf mein Kaffeekränzchen gestern an? fragte sich Grace. Immer wenn ihr im Rahmen ihres Auftrages für „Chances“ besonders gute Kinderfotos gelangen, machte sie davon Abzüge, die sie den Eltern schenkte. So viel war sie den Leuten schuldig, fand sie. Einmal die Woche trafen sich die Mütter bei einer Tasse Kaffee in ihrer Wohnung, bewunderten die Schnappschüsse und nahmen ihr Exemplar fürs Familienalbum in Empfang.

Aus welchem Grund sollte sich aber ihr Nachbar für das Kommen und Gehen in ihrem Apartment interessieren? Seltsam, aber vielleicht ein gutes Zeichen!

Hastig schüttelte Grace den Kopf. „Von wegen Party! Ich hatte vor, mich ganz gemütlich auf die Couch zu setzen und mich vom Fernseher berieseln zu lassen. Übrigens fürchte ich, dass ich Sie enttäuschen muss. Die große Sause, wie Sie anscheinend vermuten, hat auch gestern hier nicht stattgefunden.“

„Gut zu wissen! Ich dachte nämlich schon, ich hätte die Party meines Lebens verpasst.“ Neugierig sah er sie an.

Grace wurde es ganz heiß unter seinem eindringlichen Blick. „Ihnen ist nichts entgangen, ehrlich.“

Ben lachte hellauf. „Schade, ich hatte mich so auf ein zünftiges Willkommensfest gefreut.“

„Was hatten Sie sich darunter denn vorgestellt?“, fragte Grace.

Ben sah sie überrascht an, dann grinste er. „Ich würde Sie zum Beispiel gerne besser kennenlernen, Grace.“

Das hatte sie von ihrer Neugier. Grace seufzte und atmete dabei den herben Duft ein, der Ben umgab, ein markanter und verführerischer Duft, der sie erregte, ein Duft nach Abenteuer und Gefahr, der so gar nicht in ihr ruhiges und beschauliches Leben zu passen schien.

Nachdenklich betrachtete sie den jungen Mann. Er hatte alles, was sie am anderen Geschlecht faszinierte. Nicht wie die langweiligen Typen, mit denen sie sich früher verabredet hatte, Milchknaben in Anzug und Krawatte, denen mehr daran gelegen war, Grace’ Vater zu beeindrucken, als Grace zu gefallen. Und selbst in New York, wo sie nur mehr eine unter tausenden von gut aussehenden, ungebundenen Frauen war, hatte sie ziemlich bald die Nase voll von Verabredungen. Alle Männer, die sie dank wohlmeinender Freundinnen kennengelernt hatte, hatten sich nämlich als grässliche Nieten entpuppt.

Ben dagegen war nichts weniger als langweilig. Bei ihm stimmte einfach alles, und es wäre ein Jammer, solch ein Musterexemplar seiner Art einfach entwischen zu lassen. Obendrein konnte ihr Privatleben eine Veränderung vertragen. Ob sie überhaupt noch wusste, wie man einen Mann umgarnt? Nun, einen Versuch war dieser Ben Callahan auf jeden Fall wert.

Grace erwiderte sein Lächeln. Seine direkte Art gefiel ihr. Die Typen, die ihre wahren Absichten hinter penetranter Höflichkeit verschleierten, gingen ihr auf den Wecker. Wie erfrischend war da doch ein Mann, der geradeheraus sagte, was er wollte. Er wollte sie kennenlernen. Was nun? Sie konnte ihm ja wohl schlecht verraten, dass sie sich ihrerseits brennend für ihn interessierte.

Ihre Lippen waren ganz trocken geworden, deshalb befeuchtete sie sie mit der Zunge. Überrascht bemerkte sie, wie Bens Blick gebannt jede Bewegung ihrer Zungenspitze verfolgte.

Auch Grace konnte die Augen kaum von Ben abwenden, denn nett anzusehen war ihr Herr Nachbar, ein richtiggehender Adonis. Wenn sie ihn so ansah, fielen ihr Dinge ein, die ihr die Schamesröte auf die Wangen trieben.

Plötzlich senkte er den Blick und kehrte Grace abrupt den Rücken zu, um mit unverhohlener Neugier die Wohnung zu mustern. „Zwei Zimmer, Küche und Bad?“, fragte er. Er hörte sich an wie jemand, der vorhatte, eine Wohnung zu mieten, und Grace fragte sich, ob sie den Flirt von eben nur geträumt hatte.

„Richtig.“

„Sie haben Geschmack, das sieht man.“ Er deutete ins Wohnzimmer, das Grace mit farbenprächtigen Perserteppichen ausgelegt hatte.

„Danke.“ Das Kompliment machte sie verlegen. Sie hatte die Wohnung eingerichtet, als sie noch von ihrem Vermögen lebte, und das konnte man nicht übersehen. Angefangen von den Teppichen über die Möbel bis zu den kostbaren Vasen zeugte alles vom Reichtum ihrer Familie. Aber das musste sie ja ihrem neuen Bekannten nicht gleich auf die Nase binden. Sie hatte ohnehin ihre liebe Not, bei dem Tempo, mit dem er von heißem Flirt zu nichtssagendem Small Talk wechselte, mitzuhalten. Was ging bloß in ihm vor? War er von ihrer ersten Begegnung genauso aufgewühlt wie sie?

