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Akademie Fortuna - Wenn Wahrsagen so einfach wäre

hier erhältlich:

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Willkommen an der Akademie für Wahrsagerei!

Als Anniversary „Sorry“ Fortune ihren ersten Tag an der Akademie Fortuna, der Schule für Wahrsagerei, hat, wird Großes von ihr erwartet. Sie soll allen zeigen, dass auch sie bedeutende Visionen haben kann, schließlich stammt sie aus der mächtigsten Visionistenfamilie von Horror’s Cope. Nur leider gibt es da ein Problem: Sorrys Visionen sind anders. Statt großer Schicksale sieht sie nur kleine Alltagsdinge voraus. Dass jemandem eine Birne auf den Kopf fallen wird, zum Beispiel. Doch damit ihre Mutter die Schulleitung der Akademie Fortuna nicht an die fiese Sterndeuterfamilie Astra verliert, muss Sorry unbedingt Schulbeste werden. Zum Glück stehen ihr die durchgeknallte Nichtseherin Missy Hap und Sorrys mysteriöser Mitschüler Ben Dulum unterstützend zur Seite!

Von A wie Astra über T wie Tarotkarten bis Z wie Zukunftsvisionen: So eine Schule gab es noch nie!

Spannend, humorvoll und absolut mitreißend!



  • Erscheinungstag: 16.02.2021
  • Aus der Serie: Akademie Fortuna
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 230
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505144073

Leseprobe

Für meine Mama,
die auch ohne Wahrsagen
immer genau weiß,
wie es mir geht

Natürlich hatte Sorry gewusst, dass ihre Mutter sich den Lippenstift über die Wange schmieren würde. Sie hatte es schließlich vorausgesehen, noch ehe diese ihren Handspiegel aus der Tasche gezogen hatte. Aber Sorry war still geblieben, denn ihr war klar, dass diese Vorhersage ihre Mutter noch wütender gemacht hätte als die Schmiererei an sich.

Und Euphoria Fortune WAR wütend! Fluchend rubbelte sie mit ihrem bestickten Taschentuch auf dem grellpinken Streifen herum, der ihr so makellos geschminktes Gesicht nun verunstaltete. »So ein Unglück!«, jammerte sie und betrachtete den Fleck auf dem Tuch, der exakt die gleiche Farbe hatte wie ihr Blazer. »Linus, hätten Sie das Schlagloch nicht umfahren können?«

Linus, der das Auto durch die schmalen und steilen Straßen von Horror’s Cope lenkte, brummte etwas Unverständliches. Der Fahrer der Fortunes brauchte all seine Konzentration, um auf den Verkehr zu achten, da konnte er doch nicht jede Unebenheit ausmachen.

Horror’s Cope war entstanden, als es noch keine Autos gab. Auf beiden Seiten waren die Straßen gesäumt von hohen Gebäuden mit verschnörkelten Verzierungen, kleinen Türmchen und verspielten Statuen von Tieren, die den Eindruck erweckten, als würden sie die Fußgänger unten beobachten. Der helle Stein der alten Häuser wirkte genauso freundlich wie die Menschen am Straßenrand, die dem pinkfarbenen Wagen jetzt zuwinkten. Sie wussten, wer sich darin befand.

»Einfach fantastisch, dass immer mehr Nichtseher Gefallen am Einschulungstag finden«, sagte Euphoria Fortune, während sie zurückwinkte.

»Es ist eben auch für sie ein großes Ereignis, wenn die neuen Wahrsager ihre Ausbildung beginnen«, sagte Merry, die hinten auf dem Platz neben Sorry saß, ohne von der Rede aufzusehen, die sie gleich halten würde. Sie sprach die traditionellen Worte leise vor sich hin, um später auf der Bühne auch ja keinen Fehler zu machen. Ihre roten Haare wippten auf und ab und bissen sich leicht mit ihrem pinkfarbenen Gürtel und den dazu passenden Pumps. Pink war die Familienfarbe der Fortunes, und heute, am Einschulungstag, waren sie wie alle anderen Familien verpflichtet, sie zu tragen. Auch wenn Sorrys drei Jahre älterer Schwester Pink absolut nicht stand, trug sie es mit Stolz. Merry war im vergangenen Schuljahr zum dritten Mal in Folge Schulbeste der Akademie Fortuna geworden und hatte somit eine besondere Vorbildfunktion.

»Zu Recht!«, rief Euphoria. Dann drehte sie sich um und lächelte Sorry an. »Sie erleben mit, wie mein kleines Äuglein in die Akademie Fortuna eintritt.«

Sorry unterdrückte ein Stöhnen und schob die pinkfarbene Haarspange zurecht, die an dem kleinen Haarknoten auf ihrem Kopf steckte. Auch wenn sie, wie ihre Mutter sagte, hervorragend zu ihren schwarzen Haaren passte, hätte Sorry lieber darauf verzichtet. Aber das Auge war nun mal ihr Familiensymbol.

Nachdem sie in den vergangenen sechs Jahren bei einer Privatlehrerin grundlegende Dinge wie Schreiben und Rechnen gelernt hatte, würde sie heute an der Akademie Fortuna mit den anderen Zwölfjährigen aus den hochrangigen Familien ihre Ausbildung zur Wahrsagerin beginnen. Sterndeuter waren darunter, Handleserinnen, Kartenleger und Kinder mit anderen seherischen Fähigkeiten. Und eben sie – Anniversary Fortune, genannt Sorry, der jüngste Spross der einzigen Visionisten-Familie.

