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Absturz

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50 Messerstiche …überlebt keiner. Auch nicht, wenn man ein knallharter Geschäftsmann mit einem Herz aus Stein ist. Aber nicht nur der grausame Tod eines Bauunternehmers hält Andrea Mangfall von der Münchner Mordkommission in Atem. Da ist auch noch der Verrückte, der zu später Stunde Leute vor einfahrende U-Bahnen stößt. Scheinbar wahllos … oder?


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Aus der Serie: Mangfall Ermittelt
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907021
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Andrea Mangfall ist Oberkommissarin bei der Münchner Mordkommission. Sie ist Anfang 30, hat nach kurzem Studium zur Polizei gewechselt und spielt sporadisch noch Bass in der Band ihres Bruders Paul. In der ersten Folge, »Filmriss«, in der Andrea insgesamt vier Mordfälle aufzuklären hatte, konnte sie ihre unkonventionellen Ermittlungsmethoden bereits unter Beweis stellen. Allerdings auch, dass Berufliches und Privates bei ihr häufig durcheinandergeraten.

Paul Mangfall ist Mitte 20, mittelloser Musiker und wohnt seit dem Scheitern seiner letzten Beziehung bei Andrea. Nur vorübergehend natürlich. Er sieht gut aus und weiß das auch. Unheil zieht er an wie ein Magnet, sodass es nur gut ist, wenn Andrea ein Auge auf ihn hat.

Josef Hirmer, Kriminalrat, ist der Chef von Andrea. Entspannter Typ, aber schon eher klassischer Beamter, bei dem Andreas Alleingänge immer wieder für Schweißausbrüche sorgen.

Dr. Aschenberger (»Asche«) ist der gut geölte Dezernatsleiter, der seine Leute immer wieder zu Spitzenleistungen antreibt.

Tom ist Abteilungsleiter in der Kriminaltechnischen Untersuchung. Er sichert die Spuren des Verbrechens, bevor Andrea mit den Ermittlungen einsteigt. Und er ist schwer verliebt in Andrea, die ihn ein bisschen am langen Arm verhungern lässt.

Was bisher geschah

Andrea hat in der ersten Folge vier Mordfälle mustergültig aufgeklärt, auch wenn ihr die Eskapaden ihres Bruders immer wieder einen Strich durch die Rechnung machten. Zum Glück wird Paul aus der Untersuchungshaft entlassen, weil er mit dem gewaltsamen Tod seines Rockerkumpels und dem eines gehörnten Ehemanns zum Glück doch nichts zu tun hatte. In der Justizvollzugsanstalt Stadelheim hatte er sogar Muße, sich seinem eigentlichen Interessensgebiet zu widmen: der Musik. Mit einigen Insassen gründete er zusammen mit dem Gefängnispfarrer die Barnhome Brothers, eine A-cappella-Band, die es mit ihrem ersten Auftritt bis in die lokale Presse schaffte. Und nicht nur das: Auch ein bekannter Musikmanager wird auf Pauls Talent aufmerksam …

Stirb, Bestie!

»… die Barnhome Brothers, des san mia!« Paul bellt den letzten Satz seines Songs hinaus. Lautlos. Hält die Luft an. Nichts. Er schielt zu seinen Mitstreitern. Jetzt bricht der Applaus los. Wie ein Sommergewitter aus heiterem Himmel. Der Saal bebt.

»Ja, meine Damen und Herren, coole Musik von der dunklen Seite der Stadt – die Barnhome Brothers mit ihrem Song ›Des san mia‹, diese Woche der höchste Neueinstieg in Pop Deluxe. Wir warten auf eure Votings. Und jetzt kommt auf der Startnummer sieben ein guter alter Bekannter …«

Paul hört den reißerischen Moderator schon nicht mehr. Er ist bereits durch das Labyrinth hinter der Bühne bis in die Garderobe des Fernsehstudios in Grünwald gelangt. Erschöpft lässt er sich auf den Stuhl vor dem Schminkspiegel plumpsen und betrachtet irritiert sein dick gepudertes Gesicht. »Hey, bist du ich? Sprichst du mit mir? Meinst du mich? Hä?!«

Nein, er ist nicht Robert de Niro. Er hat auch keine Autoaggressionen. Oder doch? Wahnsinn, wo ist er da hineingeraten? Und wie? Der schlimmste aller Albträume eines Musikers ist Realität geworden: Er hat gerade auf der Bühne den Mund auf- und zugemacht und keinen Pieps von sich gegeben – Vollplayback. Vollscheiße. Geht’s denn noch? Aber die Begeisterung des 100-köpfigen Studiopublikums war echt, damit kennt er sich aus. Trotzdem – das alles riecht unecht. Nach Plastik und Schminke.

