×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Am Anfang war das Huhn. Geschichte eines Charaktertiers«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Am Anfang war das Huhn. Geschichte eines Charaktertiers« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Am Anfang war das Huhn. Geschichte eines Charaktertiers

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Willkommen in der wundersamen Welt der Hühner

Das Huhn kann nur wenige Meter weit fliegen, und dennoch hat es als einziger Nachfahre der Dinosaurier die Welt erobert. Auf der Erde leben heute mehr als zwanzig Milliarden Hühner. Auf jeden Menschen kommen drei. Vielleicht verkörpert das Huhn deshalb unser widersprüchliches Verhältnis zu Tieren am besten: Es ist sowohl geliebtes Haustier als auch Produkt einer ausgeuferten Massentierhaltung.

»Am Anfang war das Huhn« erzählt von der jahrtausendealten Beziehung zwischen Mensch und Huhn: von seiner kultischen Verehrung im Alten Ägypten bis zu seinem Einzug in unsere Vorstadtgärten während der Coronapandemie. In allen Epochen waren wir und die Hühner gemeinsam unterwegs. Doch was wissen wir wirklich über unsere eierlegenden Gefährten? Welche Geschichten erzählen uns Rassen wie das uralte Bankivahuhn, der kämpferische Malaie oder das in königlichen Gärten pickende Cochin-Huhn?

Unterhaltsam wie erkenntnisreich bringt uns die Anthropologin Sally Coulthard die schillernde Vielfalt der Hennen und Hähne näher.


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004869

Leseprobe

Widmung

Für Madeleine, Isabella und Emma

Motto

Götter und mehr noch Menschen sind wundersam und wundersamer noch Henne und Hahn.

William Blake (17571827)

Einführung

Es regnet, weswegen die Hühner sehr ungehalten dreinblicken. Sie rücken am Scheunentor zusammen wie missmutige Rentner in einem Bushäuschen. Ihr Federkleid erscheint mir für englisches Wetter denkbar ungeeignet. Der Winter muss auf Geschöpfe, die aus den warmen Wäldern Südostasiens stammen, sehr verstörend wirken. Dennoch versucht unser prächtiger Hahn Andy, die Hennen bei Laune zu halten, indem er wie ein kecker Matrose unermüdlich aufreizend vor ihnen herumtanzt, mit seitlichen Hüpfern, einen Flügel abgespreizt. Auch können nur wenige seiner Damen ihm widerstehen, wenn er sie mit leisem Gackern gewissenhaft auf einen gerade entdeckten Leckerbissen aufmerksam macht.

Den Hahn hat meine jüngste Tochter nach meinem Vater Andrew getauft, einem sehr charakterstarken und freundlichen Menschen. Andy ist bei uns geschlüpft, und ihn per Hand aufzuziehen, fanden wir ein interessantes Projekt. Nutztieren Namen zu geben, ist allerdings fatal, denn wenn die Natur zuschlägt und sie einem eines nach dem anderen wieder wegnimmt, sozusagen als Lektion gegen ihre Bevorzugung, bricht es einem fast immer das Herz. Völlig unerwartet hat Andy sich als unbezähmbar und zugleich ausgesprochen zahm erwiesen. Unser Hof verfügt nun über einen Hahn, der seine Hühnerschar mit selbstloser Tapferkeit beschützt, aber nicht zu stolz ist, um sich auf dem Fenstersims kauernd den Kehllappen kraulen zu lassen. Ich kenne keinen anderen Hahn, den man mütterlich in den Arm nehmen und wiegen kann wie ein moppeliges Baby.

Ich habe in meinem Leben schon Dutzende Hühner besessen, und jedes hatte seinen ganz eigenen Charakter. Wie bei Menschen sind manche besonders erinnerungswürdig und sympathisch. Eine fette Maran-Henne namens Brenda schien die Mädchen ihren eigenen Artgenossinnen vorzuziehen und wich ihnen immer nur kurz von der Seite, um ein schokoladenbraunes Ei zu legen. Eingebunden in die stundenlangen Rollenspiele der Kinder nahm sie an Einladungen zum Tee und Tipi-Abenteuern teil, und ich werde nie vergessen, wie sie auf einem Plastikschlitten über eine schneebedeckte Wiese fuhr und ihm nach dem Anhalten wieder entstieg, um weiter vor sich hin zu picken, als wäre nichts geschehen.

Einmal erbten wir zehn schneeweiße Dorking-Hühner von einer Respekt einflößenden, aber gutherzigen Witwe, die in einem riesigen Landhaus lebte. Wie der Pekinese von Mrs. Pumphrey aus Der Doktor und das liebe Vieh hatten sie nie etwas anderes als Luxus gekannt und legten ihre makellosen weißen Eier nur, wenn sie gerade Lust dazu hatten und man sie mit dem erlesensten Futter versorgte. Doch offenbar verfügten sie aufgrund ihrer behüteten Kindheit über eine robuste Konstitution und wurden erstaunlich alt. Das zehnte Lebensjahr erreichten sie alle, das älteste wurde sogar 13, bevor es wörtlich von der Stange fiel.

Dann gab es da noch Cato, ein hochbegabtes Huhn der Rasse Rhode Island Red, eine Meisterin der Listen, die ständig neue und einfallsreiche Schleichwege in unser Haus fand. Durch offene Fenster und angelehnte Türen schlüpfte sie unbemerkt herein und bediente sich am Hundenapf. Sie konnte sich auch ausgezeichnet verstecken: Öffnete man einen Verschlag oder Schrank, flatterte sie einem plötzlich entgegen. Im Fußraum eines DPD-Lieferwagens schaffte es Cato sogar, einen knappen Kilometer auf der Straße zu unserem Hof zurückzulegen, bis der Fahrer aus dem Augenwinkel eine rote Feder wahrnahm und gezwungen war kehrtzumachen.

Ich halte nicht nur meine eigenen, sondern alle Hühner für ausgesprochen faszinierend. Von allen Tieren verdeutlichen sie wohl am besten, wie eigenartig und oft auch widersprüchlich das Verhältnis von uns Menschen zu anderen Spezies ist. Hühner können sowohl geliebte Haustiere als auch billige Handelsware sein. Sie stehen für das beschauliche Landleben ebenso wie für Massentierhaltung und industrialisierte Nahrungsmittel. Den meisten von uns erscheinen sie irgendwie vertraut, und doch wissen wir kaum etwas über sie. Ihre evolutionäre Vergangenheit steckt voller Überraschungen, ebenso wie ihr Weg aus der freien Natur in den Hühnerstall.

Vom Hahnenkampf zur Fleischerzeugung, vom Versuchstier zum verhätschelten Haustier: Das Huhn musste sich jeder menschlichen Laune beugen. Bedeutende Zivilisationen schätzten es als Opfertier in religiösen Riten, als Festschmaus, zum grausamen Zeitvertreib und als Statussymbol. In seinen diversen Entwicklungsstufen – Ei, Küken, Junghuhn, Henne, Hahn – hat sich dieser Vogel auch als Symbol für menschliche Beziehungen und Gefühle etabliert. Für eine ganze Bandbreite von Emotionen und Situationen nutzen wir Metaphern rund ums Huhn: gluckenhaftes Verhalten, wie ein Hühnerhaufen, Hahn im Korb, aufgeblasener Gockel und so weiter. Auch Religion und Aberglaube haben Hühner ins Rampenlicht gezerrt, ob sie das wollten oder nicht. In verschiedensten Glaubenssystemen stehen Hühner, Eier, Hähne als zentrale Sinnbilder für Wiedergeburt und Unschuld, Fruchtbarkeit, Wachsamkeit oder Schutz.