Manche behaupteten, Visionen seien die seltenste und herausragendste aller Wahrsagedisziplinen. Somit wurde auch von Sorry Großes erwartet. Dabei war an ihr absolut nichts Großartiges, wie sich gerade wieder zeigte. Denn noch während ihre Mutter sie ansah, den Lippenstift erneut in die Höhe haltend, verschwamm Sorrys Sicht wieder, und es war, als hätte sich ein pinkfarbener Filter vor ihre Augen gelegt. Alles schien für eine Sekunde einzufrieren – das eindeutige Zeichen, dass nun eine Vision begann. Schon sah Sorry, dass gleich ein Vogel gegen die Frontscheibe fliegen und Linus erschreckt einen Schlenker fahren würde. Euphoria würde das Gleichgewicht verlieren und ihr Lippenstift genau auf ihre weiße Bluse zuhalten.

Sorrys Blick klarte wieder auf und sie war zurück im Jetzt. Durch das Fenster sah Sorry den Vogel auf das Auto zufliegen. Ihr blieben nur Sekunden, um zu entscheiden, ob sie etwas tun wollte. Sie konnte die Zukunft zwar nicht verändern, aber zumindest die Folgen abschwächen. Linus riss das Lenkrad herum, und Euphoria kippte zur Seite. Blitzschnell zog Sorry ihrer Mutter das Taschentuch aus der Hand und vor die weiße Bluse. Der Wagen machte einen Schlenker, und der Lippenstift schmierte über das Taschentuch. Dann blieb das Auto stehen. Euphoria blickte überrascht an sich herunter. Dann sah sie Sorry an – und ihre Miene verdunkelte sich. Sie spitzte die Lippen und zog die Stirn kraus. »Du hast es vorhergesehen, Sorry, nicht wahr?!«, stieß Euphoria hervor, weniger fragend als anklagend.

»Ich wollte nur, dass deine Bluse nicht schmutzig wird«, erklärte Sorry, aber sie wusste, dass es nicht half. Ihre Mutter war fuchsteufelswild.

»Seit Generationen machen Fortunes bedeutende, weitreichende Voraussagen für die einflussreichsten Menschen der Welt. Für Könige und Kaiser, Politiker und Staatslenker, Künstler und Idole!« Sorry hatte diesen Vortrag schon so oft gehört, dass sie ihn im Kopf mitsprechen konnte.

»Visionen sind die einzige Wahrsagekraft, die keine Hilfsmittel braucht, keine Tarotkarten, keinen Kaffeesatz, keinen Blick in die Hand eines Menschen. Visionisten machen ihre Voraussagen allein mit dieser außergewöhnlichen Fähigkeit. Über die wahre Liebe, gewonnene Kriege und Entscheidungen über Leben und Tod.« Jetzt begann der Teil, auf den die Rede immer zusteuerte. »Es ist unsere Aufgabe, diesem Ruf gerecht zu werden. Und du ruinierst ihn, indem du voraussagst, dass ich mir Lippenstift auf die Bluse schmiere! Eine Vision, die an Banalität kaum zu übertreffen ist!«

Obwohl Sorry sie schon so oft gehört hatte, schmerzten diese Vorwürfe sie immer wieder. Es stimmte, dass sie noch nie vorausgesehen hatte, dass jemand seine große Liebe unter einem Birnenbaum finden, sondern höchstens, dass ihm gleich eine Birne auf den Kopf fallen würde. In den Augen ihrer Mutter konnte eine so unmittelbare Vorhersage nur unbedeutend sein und würde Sorry zweifelsohne zum Gespött der anderen Wahrsager machen. Als würde sie nicht auch lieber bedeutende Visionen haben! Aber egal, wie sehr sie sich bemühte – sie konnte nicht weiter als fünf Minuten in die Zukunft blicken. Sorry stiegen Tränen in die Augen. Hätte sie doch nur nichts gesagt!

Merry merkte sofort, was in ihrer kleinen Schwester vorging, und sah auf. »Genau deswegen geht Sorry ja jetzt an die Akademie – um zu lernen, wie man ganz bewusst Visionen hervorruft, die bedeutend sind und weiter in die Zukunft reichen.« Die Fünfzehnjährige lächelte schelmisch. »Außerdem wäre deine Bluse ohne sie jetzt ruiniert.«

Euphoria sah ein, dass Merry recht hatte, und richtete sich wieder an Sorry: »Aber bitte behalte deine Anfängervisionen an der Akademie für dich! Schlimm genug, dass du nicht steuern kannst, wann du sie hast. Das Letzte, was wir brauchen, ist, dass die anderen Wahrsager über uns tuscheln und an unserer Kraft zweifeln. Ich sehe das überhebliche Lächeln von Taurus Astra schon vor mir!«

Sorry nickte. Das Oberhaupt der Sterndeuter-Familie und ihre Mutter führten seit Jahren einen Machtkampf, den Euphoria bisher immer für sich hatte entscheiden können. Und das sollte auch so bleiben. Aber wenn Taurus Astra das mit Sorrys Kräften erfahren würde, hätte das Ansehen ihrer Mutter und der ganzen Fortune-Familie darunter zu leiden.