Die Tür fliegt auf. »Geil, Paul, so was von geil! Ich sag dir eins, in der nächsten Woche bist du unter den ersten drei.«

»Kenn ich den Mann?«, fragt sich Paul und mustert den sonnengegerbten Mittfünfziger mit dem blondierten Vokuhila. »Klar kenn ich den. Chris hat mich ja hierhergebracht. In diesen Hitparadencastingwahnsinn.« – »Okay, Chris, sag an, wie war’s?«

»Hey, das war megageil!«, jubelt Chris.

»Scheiß Playback«, knurrt Paul.

»Paul, ganz ruhig.«

»Ist doch wahr! Ich steh da und mach das Maul auf und zu wie ein fetter Karpfen.«

»Paul, scheiß mal nicht ins eigene Aquarium. Ein Auftritt in Pop Deluxe bringt dir mehr als jedes gut besuchte Klubkonzert. Das Klein-Klein hast du hinter dir.«

»Ich will aber live spielen.«

»Dazu wirst du mehr als genug Gelegenheiten haben. Ich stell gerade die Tour zusammen.«

»Tour? Meine Tour? Das ist ja schön, dass ich das auch mal erfahre. Da muss ich erst mal meinen Terminkalender checken.«

»Paul, du hast doch gesagt … Jetzt lass mich bloß nicht hängen. Ich reiß mir hier den Arsch auf und du moserst nur rum.«

Paul sieht Chris nachdenklich an. Chris Meier – Manager und Produzent. Eigentlich eher Schlager. Aber mit unglaublich viel Erfahrung. Hat ihn nach dem ersten Stadelheim-Konzert angesprochen. Warum war Chris da überhaupt hingegangen? Na ja, der große Pressebericht vorab in der »Süddeutschen Zeitung« hat schon gezogen. Diese Musikmanager sind ja Trüffelschweine, die riechen es, wenn es irgendwo was ganz Besonderes mit Erfolgspotenzial gibt. Jedenfalls war Chris bei dem Konzert und es hat ihm gefallen. Er hat Paul an dem Abend bereits eine große Zukunft prophezeit. Wenn er es richtig angeht – mit dem richtigen Manager. Mit ihm. Noch ist Chris nicht sein Manager, aber er wird wohl unterschreiben. Denn er hat genug Konzerte vor einer Handvoll Besuchern gegeben. Er will endlich einmal Geld verdienen mit seiner Musik. So viel, dass er davon leben kann. Da muss man eben ein paar Kompromisse eingehen.

Chris reicht ihm einen Umschlag. »Schau ihn dir in Ruhe an.«

»Den Umschlag? Ja, er ist schön weiß. Gefällt mir. Was ist drin? Kohle? Cash?«

»Der Vertrag, du Scherzkeks. Na los, Paul! Schau rein.«

»Ich zeig ihn meinem Anwalt.«

Chris sieht ihn irritiert an. Seine linke Augenbraue zuckt nervös.

Paul grinst. »Nur ein kleiner Scherz.«

»Ganz toll, deine Scherze. Paul, ich sag’s dir ganz offen: Denk nicht zu lange nach. Morgen gibst du mir Bescheid. So, ich muss jetzt los.«

Paul sinkt auf seinen Stuhl, zündet sich eine Zigarette an, betrachtet sich gedankenverloren in dem großen Spiegel. Plötzlich piept es wie verrückt. Der Feuermelder an der Decke. Hektisch sieht Paul sich um. Kein Besen, nichts. Er nimmt eine volle Cola-Dose und wirft sie nach dem blinkenden und fiependen Plastik-Ufo. Volltreffer. Das Teil kracht zu Boden. Piept immer noch. Schwungvoll tritt Paul auf das weiße Plastikteil. Piep, piep, piep! »Stirb, Bestie!« Kunststoff splittert, dann endlich Stille.

»Siehst du mal!«, murmelt Paul und nimmt einen letzten Zug aus seiner Zigarette, die er die ganze Zeit im Mundwinkel hatte. Aber cool ist anders. Sein Herz pocht immer noch wild und seine Stirn ist schweißnass.

