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All das Böse, das wir tun

Als Buch hier erhältlich:

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Ein Kampf zwischen Korruption und Gerechtigkeit

***Mit Farbschnitt in limitierter Erstauflage (Lieferung je nach Verfügbarkeit)***

Vor dreißig Jahren: Die Polizistin Itala Caruso hat den angeblichen „Perser“ verhaftet, mit der Anschuldigung er habe drei Mädchen ermordet. Der unschuldige Contini stirbt im Gefängnis, was ihr Gewissen mit einem brutalen Knall zum Leben erweckt.

Heute: Die Schülerin Amala, Nichte der Anwältin Francesca Cavalcante, die den verdächtigen Contini damals erfolglos verteidigte, wird entführt – und Cavalcante glaubt, dass der wahre „Perser“ am Werk ist. Bald erhält sie unverhofft Hilfe von Gerry, der ebenfalls nach der verschwundenen Amala sucht – und zwar mit allen Mitteln.

Sandrone Dazieri versteht es, Verbrechen, Opfer und Täter so genial zu verstricken, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse immer weiter verschwimmen.


  • Erscheinungstag: 20.08.2024
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004173

Leseprobe

Für meine Schwester Stefania,
die mich immer so akzeptiert hat, wie ich bin

Das Böse, das wir tun, überlebt sie,
das Gute wird oft mit ihren Gebeinen begraben.

WILLIAM SHAKESPEARE, Julius Cäsar

HINTERHALT

HEUTE

1

Als ihr Fegefeuer begann, saß Amala in einem Bus, der sich von Cremona entfernte. Jenseits des Fensters wechselten sich Ansammlungen von ein- bis zweistöckigen Häusern mit Maisfeldern ab, die regelrecht wucherten, weil der September ungewöhnlich heiß gewesen war. Im Bus war es stickig, obwohl die meisten Schüler, die sich im Innern gedrängt hatten, an den letzten Haltestellen ausgestiegen waren.

Die Landstraße würde noch ein paar Ortschaften durchqueren, immer kleinere mit immer größeren Abständen dazwischen, bis sie schließlich nach weiteren Maisfeldern Città del Fiume erreichen würde. Dem Namen zum Trotz – Stadt am Fluss – war es ein mittelalterliches Dorf von dreihundert Seelen, mit roten Backsteingebäuden und Durchgangshöfen. Die Familie von Amala (deren Name auf dem zweiten A betont wurde) wohnte in einem noch abgelegeneren Haus, in einem Wäldchen einen Kilometer vom Zentrum entfernt. Amala hasste das Landleben. Das wurde nicht besser, wenn sie es ihren Freunden schilderte. Erzählte sie, dass sie eine tote Maus im Kleiderschrank gefunden oder ein Frosch den Abfluss im Bad verstopft hatte (und das nicht nur einmal), nannte man sie ein verwöhntes Blag.

Hatte man berühmte Eltern (selbst wenn sie so berühmt auch wieder nicht waren), dachten alle, man sei reich. Ihre Mutter hatte aber fünf Jahre lang kein Buch mehr veröffentlicht, und ihr Vater verlor ständig Aufträge, weil er lieber den Künstler als einen gewöhnlichen Architekten spielte. Für einen Fünfzigjährigen fand Amala das cringe.

Sie stieg an der letzten Haltestelle von Città aus und sprang über ein Schlagloch hinweg. Der Himmel veränderte ständig seine Farbe, war von hellen, trockenen Wolken durchzogen. Zum Glück, denn bei Regen wurde es im Haus kalt und ungemütlich. Als es in den Dreißigern gebaut worden war (von einem Mann, den ihr Vater stolz einen »architektonischen Ketzer« nannte), hatte man das Prinzip der Wärmeisolation noch nicht durchdrungen. Auch die Form war für Amalas Geschmack absurd. Kein Wunder, dass die Leute das Haus nicht Villa Cavalcante nannten, wie ihr Vater es getauft hatte, sondern schlicht »Bügeleisen«.

Aus ihren AirPods drangen die Måneskin, als Amala durch die Arkaden am Dorfplatz ging, dann über eine kleine Steinbrücke, hinter welcher sie die Schotterstraße zu ihrem Haus einschlug. Es gab auch eine Asphaltstraße, die auf einem Umweg zum Bügeleisen führte, aber bei schönem Wetter nahm Amala sie nie.

Der frische Wind trug den Geruch von Getreide und Kamille herbei, aber auch den dieser giftigen wilden Blaubeeren, die nach Schweißfüßen stanken. Mitten auf dem schmalen Abzweig zum Feldweg stand ein blitzblanker weißer Lieferwagen. An der Hecktür lehnte ein Mann und rauchte gelangweilt. Er war groß und breit, hatte die weißen Haare im Nacken zusammengebunden und trug eine Sonnenbrille und eine blaue OP-Maske, die er bei jedem Zug an der Zigarette etwas nach unten schob. Amala schätzte ihn auf über sechzig, obwohl das schwer zu sagen war.

Vorsichtig hielt sie sich an einem Laternenmast fest und vollführte eine halbe Pirouette, um auf die andere Seite zu gelangen. Während des Manövers schaute sie dem Mann kurz ins Gesicht und erschrak angesichts der Bleiche der wenigen unbedeckten Hautpartien.

Sie beschleunigte den Schritt, um ihn hinter sich zu lassen, und folgte dem Weg durch die frisch geschnittenen Luzernenfelder, auf denen abholbereit die letzten Heuballen lagen. Nachdem Amala zur Seite getreten war, um einer lärmenden mechanischen Egge Platz zu machen, warf sie einen Blick zur Kreuzung zurück. Der Lieferwagen war verschwunden, der Mann auch, was Amala mit einer irrationalen Erleichterung erfüllte. Sie stellte die Musik lauter und nahm die letzten hundert Meter zum Anwesen ihrer Familie in Angriff.

Es zeichnete sich hinter den Zypressen bereits ab. Etwa zehn Hektar groß war es und von Mauern und Zäunen umgeben, die sich hinter Ligusterhecken verbargen. Auf der Rückseite, die aufs Land hinausschaute, befand sich ein elektrisches Tor. Als Amala hier ankam, holte sie den Schlüsselbund aus dem Rucksack, aber als sie den Schlüssel ins Loch steckte, blockierte er nach einer halben Drehung und ließ sich weder weiter- noch zurückdrehen. Nach einigen vergeblichen Versuchen drückte sie auf den Klingelknopf an der Videogegensprechanlage. Das Licht der Kamera schaltete sich nicht ein.