„Ich bin leider ziemlich beschäftigt“, meinte Grace befangen und machte sich daran, die Tüten auszupacken. „Es war schön, Sie kennenzulernen, Ben.“

„Ganz meinerseits.“ Ben trat auf sie zu, zögerte kurz, hob dann die Hand und strich sanft über ihre Wange. Grace konnte keinen Muskel rühren, sie stand da wie gelähmt, nur in ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie verstand die Welt nicht mehr. War jetzt wieder Flirten angesagt? Wie auch immer, auf jeden Fall ruhte Bens Hand einen Moment an ihrer Wange, ehe er sie, ebenso überraschend, wieder fallen ließ. Grace hatte den Eindruck, als sei er völlig überwältigt.

„Bis bald, Gracie“, flüsterte er zum Abschied und ging. Grace stand mit hängenden Armen da und sah ihm nach, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Sie war stets eine gehorsame Tochter gewesen. Einmal nur hatte sie sich dem Willen ihres Vaters widersetzt, und es hatte ein Desaster gegeben: Sie hatte sich heimlich aus dem Haus geschlichen, um mit Freunden durch die Kneipen zu bummeln. Ihr Vater hatte Wind von der Sache bekommen und nicht nur Grace Hausarrest aufgebrummt, sondern auch dafür gesorgt, dass ihre Freunde nicht ungestraft davonkamen. Grace war unsterblich blamiert und wurde noch wochenlang von allen Bekannten geschnitten. Sie hatte danach nie wieder aufbegehrt.

Aber jetzt, mit fast dreißig Jahren, trug sie sich wieder mit dem Gedanken an Revolte. Es schien, als hätte ihr das Schicksal in der Gestalt dieses attraktiven Mannes noch einmal die Möglichkeit geboten, sich endgültig von der Familie abzunabeln, und Grace war wild entschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen.

2. Kapitel

Wütend schmetterte Ben die geballte Faust gegen die Wand. War er noch ganz bei Trost? Er hatte die Wirkung, die Grace aus der Nähe auf ihn ausüben würde, total unterschätzt. Dabei hatte er sie doch fünf Tage lang von Weitem observiert, um ganz sicherzugehen. Und nun das! Ich würde Sie gern besser kennenlernen, Grace! Krasser konnte man kaum gegen eine der obersten Regeln seiner Zunft verstoßen, die da lautete: Lass dich nie von deinen Gefühlen leiten!

Er hatte Grace im Korridor abgepasst, weil er sich mit ihr bekannt machen wollte, und schon war es geschehen: Grace hatte ihn schlichtweg überwältigt. Der erste Blick aus ihren funkelnden braunen Augen hatte ihn mit einem Bann belegt. Ihre sanfte Stimme und der betörende Duft ihres Parfüms hatten ausgereicht, um ihn seiner fünf Sinne zu berauben und völlig willenlos zu machen. Als er die Kraft aufgebracht hatte, sich zu verabschieden, war es bereits zu spät. Jetzt stand er fluchend unter der Dusche, doch nicht einmal das eiskalte Wasser konnte die fatalen Folgen seiner ersten Begegnung mit der leibhaftigen Grace Montgomery mildern.

Es war nur ein schwacher Trost, dass er Emma, wenn sie ihn, wie jeden Tag, anrief, um seinen Bericht entgegenzunehmen, heute beachtliche Fortschritte melden konnte. Die Einzelheiten seiner ersten Begegnung mit ihrer Enkelin behielt er lieber für sich. Genauso wenig würde er ihr verraten, dass ihr Detektiv auf dem besten Wege war, sich unrettbar in die Person, der seine Nachforschungen gelten sollten, zu verlieben. Ben legte nämlich großen Wert darauf, dass seine Klienten mit dem Ergebnis seiner Bemühungen zufrieden waren und ihn weiterempfahlen. Ein Flirt mit der Enkelin einer Auftraggeberin passte ganz und gar nicht in sein Konzept.

Immerhin hatte er bereits zahlreiche unverfängliche Informationen gesammelt. Zum Beispiel konnte er fast lückenlos über Grace’ Tagesablauf Auskunft geben. Sie arbeitete in einem Fotostudio in einem der Randbezirke von New York. Ihre Mittagspause verbrachte sie regelmäßig in einem Park in der Nähe des Studios, den sie offenbar auch am Wochenende gerne aufsuchte. Leider grenzte dieser Park an ein ziemlich heruntergekommenes Wohnviertel. Und das bereitete Ben Kopfzerbrechen.

Er war in einer ähnlichen Gegend aufgewachsen und kannte die Gefahren, die dort lauerten, zur Genüge. Die Kerle, die sich da herumtrieben, machten nicht viel Federlesens, wenn eine Frau sie interessierte. Und Grace war unbestreitbar eine ganz außergewöhnlich interessante Frau.