»Keine Sorge«, antwortete Merry und drückte Sorrys Hand. »Bei der Demonstration der Fähigkeiten während der Einschulung wird Sorry sicher eine hervorragende Voraussage machen.« Merrys Blick trübte sich, auch bei ihr das Zeichen für eine beginnende Vision. »Ich sehe dich auf der Bühne, über dir das Banner unserer Familie«, murmelte sie. »Alle halten erstaunt den Atem an«, ihr Blick klärte sich wieder und sie strahlte, »und sind offenbar von dir beeindruckt.«

Sorry versuchte zurückzulächeln. Das Problem an den Visionen anderer Wahrsager war, dass sie auf alle möglichen Arten gedeutet werden konnten. Dass alle den Atem anhielten, musste also nicht unbedingt etwas Gutes heißen.

Die Akademie Fortuna war schon von Weitem zu erkennen, denn sie war mit Abstand das größte und eindrucksvollste Gebäude von Horror’s Cope. Erbaut auf einem Hügel etwas abseits vom Zentrum der kleinen Stadt, reckte sie ihre Türme weit in den Himmel. Sie war gesäumt von Grünflächen und sorgfältig gepflegten Hecken, sodass die Weite der ganzen Anlage in starkem Kontrast zu den dichten Häuserreihen von Horror’s Cope stand.

Jetzt strömten Menschen durch das große violette Tor mit der verschnörkelten goldenen Aufschrift Akademie Fortuna – Gemeinsam in die Zukunft blicken. Auch der Wagen der Fortunes fuhr langsam hindurch und über den Vorplatz, wobei der weiße Kies unter den Reifen knirschte.

Sie passierten einen großen, runden Springbrunnen, in dessen Mitte sich die imposante, achtarmige Bronzestatue der Schulpatronin Fortuna befand. Sie repräsentierte die neun Arten des Wahrsagens. Das Teleskop in der Hand ganz oben rechts stand für die Astrologie, das Sterndeuten, und ein Satz aufgefächerter Karten in der Hand oben links für das Tarotkartenlegen. Die Handfläche darunter war nach vorne gerichtet und übersät mit Linien. Sie symbolisierte die Chiromantie, die Kunst des Handlesens. Auf gleicher Höhe rechts hielt eine weitere eine glänzende Kugel, das Hilfsmittel, mit dem die Kristallomanten in die Zukunft schauten. Eine Ansammlung von Hölzern, Knochen und Münzen lag für die Orakel in der Hand darunter, und um die dieser gegenüber wand sich der Zweig eines Baums – Symbol für das Deuten von Naturzeichen. Die untere linke Hand war von kleinen Wolken umgeben. Sie stand für die Oneirologie, die Traumdeutung. Die achte Hand hielt ein Pendel, das neben der Fortuna herabhing. Es war das Symbol der Nekromanten, der Wahrsager, die mit Geistern kommunizierten. Obwohl die Statue gehegt und gepflegt wurde, war zu sehen, dass die Zuständigen es bei dieser Hand nicht so genau nahmen: Ihr fehlte der kleine Finger, sie war grün angelaufen und übersäht mit Kerben und Rissen. Das war kein Zufall, denn die Nekromantie war eine geächtete Kraft, die heute niemand mehr beherrschte. Als Sorry zum Gesicht der Fortuna blickte, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Auf der Stirn der Statue leuchtete ein großes Auge aus pinkfarbenen Edelsteinen, das Symbol für die Kraft der Visionen, die Königsdisziplin des Wahrsagens – das Symbol ihrer Familie.

Linus stoppte den Wagen vor der großen Treppe, die zum Eingang der Akademie hinaufführte. Euphoria drehte sich zu ihren Töchtern um. »Und vergesst nicht: Ihr seid Fortunes, also zeigt es auch.« Noch einmal sprühte sie sich mit ihrem Rosenparfüm ein, das bereits den ganzen Wagen erfüllte. Dann setzte sie das strahlende Lächeln auf, das sie für öffentliche Auftritte reserviert hatte, und stieg aus.

Sorry starrte auf ihre pink lackierten Fingernägel. Zeigen, dass sie eine Fortune war. Aus dem Mund ihrer Mutter hörte sich das so einfach an.

Merry faltete das Blatt mit der Rede zusammen und stupste Sorry an. »Sei einfach du selbst und lass dich nicht von deinen Klassenkameraden einschüchtern. Die haben genauso viel Angst wie du und sind auch nicht perfekt. Sonst wären sie doch nicht hier!« Damit schaffte sie es tatsächlich, ihrer kleinen Schwester ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.

Auch Sorry stieg aus, was in ihrem eng anliegenden kurzen Kleid nicht ganz einfach war. Es ließ sie älter erscheinen als zwölf Jahre und war furchtbar unbequem. Unauffällig schob sie den Stoff wieder nach unten, während ihre Mutter bereits mit ein paar Besuchern sprach. »Sie werden einen zauberhaften Tag haben!«, grüßte Euphoria. »Und Sie auch!«

»Schulleiterin Fortune, voll in ihrem Element«, zischte Merry Sorry zu. Diese unterdrückte ein Kichern. »Hättest du letztes Jahr ausnahmsweise mal nicht Schulbeste werden können? Dann müssten wir das jetzt nicht ertragen.«

Merry zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, dann wäre es jetzt noch schlimmer.«

Wahrscheinlich hatte ihre Schwester recht. Euphoria Fortune liebte es, Schulleiterin zu sein, und würde es nicht verkraften, das Amt abzugeben. Obwohl die Akademieordnung eigentlich einen regelmäßigen Wechsel möglich machte. Am Ende des Schuljahres traten die besten Schülerinnen und Schüler jeder Wahrsagedisziplin in einer Prüfung gegeneinander an. Wer am besten abschnitt, dessen Familie übernahm im folgenden Jahr die Schulleitung. Da das die letzten drei Male Merry gewesen war, davor Sorrys Cousin Jubilant, der nach seinem Abschluss Hauswahrsager eines Präsidenten geworden war, und davor viele andere Fortune-Sprösslinge, war der Wechsel bis heute reine Theorie.