Im August hatte es ein paar Stromausfälle gegeben, weil die Klimaanlage ständig lief, deshalb vermutete Amala jetzt den gleichen Grund dahinter. Sie schaltete ihre Musik aus, suchte die Nummer ihrer Mutter und hoffte, dass die trotz ihrer »kreativen Trance« ans Telefon gehen würde.

In diesem Moment fiel ein Schatten auf sie, und Amala begriff, dass sie nicht allein war.

2

Eine Stunde dauerte es, bis Sunday merkte, dass Amala sich zu viel Zeit für die Heimkehr ließ. Meist kam sie hungrig wie ein Wolf angerannt, aber manchmal quatschte sie noch mit irgendwelchen Freunden und vergaß darüber die Zeit. Sunday schickte ihr eine Nachricht und machte sich dann wieder an den Artikel, den sie gar nicht hätte annehmen sollen. Es handelte sich um eine Literaturrezension für den New Yorker. Der Roman hatte ihr nicht gefallen, aber sie wollte ihn nicht verreißen, nur weil sie einen anderen literarischen Geschmack hatte. In den Himmel loben wollte sie ihn allerdings auch nicht. Zu den Stammlesern der Zeitschrift gehörten, neben dem harten Kern der in die Jahre gekommenen Upperclass-New-Yorker, die einflussreichsten Kritiker und zahlreiche Kollegen. Einen solchen Stilverlust würden sie ihr nicht verzeihen, besonders nach den Jahren der Pandemie, die sie alle von den Vereinigten Staaten und den readings dort abgeschnitten hatten.

Als sie die Augen wieder vom Bildschirm löste, war eine weitere Dreiviertelstunde vergangen. Ihre Tochter hatte ihre Nachricht weder gesehen noch darauf reagiert. Sunday versuchte sie anzurufen, aber es erklang nur die synthetische Stimme, die ihr mitteilte, dass »der Teilnehmer nicht erreichbar« sei. Angst hatte sie nicht, jedenfalls nicht sofort, nur dieses komische Gefühl im Magen, das sie immer verspürte, wenn ihr bewusst wurde, dass das Blut von ihrem Blut nicht mehr ihr Anhängsel war, sondern ein denkendes Wesen, das in die Welt hinausging. Wie sie selbst übrigens auch. Sie war eine Yoruba und hatte Tancredi vor zwanzig Jahren in New York geheiratet, wohin ihre Familie verzogen war. Und obwohl schon so viel Zeit vergangen war, hatten sie nie eine echte Beziehung aufgebaut.

Dieselben Gassen, die sie selbst im Dunkeln vollkommen sorglos durchschritten hatte, wimmelten plötzlich von Gefahren und Bedrohungen, wenn sie sich ihre Tochter dort vorstellte. Als Amala mit zehn Monaten die ersten Schritte getan hatte, war Sunday siedend heiß aufgegangen, dass das ganze Haus eine einzige tödliche Falle darstellte. Die Kleine könnte die Treppe hinunterfallen und sich das Genick brechen, könnte in der Badewanne ertrinken oder einen Stromschlag bekommen. Als das Kind heranwuchs, stiegen die Gefahren proportional zu seiner Unabhängigkeit. Jeder Schritt, den es sich von ihr entfernte, vom wachsamen Blick der Tigermama, der Falkenmama, war ein Schritt auf mögliche Gefahren zu, die sich Sunday in den kleinsten Details auszumalen vermochte. Am liebsten hätte sie die Welt für ihre Tochter geebnet, hätte sie in eine rosa Flauschwelt verwandelt, duftend nach Zuckerwatte, unschuldig. Das war natürlich nicht möglich, und sie hatte gelernt, ihre Sorgen unter der Wasseroberfläche zu halten. Die kräuselte sich jetzt nur ein ganz klein wenig: Amala war sicher irgendwo geblieben und genoss die Zeit.

Sunday zog sich Schuhe an, trat in den Garten hinaus und ging zum rückwärtigen Tor. Von ihrer Tochter war weit und breit nichts zu sehen. Jetzt kräuselte sich die Wasseroberfläche schon stärker, und Sunday wurde fast übel. Immer wieder nach ihrer Tochter rufend, stieg sie in das zweisitzige Elektroauto, das sie für kurze Entfernungen benutzten, und fuhr zur Bushaltestelle. Just in diesem Moment kam ein Bus, und sie blieb stehen. Du wirst schon sehen, sie ist in diesem Bus, sagte sie sich. Du wirst schon sehen, sie steigt nur nicht sofort aus, weil …

Der Bus fuhr wieder los. Niemand war ausgestiegen.

Sunday spürte, dass ihre Hände schwitzten; jetzt hatte sie wirklich Bauchschmerzen. Im Schritttempo fuhr sie durchs Zentrum von Città del Fiume, kehrte dann um und nahm den Feldweg, wo das Auto bei jedem Schlagloch einen Satz tat. Es war nicht für solche Wege gemacht, aber das war ihr jetzt egal. Sie parkte am Zaun und stieg aus, um ihre Suche zu Fuß fortzusetzen. In diesem Moment sah sie Amalas Schlüssel vom Schloss herabbaumeln.

3

Ganz allmählich wurde Amala wach. Ihr Körper war wie Gummi, und hinter den Lidern sah sie Wolken von Licht. Sie spürte, dass sie auf einem harten Untergrund lag und sich irgendetwas in ihren Rücken bohrte. Als sie sich zu bewegen versuchte, verschwammen die Eindrücke wieder. Wellen von Farben überrollten sie und begruben sie unter sich. Sie musste daran denken, wie sie Ketamin ausprobiert und fast das Bewusstsein verloren hatte. Bevor ihre Füße schwer geworden waren, hatte sie etwas Ähnliches empfunden, nur tausendmal weniger intensiv. Und weniger angenehm. Jetzt fühlte sie sich entspannt. Friedlich.

Als der Farbenrausch wieder abschwoll, spürte Amala, dass der Boden unter ihr vibrierte und ruckelte. Darunter war ein dunkles Geräusch zu hören, das klang wie …

Ein Motor.

War sie im Bus eingeschlafen? Nein, sie war ausgestiegen und …

Erneut verlor sie das Bewusstsein, und als sie wieder erwachte, war das Motorengeräusch verschwunden. Stattdessen hatte sie das Geräusch von Plastik in den Ohren. Sie hörte es noch einmal: nasses, klebriges Plastik, das draußen zerrissen wurde. Nun begriff sie, dass sie im Innern eines Lieferwagens lag und in eine Decke gewickelt war, die als Schallschutz diente. Die Finsternis war undurchdringlich.