Ungeniert

»Weiß gar nicht, was du hast, Andrea. Das war doch gar nicht schlecht«, meint Tom und nimmt sich eine Handvoll Chips aus der großen Glasschale auf dem Couchtisch. Im Fernseher flimmert immer noch Pop Deluxe, jetzt ist der ölige Moderator gerade bei Nummer fünf der Hitparade. Eine sehr junge, sehr bleiche Rapperin mit einem neongrünen Neoprenanzug schießt heisere Wortkaskaden auf das Saalpublikum ab. Wenn sie es denn täte. Die Mundbewegungen und der Sound sind nicht wirklich synchron.

Andrea kratzt sich nachdenklich am Kopf. Nicht wegen der Rapperin, sondern wegen Toms Fehleinschätzung von Pauls Darbietung. »Nicht schlecht« trifft es »nicht ganz«. Man kann das »nicht« ruhig weglassen. Dieses verdammte Vollplayback war verdammt noch mal das Schlimmste, was sie je von Paul gesehen hat. Da hilft ihm auch sein gutes Aussehen nix. Scheiße ist Scheiße, egal in welcher Verkleidung und in welcher Kulisse sie daherkommt.

Sie sieht zu Tom. Der trinkt einen großen Schluck Bier, nimmt sich noch eine Handvoll Chips. Fühlt sich ein bisschen sehr zu Hause, denkt Andrea mit mehr als nur einem Anflug von Missfallen. Ein richtiges Paar sind sie noch lange nicht – das wüsste sie –, als dass er sich in ihrer Wohnung so heimisch fühlen dürfte. Fehlt nur noch, dass er gleich ganz ungeniert einen ziehen lässt. Quatsch! Das ist natürlich unfair. Sie weiß auch nicht, was los ist. Tom ist immer nett, nie aufdringlich. Und wahrscheinlich wollte er nur etwas Nettes sagen über Pauls Auftritt in dieser unterirdischen Fernsehshow. Ist sie jetzt zu kritisch – neidisch auf Paul, dass sein lang gehegter Traum, von der Musik zu leben, tatsächlich in greifbare Nähe zu rücken scheint? Während sie weiterhin ihr Beamtendasein fristen muss?

Auch Unsinn. Sie hat einen guten Job. Wobei ihr der im Moment tatsächlich nicht besonders schmeckt. Was nicht an ihrem Chef Josef liegt. Im Gegenteil. Mit dem ist sie in letzter Zeit super klargekommen. Aber seit die anderen zurück sind, ist es anders. Komplizierter.

Karl Meier ist nach seinem Fortbildungs-Abstecher zu Europol noch einen guten Tick arroganter als sonst – »Weißt eh, Baby – international, das ist voll die geile Baustelle, da geht’s ab, da passieren die richtig großen Dinger!« Was für ein Schwätzer! Es fällt ihr schwer zu glauben, dass Karl Familie hat. Vielleicht ist er da ganz anders? – Der? Anders? Das kann er doch gar nicht.

Harry Kramer ist vom Rauschgiftdezernat zurück und noch verwahrloster als vorher. Seine langen Haare könnten dringend mal eine Ladung Shampoo vertragen. Na ja, das sind ja eher Äußerlichkeiten. Sie mag seine kauzige Art – allein schon die Tatsache, dass er die Fensterbretter im Büro mit Kakteen pflastert und sie liebevoll jeden Tag mit einem Zerstäuber wasserbedampft. Ganz zu schweigen von dem Bonsaibaum auf seinem Schreibtisch. Dass er den Baum »Herbert« nennt, ist nur ein Witz. Oder?

Christine Pulver hat sich aus dem Krankenstand zurückgemeldet. Ihre Bandscheibe scheint wieder okay zu sein. Sie sprüht geradezu vor Energie und nutzt jede Gelegenheit, Josef hochzunehmen. Und Josef erträgt es mit einer Engelsgeduld. Würde sie sich als Chefin nicht bieten lassen. Aber sie ist ja nicht Chefin, sondern nur ein kleines Rädchen im großen Beamtenapparat. Eine streng hierarchische Ordnung, in die sich Paul nie fügen muss. Ja, wenn man Erfolg hat, dann ist eine Musikkarriere schon interessanter als ein festes Einkommen beim Staat. Wenn. Noch ist Pauls Popstar-Laufbahn nicht viel länger als ein Dreiminutenplaybackauftritt in einem Privatsender. Überschaubar.

Andrea hört die Abmoderation und Schlussmelodie von Pop Deluxe. »Und, wie war die Nummer eins?«, fragt sie.