Auf der Erde gibt es über 20 Milliarden Hühner – damit kommen drei auf jeden Menschen. Ein Geschöpf, das eigentlich nicht sehr weit fliegen kann, hat es irgendwie geschafft, praktisch die ganze Welt zu besiedeln. Nur ein Kontinent, die Antarktis, ist frei von dem Nutzgeflügel. Von den frostigen Steppen Sibiriens bis zu den Falklandinseln mitten im Atlantik – überall scharren Hühner. Die Reise dieses unscheinbaren Vogels um die Welt ist untrennbar verknüpft mit dem menschlichen Entdeckerdrang, mit Wirtschaft, Handel und Ernährung. In allen Epochen waren wir und die Hühner gemeinsam unterwegs.

Darum geht es in diesem Buch.

1.
Überlebende

Die Erben des T. Rex

IMAGE

Das Bankivahuhn

An einem ganz normalen Tag vor 66 Millionen Jahren kam die Welt plötzlich zum Stillstand. Ein Asteroid von der Größe einer ganzen Stadt raste mit vierzigfacher Schallgeschwindigkeit durch die Atmosphäre und schlug auf der Erde ein. Direkt vor der mexikanischen Küste verursachte er eine Explosion, die sieben Milliarden Mal heftiger war als die in Hiroshima, und riss ein Loch von etwa 180 Kilometer Durchmesser in die Erdkruste.

Diese Kollision, die heute als Chicxulub-Impaktor bezeichnet wird, löste auf der gesamten Erdoberfläche Schockwellen aus. Erdbeben und Vulkanausbrüche rissen die Böden auf, Brände vernichteten Wälder, und riesige Tsunamis überschwemmten die Küsten. Die erste gewaltige Erschütterung war jedoch nichts gegen das, was folgte. Die Explosion setzte Milliarden Tonnen Ablagerungen und giftige Gase frei, auch Schwefel und Kohlendioxid, verpestete die Atmosphäre und ließ das Klima verrücktspielen. Drei Viertel aller Lebewesen kamen um. Die 170 Millionen Jahre dauernde Herrschaft der Dinosaurier auf unserem Planeten endete abrupt mit einer Katastrophe.

Jedenfalls fast. Eine Dinosaurierform überlebte das Massenaussterben auf wundersame Weise. Und diese Tiere waren die Vorfahren sämtlicher Vögel, die heute auf der Welt flattern, scharren und watscheln. Falls Sie darüber hinaus die Geschöpfe sehen möchten, die dem monströsen Tyrannosaurus Rex am ähnlichsten sind, dann finden Sie sie auf praktisch jedem Bauernhof beim Scharren: Hühner sind die Dinosaurier, die nicht ausgestorben sind.

IMAGE

1861 erschütterte ein in einem deutschen Steinbruch entdecktes Fossil die Wissenschaftsgemeinde. Das Fundstück, nur so groß wie eine Elster, hätte aus der griechischen Mythologie stammen können: halb Vogel, halb Reptil, ein verblüffendes Mischwesen aus Federn, Flügeln, Klauen, Zähnen und einem knöchernen Schwanz. Nur wenige Jahre zuvor hatte Charles Darwin Über die Entstehung der Arten veröffentlicht und das Auftauchen von missing links vorausgesagt, die noch fehlenden Bindeglieder in der Evolution von einer Spezies zur folgenden. Nun war eine uralte Kreatur als unübersehbarer Beweis für seine Theorie zum Vorschein gekommen. Das Fossil nannte man Archaeopteryx, »alte Flügel«, es markierte mit seinen 147 Millionen Jahren den Beginn des »Zeitalters der Vögel« – der Schlüsselmoment, in dem die Dinosaurier fliegen lernten.

Man geht davon aus, dass Vögel sich aus den Theropoden entwickelt haben, einer Familie der Dinosaurier, zu denen auch der furchterregende T. Rex und der Velociraptor mit seinen sichelförmigen Klauen gehören. Auch wenn sie als fleischfressende Räuber verschrien sind, hatten sie viele Eigenschaften von Vögeln, die sich seit dem Auftreten dieser Familie vor 200 Millionen Jahren nach und nach entwickelt hatten, also lange vor der Existenz des Archaeopteryx. Zu diesen Eigenschaften gehörten das Eierlegen, leichte und hohle Knochen, bewegliche Fußgelenke, der zweifüßige Gang und in einigen Fällen bereits Federn. So war eine Gattung des Tyrannosaurus, der Yutyrannus, offenbar von Kopf bis Fuß gefiedert, während Fossilien des Velociraptor zeigen, dass seine Unterarme mit Federn bestückt waren, sogenannte Protoflügel. Die meisten Paläontologinnen und Paläontologen sind inzwischen überzeugt, dass diese Federn anfangs weniger mit dem Fliegen zu tun hatten, sondern mit der Aufrechterhaltung der Körpertemperatur, ähnlich wie Körperbehaarung. Das daunenartige Federkleid verwandelte sich allmählich in flügelartige Strukturen, die ebenfalls nicht so sehr dem Fliegen als der Balz und dem Drohverhalten dienten. Die meisten der frühen Dinosaurier waren schlicht viel zu groß, um fliegen zu können.

Erst als eine bestimmte Gruppe Theropoden, darunter der Archaeopteryx, vor etwa 150 Millionen Jahren die vorteilhafte Kombination aus gefiederten Flügeln und einer geringeren Körpergröße entwickelte, konnte das Fliegen oder zumindest das Gleiten Realität werden. Und während der Archaeopteryx in der Paläontologie mehr oder weniger übereinstimmend als der erste Vogel betrachtet wird, scheinen in den 80 Millionen Jahren zwischen seinem Auftreten und dem Asteroideneinschlag zahlreiche andere prähistorische Vögel entstanden zu sein, die Seite an Seite mit den Dinosauriern existierten. Allein in den letzten 20 Jahren wurden über 300 neu entdeckte versteinerte Vogelarten benannt, von denen viele noch ihr evolutionäres Erbe im Gepäck haben. Diese winzigen Zähne oder Klauen an den Flügeln belegen den langsamen Übergang von den Reptilien zu den Vögeln. Dass sich die Wissenschaft immer noch mit der Unterscheidung zwischen frühen echten Vögeln und vogelartigen Dinosauriern schwertut, zeigt, wie komplex und langsam diese Entwicklung vonstattengegangen sein muss.

Der Asteroid richtete rund um den Erdball Verheerungen an, der Einschlag und seine Auswirkungen sorgten für die Vernichtung fast aller Pflanzen und Tiere. Auch die entstehenden Vogelarten waren davon betroffen, wenn auch nicht alle – und das ist entscheidend. In der postapokalyptischen Natur entstanden vier unterschiedliche Linien, die Vorfahren aller heute existierenden Vögel: Anseriformes (zu denen die Wasservögel wie Enten, Gänse und Schwäne gehören), Palaeognathae (Vögel, die besser laufen als fliegen, wie Emus und Strauße), Galliformes (Hühnervögel wie Hühner und Fasane) sowie Neoaves (mehr oder weniger der gesamte Rest von Eulen bis zu Kolibris).