Allmählich schaffte sie es, ihre Gedanken zu sortieren, auch wenn die sehr, sehr träge waren. Angst hatte sie nicht, und aufstehen wollte sie auch nicht, da sie viel zu bequem lag. Noch nie hatte sie in einem derart weichen Bett gelegen.

Andererseits sollte ich nicht hier sein.

Als sie nach ihrem Handy tastete, bewegten sich ihre Arme fast von allein. Sie fand es nicht, auch nicht neben ihrem Körper. Das versetzte ihr einen Stich.

Der Mann hat es mir weggenommen.

Welcher Mann? Verschwommen sah sie ein bleiches Gesicht hinter einer dunklen Sonnenbrille und einer dieser blauen OP-Masken. Wo war sie ihm nur begegnet?

Er stand neben dem Lieferwagen, erinnerte sie sich. Aber sie war ihm noch einmal begegnet.

Sie hatte das Tor aufschließen wollen, und …

Er war näher gekommen. War zu ihr getreten …

So viel Mühe sie sich auch gab, mehr fiel ihr beim besten Willen nicht ein. Und jetzt befand sie sich in einem Lieferwagen.

Seinem Lieferwagen.

Dem weißen Lieferwagen.

Er hat mich entführt.

Jetzt, da sie ihren Gedankengang zu Ende gebracht hatte, konnte sie kaum glauben, dass sie nicht eher darauf gekommen war. Ein Adrenalinstoß ätzte ein Loch in diese Wolke der Schönheit. Es wurde schnell größer und ließ erkennen, was jenseits lauerte.

Entführt.

Ein Nebel aus Angst und Entsetzen raubte ihr den Atem und schärfte ihre Gedanken. Was auch immer dieser Mann ihr gegeben hatte, verlor allmählich seine Wirkung. Sie war gefangen und musste fliehen, bevor er zurückkehrte.

Dann durchfuhr sie der Gedanke, dass der Mann ihr im Schlaf etwas angetan haben könnte. Etwas Abstoßendes. Sie tastete nach dem Slip unter ihrer Jeans. Alles wirkte normal.

»Hab keine Angst«, hatte er gesagt, als er ihr vorangegangen war. »Und nicht schreien.«

Die letzten Reste der rosa Wolke lösten sich in Nichts auf, und ihr Herz begann wild zu pochen.

Mit den Fingern, die ihr jetzt wieder gehorchten, kramte sie in ihren Taschen. Das Handy hatte der Mann ihr abgenommen, aber den Fahrradschlüssel mit der Minitaschenlampe, die sie benutzte, wenn sie nachts die Kette aufschließen musste, hatte er ihr gelassen. Sie befreite ihre Hand aus der Decke und schaltete die Lampe an. Der schwache grünliche Lichtstrahl kam ihr nach den Minuten – oder Stunden? – der Dunkelheit fast grell vor.

Der Lieferwagen war leer. An den Wänden waren mit Klebeband Plastikplanen befestigt. Sie verlagerte das Gewicht und richtete den Strahl auf die Heckklappe. Auch die war mit Plastik ausgekleidet, sodass man nur den Griff sah. Von Amalas Füßen war er kaum einen Meter entfernt, aber die Suche nach dem Schlüsselbund hatte sie fast alle Energie gekostet.

Verzweifelt strampelte sie gegen die Decke an, begab sich auf alle viere und quälte sich in Richtung Heck. Schweißgebadet stemmte sie sich dagegen und bekam den Griff zu fassen, aber ihre Hand rutschte ab, und der Nagel ihres Zeigefingers stülpte sich um. Schmerz durchfuhr sie, aber Amala schrie nicht. Sie wartete, bis das Pochen im Finger abschwoll und der Schmerz fast erträglich war. Nun zog sie mit der anderen Hand am Griff. Er hob sich ein wenig, blockierte dann aber und rutschte ihr aus der Hand.

Auf der anderen Seite war jemand; er wollte die Klappe öffnen.

Panisch stieß sie sich mit den Hacken ab, ließ den Schlüsselbund samt Taschenlampe fallen und kauerte sich auf den Boden. Der Lieferwagen neigte sich in Richtung des Lichtspalts, der ins Innere fiel, während eine dunkle Gestalt einstieg. Als sich die Hecktüren wieder schlossen, war Amala wieder ein Schatten in diesem Schattenreich.

»Wer bist du?«, stammelte Amala. »Was willst du von mir?«

Der finstere Schatten wurde Fleisch und Atem. Er presste sie zu Boden. »Pscht«, machte er.

Niemand weiß, wie er angesichts einer Gefahr reagiert, wenn er sie nicht schon erlebt hat. Wie oft hatte Amala schon den Personen in den Fernsehserien, wenn sie im Moment der Gefahr erstarrten, zugerufen: »Renn weg, du dumme Kuh!« oder: »Tritt ihm in die Eier!« Ihr selbst war Gewalt vollkommen fremd. Sie hatte nie jemanden an den Haaren gezogen, geschweige denn einen dieser Selbstverteidigungskurse besucht, mit denen ihre Mutter ihr ständig in den Ohren lag. Deshalb handelte sie ganz intuitiv, als sie jetzt mit den Armen um sich schlug und ihre Finger zu Krallen zusammenkrümmte, und es war reinem Zufall zu verdanken, dass sie das Ohr des Mannes zu packen bekam. Der stieß einen Schrei aus, bevor er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie warf. »Lass das«, wiederholte er mit einer Stimme, die für sein Gewicht erstaunlich hoch war. Die gewaltige Hand des Manns legte sich auf ihren Mund. Amala wollte ihn beißen, verspürte dann aber einen Stich im Nacken und verlor wieder das Bewusstsein.

4

Drei Stunden nach Amalas Verschwinden gaben Sunday und ihr Ehemann Tancredi, der eilends nach Hause zurückgekehrt war, bei den Carabinieri der Gegend eine Vermisstenanzeige auf. Amala war minderjährig, und die Angaben der Eltern schienen glaubwürdig, deshalb wurde die Anzeige schnell aufgenommen und mit großer Dringlichkeit an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die wiederum eine lange Liste von Behörden alarmierte, von den Carabinieri über das Jugendamt und die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Roten Kreuzes bis hin zum Heer.