Keine Antwort. Tom ist eingeschlafen.

Sie nimmt ihm die halb volle Bierflasche ab und trinkt. Wäre schade drum. Sie schaltet den Fernseher aus und denkt nach. Über nichts eigentlich. Soll sie noch auf Paul warten? Nein, der wird so bald nicht kommen. Sie holt eine Decke und legt Toms Füße hoch, deckt ihn zu. Dann geht sie ins Bad. Betrachtet skeptisch ihr Gesicht. Nicht schlecht eigentlich. Immer noch jugendlich. Fast faltenfrei. Aber mit Anfang 30 definitiv zu alt für eine Pop-Karriere. Und wenn sie bei Paul Bass spielt, in der zweiten Reihe? Auf seiner Deutschlandtour. Nein! Paul braucht sie nicht. Zumindest dafür nicht.

Vollbesetzung

Tom ist schon weg am Morgen. Aber irgendwie hat er noch Croissants geholt. Super. Andrea hat einen Riesenhunger. Aber sie ist irritiert. Wie hat Tom das gemacht? Er hat doch keinen Schlüssel? Hat er einfach ihren Schlüssel von der Ablage im Flur genommen? Das mag sie nicht, das ist übergriffig. Oder ist das jetzt uncool, so zu denken? Er wollte ihr doch nur eine Freude bereiten. Soll sie die Croissants jetzt essen? Ach, jetzt sind sie schon da. Man schmeckt ja nicht, wie sie beschafft wurden. So viel Sensibilität geht ihr dann doch zu weit. Aber sie wird Tom darauf hinweisen, dass sie so etwas nicht möchte. Irgendwie. Freundlich.

Die Croissants schmecken super zum Kaffee. Mit viel Marmelade. Vielleicht sagt sie doch nichts, ist ja auch irgendwie kleinkariert. Sie trinkt den letzten Schluck Kaffee und steht vom Küchentisch auf, um in Pauls Zimmer zu schauen. Paul schnarcht selig. Und entfaltet dabei einen strengen Duft. Old Schweiß. Er trägt immer noch das T-Shirt, das er im Fernsehen anhatte. Puh! Sie schließt die Tür und macht sich fertig.

Draußen ist es schneidend kalt, aber klar. Der Novemberhimmel ist stahlblau, zeigt kein Wölkchen. Außer von ihrem Atem. Sie zieht die Handschuhe an und steigt aufs Rad. Hochgefühl. Das Westend leuchtet. Die Altbaufassaden, die Backsteinmauern der Augustiner Brauerei. Die Luft riecht nach Treber. Der altmodische Waschsalon mit den Plastikstühlen für die Raucher auf dem Bürgersteig, der kleine Gemüsemarkt an der Ecke, der nur noch Grünkohl und Lauch draußen hat, der Backshop mit den beschlagenen Scheiben. Menschen hasten zur Arbeit. Halb neun. Andrea hat keine Eile. Teamsitzung ist um neun. Schafft sie lässig. Die erste in Vollbesetzung seit zwei Monaten. Letzte Woche war Josef in Urlaub und die anderen waren mit kleineren Einzelgeschichten beschäftigt. Sie ist gespannt, wie es heute wird. Hoffentlich gibt es keine Reibereien. Das kann sie zum Wochenstart nicht brauchen.

Sie fährt in den Innenhof des Präsidiums und kettet ihr Rad an ein Geländer.

»Was kann ich dafür, wenn deine Scheißkakteen hier am Fenster stehen?«, ist der erste Satz, den Andrea im Großraumbüro zu hören bekommt. Von Karl natürlich. Harry kriecht auf dem Boden herum, schiebt mit Kopierpapier trockene Erde zusammen und bemüht sich, seine stacheligen Patienten wieder in ihren Töpfchen zu stabilisieren.

»Hey, Spitzenlaune, Jungs, ganz groß. Guten Morgen!«, ruft Andrea ihren Kollegen zu.

»Fass du als Erstes am Morgen mal in so einen Kaktus«, sagt Karl genervt und deutet aufs Fensterbrett.

»Ach, das macht deine Frau doch jeden Tag.«

»Vorsicht!«

»Sei doch froh, dass zumindest einer unser Büro ein bisschen wohnlich macht.«

»Alles klar, Andrea. Soll ich dir vielleicht mal ein paar Schnittblumen mitbringen?«

»Das traust du dich nie.«

»Guten Morgen, André«, sagt Harry und kriecht mit einem weiteren Töpfchen unter der Tischplatte hervor.