Merry und Sorry folgten ihrer Mutter die Treppenstufen hinauf, vorbei an ein paar Nichtsehern, die sich staunend umsahen. Der Einschulungstag war der einzige Tag im Jahr, an dem die Akademie auch für sie geöffnet war. Plötzlich verschwamm Sorrys Sicht erneut, und sie sah, wie ein Besucher, der neben ihr die Stufen hinaufging, stolperte. Ihre Sicht klarte auf, und schnell schob sie sich an dem Mann vorbei, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Sie durfte nichts sagen! Sorry zuckte zusammen, als sie kurz darauf seinen Aufschrei hörte. Merry warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Sie wusste, dass Sorry sich schuldig fühlte.

Fast hatten sie die Eingangstür erreicht, als eine dröhnende Stimme rief: »Einen schönen Tag wirst du haben, Euphoria!«

Beinahe wäre Sorry in ihre Mutter hineingelaufen, so abrupt blieb diese stehen. Gleich neben der Tür stand Taurus Astra, gehüllt in eine weiße Robe, die mit Tausenden im Sonnenlicht funkelnden Sternen besetzt war. Auch sein weißer Vollbart glitzerte. An einem Ohrläppchen trug er einen mit Brillanten besetzten Anhänger in Form eines Teleskops. Das Oberhaupt der Sternendeuter strahlte wie ein heller Planet in der Mitte des Universums.

Euphorias Augen funkelten frostig. »Taurus, wie schön, dich zu sehen.« Obwohl zu spüren war, dass sie einander lieber erwürgen würden, begrüßten sie sich mit einem Wangenkuss.

»Ich sehe deinen Sohn nirgendwo. Treibt er sich immer noch in der Weltgeschichte herum?« Die Stimme der Schulleiterin war messerscharf. Es war Taurus Astras wunder Punkt, dass sein Sohn Polar sich im vergangenen Jahr kurz vor den Abschlussprüfungen aus dem Staub gemacht hatte. Bis heute wusste niemand, wo er war. Für einen kurzen Moment zitterte Taurus’ Lächeln.

Dann nahm er Sorry in den Blick. »Ich hatte fast vergessen, dass Anniversary heute auch eingeschult wird.«

Natürlich hatte er es nicht vergessen, denn Taurus kannte Sorry, seit sie ein Baby war. Sorry überlegte noch, wie sie ähnlich schnippisch antworten konnte, da legte ihre Mutter schon ihre Arme um ihre beiden Töchter und drückte sie an sich. »Ja, ganz richtig. Eine neue Anwärterin für die Schulbeste. Ich hoffe nur, meine Mädchen kommen sich jetzt nicht in die Quere.« Sie lachte schrill auf und bedeutete ihren Töchtern mit einem Drücken, ihr zuzustimmen. Sorry nickte gequält.

Taurus’ Lächeln verzog sich. »Keine Sorge, Euphoria. Jeder weiß doch, dass euer gutes Abschneiden mit Können nichts zu tun hat.« Sorry spürte, wie sich die Fingernägel ihrer Mutter in ihren Arm bohrten. Euphoria hielt dagegen. »Nun, Taurus, vermutlich liegt es eher daran, dass euren Kandidaten für den Sieg einfach das letzte Quäntchen Begabung fehlt – wenn sie nicht schon vorher verschwunden sind.«

»Warten wir einfach dieses Jahr ab, meine Liebe.« Taurus winkte einem Mädchen zu, das ein wenig abseits stand und sich mit einer Gleichaltrigen unterhielt, an deren silberner Jacke eine handförmige Brosche steckte.

Sorry kannte Estrella Astra lange, aber nicht besonders gut. Zwar hatte ihre frühere Privatlehrerin, die auch Estrellas gewesen war, sie manchmal erwähnt. Aber wie gut die Wahrsagefähigkeiten von Taurus’ Tochter waren, wusste Sorry nicht.

Estrellas Haare waren fast weiß und ihre Gesichtszüge elfenhaft, aber sie hatte auch den kalten Blick ihres Vaters. Ein weißes Kleid umwehte ihren Körper, ein mit Glitzersternen besetzter Gürtel funkelte an ihrer Taille und an den Ohren baumelten ebenfalls kleine weiße Teleskope. Sie trug eine große Brille mit weißem Rand, die sich perfekt an ihre hellen Gesichtszüge anpasste und ihre Zartheit noch unterstrich. Beim Anblick der Sterndeuterin fühlte Sorry sich in ihrem kurzen Etwas und mit der glotzenden Haarspange noch unwohler als zuvor.

Als Estrella nun neben ihren Vater trat, legte dieser ihr seine Hand um die Schulter und blickte Euphoria triumphierend an. Fassungslos starrte diese auf das weißhaarige Mädchen. Falsch lächelnd wandte Estrella sich an Sorry. »Ist es nicht großartig, dass wir uns endlich vollkommen auf die Entwicklung unserer Wahrsagekräfte konzentrieren dürfen? Dieser lästige Mathematik- und Naturwissenschaftsunterricht war doch wirklich überflüssig! Die Sterne sagen mir voraus, dass es ein ganz bezauberndes Jahr wird, mit einigen unerwarteten Wendungen. Für uns beide.«

Ihre Stimme war glockenhell und ihre Zähne strahlend weiß. Sorry konnte das Mädchen nicht ausstehen. Gequält lächelte sie zurück.