Genau weiß niemand, warum einige wenige Vögel den Asteroideneinschlag überlebten, doch gibt es zumindest drei Hypothesen: Eine Theorie zielt auf die Körpergröße ab, sie soll für die Fortexistenz verantwortlich sein, denn sämtliche überlebenden Arten waren nicht größer als Enten. Klein zu sein ist in zweierlei Hinsicht hilfreich: Erstens braucht ein kleines Lebewesen weniger Futter, was in einer verwüsteten Umgebung entscheidend ist. Zweitens brüten die Kleineren schneller, wodurch sich Populationen schneller regenerieren. 1

Die zweite Hypothese lautet, nur die Bodenvögel konnten unter den neuen Bedingungen überleben, während sämtliche Tiere, die beim Futter und zum Unterschlupf auf Wälder angewiesen waren, ausstarben. Einige wenige Vogelarten könnten sich durchgeschlagen haben, indem sie in der Erde oder im Uferbereich nach Nahrung scharrten. Aufgrund von Pollenfunden, Fossilien und Erkenntnissen der modernen Vogelökologie geht die Wissenschaft davon aus, dass diese wenigen überlebenden Bodenvögel sich später weiterentwickelten und wieder sämtliche ökologischen Nischen besiedelten, die aus den Verheerungen entstanden. 2

Die jüngste Entdeckung eines Wonderchicken (Wunderhuhns), das Fossil eines Vogels, der kurz vor dem Massenaussterben gelebt hat, scheint diese Theorie zu bestätigen. Das Wunderhuhn wurde in einem Steinbruch an der niederländisch-belgischen Grenze entdeckt, einer einst von flachem Meer und tropischen Stränden bedeckten Region, und an der Universität Cambridge untersucht. Seine Überreste legen nahe, dass es lange Beine wie ein Wasserläufer besaß, mit dem es an ein Leben an der Küste angepasst war, während der Schädel einen eigenartigen Mix aus Hühner- und Enteneigenschaften aufweist. Diese Entdeckung ist unter anderem deshalb so faszinierend, weil Wonderchicken die gemeinsame Vorfahrin von Galliformes und Anseriformes sein könnte, bevor Hühner und Enten evolutionär getrennte Wege gingen. Ein Gewicht von 400 Gramm und die Vorliebe für ein Leben am Wasser könnten dazu beigetragen haben, dass dieser Vogel dem Schicksal vieler seiner gefiederten Zeitgenossen entging. 3

Die dritte Möglichkeit: Einige Vögel haben vor dem Einschlag eine den Kopf betreffende bahnbrechende Fortentwicklung durchgemacht. Bereits 20 Millionen Jahre vor dem Massenaussterben begannen sie ihre Dinozähne zu verlieren und Schnäbel auszubilden. 4 Mit Letzteren erschlossen sich die Urvögel vielfältigere Nahrungsquellen, darunter Früchte, Insekten und, besonders wichtig, Samen. In der Phase der Nahrungsknappheit nach der Katastrophe wurde diese generalisierte Ernährungsweise noch wichtiger. Manche Forschenden sind überzeugt davon, dass Vögel mit Schnäbeln durch die Fähigkeit, harte Samen und Nüsse zu fressen, ausreichend Futter fanden, bis die Vegetation sich langsam erholt hatte.

Mit großer Wahrscheinlichkeit war es eine Kombination aus all diesen vorteilhaften Eigenschaften, die bestimmten Vogelarten das Überleben sicherten, während so viele andere ausstarben. Beim Futter nicht wählerisch und nicht auf Wälder angewiesen zu sein, mit wenigen Kalorien zurechtzukommen sowie möglicherweise weitere Faktoren befähigten eine kleine Zahl von Vögeln, sich an immer neue Ökosysteme anzupassen. Für sie gab es nach dem Einschlag und seinen Auswirkungen eine schöne neue Welt zu erobern.

IMAGE

Wie passt nun das Huhn in dieses Bild? 2008 machte das Magazin Science eine erstaunliche Entdeckung publik: Forschenden war es gelungen, winzige Mengen nicht fossilisierten Materials im Knochen eines Tyrannosaurus Rex sicherzustellen. Zwar konnte das Labor keine DNA aus der Probe gewinnen, aber Moleküle von Kollagenproteinen. Sie wurden mit Proben von 21 existierenden Lebewesen, darunter Mensch, Schimpanse, Alligator und Lachs, verglichen, woraus die Forschenden einen auf Proteinsequenzen basierenden Stammbaum erstellten. Spezies mit ähnlichen Sequenzen mussten eng verwandt sein, während Unterschiede auf eine frühzeitige Auseinanderentwicklung hinwiesen. Moleküle des T. Rex bestätigten offenbar, was die Paläontologie und Fossilienjäger bereits lange vermutet hatten: Die Vögel stammten von den fleischfressenden Theropoden ab. Noch überraschender war, dass die Proteinsequenz des berühmtesten und gefürchtetsten Dinosauriers aller Zeiten am deutlichsten der des heutigen Huhns ähnelte. 5

Die Studie rief nicht nur Begeisterung, sondern auch Widerspruch hervor: Das Material sei kontaminiert, die wissenschaftlichen Standards nicht erfüllt. Dennoch bestätigte eine neue Untersuchung von 2014 die enge Verbindung von Hühnern und Dinosauriern. An der Universität von Kent verglich man die Chromosomen mehrerer existierender Vögel – darunter Huhn, Truthahn, Pekingente, Zebrafink und Wellensittich – und stellte fest, dass die Chromosomen von Hühnern und Straußen im Vergleich mit ihren Dinosaurieranfängen am wenigsten Veränderungen aufwiesen 6. Die Vögel, die das Massenaussterben überlebten, so nimmt man an, machten in den Jahren unmittelbar danach eine sehr rasche Entwicklung durch. Aus evolutionärer Sicht sozusagen der Jackpot, denn sie konnten sämtliche ökologische Nischen besetzen, sich schnell anpassen und in die schwindelerregende Zahl von über 10 000 Vogelarten diversifizieren, die wir heute kennen. Doch nicht alle Vögel veränderten sich gleich stark. Von allen untersuchten Klassen gehörten die Hühner zu denen, die sich genetisch am wenigsten von ihren Dinosauriervorfahren entfernt haben, trotz Jahrtausenden der Domestizierung und Züchtung.

So haben sich Hühner bei der Erforschung der Evolution der Vögel als sehr tauglich erwiesen. Nicht nur wegen ihrer Gemeinsamkeiten mit den Dinosauriern, sondern auch (und zu ihrem Nachteil), weil sie viel praktischere Versuchstiere sind als ein 100 Kilo wiegender Strauß. Wie ich später zeigen werde, ist die Forschung an Geflügel und dessen hoch technisierte Haltung ein Riesengeschäft, weswegen 2004 das Huhn mit seinem enormen kommerziellen Potenzial der erste Vogel war, dessen Genom entschlüsselt wurde. Die Verwandtschaft mit den Dinosauriern und die leichte Verfügbarkeit haben die Wissenschaft dazu verleitet, die allmähliche Entwicklung von den Theropoden zu den Haushühnern zu analysieren. Umstrittener ist, dass sie durch die Optimierung der Hühnerentwicklung, sowohl beim Embryo als auch beim geschlüpften Tier, ebenso in der Lage zu sein scheint, bestimmte längst verloren geglaubte Dinosauriereigenschaften in unseren unscheinbaren Hühnern zu neuem Leben zu erwecken.