Aber auch diese Bedenken wollte er Emma gegenüber nicht sofort äußern. Sie hatte ein schwaches Herz und musste nach Kräften geschont werden. Zuerst wollte Ben herausfinden, was Grace ausgerechnet in diese zwielichtige Gegend zog. Dann würde er den Auftrag so schnell wie möglich zu den Akten legen und sich Grace aus dem Sinn schlagen. Andernfalls, so fürchtete Ben, würde er womöglich sein Herz an sie verlieren, und dieser Gedanke behagte ihm gar nicht.

Klar, Grace’ Versuch, auf eigenen Füßen zu stehen, verdiente Anerkennung. Aber Ben hätte keinen Cent darauf gewettet, dass sie die Sache bis in die letzte Konsequenz durchziehen würde. Sicher würde sie sich bald nach den Annehmlichkeiten ihres früheren Lebens sehnen. Allein die Wohnung! Die teure Einrichtung des Apartments verriet deutlich, dass sie sich von den alten Lebensgewohnheiten nicht vollständig verabschiedet hatte. Nicht dass sich Ben daran störte. Nur hatte er nicht die Absicht, sich auf eine Sache einzulassen, bei der schon von vornherein feststand, wer am Ende der Dumme war.

Mit schnellen Schritten verließ Grace die düstere U-Bahn-Station. Sie liebte diesen Moment, wenn sie mit der Kamera um den Hals ins Freie trat, die laue Frühlingsluft über ihre Arme streifte und die ersten Sonnenstrahlen warm auf ihre Haut schienen. Endlich frei! Beschwingt lief sie an verfallenen Gebäuden vorbei zum Park. Einer Gruppe von Kindern, die sie von ihren täglichen Besuchen kannte, winkte sie fröhlich zu, und erreichte schließlich hinter einer Kurve ihr Ziel, den Spielplatz, ihren Lieblingsort in diesem Park.

Wie immer in der Mittagspause herrschte auf den Basketballfeldern reges Treiben. Grace blieb einen Moment an dem Zaun stehen, der die Felder abgrenzte, und sah zu. Der dumpfe Aufprall der Bälle auf dem schwarzen Asphalt vermischte sich mit den aufgeregten Rufen der Spieler zu einer bunten Geräuschkulisse. Die Sportler trugen fast ausnahmslos weiße T-Shirts, sodass Grace die jungen Leute kaum auseinanderhalten konnte. Nur ein graues Hemd stach deutlich aus der Menge hervor. Grace kniff die Augen zusammen, um seinen Träger besser auszumachen. Nanu? Das rabenschwarze, schulterlange Haar, die durchtrainierte Gestalt, das konnte doch nur …

Genau in diesem Augenblick rief der Mann, dem ihre Aufmerksamkeit galt, seinen Mitspielern etwas zu, und Grace’ Vermutung bestätigte sich: Da spielte doch tatsächlich ihr neuer Nachbar Ben Callahan in „ihrem“ Park Basketball.

Schnell zückte sie die Kamera. Die Gelegenheit, einen derart attraktiven Mann in Aktion zu fotografieren, durfte sie sich nicht entgehen lassen. Herausfinden, welcher Zufall ihn ausgerechnet hierher verschlagen hatte, konnte sie später immer noch.

Mit geübten Griffen schraubte sie die Schutzkappe vom Objektiv, doch ehe sie auslösen konnte, wurde das Match unterbrochen. Erschöpft ließen sich die Spieler auf den Bänken entlang des Zauns nieder, nur Ben blieb mit einem Jungen unter dem Korb stehen.

Von ihrem schattigen Standort am Rand des Spielfelds aus betrachtete Grace das Bild, das sich ihr bot: Ben stand im gleißenden Sonnenlicht. Er trug graue Shorts, unter denen sich die gut ausgebildeten Muskeln seiner langen Beine zeigten. Mit der Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn – eine typisch männliche Geste, fand Grace, aber auch das Einzige, was er mit dem Rest dieser Gattung gemein hatte. In jeder anderen Hinsicht unterschied er sich von allen Männern, die ihr jemals begegnet waren. Dieser Mann faszinierte sie, und sie nahm sich vor, das, was ihn so speziell machte, auf Film zu bannen.

Er verstand es hervorragend, sich in seine Umgebung einzufügen. Zum Beispiel jetzt: Er hob sich kaum aus der Menge der jugendlichen Basketballspieler auf dem Feld ab. Er war gekleidet wie sie, sprach ihre Sprache, verwendete ihre Gesten. Die Jugendlichen schienen ihn auch durchaus als einen der Ihren zu akzeptieren, obwohl Grace sicher war, ihn noch nie im Park gesehen zu haben. Wer war er, und was tat er hier? Woher kannte er die Kids?

Doch wozu sich den Kopf zerbrechen, Grace war hier, um zu fotografieren. Sie stellte scharf und drückte ab. Wieder und wieder löste sie aus, um jede Bewegung des Spielers einzufangen. Durch ihr Zoom-Objektiv war es, als befände sie sich mitten im Spiel. Ihr Herz raste, als tobte sie selbst übers Spielfeld, und ihr Puls hämmerte im gleichen Takt, wie Ben den Ball dribbelte. Nach wenigen Minuten machte er eine Pause und erklärte seinem Mitspieler einen Spielzug.