Estrella wandte sich an Taurus. »Wir sollten hineingehen, Mutter wartet sicher schon.« Siegessicher nickte Taurus Euphoria zu und betrat mit seiner Tochter das Gebäude.

Die Schulleiterin kochte. »So ein unverschämter alter …« Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatte sie den verklärten Blick einer Vision. »Ich sehe einen stolzen weißen Stier, der über seine eigenen Füße stolpert, weil er die Nase sehr hoch trägt, statt auf den Weg zu achten.« Euphorias Blick klarte auf. »So, jetzt geht es mir besser. Kommt, Mädchen!« Sie schob Merry und Sorry in die Akademie.

Die Eingangshalle war so hoch, dass es unmöglich war, alle Details der Deckenmalereien zu erkennen. Sorry fragte sich, wie die Kunstwerke in so schwindelerregender Höhe entstanden waren. Von nun an würde sie diese Halle jeden Tag durchwandern. Die Menschen schnatterten und lachten miteinander, während sie über die breite hölzerne Treppe am Ende der Eingangshalle zum Saal im ersten Stockwerk strömten, in dem die Einschulungszeremonie stattfinden würde. Die ausgetretenen Stufen erinnerten an die zahllosen Menschen, die sie seit der Gründung der Akademie erklommen hatten. An den Außenseiten des Treppengeländers links und rechts befanden sich kunstvoll verzierte Holzvertäfelungen, und in regelmäßigen Abständen unterbrachen unterschiedlich große hölzerne Miniaturausgaben der Fortuna-Statue vor dem Gebäude die beiden Handläufe.

Sorry sah Kristallomanten, die in Hellblau gekleidet waren, und in schlammiges Grünbraun gehüllte Naturdeuter. Auch viele Nichtseher waren festlich gekleidet.

Die Fortunes waren gerade an der Treppe angekommen, als Sorry ein Mädchen erblickte, das sich deutlich von allen anderen unterschied. Es trug eine abgenutzte, orangefarbene Latzhose und um seine Hüften war ein Gürtel gebunden, an dem allerlei nützliches Zeug baumelte. Ein Hammer, ein Schraubenzieher, Klebeband. Das Gesicht des Mädchens war über und über mit Sommersprossen bedeckt. Dazu hatte es die wildesten orangeroten Haare, die Sorry jemals gesehen hatte, gebändigt in zwei Zöpfen. Auf dem Kopf saß eine Schutzbrille und auf dem Rücken hing ein leuchtend orangefarbener Bauhelm. Das Mädchen schlenderte entspannt unterhalb des rechten Treppengeländers entlang und schaute sich interessiert um. Sorry blieb stehen, als eine Vision sie so plötzlich erwischte, dass sie taumelte. Sie sah, wie ein Mann oben auf der Treppe genau dort gegen das Geländer stieß, wo sich eine Fortuna-Statue befand. Die hölzerne Figur riss am Hals ein, der Kopf brach ab und stürzte auf das Mädchen unter dem Geländer zu. Das konnte Sorry nun wirklich nicht zulassen!

Sie schielte zu ihrer Mutter, die gerade mit Karo Pentacle, dem Familienoberhaupt der Tarotkartenleger, sprach und sie nicht weiter beachtete. Schnell huschte Sorry zu dem Mädchen. »Psst! Hey, du!«

Das Mädchen drehte sich überrascht um – und strahlte Sorry an, wobei eine große Zahnlücke zwischen den beiden oberen Schneidezähnen sichtbar wurde. »Oh, hi! Du gehörst zu den Fortunes, oder?!« Obwohl das Mädchen ein ganzes Stück kleiner war als Sorry, mussten sie in etwa gleich alt sein. »Dein Kleid ist ja megaschick! Auch wenn es ein bisschen eng ist. Und Pink wäre auch nicht so meins.«

Kaum jemand hätte sich getraut, das Kleid einer Fortune zu kritisieren. Irgendwie mochte Sorry das Mädchen.

Dann hörte sie ein tiefes Lachen über sich und erblickte den Mann, der gleich die Fortuna köpfen würde. »Du solltest dir den Helm aufsetzen«, sagte sie. Das Mädchen sah Sorry verwirrt an. »Warum das denn?«

Mist, wie sollte Sorry es erklären, ohne ihre Vision zu erwähnen? Wer wusste schon, ob das Mädchen das Geheimnis der jüngsten Fortune-Tochter nicht verraten würde? »Man kann nie wissen.« Sorry schielte nach oben, der Mann war der Fortuna verdächtig nahe. »Am besten tust du es JETZT

Der Befehlston ließ das Lächeln des Mädchens verschwinden, es nahm die Schutzbrille vom Kopf und setzte den Helm auf. Sorry nickte ihr zu und lief zurück zu ihrer Mutter und Merry, die ihre kurze Abwesenheit nicht bemerkt hatten. Als Sorry die Treppe hinaufschaute, sah sie, dass Estrella Astra sie anstarrte. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Was hatte Taurus’ Tochter mitbekommen?

In diesem Moment hörte Sorry einen Schrei, dem ein dumpfes Poltern und ein vorwurfsvolles »Autsch!« folgten. Alle Gespräche im Raum verstummten. Wie still so viele Menschen plötzlich sein konnten. Alle, auch Estrella, blickten zur Treppe.

»Die Fortuna«, stammelte der Mann und starrte die kopflose Holzstatue an.