Zur Abendessenszeit durchkämmten bereits Hundertschaften die Gegend um Città del Fiume, während die Polizei Lehrer und Freunde des Mädchens vernahm. Die ganze Nacht über herrschte im Gemeindesaal ein Kommen und Gehen; Bekannte und Ordnungskräfte gaben sich die Klinke in die Hand. Unentwegt klingelten Handys, und ein Hubschrauber überflog im Tiefflug das Gelände. Vergeblich, von dem Mädchen keine Spur. Alle wichtigen Nachrichtenagenturen verbreiteten die Meldung, da Sunday und Tancredi in der halben Welt bekannt waren. Die beiden weigerten sich, Interviews zu geben, aber Sunday ließ sich darauf ein, für die Nachrichten am nächsten Tag einen Appell aufzunehmen. »Bitte! Wenn jemand etwas von meiner Tochter hört ...« eccetera.

Francesca Cavalcante traf um Mitternacht mit ihrem Tesla ein.

Sie war Tancredis Schwester und die Anwältin der Familie, eine elegante Frau um die sechzig mit Modigliani-Hals. In den vergangenen Stunden hatte sie mit ihren Bekannten in den verschiedenen Staatsanwaltschaften telefoniert und die Suche hartnäckig vorangetrieben. Wenn sie sich aufregte, kam ihr britischer Akzent wieder zum Vorschein, den sie sich angeeignet hatte, während sie bis zum Vorjahr in London gelebt und gearbeitet hatte.

Die Straße, die zur Villa führte, war von Autos, Dienstwagen und den Übertragungsfahrzeugen der Fernsehanstalten verstopft. Deshalb nahm Francesca den Umweg über die Hintertür, jener, durch die Amala ein paar Stunden zuvor das Grundstück hatte betreten wollen. Jetzt standen dort ein paar Männer in weißen Overalls und schossen Fotos. Die Szene schlug Francesca sofort auf den Magen, da sie die Sache nur allzu wahr werden ließ.

Der Gartenweg war mit einem rot-weißen Band abgesperrt, das sich bis zur Terrassentür zog, ins Haus hineinführte und schließlich in Amalas Zimmer endete. Francesca parkte an der Stelle, die ihr ein Carabiniere zuwies, trat durch die Küche ins Haus und begab sich ins Wohnzimmer, wo sie Stimmen hörte. Sie umarmte ihre Schwägerin, die unter Hochspannung stand, aber dank Lorazepam etwas sediert war. »Ist der Staatsanwalt schon eingetroffen?«

»Ja. Claudio ist es. Er wartet da drüben auf uns«, sagte Sunday.

Claudio Metalli, ein alter Freund der Familie und Studienkollege von Francesca, war das Beste, was ihnen passieren konnte. Groß, Halbglatze, Krawatte von Marinella, so saß er an dem Teakholztisch im Salon, der fast das gesamte Untergeschoss einnahm. Er stand auf, um sie zu umarmen. »Hallo, Francesca«, sagte er.

»Danke, dass du sofort gekommen bist.«

»Das ist das Mindeste.«

Francesca setzte sich neben ihre Schwägerin.

»Gut«, begann Metalli, »wenn wir uns nicht schon ein Leben lang kennen würden, würde ich mich bedeckt halten. Aber ich weiß, dass ihr nichts in der Gegend herumerzählt. Denn damit würdet ihr die Ermittlungen gefährden.«

»Komm schon, Claudio … Schwing keine großen Reden … bitte«, sagte Tancredi.

»Gut. Man hat Amalas Heimweg rekonstruiert. Der Verkäufer aus dem Kiosk hat sie um dreizehn Uhr fünfundvierzig aus dem Bus steigen sehen, daran hat er keinerlei Zweifel. Und er hat ausgesagt, dass sie in den Feldweg hinter der Brücke eingebogen ist, wo die Carabinieri im Moment nach Spuren suchen. Er sagte auch, dass zu dieser Zeit ein weißer Lieferwagen mit Hochdach dort stand, ein Fiat Ducato. Er parkte direkt auf dem Abzweig. Der Fahrer war ein großer Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Andere Zeugen haben bestätigt, dass sich der Lieferwagen wenige Minuten später entfernt hat.«

Schweigen trat ein, als die Anwesenden die Nachricht sacken ließen. »Ich wusste, dass irgendjemand sie mitgenommen hat, ich wusste es«, murmelte Tancredi.

»Immer mit der Ruhe«, beeilte sich der Staatsanwalt zu sagen. »Wir fahnden nach dem Mann und suchen den weißen Lieferwagen, aber nach den gegenwärtigen Erkenntnissen könnte es auch einfach ein Zufall gewesen sein.«

»Haben wir eine Personenbeschreibung?«, erkundigte sich Francesca.

»Leider nur eine sehr vage. Groß und kräftig. Weiße Haare, im Nacken zusammengebunden, wie ein alter Hippie. Die Tatsache, dass keiner der Zeugen ihn kannte, hat die Aufmerksamkeit der Squadra mobile auf ihn gelenkt. Hier kennt schließlich jeder jeden, wenigstens vom Sehen.«

»Vielleicht haben unsere Überwachungskameras ihn aufgenommen«, sagte Sunday.

»Das haben wir bereits überprüft. Die Kamera am Tor wurde manipuliert, und die anderen haben nichts aufgenommen.«

Francesca war klar, dass der Entführer nicht zufällig vorbeigekommen war. Er kannte die Zeiten und Wege ihrer Nichte.

»Ein Verrückter«, murmelte Sunday, den Tränen nahe. »Wer weiß, wo er sie hingebracht hat …«

»Über seine Motive wissen wir bislang nichts«, sagte Claudio. »Vielleicht will er euch erpressen, dann meldet er sich bald. Vielleicht ist er auch verwirrt und hält sie für seine Tochter.«

Metalli hatte die naheliegendste Hypothese unterschlagen, aber Sunday ließ sich nicht so billig trösten. »Oder es handelt sich um einen Triebtäter«, sagte sie. »Einen, der meine Tochter … missbrauchen will.« Sie brach in Tränen aus.

»Wir werden ihn finden, Sunday. Und wenn es wirklich dieser Mann ist, der deine Tochter entführt hat, finden wir ihn schnell.«

»Vielleicht nicht schnell genug«, sagte Sunday schluchzend.