Gespannt verfolgte Grace im Sucher das Spiel der Muskeln an Bens Armen und Beinen. Dunkle Flecken zeichneten sich auf seinem T-Shirt ab. Grace fühlte, wie ihr selbst der Schweiß aus allen Poren drang und ihre Bluse auf der Haut klebte. Ihr Atem ging schnell und unregelmäßig, doch ihr Finger drückte wie von selbst auf den Auslöser, bis sie die Kamera schließlich absetzen musste, um nach Atem zu ringen. Zufrieden verriegelte sie die Kamera. Sie hatte fantastische Bilder gemacht, voll Kraft und Schönheit. Allerdings würden diese Fotos niemals veröffentlicht werden, sondern waren für ihr ganz persönliches Album gedacht.

Ben stand immer noch auf dem Spielfeld. Eine Hand auf der Schulter des Jungen, erklärte er eine komplizierte Technik. Welcher Mann fand schon Zeit, um mit den Jugendlichen eines Armenviertels zu trainieren? Ben Callahan war also nicht nur ungemein attraktiv, sondern er besaß auch Verantwortungsgefühl. Er wirkte so aufrichtig und lebendig, ganz anders als die Menschen, die Grace sonst kannte.

In den Kreisen, aus denen sie stammte, galten andere Gesetze. Alles war erlaubt, solange nichts davon nach außen drang. Die Menschen ihrer Umgebung erachteten es als normal, wenn sie ihre Gefühle unterdrückten, ihre Ehepartner betrogen oder gar ihre Kinder vernachlässigten. Daher quälte sich Grace oft mit der Frage, was für ein Mensch sich wohl hinter der Fassade verbarg, die sie selbst nach außen zeigte?

Plötzlich schmunzelte sie. Tief in meinem Inneren schlummert auf jeden Fall eine gehörige Portion Sinnlichkeit, dachte sie, während sie Ben mit Blicken verfolgte. Und ich müsste mich gehörig täuschen, wenn Ben nicht genau der Richtige wäre, um diese Sinnlichkeit aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken. Wenn das nicht überhaupt die Lösung war!

Entschlossen sprang sie auf und betrat das Spielfeld. Als Ben sie bemerkte, warf er dem Jungen den Ball zu. „Üb schon mal den Abwurf. Wir machen gleich weiter“, forderte er ihn auf. Dann wandte er sich an Grace. „Was tun Sie denn hier?“

Seine Stimme klang überrascht, aber Grace meinte auch Ärger herauszuhören. Verwundert zog sie die Augenbrauen hoch. „Das Gleiche könnte ich Sie fragen. Ich komme sehr oft hierher. Und Sie?“

Statt einer Antwort deutete er auf den Fotoapparat. „Warum schleppen Sie denn dieses Ding offen mit sich herum?“

„Ich arbeite. Und was für eine Ausrede haben Sie sich ausgedacht? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich halte es für äußerst merkwürdig, dass wir uns hier über den Weg laufen.“

Ben hielt ihrem Blick stand, ohne die Miene zu verziehen, für Grace ein Zeichen, dass er die Wahrheit sagte. Sie war sich aber bewusst, dass sie ihn nicht gut genug kannte, um sich völlig sicher zu sein.

„Kein Grund zur Aufregung. Ich habe mich halt ein wenig erschrocken, als Sie so plötzlich aufgetaucht sind. Dieses Viertel ist nicht ungefährlich.“ Seine Stimme klang so sanft und einschmeichelnd, dass Grace nicht einmal merkte, wie dürftig seine Erklärung im Grunde war.

„Sicher, es ist nicht die feinste Wohngegend, aber wenigstens trifft man hier Menschen, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen.“ Sie deutete auf ihre Ausrüstung. „Deshalb die Kamera. Ich mache Fotos für einen Spendenaufruf für Kinder aus den ärmeren Vierteln …“ Sie verstummte vor Ärger, weil sie ihm gleich so viel verraten hatte.

„Warum tun Sie das?“, fragte Ben leise. Wieder fiel Grace auf, wie aufregend seine Stimme klang. „Hat es damit zu tun, dass Sie aus einer wohlhabenden Familie stammen?“

Grace horchte auf. „Wie kommen Sie darauf?“ Sie hatte ihre Familie bisher mit keinem Wort erwähnt. Hatte er den Möbeln angesehen, dass sie ein Vermögen gekostet hatten, oder wusste er mehr über sie, als sie ihm erzählt hatte?

Ben lachte, drehte ihr Gesicht zum Licht und tat, als würde er sie genau mustern. Grace’ Wangen wurden glühend heiß. Erstaunlich, welche Kraft die Sonne um diese Jahreszeit bereits hat, redete sie sich ein.

„Ihre Art zu sprechen verrät Sie“, sagte er, „und außerdem sieht man es Ihnen an der Nasenspitze an.“

Grace stöhnte innerlich. Ausgerechnet der Mann, für den sie nicht das verwöhnte reiche Gör sein wollte, hatte sie also von Anfang an durchschaut.