Eine Frau beugte sich über das Geländer. »Ach du liebes bisschen! Bist du verletzt?«

»Nichts passiert!« Das Mädchen trat aus dem Schatten der Treppe hervor. Der Helm hatte eine kleine Delle, doch ansonsten schien es dem Mädchen gut zu gehen. Es hielt stolz den Kopf der Fortuna in die Höhe und strahlte in die Menge. »Keine Sorge, mein Vater kriegt die in null Komma nichts wieder repariert! Der ist ja nicht umsonst der Hausmeister.«

Die Tochter des Hausmeisters! Das erklärte zumindest die merkwürdigen Klamotten und den Werkzeuggürtel, dachte Sorry, als sie spürte, wie das Mädchen sie anblickte.

O nein! Schnell wandte Sorry sich an ihre Mutter. »Wir sollten weitergehen. Es geht gleich los.« Euphoria riss sich vom Anblick der geköpften Statue los und nickte. Eilig stiegen sie die Treppe hinauf. Sorry versuchte, in der Menge unterzutauchen, bevor das Mädchen sie einholen und ihr weitere Fragen stellen konnte.

Bevor Sorry von der Treppe auf den Flur in Richtung Festsaal abbog, schaute sie zurück. Das Mädchen folgte ihr nicht! Dafür blieb ihr rechter Schuh mit dem Absatz im Teppich hängen. Sorry fluchte und hob ihn auf.

»Du hast es vorausgesehen, nicht wahr?«

Sorry wirbelte herum. Vor ihr stand das Hausmeistermädchen und sah sie mit festem Blick an. Wie, zur Fortuna, war es so schnell heraufgekommen?

»Ich weiß nicht, was du meinst«, murmelte Sorry.

»Das mit der Statue«, sagte das Mädchen und klopfte sich auf den Helm. »Du wusstest, dass sie mir auf den Kopf fallen würde. Ohne dich wäre ich jetzt Matsch. Dass du das gesehen hast, ist ja wohl voll cool!«

»Das ist überhaupt nicht cool!«, rief Sorry lauter, als sie wollte. »Und wehe, du erzählst jemandem davon!« Sie pfefferte den Schuh zu Boden und spürte, wie ihr Wuttränen in die Augen stiegen. Das fehlte gerade noch!

»Also ich finde deine Gabe ziemlich fantastisch.« Das Mädchen bückte sich, hob den Schuh auf und reichte ihn Sorry. »Also dann, vielen Dank!« Es drehte sich um und hüpfte davon, wobei das Werkzeug am Gürtel leise klimperte. Sorry sah, wie es die letzten Gäste, die noch die Treppe hochkamen, passierte und schließlich verschwand. Noch nie hatte jemand so etwas zu ihr gesagt. Aber es stimmte. Sie hatte dem Mädchen wahrscheinlich gerade das Leben gerettet.

Euphoria und Merry hatten ihre Plätze in der ersten Reihe schon eingenommen, als Sorry sich zu ihnen setzte. Weil sie die einzigen Visionisten waren, stach ihr Pink in der Masse grell hervor. Die wenigen Fortunes, die es gab, waren auf der ganzen Welt gefragt und beschäftigt, sodass nur die engste Fortune-Familie an der Einschulung teilnahm. Sorry sah zu ihrer Mutter und spürte einen Kloß im Hals. Eigentlich würde auch ihr Vater bei ihnen sitzen. Sie war erst sieben Jahre alt gewesen, als er bei der Reise zu einem Wahrsageauftrag tödlich verunglückt war, und an Tagen wie diesem vermisste sie ihn besonders.

Alle anderen Familien waren zahlreich vertreten. Neben den Schülern aus den höheren Jahrgängen saßen dort Akademieabgänger, Eltern und angereiste Verwandte. Die große und in Rot gekleidete Familie der Orakel beanspruchte gleich mehrere Sitzreihen. Die jeweiligen Familienoberhäupter saßen am Anfang einer Reihe. Sie bildeten den Schulrat, der den Schulleiter stellte.

Rechts von Sorry saßen die Lehrer, die sie ab heute unterrichten würden. Mr Relic, der Geschichte der Hellseherei unterrichtete, und Madame Demain, Lehrerin für Rhetorik und Präsentation von Vorhersagen, kannte Sorry bereits.

Auf der Bühne hingen die farbigen Banner der neun Wahrsagedisziplinen von der Decke herab. Darunter würden sich Sorry und ihre künftigen Klassenkameraden gleich, der jeweiligen Disziplin entsprechend, nach und nach versammeln. Das pinkfarbene Banner mit dem geöffneten Auge befand sich in der Mitte, am rechten Rand und mit einem etwas größeren Abstand als zwischen den übrigen acht, das Banner der Nekromanten. Mit dem goldenen Pendel auf schwarzem Grund wirkte es seltsam bedrohlich. Wie jedes Jahr würde der Platz darunter auch heute leer bleiben.