5

Amala wusste nicht, wie lange sie sich schon im Halbschlaf hin und her gewälzt hatte, aber als sie die Augen aufschlug, merkte sie, dass sie in einem Bett lag, in einem komplett weiß gestrichenen Zimmer. Das Licht schmerzte ihr in den Augen. Ein glatzköpfiger Mann betrachtete sie über seine OP-Maske hinweg. »Wie geht es dir?«, fragte er. »Ist dir übel?«

Amala wollte sich bewegen, schaffte es aber nicht. Sie war zwischen den Laken gefangen. »Was …«, murmelte sie mit rauer Stimme. Ihre Kehle fühlte sich an wie Pappe. »Wo …« War sie in einem Krankenhaus? Was war mit ihr passiert?

Der Arzt stupste sie an. »Ich weiß, dass du dich komisch fühlst. Mach dir keine Sorgen, das ist normal, so kurz vor der Anästhesie.«

Anästhesie? »Bin ich verletzt?«

»Reine Routineoperation.«

»Operation?«

Der Arzt stand auf und zog einen Einkaufswagen herbei, an dem mit Klebeband eine Gasflasche befestigt war. Sein Kittel war ziemlich ramponiert und wurde von einem wirren Netz von Nähten zusammengehalten.

In was für einem Krankenhaus bin ich da nur gelandet?

Selbst das Zimmer war viel zu klein, kaum mehr als eine Abstellkammer. Und die Lampe, die über ihr brannte, war ein mit Klebeband befestigter Strahler. Amala versuchte noch einmal, sich zu bewegen, aber dieses Mal begriff sie, dass es nicht die Laken waren, die sie daran hinderten. Irgendetwas schnitt ihr in Knöchel und Handgelenke.

Der Arzt nahm eine Gummimaske, die mithilfe eines Wellrohrs mit der Gasflasche verbunden war. »Tief durchatmen, du wirst nichts spüren«, sagte er, sich wieder zu ihr drehend.

»Nein … Warten Sie.«

»Sei ein tapferes Mädchen.« Der Arzt lächelte unter seiner Maske.

Nun bemerkte Amala, dass die linke Schulter des Manns mit Blut befleckt war. Es tropfte von seinem Ohr herab, das mit einem großen quadratischen Pflaster bedeckt war. Er folgte ihrem Blick. »Du hast ganz schön scharfe Fingernägel, was? Mir scheint, wir müssen sie schneiden. Gott sei Dank hatte ich die Maske und die Perücke auf.«

Und nun kam alles zurück. Der Bus. Der Lieferwagen. Das bleiche Gesicht. Das Tor.

»Du bist es …«, sagte Amala. »Du bist es …«

Von Panik gepackt, versuchte sie sich zu befreien, aber der Mann hielt sie fest und drückte ihr die klebrige, stinkende Maske auf den Mund. Verzweifelt hielt sie den Atem an und zitterte vor Anstrengung, bis sie nicht mehr anders konnte, als das Gas einzuatmen.

Der Mann wartete, bis das Mädchen in Tiefschlaf gefallen war, dann löste er die Gurte, drehte es auf die Seite und schnitt am Rücken ihr T-Shirt auf, um die Schulterblätter freizulegen. Mit einem Stift malte er einen Kreis auf das linke, nahm den chirurgischen Bohrer und begann sein Werk.

6

Francesca begleitete Metalli zum Auto und nutzte die Gelegenheit, um ein privates Wort mit ihm zu wechseln. »Wenn ein Mädchen ihres Alters verschwindet, handelt es sich fast immer um ein Sexualdelikt«, sagte sie.

Er hakte sie unter. Obwohl Mitternacht schon hinter ihnen lag, war die Luft immer noch lau. »Es hat keinen Zweck, gleich ans Schlimmste zu denken. Und die Sexualdelikte, die du im Sinn hast, werden fast immer von Personen aus dem eigenen Umkreis begangen. Wir haben mit allen Lehrern und Freunden gesprochen. Falls jemand von ihnen involviert ist, werden wir es bald erfahren. Aber wo wir unter uns sind: Denkst du, dass Amala sich heimlich mit einem Erwachsenen getroffen hat?«

»Nie im Leben.«

»Wenn du so genau weißt, was in den Köpfen von Teenagern vorgeht, könntest du vielleicht mal mit meiner Tochter sprechen. Aus der werde ich nämlich nicht mehr schlau.«

»Ich weiß nicht, was in Amalas Kopf vorgeht, aber ich kenne sie. Wenn sie ein Problem mit einem Erwachsenen hätte, würde sie darüber reden.«

Claudio küsste sie auf die Wange. »Du wirst schon sehen, alles wird gut«, sagte er, als er ins Auto stieg. »Ruh dich ein wenig aus. Du hast es nötig.«

Francesca antwortete nicht. Als sie wieder hineinging, hatte sich Sunday auf dem Sofa im Salon ausgestreckt, einen Arm über die Augen gelegt. Tancredi saß im Sessel und starrte ins Leere. Francesca wollte einen Kräutertee zubereiten und schritt voller Unbehagen durch die Küche, die sie kaum kannte. Als sie mit dem Wasserkocher in den Salon trat, nutzte sie die Gelegenheit, ein wenig Müll einzusammeln. »Kommt das Dienstmädchen morgen?«

Sunday sprach mit geschlossenen Augen. »Ich habe ihr gesagt, dass sie zu Hause bleiben soll. Dem Gärtner auch.«

»Du denkst doch wohl nicht, dass sie etwas mit der Sache zu tun haben …«

»Nein. Sie sind schon zehn Jahre bei uns, und ich vertraue ihnen. Aber im Moment kann ich nicht noch mehr Fremde im Haus gebrauchen. Ich muss mich die ganze Zeit zwingen, freundlich zu sein, dabei würde ich am liebsten schreien.«

Sunday tat so, als würde sie einen Schluck von dem Kräutertee trinken, dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück.

»Sie hat Schuldgefühle, weil sie Amala nicht an der Bushaltestelle abgeholt hat«, sagte Tancredi.

»Das glaube ich gern.«

»Sie hat an einem ihrer bescheuerten Artikel gearbeitet.«

»Es ist nicht ihre Schuld. Du darfst nicht böse auf sie sein.«

Tancredi seufzte. »Ich habe entsetzliche Angst, Fran. Unentwegt muss ich darüber nachdenken, was ihr dieser Typ in diesem Moment antun mag.«

»Wir denken, dass er sich mit Lösegeldforderungen meldet.«

Er schüttelte den Kopf. »Lass uns in mein Atelier gehen und etwas Stärkeres zu uns nehmen.«

Francesca folgte ihm ins Atelier, einen sechseckigen Raum mit hellen Holzwänden. Auf langen Tischen lagen Großformatdrucke eines Entwurfs für ein Tagesbett in Form eines Seesterns. Vor den großen Fenstern sah man die Taschenlampen der Suchmannschaften, die wie Glühwürmchen durch die Felder streiften. Tancredi nahm eine Flasche Gin aus dem Barschrank, schenkte sich großzügig ein und setzte sich auf den ergonomischen Stuhl.