»Was soll das jetzt?«, fragt Andrea. »Samma jetzt in Frankreich?«

»Nicht du, das ist André.« Er hält den Kaktus hoch. André hängt noch ein bisschen schräg in den Seilen. »Mein kleiner Stuntman«, tadelt Harry ihn, bevor er seinen Freund wieder auf dem Fensterbrett platziert.

Andrea kratzt sich am Kopf. Hat sie das vermisst, das wirre Gelaber? Klar. Und wie.

Die Teamsitzung beginnt ohne Christine. Josef geht die Liste offener Fälle durch und setzt Prioritäten, verteilt Aufträge. Dann schneit Christine herein. Ihre Langhaarlocken sind in leichter Konfusion. »Sorry, Leute, ich hab verschlafen.«

»Passt schon«, sagt Josef.

»Hey, ich hab deinen Bruder gestern im Fernsehen gesehen.«

»Oh«, sagt Andrea nur.

»Paul war im Fernsehen?«, fragt Josef.

»Ja. Er macht jetzt Karriere mit seinen Barnhome Brothers.«

»Barn-was?«, fragt Karl.

»Barnhome Brothers.«

»Was soll das sein? Heustadel-Brüder? Eine Schwulencombo?«

»Genau, mein Süßer. Du hast es echt nötig. Barn-home wie Stadel-heim.«

»Ha! Soll das witzig sein?«

»Dann lach doch!«

»Haha.«

»Ruhe!«, geht Josef dazwischen und fährt fort.

Andrea hört ihm nicht wirklich zu, denkt über die anwesenden Personen nach. Die könnten unterschiedlicher nicht sein. Eine Versuchsanordnung. Der liebe Gott will wissen, was passiert, wenn man so unterschiedliche Typen in einem Raum zusammensperrt.

»Andrea, hörst du mir zu?«, fragt Josef.

»Ja, klar.«

»Dann mal los. Schleißheimer 112 b.«

Christine steht auf. »Na komm, Andrea, dann starten wir mal in eine blutige Woche.«

»Was meinst du mit ›blutige Woche‹?«, fragt Andrea auf dem Flur.

»Du hast gar nicht zugehört, oder?«

»Nicht wirklich.«

»Der letzte Fall. Ein Opfer heute Morgen, ein Mann. Mit 50 Einstichen.«

»50

»Vielleicht auch 48 oder 49. Oder 51. Sehr viele jedenfalls.«

»Tot?«

»Aber so was von.«

Sie fahren in die Schleißheimer Straße. Christine erkundigt sich bei Andrea, was los war in der letzten Zeit. Andrea erzählt ihr von der Oktoberfestsache mit den K.o.-Tropfen. Die Geschichte mit Paul lässt sie lieber unter den Tisch fallen. Und die mit Tom auch. Da ist in letzter Zeit ziemlich viel Privates und Berufliches durcheinandergeraten.

»Stimmt das, dass du und Tom ein Paar seid?«, fragt Christine.

»Wer sagt das?«

»Das weiß doch jeder im Präsidium.«

»Wer ist jeder?«, insistiert Andrea.

»Na, man hört es eben. Ist doch egal. Und, seid ihr ein Paar?«

»Nein, nicht wirklich. Also nicht immer. Gelegentlich.«

»Nimm dich in Acht, Andrea. Liebe am Arbeitsplatz ist eine heiße Kiste.«

»Lass mich raten: Josef?«

»Wie kommst du da drauf?«, fragt Christine.

»Weiß doch jeder im Präsidium.«

Christine hält in der Schleißheimer Straße 112.

»Hat Josef dir das erzählt?«, hakt Christine nach.

»Nein. Aber so, wie ihr euch beharkt, ist das nicht so schwer zu erraten.«

»Das ist Jahre her. Jetzt ist er ja glücklich verheiratet.«

»Ist er das?«

Christine überlegt ein bisschen. Dann murmelt sie: »Was weiß denn ich?«

»Ging das denn lange mit euch?«

»Zwei Jahre.«

»Zwei Jahre?«

»Eine gute Zeit. Aber der Job hat alles aufgefressen. Und bei dir? Was ist mit Tom?«

»Er will mehr als ich.«

»Weiß er das?«

»Ja, ich hab es ihm gesagt.«

»Dann ist’s ja gut. So, dann schauen wir uns mal das Blutbad an.«

Ein sechsstöckiges Wohnhaus, 60er-Jahre. An der sehr lauten Schleißheimer Straße. Eisvogel wahrscheinlich, denkt Andrea. Die 112 b ist die Nummer des Hinterhauses.