Nehmen wir nur die Fortbewegung – darüber können Fossilien jede Menge verraten. Lange Zeit haben Forschende gerätselt, wie zweibeinige Dinosaurier, zum Beispiel der T. Rex, gelaufen sind. Um die Frage zu beantworten, wurden an den Universitäten von Chile und Chicago nachgebaute Dinosaurierschwänze an Hühnern befestigt und die Ergebnisse gefilmt. 7 Die einem Toilettensauger mit Holzstiel ähnelnden »Schwänze« befestigte man mit Klettstreifen an Küken und tauschte sie alle fünf Tage gegen größere aus, um beim wachsenden Huhn auch den größer werdenden Schwanz eines Theropoden nachzuahmen.

Normalerweise laufen Hühner in gebückter Haltung, mit gewinkelten Knien, den Oberschenkelknochen halten sie fast waagrecht zum Boden, und die Bewegung kommt überwiegend aus dem Kniegelenk. Die Studie konnte zeigen, dass das zusätzliche Gewicht am Hinterteil den Körperschwerpunkt und damit auch den Laufstil der Hühner veränderte. Der Schwanz bewirkte, dass sie sich nicht aus dem Knie bewegten, sondern das gesamte Bein aus der Hüfte heraus nach vorne schwangen – ähnlich wie ein Cowboy –, was auch die Beinhaltung beim Laufen begradigte. Die Gangart des T. Rex war entschlüsselt.

IMAGE

Warum aber verloren Hühner und andere Vögel ihre Dinosaurierschwänze? Kurz gesagt erschwert ein fleischiger Schwanz das Fliegen. Mit der Zeit bildeten sich die Schwänze der Theropoden zu einem Stumpf zurück, und die letzten paar Schwanzwirbel verschmolzen zu einem sogenannten Pygostyl. (Beim Brathuhn wird das fette Gewebe an diesen Knochen als Pfaffenstück bezeichnet.) Auf jeden Fall sind in Hühnern erstaunlicherweise die genetischen Informationen erhalten geblieben, um einen langen dinoartigen Schwanz auszubilden. Hans Larsson, ein Paläontologe der McGill-Universität in Kanada, stellte 2007 fest, dass zwei Tage alte Hühnerembryonen über 16 Wirbel verfügen, neun mehr als das komplett entwickelte Küken beim Schlüpfen. Anders ausgedrückt, haben Hühnerembryonen in der Frühphase ihres Lebens noch Dinosaurierschwänze, deren Wirbel während des Wachstums wieder schwinden. Wenn es ihm gelänge, so dachte Larsson, das genetische Signal zur Rückbildung des Schwanzes auszuschalten, müsste dem Huhn ein reptilienartiger Schwanz wachsen und die Millionen Jahre dauernde Evolution der Vögel zurückgedreht werden können. Noch ist kein Küken mit einem voll entwickelten eidechsenartigen Schwanz geschlüpft, aber Larsson konnte den Hühnerschwanz immerhin schon um volle drei Wirbel verlängern.

Wenn Hühner noch die genetischen Informationen für Dinosaurierschwänze in sich trugen, so die nächste logische Überlegung der Forschenden, konnten sie dann auch andere Eigenschaften dieser Urzeittiere wieder hervorbringen? Die gefiederten Vorfahren der modernen Vögel wie der Archaeopteryx hatten keine Schnäbel, sondern eher Schnauzen. Um zu verstehen, wie sich eine Mundform in eine andere verwandelte, begann eine Forschungsgruppe in den USA, die Gesichtszüge von Hühnerembryonen zu manipulieren, indem sie das besondere Gen-Cluster ausschaltete, das für den Schnabel zuständig ist. Es gelang, einen Hühnerembryo mit einer dinosaurierartigen Schnauze zu erzeugen, der einem kleinen Velociraptor ähnelte. 8 In einer ähnlichen Studie schafften es Forschende, den Embryonen winzige kegel- bis säbelförmige Zähne wachsen zu lassen, wie man sie von Dinosaurierfossilien kannte – es waren also latente Gene vorhanden, die sich aktivieren ließen. 9 Damit war belegt, dass die modernen Vögel zwar ihre Schnauzen und Zähne mit der Zeit verloren hatten, nicht aber die prinzipielle Fähigkeit, sie auszubilden.

In den letzten Jahren hat die »Aktivierung von Atavismen«, die Wiedererweckung uralter Eigenschaften, beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Vorstellung, die Wissenschaft könnte mithilfe eines unscheinbaren Huhns wieder einen Dinosaurier heranzüchten, klingt ein bisschen nach Jurassic Park. Und doch ist das Experimentieren mit den inaktiven Bestandteilen des genetischen Codes unserer Hühner vielleicht ihre größte Chance, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Dinosaurier-DNA erleidet zu schnell Schaden, um sie aus einem Fossil zu extrahieren, und so scheint das Herumdoktern an Hühnern die wissenschaftlich plausibelste Option. Neben früheren Eigenschaften wie Zähnen, Schnauzen und Schwänzen versucht sich die Forschung auch an den genetischen Mechanismen, um die Flügel zu Vorderarmen zurückzuentwickeln, indem sie die genetischen Informationen ausschaltet, die aus den drei »Fingern« der Dinosaurier einen modernen Flügel formen. Ebenso wird die Rückentwicklung von Federn zu Schuppen und von Hühnergliedmaßen in Theropodenbeine und – zehen provoziert. Keines dieser Experimente zielt auch nur entfernt darauf ab, ein lebendes Wesen aus den Hühnerembryonen zu erzeugen, und sollte so etwas doch passieren, dann wird das Huhn dabei eine Hauptrolle spielen. Das Zeitalter der Huhnosaurier steht uns möglicherweise noch bevor.

IMAGE

Eine besonders interessante und zugleich schlüpfrige Frage treibt die Paläontologie im Zusammenhang mit der Vogelevolution um: Wie hat der Hahn seinen Penis verloren? Von den Vögeln, die den Asteroideneinschlag überlebten, haben die Palaeognathae (Strauße und Emus) und Anseriformes (Wasservögel) ausgeprägte Phalli. In der Tat sind die meisten Erpel so gut ausgestattet, dass ihre korkenzieherartigen Penisse die halbe Länge ihres Körpers messen. Der Penis der Argentinischen Ruderente (Oxyura vittata) kann in Einzelfällen etwa so lang wie ihr Körper sein, nämlich über 40 Zentimeter. Die Natur hat sich einen besonderen Scherz erlaubt, als sie ausgerechnet dem Hahn, dessen englisches Wort cock umgangssprachlich für Penis genutzt wird, gar keinen solchen mehr gönnte.

Bei dieser Entmännlichung ist der Hahn allerdings nicht allein. Über 90 Prozent der männlichen Vogelpopulation haben in der Beziehung kaum etwas bis nichts vorzuweisen, obwohl sie alle auf interne Befruchtung angewiesen sind, was bedeutet, dass ihr Sperma in den Körper des Weibchens gelangen muss. Die beiden Geschlechter bedienen sich simpler Genitalöffnungen namens Kloaken, die sie zur Fortpflanzung aneinanderdrücken. Muskelkontraktionen pumpen das Sperma dann in das Weibchen, eine Bewegung, die als »Kloakenkuss« bezeichnet wird. Die Kloake ist dieselbe Öffnung, die auch den Ausscheidungen und dem Eierlegen dient. Ein Forschungsteam unter Leitung von Martin Cohn, Biologe an der University of Florida, hat kürzlich entdeckt, dass im Hühnerei etwas vor sich geht, was die Bildung des Penis unterdrückt. In den ersten acht Tagen seiner Entwicklung wächst dem Embryo ein Penis, ähnlich wie bei der Ente, am neunten Tag kommt dieser Prozess jedoch ins Stocken, und das Genital beginnt wieder zu schrumpfen. Auslöser dafür ist der Anstieg eines Proteins namens BMP4, das die Zellen des Penis absterben lässt. Doch warum verloren die Hühner und so viele andere Vögel ihren Schniedel, während andere – wie Enten und Emus – ihren behielten?