»Gibt es etwas, was ich nicht weiß?«, fragte Francesca.

Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass man uns erpressen will.«

»Warum nicht?«

»Weil ich kein Geld habe. Meine Kunden waren fast alle Russen, und seit dem Krieg in der Ukraine kann ich nicht mehr dort arbeiten. Einem dieser Oligarchen hat man sämtliche Konten eingefroren, bevor er mich bezahlen konnte. Kompletter Wahnsinn …«

»Entschuldige mal, Tan, du arbeitest doch schon ein ganzes Leben lang. Hast du denn nichts beiseitegelegt?«

»Dieses Haus ist ein schwarzes Loch, was Geld betrifft. Außerdem haben wir nicht besonders sparsam gelebt, als die Geschäfte noch liefen. Reisen, das ganze Gedöns, das Pferd. Erinnerst du dich? Vielleicht hat es wirklich jemand auf mich abgesehen, aber Geld ist sicher nicht das, was ihn interessiert. Oder er ist kein Profi und weiß nicht, mit wem er es zu tun hat. Vielleicht hegt er auch eher einen Groll auf dich.«

»Auf mich?«

»Du bist eine erfolgreiche Anwältin. Du hast keine Kinder und außer uns auch keine Verwandten. Vielleicht will sich jemand rächen, weil du im Auftrag irgendeines Emirs sein Unternehmen skaliert hast.«

»Ich arbeite für Geschäftsleute, nicht für die Mafia.«

»Ist das ein Unterschied?«

Francesca hatte keine Lust auf diese ewige Diskussion. Außerdem war sie todmüde. »Kann ich im Gästezimmer schlafen?«

»Klar. Ich für meinen Teil glaube nicht, dass ich schlafen kann.«

Sie konnte es auch nicht, sondern starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke und wartete auf den Sonnenaufgang. Bei jedem Geräusch und jedem Lichtschein zuckte sie zusammen. Jeden Moment könnte ein Carabiniere kommen, die Mütze in der Hand, und ihnen mitteilen, dass man die Leiche ihrer Nichte in einem Graben gefunden habe. Oder in einem Kofferraum. Leider sind wir zu spät gekommen …

In der Morgendämmerung versuchte sie erst gar nicht mehr einzuschlafen. Sie duschte, verabschiedete sich von ihrem Bruder, den sie dort fand, wo sie ihn verlassen hatte, nur dass er nun deutlich betrunkener war, und fuhr nach Cremona in ihre Kanzlei.

Die lag in einem Altbau im historischen Zentrum, direkt hinter dem Baptisterium: fünfhundert restaurierte Quadratmeter aus dem 18. Jahrhundert, mit Fresken, Stuck, Reliefs, Bildern, Grotesken und ungefähr dreißig Kolleginnen und Kollegen. Der einzige Bereich, der nicht seit Ewigkeiten ihrer Familie gehörte, war das elegante kleine Restaurant in den ehemaligen Stallungen. Mittags füllte es sich mit Mandanten und Anwälten, die durch den begrünten Innenhof unter ihrem Fenster strömten. Ihr Büro befand sich im ehemaligen Herrenschlafzimmer mit dem gewaltigen Marmorkamin, den ihr Vater zu Weihnachten immer hatte anzünden lassen. Francesca hatte ihn zumauern lassen. Der Rest der Ausstattung hatte sich komplett verändert, und wo einst das Bild ihres Urgroßvaters in Jagdkluft geprangt hatte, hing nun ein de Chirico.

Im Büro drängten sich allmählich Anzüge in nüchternen Farben, und Beileidsfloskeln wurden ausgesprochen. Die Nachricht von Amalas Verschwinden hatte sich schnell verbreitet, und Francesca nahm die Solidaritätsbekundungen von Angestellten und Anwälten entgegen. Sie tat so, als wäre sie dankbar dafür, aber der Einzige, den sie sehen wollte, war Samuele, ein Referendar, den sie schon eine Weile im Blick hatte. »Ich habe gehört, dass …«

»Danke«, unterbrach sie ihn. »Wenigstens du könntest mir das ersparen.«

»Ah, klar, natürlich. Alle verlangen Sie am Telefon, vor allem Journalisten.«

»Du weißt, wo du sie hinschicken kannst?«

»Zweifellos, Avvocata. Aber wir müssen eine Pressemitteilung aufsetzen.« Samuele war dicklich, trug eine runde Brille und wirkte nachdenklich, was ihm gewiss half, nach anderthalb Jahren Referendariat noch bei Verstand zu sein.

Francesca schnaubte. »Mach du das. Ich überarbeite sie dann. Außerdem habe ich dir schon oft gesagt, dass ich dieses Avvocata widerlich finde. Das ist jetzt politically correct, ich weiß, aber ich bin vom alten Schlag.«

»Entschuldigung. Aber von den anderen werde ich erwürgt, wenn ich es nicht beachte, Avvocato. Ich geh dann mal die Pressemitteilung aufsetzen.«

»Warte. Ich brauche dich noch für etwas anderes, eine Archivrecherche.«

Samuele nahm die Brille ab und polierte sie mit einem amarantroten Tuch. Francesca war aufgefallen, dass er das immer tat, wenn er nervös war.

»Schießen Sie los.«

»Es ist höchst unwahrscheinlich, aber es könnte sein, dass Amala jemandem zum Opfer gefallen ist, der Groll auf unsere Familie hegt. Ich brauche eine Liste der Prozesse, an denen Papa beteiligt war und die etwas mit Entführung, Gewalt und Vergewaltigung zu tun haben. Mich interessieren nur die Fälle, in denen Mandanten oder Angeklagte noch leben und auf freiem Fuß sind.«

»Das steht aber nicht in den Akten.«

»Du hast doch den Kanzleikalender, zieh ihn zurate. Wenn du fertig bist, leg einen Ordner an und schick ihn an die Mailadresse von Dottor Metalli, dem Staatsanwalt. Die findest du auch im Kalender.«

»Ja, Avvocato.«

»Und lass mir einen Tee bringen. Aber keinen aus dem Beutel.«

Der Tee kam nach fünf Minuten, die ersten Ergebnisse nach einer Stunde. Der Ordner, der auch für Francesca freigegeben war, füllte sich allmählich mit Prozessen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte, und Personen, die sie nicht kannte. Sie überflog sie und verscheuchte die aufgeregten Kollegen und Kolleginnen, die sie an vergessene Aufgaben erinnern wollten, aber ihr sprang nichts ins Auge, nichts, was wirklich verdächtig ausgesehen hätte. Streitigkeiten um Ländereien und haushohe Niederlagen im Gerichtssaal, klar, aber niemand, der in der Lage schien, ein Mädchen zu entführen. Traurig registrierte sie, dass ihr Vater in den beiden Jahren vor seinem Tod zunehmend Prozesse verloren hatte. Damals war es ihm bereits schlecht gegangen.