Als das Tor der Durchfahrt hinter ihnen zufällt und sie den Innenhof betreten, ist es erstaunlich still. Und grün. Rasen, Büsche, eine alte Kastanie. Ein Vogel zwitschert.

Nicht meins, denkt Andrea fröstelnd. Vor ihnen eine zweistöckige Remise. Ein altes Werkstatthäuschen, vorbildlich renoviert. Gefällt Andrea. So prinzipiell. Lage schon schwierig. Darf man keine Probleme damit haben, dass einem sämtliche Nachbarn in die Wohnung schauen können. Da lebst du wie auf dem Präsentierteller. In ihrem Fall vielleicht gar nicht schlecht. Sie sieht an den Balkonen hoch, überschlägt die Zahl der Wohnungen, an deren Türen sie klingeln müssen, um nach Zeugen zu fragen.

»Andrea, wo bleibst du?« Christine hält ihr die Tür auf.

Sie betritt die Remise. Kein Treppenhaus. Sie steht gleich im Flur der Wohnung. Wohnung? Dafür ist das alles ein bisschen zu üppig. Sehr großzügig, das Wohnzimmer am Ende des Flurs ist ein mittlerer Ballsaal. Wahrscheinlich früher mal die Werkstatt.

»Und hier wohnt nur eine Partei?«, fragt Andrea.

»Sieht so aus. Nicht schlecht oder?«

»Kannst du laut sagen. Wo ist die Leiche?«

»In der Küche«, sagt einer der Spurensicherer, der gerade den Rahmen der Terrassentür mit einem Pinsel pudert.

»Ist Tom auch da?«

»Küche.« Er deutet nach rechts.

Die Küche ist nur durch einen Küchenblock vom Wohnzimmer abgetrennt. Tom ist gerade mit der Spülmaschine beschäftigt.

»Na, du Hausmann«, begrüßt ihn Andrea.

Tom kommt aus der Hocke hoch. »Hi, Andi, äh …« Er sieht ihre Kollegin an.

Die streckt ihm die Hand hin. »Christine. Ich mag’s familiär. Was machst du da?«

»Ich mess die Temperatur. Restwärme. Ich will wissen, wann die Maschine durchgelaufen ist.«

»Speichert das die Kiste nicht? Das sind doch heute die reinsten Computer.«

»Die hier nicht. Eine gute alte Miele. Vergleichsweise simple Elektronik. Aber am Drehschalter siehst du, welches Programm zuletzt eingestellt war. Der Knopf war auf Intensiv. Das hat 70 Grad.«

»Und weiter?«

Tom zeigt zur Spüle, wo ein großes Fleischermesser in einem Asservatenbeutel liegt. »Das war in der Maschine.«

»Die Tatwaffe?«, fragt Andrea.

»Könnte sein.«

»Bleiben da Spuren bei 70 Grad?«

»Glaub ich nicht. Aber wir werden sehen.« Er deutet auf sein Temperaturmessgerät. »Als ich das Messer rausgeholt habe, war die Edelstahlblende der Maschine noch 27 Grad warm. Wenn jetzt der Spülvorgang durch ist, warte ich, bis die Temperatur wieder auf 27 runter ist, dann können wir relativ genau ausrechnen, wann die Spülmaschine eingeschaltet wurde, wann also jemand das große Messer da reingesteckt hat. Vermutlich kurz nach dem Mord.«

»Na ja, eher Totschlag«, meint Andrea. »So viele Stiche, das ist Affekt, nicht kühl geplant. Sind an der Spülmaschine denn Spuren, Fingerabdrücke?«

»Nein, die ist blitzblank. Was keinen Sinn macht, wenn da eine ganz normale Ladung Geschirr durchgelaufen wäre. Da wollte jemand Spuren beseitigen.«

Andrea und Christine betrachten die große Blutlache neben dem Kühlschrank. Dickes, dunkles Blut. Auf der Leiche liegt eine weiße Kunststoffplane. Andrea hebt sie an, erschrickt wegen der vielen Einstiche im blutdurchtränkten Hemd. Lässt die Plane wieder los.

»Seine Frau hat ihn gefunden«, sagt Christine. »Wo ist sie?«

»Wird betreut. Kriseninterventionsteam. Oben.«

»Wir schauen uns noch kurz um«, sagt Andrea, »dann befragen wir sie.« Sie sieht aus dem großen Küchenfenster in den Hof. Geht in die Hocke, blickt nach oben.