Darüber wird im Augenblick in zwei Richtungen spekuliert: Männliche Vögel mit Penissen, zum Beispiel Enten, setzen oft Gewalt bei der Paarung ein. Jeder, der schon mal Erpel und Enten beobachtet hat, weiß: Das männliche Bedürfnis nach Sex wird derart energisch durchgesetzt, dass das Weibchen dabei gestresst, wenn nicht gar verletzt wird. Sexuelle Nötigung als Paarungsstrategie mag dem Männchen der jeweiligen Spezies Vorteile bringen, da es die Zahl seines Nachwuchses maximiert, doch Weibchen sind etwas wählerischer bei der Auswahl und achten auf Größe, Gesundheit oder Temperament des Partners. Bei Enten und Gänsen hat der Geschlechterkrieg zu einem Kampf der Waffen geführt, in dem die Weibchen komplexe Strategien entwickeln, um die Kopulation zu verhindern, darunter eine bestimmte Form der Vagina, die den unerwünschten Kontakt mit einem langen, ausgeprägten Phallus verhindern kann. Beim Huhn (und vielen anderen Vögeln) hat die Vorliebe für Kooperation statt roher Gewalt bei der Fortpflanzung möglicherweise dazu geführt, dass die Hennen weniger gut ausgestattete Hähne wählten. Somit ging beim Hahn mit der Zeit die Notwendigkeit, einen Penis auszubilden, ganz verloren. 10

Cohn dagegen hat eine andere These: Das Verschwinden des Penis beim Hahn sei ein Kollateralschaden der Weiterentwicklung vom Dinosaurier zum modernen Vogel. Der Phallus könnte sozusagen bei einem Pakt mit dem Teufel verloren gegangen sein, er wurde gegen andere evolutionäre Veränderungen wie den konisch geformten Schnabel oder den Verlust der Zähne eingetauscht, alles Eigenschaften, die ebenfalls mit BMP-Proteinen in Zusammenhang stehen. 11 Die Henne jedenfalls profitiert zweifellos von dem, was dem Hahn abgeht. Das Werben des Hahns ist in den meisten Fällen deutlich behutsamer und damit weit entfernt von der herzlosen Nötigung seiner modernen Verwandten, der Wasser- und flugunfähigen Vögel, als auch ihrer aller gemeinsamen Vorfahren.

Um die Aufmerksamkeit der Henne zu gewinnen, muss der Hahn eine verführerische Performance absolvieren. Üblicherweise beginnt er die Paarung, indem er einen Flügel abspreizt und im Kreis tanzt. Wenn der Henne gefällt, was sie sieht, duckt sie sich zu Boden, damit der Hahn sie besteigen kann. Wenn seine Moves nicht den gewünschten Effekt zeigen, geht er schnell zu Phase zwei über, bei der er einen Futterschrei ausstößt und auf dem Boden herumpickt. Ist eine der beiden Vorgehensweisen erfolgreich, hält sich der Hahn mit seinem Schnabel an den Halsfedern der Henne fest, steigt auf ihren Rücken und senkt den Schwanz, damit die zwei Kloaken aufeinandertreffen (der Hahn »tritt« die Henne, heißt es im Deutschen fachsprachlich). Ein paar zerzauste Federn später ist alles erledigt, und die Beteiligten widmen sich wieder dem Scharren.

Interessanterweise könnte das aggressive Sexualverhalten der Vorfahren des Hahns, das wie viele andere Eigenschaften im Lauf der Evolution »ausgeschaltet« wurde, nach wie vor in seinen Genen lauern. Studien an den Küken von Masthähnchen (siehe Kap. 7) haben ergeben, dass einige Hähne ihren verführerischen Tanz aufgeben und, noch schlimmer, zu erzwungenem Sex zurückkehren. Ohne das Werbungsritual sind die Hennen den Gewaltattacken der Männchen ausgesetzt – fliehen sie, werden sie von den offenbar hyperaggressiven Hähnen verletzt oder zu Tode gekratzt. Ian Duncan, emeritierter Professor für Tierwohl an der University of Guelph (Ontario), vermutet, die intensive genetische Auslese in der industriellen Geflügelzucht nach Kriterien wie »möglichst viel Brustfleisch« oder »schnelles Wachstum« könnte ungewollt dazu führen, dass auch Gene für das Paarungsverhalten beeinflusst werden. 12 Je fetter der Vogel, so scheint es, desto weniger galant sein Verhalten.

IMAGE

Mithilfe des Huhns können wir nicht nur weit in die Vergangenheit blicken, um die Gemeinsamkeiten zwischen Vögeln und Dinosauriern zu erforschen, es lohnt sich auch, herauszufinden in welcher Hinsicht das Huhn ausgeschert ist und zu dem besonderen Vogel von heute wurde. Wie wir bereits wissen, gehört es zur Ordnung der Hühnervögel (Galliformes). Eine große und faszinierende Ordnung, zu der so unterschiedliche Gattungen wie Truthahn, Schneehuhn oder Pfau gehören, die jedoch alle eine Reihe von Eigenschaften teilen. Die meisten Hühnervögel haben eher plumpe Körper mit kurzen Flügeln. Sie sind weniger ans Fliegen als an ein Leben am Boden angepasst, sie scharren in der Erde und haben dafür stämmige Beine und starke Füße mit vier Zehen (einige Hühnerrassen auch fünf). Hühnervögel können unterschiedlich gut fliegen, fliegen aber selten sehr weit und sind auch keine Zugvögel. Die meisten bewegen sich gehend fort, können aber sehr schnell, kurz und fast senkrecht hochflattern, um zu fliehen oder einen nächtlichen Ruheplatz zu erreichen. Man kennt das Flattern und Gleiten von einem aus der Deckung aufgescheuchten Fasan. Sich in der Luft aufzuhalten, wird häufig als die ausschlaggebende Eigenschaft von Vögeln gehalten, obwohl viele Arten wie eben das Huhn nicht besonders gut fliegen können – manche, wie Pinguine, auch gar nicht.

Wird die gesamte Ordnung »Hühnervögel« als Baum dargestellt, bilden die Fasanenartigen (Phasianidae) den größten Zweig. Die gesamte Gruppe liest sich wie die Wildvorratskammer des englischen Landadels: Wachtel, Fasan, Moorhuhn, Rebhuhn. Es gehören dazu jedoch auch die Kammhühner, Phasianus gallus, eine sehr prächtige exotische Vogelfamilie, die wild in den warmen Wäldern Südostasiens, Indiens, Sri Lankas und Bangladeschs lebt. Es gibt vier Arten, das graue Sonnerathuhn (Gallus sonneratii), das Gabelschwanzhuhn oder Grüne Kammhuhn (Gallus varius), das in Sri Lanka beheimatete Ceylonhuhn (auch Lafayettehuhn oder Gelbes Kammhuhn, Gallus lafayettii) und das Bankivahuhn (Gallus gallus). Die gesamte Familie ähnelt einer Kreuzung aus besonders hübschen Hühnern mit den scheuen Fasanen. Die Männchen schillern in allen Regenbogenfarben, haben schlanke Körper, buschige, glänzend petrolfarbige Schwanzfedern und leuchtend rote Kämme. Und wie bei den Fasanen sind die Weibchen kleiner und unauffälliger gefärbt, die perfekte Tarnung für die auf gute Verstecke angewiesenen Bodenbrüter.