Als Samuele wiederkehrte, war sein Pullover mit Staub bedeckt. »Die Groupon sind leider nicht im digitalen Archiv.«

»Was sind denn die Groupon

»Die unentgeltlichen Verfahrenshilfen und Pflichtverteidigungen. Wir nennen sie hier so. Ich dachte, Sie wüssten das.«

Francesca hatte es nicht gewusst. Die Gepflogenheiten der Kanzlei waren ihr noch immer fremd. »Zu meiner Zeit hat Papa sie den Praktikanten überlassen, damit sie sich daran erproben konnten«, sagte sie. »Meine Prozesse kannst du dir sparen, nur Hühnerdiebe und so. Außer vielleicht …«

Wenn sie nicht gesessen hätte, wäre sie zu Boden gegangen. Tatsächlich war sie einer Ohnmacht nahe; kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Ohne Samuele noch eines Blickes zu würdigen, stand sie auf und stieg über die alte Treppe, die hinter dem Empfang begann, in den Keller hinab.

Der Perser. Wie hatte sie den vergessen können?

Den langen Steintunnel im Keller teilte man sich mit dem Restaurant, das hier Lebensmittel lagerte, während in der verbliebenen Hälfte kleine Zellen mit verriegelten Türen abgetrennt waren. Darin standen Kisten mit Dokumenten und alte Möbel. Die Akten mit den unentgeltlichen Verfahrenshilfen lagen im Flur verstreut, wo Samuele sie hatte liegen lassen. Schnell sammelte Francesca jene mit ihrem Namen zusammen und kehrte mit fünf Kilo verstaubtem, vergilbtem Papier, das teils noch mit Maschine beschrieben war, in ihr Büro zurück.

Der Referendar war noch da. »Alles in Ordnung, Avvocato?«

»Alles bestens. Geh wieder an die Arbeit und erledige bitte, worum ich dich gebeten hatte.« Im nächsten Moment hatte sie Samuele vergessen.

Der Perser.

Bilder der Vergangenheit blitzten in ihrem Kopf auf, und alte Gefühle waren plötzlich wieder lebendig. Den Fall hatte ihr Vater ihr hingeworfen wie einem Hund einen Gummiknochen. Francesca hatte ihn allerdings sehr ernst genommen. Der Perser hatte im Verlauf von drei Jahren drei Mädchen in Amalas Alter entführt und ihre Leichen in den Flüssen um Cremona herum entsorgt. Man hatte einen jungen Mann wegen der Morde angeklagt, Giuseppe Contini, und sie hatte ihn erfolglos verteidigt. Contini war zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der Perser war ins Netz gegangen.

Der Tee war mittlerweile kalt geworden und schmeckte bitter, aber sie trank ihn trotzdem, während sie in den alten Dokumenten blätterte. Es gab keinerlei Verbindung, es konnte keine geben. Allerdings wusste Francesca etwas, was sie jahrelang gequält hatte und ihr fast den Beruf vergällt hätte. Was sie sogar ins Ausland getrieben hatte. Das Gefühl der Ohnmacht, das sie angesichts dieses zweifellos falschen Urteils befallen hatte, konnte sie einfach nicht abschütteln.

Contini war unschuldig. Der Perser war davongekommen.

BUCALÒN

ZWEIUNDDREISSIG JAHRE ZUVOR

HÖHLE

HEUTE

7

Amalas viertes Erwachen war das schlimmste. Sie hatte grauenhafte Kopfschmerzen und konnte nicht klar sehen, erinnerte sich aber an alles. Jetzt war sie nicht mehr in der medizinischen Ambulanz, sondern in einem wesentlich größeren, kahlen Raum, in dem es muffig stank. Auch das Bett war größer und weicher, wobei es eigentlich kein Bett war, sondern nur eine Matratze, die auf einem Betonboden lag. Ihre Kleidung war verschwunden. Sie trug eine Art Kittel, der vorne geschlossen war. Darunter hatte sie nichts.

Eine Routineoperation.

Panisch betastete sie sich, fand aber keine Wunden oder Ähnliches. Als sie sich energisch aufsetzen wollte, hielt irgendetwas ihren linken Arm zurück. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, als hätte sie sich verbrannt. Er rührte von einem fingerdicken Drahtseil her, das unter ihrer Achsel entlanggeschrammt war und Haut und Fleisch weggerissen hatte. Es blutete.

Verzweifelt und vor Schmerz schreiend wollte sie das Seil wegreißen, aber nun verspürte sie einen so scharfen Stich im oberen Rücken, dass sie fast das Bewusstsein verlor. Sie sank auf die Matratze zurück und versuchte mit der Hand an die dumpf pochende Stelle heranzukommen. Sie verortete sie am linken Schulterblatt, und tatsächlich war genau dort das Seil befestigt, unter einem Klumpen aus Gaze und Klebeband. Wo das Seil unter der Gaze verschwand, ertastete sie eine Art Kügelchen. Amala zog an dem Klebeband und spürte etwas Klebriges. Als sie ihre Finger betrachtete, waren sie blutig.

Fast hätte sie sich übergeben. Trotzdem schob sie die Finger wieder unter das Klebeband und erreichte endlich eines der Kügelchen. Als sie daran ziehen wollte, durchfuhr sie erneut ein großer Schmerz, ein sonderbarer Schmerz, vibrierend und in den ganzen Arm abstrahlend. Sie wollte einen der anderen Fingernägel darunter schieben, musste aber feststellen, dass es kein »darunter« gab. Es handelte sich nämlich gar nicht um eine Kugel, sondern um etwas Metallisches, das man in sie hineingebohrt hatte. Eine Schraube.

Das Seil war in ihr Schulterblatt geschraubt worden.