Plötzlich ertönte ein Gong, und die beiden Flügel der großen Eichentür wurden mit lautem Donnern geschlossen. Als Euphoria Fortune sich erhob und mit durchgestrecktem Rücken und erhobenem Haupt auf die Bühne schritt, erstarb das allgemeine Getuschel. Sie stellte sich hinter das Rednerpult in der Mitte, strahlte in die Menge und breitete die Arme aus. »Liebe Wahrsager und Wahrsagerinnen, liebe Nichtseherinnen und Nichtseher, liebe Familien und liebe Menschen von Horror’s Cope! Als diesjährige Schulleiterin heiße ich, Euphoria Fortune, Sie herzlich willkommen zum Empfang unserer neuen Schülerinnen und Schüler an der Akademie Fortuna!«

Nach einem kurzen Applaus schaute Euphoria zu Merry, und ihr Lächeln wurde breiter: »Bevor ich die neuen Schüler und Schülerinnen heraufbitte, damit sie uns einen Einblick in ihre schon vorhandenen Fähigkeiten geben, übergebe ich das Wort an unsere amtierende Schulsprecherin und Schulbeste des vergangenen Jahrs: meine Tochter Merry Fortune!«

Erneut gab es Beifall. Sorry sah, wie ihre Mutter mit einer Spur Überheblichkeit zu Taurus schielte, der auf der anderen Seite des Mittelgangs mit seiner Familie ebenfalls in der ersten Reihe saß. Sein Blick verfinsterte sich.

Merry strich noch einmal über das Blatt mit der Rede, und Sorry sah, dass ihre Hände zitterten.

Dann rückte ihre Schwester entschlossen ihre Brille zurecht und marschierte, ebenfalls kerzengerade, auf die Bühne. Sie nickte ihrer Mutter kurz zu und stellte sich lächelnd hinter das Rednerpult. Dann holte sie tief Luft – und begann, als Schulbeste die traditionelle Rede für die neuen Schülerinnen und Schüler der Akademie vorzutragen. Diese Rede hatte die erste Schulleiterin Fatema Fortune zur Eröffnung der Akademie Fortuna gehalten – nachdem die Nekromanten beinahe alle Wahrsager ausgelöscht hatten. Seitdem war sie fester Bestandteil der jährlichen Einschulungszeremonie.

»Die Zukunft ist gerettet, denn das Dunkel ist fort!«

Dieser erste Satz ließ Sorry erschauern, und sie ahnte, dass es vielen so ging. »So lang schon ist es her, seit als Freunde wir uns sahen. Wo wir in all den bunten Farben unserer Gewände uns als Brüder und Schwestern umarmten, statt die Klingen zu kreuzen. In jedem von uns lebt der Wunsch auf eine bessere, friedliche Zukunft. Und bei Fortuna – wir sind stark genug, das Böse zurückzuschlagen!«

Die Leute jubelten und klatschten, als hätten sich die einzelnen Wahrsagerfamilien erst gestern noch bekämpft, als wären die Nekromanten erst heute besiegt worden, nachdem ihr machthungriges Familienoberhaupt Nevil Chievous sie gegeneinander aufgebracht hatte.

»Waren es unser Hochmut, unser Stolz und unser fehlendes Vertrauen, die uns schwächten, waren es unsere Stärke, unser Wille und vor allem unsere Gemeinschaft, die uns retteten. Drum möge uns nie wieder ein Pendel entzweien, ein Hexenbrett zweifeln lassen und ein gerücktes Glas Zwietracht säen. Die Nekromanten sind fort und sollen es für immer bleiben.«

Es war eine mutige Vorhersage, die Sorrys Vorfahrin damals getroffen hatte. Und sie hatte sich bis heute bewahrheitet! Einst die mächtigste Macht, waren die Nekromanten nach ihrer Niederlage verschwunden. Als hätte die Kraft der Geisterkommunikation niemals existiert. Warum das schwarze Banner dennoch jedes Jahr aufgehängt wurde, hatte Sorry nie verstanden.

»Und sollten sie doch wiederkehren, wird ihre tückische Saat nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Denn unter der Schutzpatronin Fortuna mögen wir vereint sein, um jene an diesem Ort zu lehren, die das Geschenk des Vorhersehens besitzen. Ein jeder Wahrsager möge hier Bildung finden. Eine jede Prophetin möge hier die gleichen Chancen erhalten, egal welcher Art ihre Kunst auch sei.«

Sorry sah, wie Taurus’ Mund sich spöttisch verzog, während er Merry anfunkelte. Er zweifelte diese Chancengleichheit an und ließ keine Gelegenheit aus, dies kundzutun. Sterndeuter hatten Horror’s Cope einst gegründet und nach ihrer wichtigsten Vorhersage benannt: dem Horoskop. Sie hatten auch die Gründung der Akademie Fortuna zur Wahrung des Friedens vorgeschlagen – angetrieben von dem Wunsch, dort einmal eine machtvolle Position zu bekleiden.

Dass dies bis jetzt unerfüllt war, verbitterte nicht nur Taurus Astra. Wer die Schulleitung innehatte, war im Prinzip die mächtigste Person der Stadt. Die Astras hatten also bei der Gründung der Akademie auf ganzer Linie verloren.

»Denn das sind wir – Wahrsager, Propheten und Seher. Uns gehört die Zukunft. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen zu dienen, nicht, uns über sie zu erheben.«

Genau das hatten Nevil Chievous und seine Anhänger damals geglaubt: dass Wahrsager besser seien als Menschen, die nicht in die Zukunft blicken konnten. Sorry war sich sicher, dass einige Wahrsager auch heute noch daran glaubten. Jedoch würde sich niemals mehr jemand trauen, es laut auszusprechen.