Lange bevor moderne DNA-Analysen möglich wurden, bemühten sich frühe Naturforscher bereits, die wahren Vorfahren des Haushuhns zu ermitteln. Die Ähnlichkeiten zwischen den asiatischen Kammhühnern und unseren zahmen Eierlieferanten waren zwar unbestreitbar, doch wie eng sie verwandt waren, blieb unklar. Darüber hinaus verfügten auch die unterschiedlichen Haushuhnrassen über eine große Vielfalt beim Federkleid, den Farben, der Körpergröße, der Schwanzform und anderen äußeren Eigenschaften, was außerdem für Verwirrung sorgte. Hatten alle diese Hühner einen gemeinsamen Vorfahren oder viele verschiedene, die aus unterschiedlichen Regionen stammten? Mit dieser Frage schlug sich im späten 18. Jahrhundert Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, einer der bedeutendsten Naturforscher der Aufklärung, herum. Das Geheimnis des »Haushahns« war nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht interessant, es war für ihn auch eine Frage des persönlichen Ehrgeizes: »Obgleich dieser Vogel«, so schrieb er in seiner Naturgeschichte der Vögel, »unter dem häuslichen Federvieh einer der gemeinsten ist, so mögen ihn doch vielleicht viele nicht genug kennen […] Der Haushahn ist aber nicht allein den meisten Menschen noch ziemlich unbekannt, sondern auch noch immer für die methodischen Naturalisten ein Stein des Anstoßes, besonders für diejenigen, die einen Gegenstand nicht eher zu kennen glauben, als wenn sie für ihn erst eine Stelle in ihren Klassen und Geschlechtern fest gesetzt haben.« 13

Die vielen unterschiedlichen »ausländischen Züchtungen«, auf die er durch Sammler und die lebhaften Schilderungen von Reisenden aufmerksam wurde, verblüfften ihn. Hühner mit so exotischen Namen wie »kleines javanisches Zwerghuhn«, »Straubhahn« und »japanisches Huhn« hatten so viele unterschiedliche Kennzeichen, dass er sich nur schwer vorstellen konnte, sie wären alle auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückzuführen. »Wie soll man aus dieser immensen Zahl von Züchtungen des Stamms der Hühnervögel bloß die ursprüngliche Abstammung bestimmen?«, notierte er reichlich verzweifelt. »Wie läßt sich aber bey so einer großen Menge von unterschiedenen Arten, welche das Hünergeschlecht uns zeiget, richtig entscheiden, welches wohl die ursprüngliche Stammart seyn mögte? Wie vielerley Umstände haben auf diese Verschiedenheiten ihren Einfluß gehabt! Wie viel Zufälligkeiten haben zu ihrer Entstehung das Ihrige beygetragen! Die Bemühungen und sogar der Eigensinn der Menschen haben sie dermaßen vervielfältigt, daß es ungemein schwer scheinet, bis auf ihren ersten Ursprung zurük zu gehen […]« 14

Nach einiger Überlegung entschied sich Buffon für eine polyphyletische Abstammung, also von mehr als einer Stammform. Haushühner, so schloss er, mussten viele Vorfahren gehabt haben, denn aus nur einer Spezies konnten unmöglich sowohl der nur taubengroße »Englische Hahn« und ein Zehnpfünder wie der »Paduanische Hahn« hervorgegangen sein. 1813 kam der holländische Zoologe Coenraad Jacob Temminck zum gleichen Ergebnis und stellte die These auf, dass sämtliches Hausgeflügel von sechs unterschiedlichen Wildrassen abstamme, eine Ansicht, die noch zwei Jahrzehnte später die bedeutenden Naturwissenschaftler Georges Cuvier und René Primevère Lesson teilten.

Häufig wird Charles Darwin als der erste Wissenschaftler bezeichnet, der die polyphyletische Theorie verwarf und alle Hühner auf eine Art zurückführte: das Bankivahuhn. Tatsächlich jedoch gebührt diese Ehre Edward Blyth, einem weniger bekannten englischen Zoologen, der einen großen Teil seines Erwachsenenlebens in Indien als schlecht bezahlter Kurator des Museums der Royal Asiatic Society of Bengal verbrachte. Exotische Vögel faszinierten ihn ganz besonders, eine Leidenschaft, die ihm später den Beinamen »Vater der indischen Ornithologie« einbrachte, doch auch die Ursprünge des domestizierten Huhns weckten sein Interesse.

In der Rezension eines Aufsatzes eines Kollegen über die Vögel Kalkuttas verkündete Blyth 1847 selbstbewusst, das »bengalische Huhn«, damals gängiger Name für das Bankivahuhn, sei »ohne Zweifel die ausschließliche Stammform aller verbreiteter domestizierter Geflügelrassen«. Eine höchst kühne Behauptung, vor allem angesichts der Tatsache, dass Blyth sich ausschließlich auf Beobachtungen stützte. »Wie unterschiedlich sie auch alle aussehen mögen, die Seidenhühner aus China, das riesige Chittagong-Huhn oder die federfüßigen Bantams aus Burma und so weiter, ihre Stimme verrät sofort und unmissverständlich ihren Ursprung […] abgesehen davon, dass wir ununterbrochen den gewöhnlichen häuslichen Hähnen begegnen, die dem wilden Vogel in jeder einzelnen Feder gleichen.« 15 Blyth war der Ansicht, die Unterschiede zwischen den Haushuhnrassen könnten der Einmischung des Menschen zugeschrieben werden oder, wie Buffon es ausgedrückt hatte, seinem »Eigensinn«. Man dürfe sich sicher sein, so Blyth vier Jahre später, dass es »Seidenhühner, federfüßige Hühner oder Hühner mit Hauben, Schwarzhühner oder riesige Strupphühner nicht wild gibt«. 16

In den folgenden Jahren wechselten Darwin und Blyth sehr herzliche Briefe. 1855 bekräftigte Blyth in einem Schreiben an seinen gelehrten Freund die Behauptung, das Bankivahuhn »entspreche im Prinzip dem Typus des Hausgeflügels in allen seinen Ausprägungen, genau wie die Wildente der Hausente oder der wilde dem zahmen Truthahn«. 17 Als Darwin 1859 Über die Entstehung der Arten veröffentlichte, nannte er ausdrücklich Blyth als den Urheber der Idee, dass alle »Geflügelzüchtungen aus den verbreiteten wilden indischen Vögeln hervorgegangen sind«. Doch kaum war das Buch in Druck, vollzog Darwin eine spektakuläre Kehrtwende und stellte seine eigenen Aussagen infrage. Insbesondere zweifeln ließ ihn die Existenz von »Riesenhühnern«. Diese ausgesprochen großen Züchtungen waren von Händlern seit dem frühen 17. Jahrhundert beschrieben worden. Tote Tiere hatte er im Britischen Museum untersucht. Gallus giganteus, mit starken Beinmuskeln und langem Hals mehr als doppelt so groß wie das durchschnittliche Haushuhn, sodass es angeblich Körner von der Oberseite eines Bierfasses picken konnte, ließ Darwin zur These der mehreren Vorfahren – möglicherweise unentdeckt oder ausgestorben – zurückkehren, die Blyths Theorie ins Wanken bringen konnte.