„Woher haben Sie Ihre Menschenkenntnis?“, fragte sie. Ihr wurde fast schwindelig, wenn Ben so nahe bei ihr stand. Der herbe Duft, den er verströmte, raubte ihr den Verstand.

„Die braucht man in meinem Beruf. Ich bin Privatdetektiv.“

Interessant! „Arbeiten Sie gerade an einem Fall?“ Grace warf einen verstohlenen Blick auf den Jugendlichen, den Ben unter seine Fittiche genommen hatte. Hoffentlich war er nicht auf diesen Jungen angesetzt und hatte sich mit ihm angefreundet, um ihn später in Schwierigkeiten zu bringen. Hier im Park stieß man an jeder Ecke auf Jugendliche, die mit Drogen handelten und früher oder später Bekanntschaft mit der Polizei machen würden. Genau diesen jungen Menschen sollte das Geld von „Chances“ zugutekommen.

Das war mit ein Grund, warum Grace sich mit Feuereifer für „Chances“ engagierte: Sie sah darin eine Möglichkeit, ihre Schuldgefühle zu lindern und Wiedergutmachung zu leisten. Ihr war so viel in den Schoß gefallen, während andere sich mit fast gar nichts begnügen mussten.

„Hallo, Grace, Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet!“

Grace schmunzelte. „Aber, aber, lieber Sherlock Holmes: Ich habe Sie zuerst gefragt, aber bisher keine Antwort erhalten. Raus mit der Sprache, dann sehen wir weiter.“

„Okay! Als ich eingezogen bin, habe ich mich beim Hausverwalter erkundigt, in welchen Stadtteilen man sicher ist, und wo man sich besser nicht herumtreibt. Vor diesem Viertel hat er mich besonders gewarnt: hohe Kriminalitätsrate, Drogenhandel, Straßenkinder und so weiter. Das hat mich neugierig gemacht. Wissen Sie, ich bin selbst in so einer Umgebung aufgewachsen. Deshalb zieht es mich in jeder Stadt, in die ich komme, als Erstes in diese Viertel. Ich hab’s geschafft, der Armut zu entkommen, aber ich möchte denen helfen, die noch nicht so weit sind.“

Grace’ Herz tat einen Satz. Das war ja zu schön, um wahr zu sein: Der Mann ihrer Träume war nicht nur unglaublich attraktiv, er hatte obendrein ein Herz aus Gold.

„Jetzt aber zu Ihnen! Wie kommt’s, dass sich ein Mädchen wie Sie mutterseelenallein und schutzlos in dieser verruchten Gegend herumtreibt?“

Grace musste lachen. „Schutzlos? Warum sollte mir jemand etwas antun?“

„Unterschätzen Sie niemals Ihren Wert, Grace.“

Seine Worte jagten Grace einen Schauer über den Rücken. Er hatte ihren wunden Punkt getroffen, denn von jeher war es Grace’ größte Furcht, nicht als Person geachtet zu werden, sondern nur wegen ihres Geldes.

„Wer sieht mich denn schon an, so schlampig, wie ich herumlaufe?“ Sie deutete auf ihre abgewetzte Jeans und das unauffällige T-Shirt. „Ich trage weder Schmuck noch Make-up, nur damit ich keine unnötige Aufmerksamkeit errege“, setzte sie achselzuckend hinzu.

„Aber eine Kamera mit allem möglichen technischen Schnickschnack, die jeder Hehler in Gold aufwiegt. Außerdem sieht man Ihnen, wie gesagt, die Herkunft an der Nasenspitze an.“ Wie zur Bestätigung versetzte ihr Ben bei seinen Worten einen sanften Nasenstüber. Sie empfand die Berührung seiner rauen Hände wie einen Schock, aber zu ihrem eigenen Erstaunen musste sie gleichzeitig daran denken, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn diese Hände ihre Brüste streiften.

Entsetzt räusperte sie sich und sagte verlegen: „Nett, dass Sie sich Gedanken um meine Sicherheit machen, aber ich kann schon auf mich aufpassen. Jetzt muss ich weiter, sonst ist meine Mittagspause vorüber, ohne dass ich ein einziges Foto gemacht habe.“

Zu ihrer großen Erleichterung trat Ben einen Schritt zurück und ließ ihr wieder Raum zum Atmen. „Sie schulden mir immer noch ein paar Antworten, Gracie.“

Aber Grace hatte sich schon abgewandt und steuerte auf den Spielplatz zu. „Keine Angst, ich laufe Ihnen nicht davon“, rief sie über die Schulter hinweg. Ich habe die Absicht, dir sogar noch näher zu kommen, fügte sie im Stillen hinzu.