»Meinst du, jemand von den Nachbarn hat was gesehen?«, fragt Christine.

»Wenn es nachts passiert ist und in der Küche Licht war – vielleicht.«

»Es muss passiert sein, als es noch dunkel war«, sagt Tom. »Die Leiche war kalt, als die ersten Kollegen hier eingetroffen sind. Aber wenn jemand etwas gesehen hat, hätte er oder sie das doch gemeldet?«

Andrea nickt. »Vermutlich. Aber für uns ist nicht nur die Tat interessant. Vielleicht gibt es einen Zeugen dafür, dass hier gestern Nacht oder heute Morgen mehr als eine Person im Haus war. Dass es eine Auseinandersetzung gab und zwei Leute sich angeschrien haben.«

»Dann sind aber auch die anderen Zimmer interessant. Hier in der Küche gab es ja nur das Finale. Da müsst ihr jedenfalls einer Menge Leute Fragen stellen.« Tom deutet zu der großen Terrassentür des Wohnzimmers. Durch diese kann man die gesamte Rückseite des Vorderhauses sehen, alle Fenster, alle Balkone.

»Ja, super«, stöhnt Andrea, »ich freu mich schon aufs Klinkenputzen.«

Christine winkt ab. »Komm, jetzt fragen wir erst mal die Dame des Hauses.«

Sie steigen ins Obergeschoss. Eine steile Holztreppe vor einer Außenwand aus Glasbausteinen.

Andrea ist beeindruckt. »Boh, das ist echt eine schöne Wohnung.«

»Du kannst die Witwe ja fragen, vielleicht wird die Bude ja jetzt frei.«

»Ich liebe deinen Humor.«

Sie betreten das Schlafzimmer. Nicken der Frau vom Krisenteam zu. Sie verlässt den Raum. Eine zierliche junge Frau mit langen blonden Haaren sitzt am Ende des großen Bettes. Blick leer auf die Wand gerichtet.

»Sind Sie Frau Meyfarth?«, fragt Andrea.

Die Frau nickt unmerklich.

»Wir sind von der Kriminalpolizei und hätten ein paar Fragen. Passt das, jetzt?«

Die Frau dreht sich zu ihr, starrt sie mit großen blauen Augen an, nickt wieder.

Christine übernimmt. »Wann haben Sie Ihren Mann dort unten gefunden?«

»Ich bin um sieben Uhr gekommen.«

»Gestern Abend?«

»Nein, heute Morgen.«

»Wie, das verstehe ich jetzt nicht? Von der Nachtschicht?«

»Wir leben getrennt. Ich wollte vor der Arbeit ein paar Sachen holen. Er verlässt das Haus immer um sechs Uhr dreißig. Ich hab noch meinen Schlüssel und wollte ihm nicht begegnen.«

»Was macht Ihr Mann?«

»Immobilien und Baugewerbe.«

»Und Sie?«

»Ich habe eine Boutique.«

»Aha. Darf ich Sie fragen, warum Sie getrennt leben?«

»Er ist, also, er war nie da, er war ständig geschäftlich unterwegs. Er hat erwartet, dass ich zu Hause auf ihn warte, die Wohnung schön sauber halte. Ich bin nicht seine Putzfrau!«

Andrea nickt und fragt weiter: »Gut, Sie kommen also morgens hier rein und finden ihn. Jede Menge Einstiche und eine große Blutlache. Was haben Sie gemacht?«

»Ich hab die Polizei gerufen.«

»Und dann?«

»Nichts.«

»Was haben Sie angefasst?«

»Ich weiß nicht.«

»Haben Sie was sauber gemacht? Wo waren Sie? In welchen Räumen?«

»Nein. Ich war auf der Toilette. Glaub ich.«

»Und dann?«

»Kamen Ihre Leute.«

Andrea nickt nachdenklich. Sieht aus dem Schlafzimmerfenster über den Hof. Eine zweite Einfahrt. Offener Durchgang. Also kommt man hierher nicht nur durch das Tor an der Schleißheimer Straße. Sie sieht an der Fassade des Hauses auf der anderen Hofseite hoch. Von dort aber kein Blick ins Wohnzimmer. Muss man nicht fragen. Zumindest im ersten Durchgang nicht.

»Die mutmaßliche Tatwaffe war in der Spülmaschine. Haben Sie die Maschine eingeschaltet?«, fragt Christine.