Zum Glück revidierte Darwin 1868 mit der Veröffentlichung von Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation seine Meinung. Dank einer stringenten Mischung aus vergleichenden Analysen von Vogelskeletten und Kreuzungen zwischen seinen eigenen Hühnern schloss Darwin, Haushühner, selbst die dicksten Brummer, »scheinen alle auf unabhängigen und verschiedenen Wegen von einem einzelnen Typus ausgegangen zu sein«. 18 Nicht unerhebliche Unterstützung bekam er bei seinen Untersuchungen von seinem Freund William Tegetmeier, ebenfalls Naturforscher und erfahrener Geflügelzüchter. Darwin war ebenso davon überzeugt, das Bankivahuhn sei dieser einzige Vorfahre, da dessen Kreuzung mit Haushühnern gesunde Nachkommen hervorbrachte, während Küken, die aus Kreuzungen von Haushuhn und anderen Kammhühnern hervorgingen, meist unfruchtbar waren. »Nach der äuszerst groszen Ähnlichkeit […] in Färbung, allgemeinem Bau und besonders in der Stimme, nach der Fruchtbarkeit beider bei der Kreuzung, soweit diese ermittelt worden ist […] können wir dieselbe zuverlässig als die Eltern-Form der am meisten typischen aller domesticirten Rassen […] ansehen.« 19

Trotz seiner Schlussfolgerung ging die Debatte weiter. Die Forschung sprang während des späten 19. bis ins 20. Jahrhundert noch häufig zwischen Theorien eines einzigen und vieler Vorfahren hin und her. Eine definitive Antwort konnte in der Tat erst in den späten 1990er-Jahren aufgrund nun möglicher genetischer Analysen gegeben werden. Durch den Vergleich der DNA von Haushühnern und wilden Hühnern konnte deren Verwandtschaft bestätigt und das Bankivahuhn als der Hauptvorfahre aller modernen Züchtungen bestimmt werden. 20 Doch wie das mit Stammbäumen nun mal so ist, wird es mit jeder weiteren Generation komplizierter. Neuere Studien haben gezeigt, dass das Bankivahuhn zwar die »Großmutter« aller modernen Hühner ist, andere Arten von Kammhühnern durch spätere Kreuzungen von wilden und domestizierten Populationen aber ebenfalls Genmaterial zum modernen Hausgeflügel beigesteuert haben.

So weisen einige Hühnerrassen, die in der westlichen Welt sowohl zur Eier- als auch zur Fleischproduktion gehalten werden, gelbe Haut unter den Federn und gelbe Beine auf. Das Bankivahuhn verfügt dagegen nur über genetische Informationen für weiße Haut. Als die Forschenden sich auf die Suche nach dem Gelbgen machten, fanden sie es überraschenderweise in der DNA des Sonnerathuhns. Bankiva- und Sonnerathuhn sind unterschiedliche Arten und paaren sich in der freien Natur nicht, woraus die Forschenden folgerten, das Sonnerathuhn könne seine Gene für gelbe Haut erst beigesteuert haben, nachdem der Mensch mit der Domestizierung der Hühner begonnen und unterschiedliche Arten von Kammhühnern und ihre hybriden Nachfahren gemeinsam gehalten hatte. 21

IMAGE

Auch wenn die Diskussion über die genetischen Vorfahren damit beendet war, blieb noch die Frage nach Ort und Zeit der Domestizierung des Vogels. Die Unsicherheit basierte unter anderem darauf, dass es vor der Möglichkeit verlässlicher genetischer Analysen extrem schwierig war, bei archäologischen Funden zwischen den Wildformen und dem modernen Huhn zu unterscheiden. Bankivahühner (Gallus gallus) und Haushühner (Gallus gallus domesticus) sind sich sehr ähnlich, und die wenigen Unterschiede sind anhand eines Häufchens staubiger Knochen kaum zu erkennen. Die wissenschaftlichen Standardkriterien für ein Wildhuhn im Vergleich zum Haushuhn sind unter anderem horizontale Schwanzfedern (statt des keck nach oben stehenden Schwanzes), das Fehlen eines Kamms bei den Hennen und die jährliche Mauser der Hähne, die von Juni bis September ein Ruhekleid tragen, bei dem die goldenen Halsfedern durch mattere ersetzt werden und die langen Schwanzfedern ausfallen. Den Haushühnern ist diese Eigenschaft irgendwann verloren gegangen.

Wildhühner haben eine andere Herdendynamik, eine kürzere Brutsaison und einen anderen Schrei – alles Kennzeichen, die der Archäologie entgehen. Im Gegensatz zu den stabileren Skeletten von größeren Nutztieren wie Pferden oder Kühen sind Geflügelknochen seltener Bestandteil archäologischer Überlieferung, auch weil sie von Aasfressern fortgeschleppt werden. Werden doch Knochen gefunden, lassen sie sich oft nur schwer von anderen ähnlichen Arten unterscheiden. In den späten 1980er-Jahren wurden bei einer archäologischen Grabung in China 8000 Jahre alte Knochen entdeckt, die stark an Hühner erinnerten, und so jubelte man anfangs über die vermeintliche Klärung des Beginns der Hühnerhaltung. Spätere Analysen zeigten dann bedauerlicherweise, dass es sich um Fasanenknochen handelte. 22

Jedoch ändert sich bei der Domestizierung nicht nur das Verhalten der Tiere. Der Prozess der Selektion und Züchtung gemäß den für den Menschen nützlichen Eigenschaften beeinflusst aktiv die Genetik der jeweiligen Art – die Haltung von Tieren hinterlässt also Spuren in den Genen. Doch nur durch die präzise Analyse der winzigen Unterschiede in den Gensequenzen von Wildhuhn und modernem Haushuhn kann die Wissenschaft den Zeitpunkt bestimmen, zu dem sich eine Art aus einer anderen entwickelt hat. Ein großes internationales Forschungsteam schaffte es erst kürzlich, über 800 Genome zu sammeln und zu entschlüsseln, darunter Proben von Haushühnern und allen vier Wildhuhnarten. 23 Die Untersuchung ergab, dass die Stammform aller modernen Haushühner eine Subspezies des Bankivahuhns war. Die Heimat des Burma-Bankivahuhns (Gallus gallus spadiceus) umfasst das südwestliche China, das nördliche Thailand und Myanmar. Die Domestizierung begann den Untersuchungen gemäß irgendwann vor 12500 bis 6000 Jahren. Somit ist es endlich gelungen herauszufinden, seit wann das Schicksal der Wildhühner und Menschen untrennbar miteinander verknüpft ist, was beide Arten in unerwartete und häufig auch schwierige Situationen brachte.

Die Methoden, mit denen die Menschen das scheue Wildhuhn zähmten, sind allerdings noch nicht endgültig geklärt. Man geht davon aus, dass die Anfänge der Landwirtschaft und die Domestizierung von Tieren sich wechselseitig bedingten – es scheint logisch, dass Menschen erst Tiere hielten, als sie das Jagen und Sammeln aufgegeben und sich einen festen Standort gesucht hatten, an dem sie Nutzpflanzen anbauten. Das Timing bei den Hühnern ist trotzdem eigenartig. Die Hinweise auf eine Frühform der Landwirtschaft in Südostasien – in dem Fall der Anbau von Hirse und Reis – stammen erst von etwa 2000 vor Christus, also mindestens 2000 Jahre zu spät für die Domestizierung des Huhns.