Kopfschüttelnd blickte Ben hinter ihr her. Der Name passte hervorragend zu ihr, fand er: Grace, die Anmutige. Leider war Anmut in dieser Umgebung eher von Nachteil. Ben hasste diesen und alle anderen Parks, die ihn an seine Jugend erinnerten. Darin hatte er Grace nicht die Wahrheit gesagt. Er hatte den größten Teil seiner Jugend auf einem Basketballplatz in einem Park zugebracht, weil für kostspieligere Hobbys kein Geld vorhanden war. Wenn er den Ball gedribbelt hatte, konnte er für einen Moment vergessen, dass er am Ende des Tages in eine leere Wohnung zurückkehren würde, wo ihn nichts erwartete als das ständige Gekeife der Nachbarn.

Er konnte nachfühlen, was in diesen Jugendlichen vorging. Das war auch der Grund, weshalb er sofort Anschluss an die Basketballmannschaft gefunden hatte. Dieser Leon hatte ihn mächtig beeindruckt. Der Junge war ein echtes Naturtalent. Mit etwas Glück würde ihm seine Begabung eines Tages einen Weg aus den Slums weisen – vorausgesetzt, dass es ihm gelang, die Versuchungen der Straße zu meiden. Ben wollte ihm gerne helfen, solange er in der Gegend zu tun hatte. So würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Während er mit dem Jungen trainierte, konnte er keinen Gedanken an Grace verschwenden.

Ben machte sich ernsthaft Sorgen um die Sicherheit der jungen Frau. So edelmütig ihr Engagement auch war, Ben wurde den Verdacht nicht los, dass gute Taten an Orten wie diesem nicht honoriert wurden. Wo bleibt denn da die Professionalität, fragte er sich beunruhigt und versuchte, sich wieder auf das Spiel zu konzentrieren. Dennoch überrumpelte ihn Leon mit dem ersten Pass. Nur mit einem gekonnten Satz erwischte Ben den Ball und dribbelte über den Platz.

„Bleib cool“, flüsterte er, während er den Ball auf den harten Asphalt prellte. „Lass dich nicht auf etwas ein, das du später bereust.“ Dann setzte er zum Wurf auf den Korb an. Da hörte er einen gellenden Schrei! Die Stimme einer Frau, eine vertraute Stimme!

Bens Magen verkrampfte sich. Er ließ den Ball fallen und stürmte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Bereits nach wenigen Schritten bot sich ihm ein kurioser Anblick.

Grace lieferte sich mit einem jungen Mann von kräftiger Statur ein erbittertes Tauziehen um die Kamera. Sie hatte die Füße fest in den Boden gestemmt und umklammerte wild entschlossen den Gurt, an dem sie die Kamera um den Hals trug. Ganz klein und zerbrechlich wirkte sie neben dem bärenstarken Kerl im roten Sweatshirt, doch sie verteidigte ihre wertvolle Ausrüstung mit dem Mut einer Löwin. Viel hätte nicht gefehlt, und der Angreifer hätte die Kamera mitsamt Grace vom Boden hochgezerrt.

„Lass die Frau sofort los, du Schuft“, brüllte Ben verzweifelt schon von Weitem. Tatsächlich: Der Heranwachsende ließ von seinem Opfer ab und machte sich aus dem Staub. Als er so unerwartet losließ, verlor Grace das Gleichgewicht, fiel nach hinten um und schlug mit dem Kopf auf den Asphalt. Jetzt stand Ben vor der Wahl, den Übeltäter zu verfolgen oder sich um das Opfer zu kümmern. Fast augenblicklich entschied er sich für Grace.

Er kniete neben ihr nieder. „Haben Sie sich wehgetan?“ Bei aller Besorgnis bemerkte er, wie seidig sich ihr Haar anfühlte, als er ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht strich.

Sie lächelte gequält und schüttelte den Kopf. „Sagen Sie jetzt bloß nicht ‚Ich hab’s ja gleich gesagt‘, sonst schrei ich“, warnte sie.

„Keine Angst, Sie wissen’s ohnehin“, antwortete er lächelnd und wollte ihr aufhelfen. Grace zuckte zusammen. Behutsam nahm Ben ihre Hände und untersuchte die Handflächen. Sie waren böse aufgeschürft.

„Sieht übel aus, aber wir werden’s wieder hinkriegen.“ Ben hoffte, dass seine Stimme ganz ruhig klang, auch wenn sich ihm beim Anblick ihrer Verletzungen der Magen umdrehte. Er durfte gar nicht daran denken, was alles hätte passieren können, wenn er nicht in der Nähe gewesen wäre.

Verstohlen wischte sich Grace eine Träne aus den Augen. Ben vermerkte es mit Genugtuung. Vielleicht konnte er sie ja doch überzeugen, dass sie den Park meiden musste, wenn er nicht in der Nähe war, um sie zu beschützen. Vorsichtig half er Grace auf die Beine.

„Die Kamera hätten Sie nicht freiwillig aus den Händen gegeben, oder?“

„Darauf können Sie Gift nehmen. Was glauben Sie, was so ein Gerät kostet. Im Augenblick kann ich es mir nicht leisten, Ersatz zu beschaffen. Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein? Glaubt er, er kann sich einfach nehmen, was ihm gefällt?“

Ihre Naivität amüsierte Ben. „Wie wollten Sie ihn denn daran hindern, sich das zu nehmen, was ihm gefällt?“

„Er hat es ja gar nicht geschafft, mir die Kamera abzunehmen. Falls es zum Schlimmsten gekommen wäre, hätte ich ihm ganz schnell ein Bein gestellt.“

„Der Schurke hätte Ihnen fast den Hals gebrochen.“

„Hat er aber nicht.“ Zum Beweis schob sie die blonde Mähne zur Seite und präsentierte ihm ihren langen, weißen Hals.