8

Während Amala die Verhältnisse ihres Gefängnisses erkundete, stellte Gerry die Taschen ab und wollte das Haus wieder verlassen. Er hatte schulterlanges Haar und einen Hipsterbart, was ihn wie einen blonden, athletischen Cosplayer von Jesus aussehen ließ.

Sein T-Shirt spannte sich über Brustkorb und Bizeps. Dazu trug er eine saubere, aber abgewetzte Jeans und ausgetretene Wanderschuhe.

In seiner Tasche steckten ein Personalausweis auf den Namen Gershom Peretz, Einwohner von Tel Aviv, und die Impfpässe für die Hunde. Fünf hatte er, drei mittelgroße Mischlinge, einen Wolfshund und ein Golden-Retriever-Weibchen. Keiner von ihnen würde auf einer Hundeausstellung reüssieren. Dem Weibchen fehlte ein Ohr, einem der Mischlinge die linke Vordertatze, die anderen hatten diverse Narben und verstummelte Schwänze. Gerry ließ sie in den Garten hinaus und scheuchte sie dann in den Volvo XC90, den er am Flughafen gemietet hatte. Die Unterkunft, die er über Airbnb gebucht hatte, war ein zweistöckiges Haus in der Provinz Mailand – eine typische Behausung verstorbener Verwandter, mit so hässlichen Möbeln, dass man sie nicht einmal mehr auf dem Secondhandmarkt loswurde. Gerry hatte aber keine großen Ansprüche. Außerdem hatte sich der Vermieter darauf eingelassen, die Buchung zu löschen und das Geld schwarz anzunehmen, um seinem Mieter nach der Rückkehr in seine Heimat umständliche (nicht existente) israelische Riten zu ersparen.

Bevor er das Haus verließ, nahm er einen großen Schraubenzieher mit Holzgriff und steckte ihn in die Gesäßtasche seiner Jeans.

Er fuhr nach Mailand, zum Quartiere Maggiolina, parkte und erreichte nach einem Fußweg von zehn Minuten einen Palazzo mit Sicherheitskamera am Eingang. Um sechs Uhr morgens waren nur Müllwagen und ein paar Jogger im blassen Licht unterwegs. Er umwickelte seine Hände mit Klebeband, entfernte mit dem Schraubenzieher die Verteilerdose der Überwachungskamera, entsperrte mit einem Draht die Türverriegelung und stieg in den zweiten Stock hinauf. Hinter den geschlossenen Türen erklangen die ersten Geräusche des Lebens, weinende Kinder und die Fernseher der Alten, die früh aufstanden, um nichts zu tun. In der Wohnung, die ihn interessierte, herrschte Stille. Mit dem Draht öffnete er das Schloss und löste die Kette, dann trat er in den dämmrigen Flur und zog die Schuhe aus, um kein Geräusch zu machen. Er warf in jedes Zimmer einen Blick. Im ersten schlief eine Frau, im zweiten auf der anderen Flurseite lag ein alter Mann in einem Pflegebett.

Der Mann schlief. Der Bauch unter dem Laken war wegen der Wassersucht aufgebläht, die Gliedmaßen hingegen waren nur noch vier Stöckchen. In dem Zimmer, das nach Medizin und Alkohol stank, war einzig sein kathartischer Atem zu vernehmen. Das Licht der Morgendämmerung, das durch die Rollläden drang, malte Schatten an die Wand mit dem Andachtswinkel für Padre Pio.

Gerry fragte sich, ob Wasser aufspritzen würde, wenn er in den Bauch stäche, aber er probierte es erst gar nicht. Stattdessen steckte er dem Mann eine seiner Socken in den Mund und hielt ihn fest, als er wach wurde. »Wenn du Lärm machst, steche ich dir die Augen aus«, flüsterte er, mit dem Schraubenzieher drohend. »Ich gebe sie deinen Enkeln zu fressen, bevor ich dasselbe mit ihnen mache. Ich weiß, wo sie wohnen und auf welche Schule sie gehen. Wenn du verstanden hast, nicke.«

Der Alte schwitzte Blut und Wasser. Als er nickte, ließ Gerry ihn los. »Was willst du?«, fragte der Mann rau.

»Über deine Sünden reden. Erinnerst du dich an den Perser?«

»Weiß nicht … ja. Wie lange ist das …«

»Lange. Du dachtest, du seist davongekommen, was?«

»Ich weiß nicht, was …«

Gerry schob ihm den Schraubenzieher in die Nase. »Möchtest du ein drittes Nasenloch? Ich weiß, was ihr damals angestellt habt, du und deine Freunde. Versuch gar nicht erst, es zu leugnen. Ich möchte die Namen. Alle.«

Gerry erhielt sie. Um halb sieben kam das Leben unter ihnen in Fahrt, von irgendwoher stieg Kaffeeduft auf. Ihnen blieb nur wenig Zeit.

Er sah sich im Raum um. »Du bist nicht gut zu Fuß. Bis zum Fenster wirst du es wohl kaum schaffen«, sagte er.

»Ich habe einen Lebertumor. Er frisst allmählich meine …«

Aber Gerry hörte nicht zu, sondern kramte in den Medikamenten auf dem Nachtschränkchen herum. »Keine Schlafmittel?«

»Nein. Aber ich habe dir doch alles gesagt … Was willst du noch?«

»Steh auf.«

Der Alte gehorchte, unterstützt von Gerry. Seine Augen suchten nach einem Fluchtweg. Die Füße hatten Schwierigkeiten, in die Pantoffeln zu schlüpfen, angeschwollen, wie sie waren. »Schsch«, machte Gerry. »Wir wollen doch nicht die Signora wecken, was?«

Der Alte nickte, Tränen in den Augen. Seine Nase lief. Gerry führte ihn zum Eingang, schlüpfte in seine Schuhe und schob den Alten auf den Treppenabsatz.

Der Mann wollte um Hilfe rufen, aber Gerry hielt ihm die Hand auf den Mund. Das Klebeband an seinen Händen kratzte an den Lippen des Alten. »Treppen sind ein Klassiker«, flüsterte er und stieß zu. Der Alte stürzte mit dem Rücken zuerst die Stufen hinab und plumpste mit dem dumpfen Laut eines Müllsacks auf den Treppenabsatz. Im ersten Stock öffnete sich eine Tür, und eine Stimme erkundigte sich lautstark, ob etwas passiert sei, den Fernseher übertönend. »Giudice Nitti?«, fragte die alte Stimme.

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