Merry setzte nun zum Finale der Rede an, und ihre Stimme zitterte vor Freude und Ergriffenheit. »Lasset uns eine Brücke sein für eines jeden Menschen Glück. Lasset uns den Weg weisen, wenn die Menschen keinen sehen. Lasset die Zukunft gülden leuchten, wenn wir ihr entgegenblicken. Und lasset es uns gemeinsam tun, hier, an der Akademie Fortuna!«

Euphoria trat wieder ans Rednerpult, nachdem Merry sich unter tosendem Applaus gesetzt hatte. »Kommen wir nun zu den neuen Schülerinnen und Schülern!«

Merry drückte Sorrys Hand. »Keine Sorge, du wirst es fantastisch machen. Außerdem bist du als Letzte dran, da schaut niemand mehr genau hin.« Die neuen Schüler würden wie immer in der Reihenfolge der Prüfungsergebnisse des Vorjahres aufgerufen werden, beginnend mit dem schlechtesten. Wie gern wäre Sorry genauso zuversichtlich wie ihre Schwester. Doch ihr ging der Zwischenfall mit dem Hausmeistermädchen nicht aus dem Kopf. Das durfte ihr auf der Bühne nicht passieren!

»Als Erster: Phil Chlore!«

Das Publikum klatschte und von den Naturlesern kamen Jubelrufe. Hände legten sich einem rundlichen Jungen mit strubbelig-braunen Haaren auf die Schultern, bevor er zur Bühne ging und sich unter das grünbraune Banner mit dem Baum stellte. Er holte tief Luft und begann, mit dem nackten Fuß auf dem Holzboden entlangzufahren. Dabei summte er erst, dann pfiff er. Schließlich wandte er sich ans Publikum. »Die Winde bringen fröhliche Kunde, dass die Gemeinschaft der Wahrsager heute um einiges reicher sein wird als gestern.«

Das Publikum klatschte verhalten, nur die Chlores johlten laut. Einige sprangen auf, um zu tanzen.

»Da ist noch Luft nach oben«, murmelte Madame Demain neben Sorry. Worte, spitz wie Nadelstiche. Natürlich! Die Lehrer beobachteten alles genau und erkannten den kleinsten Ausrutscher, jede Unsicherheit. Sorrys Herz raste. Als wäre der Druck nicht schon groß genug, überhaupt eine Vorhersage hinzubekommen.

Bevor sie sich weiter ausmalen konnte, was alles schiefgehen würde, begann die rote Fraktion der Orakel ohrenbetäubend laut zu klatschen. Gleich drei ihrer Schützlinge betraten nacheinander die Bühne. Zuerst Thea Leaf, ein grinsendes blondes Mädchen, an dessen Halskette eine kleine Tasse hing. Die ganze Zeit hüpfend, sah Thea aus aufgekochten Teeblättern einem Jungen viel Glück bei einer bevorstehenden Reise vorher. Gemurmeltes Fazit von Madame Demain: gutes Detailwissen, aber viel zu hibbelig vorgetragen.

Waxine Lead, ein Mädchen mit unzähligen geflochtenen Zöpfen, war die Nächste. Mit einem genervten Gesichtsausdruck schmolz sie in einem Pfännchen über einer Kerze etwas Zinn, kippte die zähe Flüssigkeit in eine Wasserschale, um in dem entstandenen Klumpen eine Blume zu erkennen und sie als entstehende Freundschaften zu deuten. Urteil Mr Relic: eine bei einer Einschulung nicht überraschende Aussage, aber solide erklärt.

Dann verbrannte ein langhaariger Junge namens Rune Smoke mit ernster Miene ein paar Zweige und Blätter, um aus dem dabei entstehenden Rauch zu lesen, dass jemandem im Raum heute ein sehnlichster Wunsch erfüllt wird. Gemurmeltes Urteil von der Lehrerin: »Gut, aber zu distanziert präsentiert.«

Den drei Orakel-Kindern folgte ein Junge namens Morpheus Night. Der blasse Traumdeuter bat sichtlich nervös eine Freiwillige, von ihrem letzten Traum zu berichten. Seine Deutung: Sie wird sich überraschend in einen Mann verlieben. Anschließend lief Morpheus rot an und ergänzte mit brüchiger Stimme, dass dieser Mann stets besonders farbenfrohe Socken trug. Einige Traumdeuter im Publikum lachten laut, als ein recht beleibter Mann der Frau zuwinkte und auf seine grell lilafarbenen Socken zeigte. Die Frau kicherte – und alle klatschten laut Beifall. Auch die Lehrer waren begeistert. »Eine hervorragende Vorhersage mit genau dem richtigen Grad an Information«, flüsterte Mr Relic Madame Demain zu. Sie nickte. »Aber an seinem Stil müssen wir dringend arbeiten! Die Präsentation war eine Katastrophe!«

Chiara Mantik, die Handleserin, mit der sich Estrella zuvor unterhalten hatte, sagte einem weiteren Freiwilligen voraus, dass er es zu großem Reichtum bringen würde, was ihn sehr freute und für ein anerkennendes Nicken der Lehrer sorgte.

Als Nächsten rief Euphoria Magnus Divine nach vorne. Ein Junge in einem mit Silberfäden durchwirkten Hemd erhob sich. Offensichtlich überrascht, einen unbekannten Handleser zu sehen, beobachteten die Mitglieder der Mantik-Familie den hellblonden Jungen äußerst skeptisch. Nicht einmal eine Brosche mit dem Handsymbol trug er!

Die meisten Schüler stammten aus den traditionellen Wahrsagerfamilien. Ihr Name reichte, um an der Akademie aufgenommen zu werden. Aber hin und wieder tauchten Wahrsagefähigkeiten auch in Familien auf, in denen es solche nie oder jahrzehntelang nicht gegeben hatte. Diese Kinder mussten einen Test bestehen, bevor sie aufgenommen wurden. Hätte sie selbst diesen Test machen müssen, da war Sorry sich sicher, säße sie heute nicht hier.

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