So leicht kam sie bei Ben nicht davon. Er zog den Kameragurt über ihren Kopf und erschrak über den Anblick, den ihre Haut an der Stelle bot, wo der Gurt in den Hals eingeschnitten hatte. „Das sieht übel aus, Grace. Haben Sie schon mal daran gedacht, einen Kurs in Selbstverteidigung zu belegen?“

„Schon, leider bin ich noch nicht dazu gekommen.“

Hatte Emma also richtig getippt. Was hatte Grace wohl noch alles erfunden, um die alte Dame zu beruhigen? Und was zum Teufel hatte sie in diesem Elendsviertel wirklich verloren?

Langsam dämmerte Grace, welcher Gefahr sie gerade entronnen war. Sie fiel sichtlich in sich zusammen und zitterte am ganzen Körper. „Ich muss mich wirklich bei Ihnen bedanken, Ben“, stammelte sie, machte kehrt und ging mit schleppenden Schritten davon.

Mit zwei Sätzen hatte Ben sie eingeholt. Er konnte verstehen, dass sie allein sein wollte, aber nach allem, was passiert war, konnte er sie jetzt nicht sich selbst überlassen. Jemand musste ihr doch beistehen, sie trösten, und wer könnte es wohl besser als er selbst, auch wenn ihn das in Teufels Küche bringen mochte.

Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er neben ihr her. Er hatte den Eindruck, dass Grace kein bestimmtes Ziel ansteuerte, sondern einfach in Bewegung bleiben musste. Er wollte bei ihr sein, wenn sie aus ihrem Schock erwachte.

„Wohin gehen Sie?“, fragte er schließlich.

„Zur U-Bahn.“

Oje, ausgerechnet heute war er mit dem Auto in den Park gekommen, um ihr Treffen zufällig aussehen zu lassen.

„In der U-Bahn kann es ganz schön gefährlich werden“, warf er ein.

Grace blieb stehen und sah ihn trotzig an. „Ich habe mich dort aber bisher immer sicher gefühlt.“

„Das Gleiche haben Sie auch von dem Park behauptet. Bitte nehmen Sie doch Vernunft an. Mein Auto steht gleich um die Ecke, ich kann Sie nach Hause fahren.“

Grace zögerte. Erst schien es, als würde sie sein Angebot ernsthaft in Erwägung ziehen, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Das ist nett, aber ich komme auch alleine zurecht.“

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort.“ Ehe Ben wusste, was er tat, hatte er die Hand schon auf Grace’ Wange gelegt, gerade als sie sich zu ihm drehte. Sie stockte, und eine Sekunde lang verharrten sie reglos.

„Sie vergeben sich nichts, wenn Sie gelegentlich die Hilfe anderer annehmen“, murmelte er.

„Ist mir schon klar.“

„Dann wäre jetzt nämlich so eine Gelegenheit. Ich bringe Sie heim, und dann dürfen Sie mich hinauswerfen.“ Ben lächelte zwar, als er das sagte, aber er meinte seine Worte bitterernst. Er wusste, dass ihm die Kraft fehlen würde, von allein zu gehen.

3. Kapitel

Mit zittrigen Fingern kramte Grace die Schlüssel hervor und reichte sie Ben, damit er aufschließen konnte. Insgeheim war sie heilfroh, dass er darauf bestanden hatte, sie nach Hause zu fahren. Die Wunden an ihren Händen brannten höllisch. Sie fühlte sich zerschunden und zerschlagen und hatte nur noch einen Wunsch: sich auf dem Sofa ausstrecken und ausgiebig selbst bemitleiden. Aber die Drohung, die der Angreifer ausgesprochen hatte, ließ ihr keine Ruhe.

„Lass dich hier nie wieder blicken, sonst wirst du es schrecklich bereuen“, hatte der Typ ihr zugeraunt, ehe er vor Ben geflüchtet war. Sein Tonfall hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Im ersten Augenblick war Grace zu Tode erschrocken. Doch allmählich gewann ihr Eigensinn wieder die Oberhand. Von so einem Kerl würde sie sich nicht einschüchtern lassen!

Aber zuerst musste Grace ihre Wunden verarzten und Ben abwimmeln. Ben! Leicht machte er es ihr wirklich nicht. Er wirkte so stark, und die Versuchung, sich von ihm beschützen zu lassen, war groß. Nur hieße das, die hart erkämpfte Unabhängigkeit aufgeben. War er das wert?

Ben hatte inzwischen die Tür geöffnet und ließ Grace den Vortritt. Im Vorbeigehen musterte Grace ihren Begleiter von Neuem. Wie bei ihrer ersten Begegnung war er nachlässig gekleidet und unordentlich frisiert. Trotzdem, er war und blieb der attraktivste Mann, der ihr jemals unter die Augen getreten war.