Möglicherweise war die erste Beziehung zwischen Wildhuhn und Mensch keine von Nahrungsquelle und Landwirt, sondern von Haustier und Besitzer. Haustiere werden oft für ein modernes Phänomen gehalten, ein Luxus, den man sich erst leistete, als man freie Zeit und Geld übrig hatte, doch der Mensch hat Tiere von Beginn an als Gefährten gehalten. Als die europäischen Eroberer in weiten, unberührten Landschaften auf indigene Gemeinschaften stießen, die noch immer ein Leben als Jäger und Sammler führten wie vor Jahrtausenden, stellten sie erstaunt fest, dass diese zugleich Tiere hielten, die nicht der Ernährung dienten. Ob Dingos und Wallabys in Australien oder Wölfe, Elche und Bären in Nordamerika, überall »versorgten« Menschen verschiedenste Tiere aus reinem Vergnügen. In Polynesien und Mikronesien hielt man Hunde, Tauben, Papageien und Flughunde, 24 während in Südamerika, insbesondere im Amazonasbecken, der englische Abenteurer und Naturforscher Henry Walter Bates mindestens 22 Tierarten notierte, die zahm in menschlicher Gemeinschaft lebten, darunter Hirsche, Tapire, Affen, Faultiere, Beutelratten, Füchse, Nasenbären, Ozelots und Jaguare. 25 Auch Vögel waren geschätzte Haustiere, besonders solche, die schön sangen oder – wie die Kammhühner – ein leuchtend buntes Federkleid aufwiesen. Die Domestizierung von Tieren war offensichtlich doch nicht an ein sesshaftes Leben mit Landwirtschaft gebunden.

Die überaus scheuen wilden Kammhühner haben einen Charakterzug, den sich die Menschen womöglich zunutze machten: Nestflüchter – Vögel, die vom Moment des Schlüpfens an laufen und sich selbst mit Futter versorgen können – bewegen sich auch häufig von ihren Müttern fort. Die Prägung (die Bindung eines Kükens an das erste Wesen, das sie sehen) sorgt dafür, dass es in der Nähe seiner Eltern bleibt und von ihnen neue Verhaltensweisen erlernt. Küken von Hausgeflügel sind dafür bekannt, sich auch von anderen Tieren, von Menschen oder sogar unbelebten Objekten prägen zu lassen. In den 1950er-Jahren beobachtete der Zoologe Nicholas Collias, dass in malaysischen Dörfern »sehr häufig alle möglichen Haustiere inklusive Kammhühner gehalten werden, und vielleicht stand diese Gewohnheit am Beginn der Domestizierung. Am Tag des Schlüpfens haben die Küken von Hausgeflügel die starke Tendenz, jedem größeren bewegten Objekt, auch einer Person, zu folgen, vor allem, wenn diese spricht oder wiederholt leise, kurze Laute ausstößt.« Zurück in Amerika wiederholte Collias diesen Vorgang mit einem in Gefangenschaft frisch geschlüpften Bankivahuhn. 26 Der Fotograf Ernest Herbert Newton Lowther, der 1949 in Indien lebte und arbeitete, dokumentierte ebenfalls zwei Bankivahuhnküken, die direkt nach dem Schlüpfen ihren menschlichen »Eltern« folgten.

Auch wenn das Phänomen der Prägung es dem Menschen möglich machte, den wilden Kammhühnern näher zu kommen, war das erst der halbe Weg bis zur Domestizierung. Ethnografische Untersuchungen dokumentierten in der Mitte des 20. Jahrhunderts indigene Gruppen auf der malaysischen Halbinsel und im Westen Thailands, die Wildhühnern die Eier wegnahmen und selbst ausbrüteten. 27 Allerdings lief ein Großteil dieser Wildhühner als ausgewachsene Vögel wieder zurück in den Dschungel und schloss sich den Artgenossen an. Nur wenige, die sich an der Nähe zu den Menschen nicht zu stören schienen, blieben. Die Domestizierung des Bankivahuhns war deshalb vermutlich nicht nur eine Frage der Prägung von Küken oder der Haltung von Wildvögeln. Wilde Tiere, die gegen ihren Willen in Gefangenschaft gehalten werden – ob angebunden oder in einen Käfig gesperrt –, gedeihen in der Regel nicht. Die Evolutionsbiologie vermutet seit Langem, dass eine »Reduzierung der Angst« der entscheidende Schlüssel ist, um aus einem Wildtier ein Haustier zu machen, das langfristig überlebt. Mit anderen Worten, es braucht eine genetische Disposition, den menschlichen Kontakt zu tolerieren.

Diese Theorie wurde in einem Laborversuch der Universität Linköping bestätigt. Dort wurden Bankivahühner über sieben Generationen hinweg nach dem Kriterium selektiert, wie ängstlich sie auf Menschen reagierten. 28 Das Team brütete Hunderte Küken von etwa 60 Bankivapaaren aus. Jede Folgegeneration wurde in zwei Gruppen geteilt, je nachdem, wie gut sie mit der menschlichen Betreuung zurechtkamen. Schnell stellte sich heraus, dass die Hühner, die man aufgrund ihrer geringen Furchtsamkeit ausgewählt hatte, auch Nachkommen bekamen, die weniger furchtsam auf Menschen reagierten – die Eigenschaft war offensichtlich erblich.

Noch interessanter war allerdings, dass die Küken der furchtlosen Bankivahühner nach und nach neue Eigenschaften entwickelten. Die weniger ängstlichen Exemplare fraßen nicht nur mehr Getreide, sie legten auch größere Eier als ihre scheuere Verwandtschaft – zwei Kennzeichen des modernen Huhns. Am meisten überraschte die Tatsache, dass die Hühner, die die Gegenwart des Menschen problemlos tolerierten, gegenüber ihren Artgenossen aggressiver auftraten. Anders ausgedrückt, sie waren nicht nur mutiger den Menschen gegenüber, sondern auch feindseliger im Umgang mit ihresgleichen.

Eine aufregende Entdeckung: Die Archäologie hat schon lange vermutet, dass die Vorfahren des Huhns ursprünglich nicht wegen der Eier oder des Fleisches domestiziert wurden. Kammhühner haben nur eine kurze Brutsaison im Frühjahr, das Gelege besteht nur aus vier bis sechs Eiern. Wie ich in Kapitel 6 zeigen werde, brauchte es Tausende von Jahren, bis man Hennen dazu brachte, täglich Eier zu legen. Eine verlässliche Fleischquelle könnte ein Motiv für die Domestizierung des Bankivahuhns gewesen sein, doch frühe Belege für die Zucht und den Verzehr dieser Vögel sind kaum zu finden. Eine aktuelle Grabung in Israel förderte einen der wenigen antiken Orte zutage, an dem es überhaupt Hinweise darauf gibt, dass Hühner in signifikanter Zahl gegessen wurden. Die Überreste sind 2200 Jahre alt, also mehrere Tausend Jahre jünger als der Beginn der Hühnerdomestizierung. Der Mangel an Belegen für diese Hypothese beweist noch nicht, dass sie ausgeschlossen ist, und doch stellt sich die Frage, warum man sich die Mühe machte, Wildhühner zu zähmen, wenn sie nicht als Nahrung dienten. Die Antwort könnte uns aus Sicht der Archäologie überraschen: Die faszinierende Kulturgeschichte des Haushuhns begann wohl weniger auf dem Teller als auf dem Kampfplatz.

Autor