Zum Teufel mit der Unabhängigkeit, lockte eine zarte Stimme in ihrem Kopf. Ben ist wie geschaffen für dich. Lass dir von ihm helfen, gib ihm das Gefühl, dass er dich beschützt. Dann warte ab, was geschieht!

Warum eigentlich nicht? Bei Ben fühlte sie sich geborgen: Nach dem Überfall hatte er ihr auf die Füße geholfen, den Arm um sie gelegt und sie auf dem Weg zu seinem Wagen gestützt. Seine Fürsorge faszinierte Grace nicht weniger als sein Aussehen.

An so viel Fürsorglichkeit war Grace nicht gewöhnt. Ihr Vater herrschte mit militärischer Strenge über die Familie. Es war verpönt, Gefühle zu zeigen. Jedes Mal, wenn ihre Mutter versucht hatte, Grace in den Arm zu nehmen, hatte ihr Vater sie davon abgehalten, aus Furcht, seine Tochter zu verwöhnen. Seinen Erziehungsmethoden verdankte Grace es auch, dass sie immer noch mit Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen hatte. Nur ihr Bruder Logan und ihre Großmutter hatten ihr die Geborgenheit gegeben, nach der sie sich sehnte.

„Legen Sie die Schlüssel einfach dort drüben auf die Ablage.“ Grace wies auf eine Platte aus geätztem Glas, die ohne sichtbare Befestigung an der Wand zu schweben schien. Die Schlüssel klirrten laut, als Ben sie auf das Glas fallen ließ.

„Verbandmaterial finden Sie in der Küche, in dem Schränkchen links neben der Mikrowelle.“

Grace folgte Ben in die kleine Küche und wartete geduldig, bis er ihren Bestand an Medikamenten durchforstet und eine Flasche Antiseptikum, eine Wundsalbe und ein Päckchen Heftpflaster gefunden hatte.

Schmunzelnd betrachtete er das Päckchen. „Was haben wir denn da? Kinderpflaster? Ernie und Bert höchstpersönlich?“

Grace errötete. „Es gab leider kein anderes mehr, und ich dachte, irgendwas muss man ja für Notfälle im Haus haben“, gestand sie verlegen.

Ben lachte, und Grace bemerkte ein Grübchen auf seiner rechten Wange, das ihr bisher noch nicht aufgefallen war, eine aparte kleine Kuhle in seinem markanten Gesicht. Ohne sich bewusst zu werden, was sie tat, hatte sie schon den Finger ausgestreckt und berührte die Stelle. Bens Haut fühlte sich heiß an, seine Bartstoppeln kratzten.

Überrascht zuckte Ben zurück. „Sie sollten nicht mit dem Feuer spielen, Gracie, sonst …“

„Sonst verbrenn ich mir die Finger?“ Grace blickte ihm fest in die Augen. „Das klingt interessant. Wissen Sie, ich habe lange genug das brave Mädchen gespielt. Warum sollte ich nicht langsam mal ein Wagnis eingehen?“

Es entstand eine peinliche Pause, ehe Ben sich wieder auf den Grund seiner Anwesenheit in Grace’ Küche besann. „Ich muss mir Ihre Hände genau ansehen“, meinte Ben dann etwas zu beflissen. Wenn er Grace’ Wunden verarztete, konnte er sich eine Erwiderung sparen. Denn das, was Grace gerade so freimütig angedeutet hatte, brachte ihn völlig aus der Fassung.

Grace war selbst verblüfft über ihr Verhalten. Jedes Mal, wenn sie mit Ben zusammen war, tat sie die unglaublichsten Dinge. Sie erkannte sich selbst kaum wieder. War das vielleicht die echte Grace? Wenn ja, dann gefiel sie ihr ganz ausgezeichnet.

Grace war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie gar nicht merkte, wie Ben sie hochhob und auf die Theke setzte, die die Küche vom Wohnzimmer trennte.

„Handflächen nach oben, bitte.“

Grace gehorchte. Sorgfältig schrubbte Ben seine Hände unter fließendem Wasser, dann tränkte er ein sauberes Tuch mit der Jodtinktur. Sanft, aber gründlich reinigte er die Wunden. Beim ersten Kontakt mit der scharfen Flüssigkeit war Grace zusammengezuckt, danach aber ließ sie die schmerzhafte Prozedur klaglos über sich ergehen.

„Es scheint, Sie machen so etwas häufiger“, bemerkte Grace.

„Warum fragen Sie denn nicht rundheraus, ob ich jüngere Geschwister habe? Die Antwort lautet Nein“, entgegnete Ben trocken. Er tupfte die überschüssige Flüssigkeit ab und trug die Salbe auf. Mit leichtem Druck massierte er sie in die Haut ein. Es fiel ihm auf, wie zart und gepflegt Grace’ Hände waren, wenn man mal von dem hässlichen Schorf absah, den die unsanfte Berührung mit dem harten Asphalt hinterlassen hatte.

„Haben Sie wenigstens Kinder?“

Autor