»Nein, hab ich nicht!«, sagt Frau Meyfarth scharf.

Erstaunt sieht Andrea sie an. Dann Christine.

»Ich hab die Spülmaschine nicht eingeschaltet!«, sagt Frau Meyfarth noch einmal bestimmt.

Christine lächelt. »Nein, denn sonst wären auch Ihre Fingerabdrücke auf der Maschine.«

»Warum sagen Sie das so komisch?«

»Weil die Front fein säuberlich abgewischt wurde. Erstaunlich, oder? Manchmal verraten fehlende Spuren ebenso viel wie vorhandene Spuren. Oder noch mehr.«

»Ich war seit über einer Woche nicht mehr hier.«

»Wenn Sie das sagen«, sagt Christine trocken.

»Ja, das sag ich. Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe.«

»Sie müssen Ihre Hände noch auf Blutspuren untersuchen lassen.«

»Das hat einer Ihrer Kollegen schon gemacht.«

»Gut. Dann haben wir ja alles, was wir brauchen. Sie können jetzt gehen. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung.«

»Was heißt das?«

»Verreisen Sie nicht, bleiben Sie in der Stadt.«

»Wie lange?«

»Bis wir sicher ausschließen können, dass Sie mit der Tat nichts zu tun haben.«

Die Frau sieht sie mit kaltem Blick an.

Andrea und Christine gehen nach unten in die Küche. Tom packt gerade seine Sachen zusammen.

»Und, was Neues?«, fragt Andrea.

Er zuckt mit den Achseln, hält den Fühler seines Messgeräts an die Frontplatte der Spüle.

»29 Grad. Noch zwei Grad, dann haben wir die exakte Zeit, wann die Maschine angeschaltet wurde.«

»Komm, mach es nicht so spannend, es geht ja nicht auf die Sekunde. Wann wurde die Maschine eingeschaltet? Nach sieben?«

»Warum nach sieben?«

»Da ist die Frau des Opfers gekommen.«

Tom schüttelt den Kopf. »Circa um sechs Uhr.«

»Dann war sie es nicht«, sagt Andrea. »Oder sie ist nicht erst um sieben Uhr gekommen. Was meinst du, Christine?«

»Wir brauchen Zeugen, die sie vorher gesehen haben. Im Hof, auf der Straße, in der U-Bahn.«

»Na, dann mal los«, sagt Tom. »Viel Erfolg.«

Die Exfrau kommt jetzt die Treppe runter. Unsicherer Gang. Andrea starrt sie an. Sie bewegt sich ganz steif. Irgendwas passt nicht. Oder? Na ja, sie ist geschockt. Ihr Mann liegt da unter einer Plane in seinem Blut. Die Frau sieht aus wie ein Opfer, nicht wie eine Täterin. Andrea nickt ihr zu, die frischgebackene Witwe verlässt die Remise.

Andrea tritt ans Küchenfenster und sieht ihr hinterher. Eiertanz. Knallenge Jeans. Kann sich darin kaum bewegen. »Baby, du bist keine 17 mehr«, murmelt Andrea.

»Los, dann klappern wir jetzt mal die Nachbarn ab«, sagt Christine wenig aufmunternd.

Steil

Als sie drei Stunden später ins Auto steigen, sind sie erschöpft. Und ein bisschen frustriert. Mehr noch: desillusioniert. Das große Wohnhaus bildet die eher schwache soziale Seite Münchens ab. Erstaunlich viele waren in ihren Wohnungen anzutreffen. Wer vormittags zu Hause ist, ist alleinerziehend, arbeitslos oder alt. Vor allem Letzteres. Sie waren in einigen stickigen, staubigen Wohnungen von alten Leuten, die regelrecht Angst vor der Polizei hatten. Gesehen hat niemand etwas. Bedrückende Atmosphäre im ganzen Haus.

»Vielleicht ist es wenigstens billig, hier zu wohnen«, meint Andrea jetzt.

Christine schnauft auf. »Das glaubst du doch selber nicht.«

»Na ja, wenn du einen alten Mietvertrag hast?«

»Jedenfalls zwei Welten. Vorne die Mietskaserne, hinten die schicke Remise. Würdest du als Vermieter so in Blickweite zu deinen Mietern wohnen wollen?«

»Das Haus gehört dem Opfer?«

»Ja, das hat mir die Frau im zweiten Stock rechts gesagt. Und dass es den Richtigen trifft.«

Jetzt sieht Andrea sie interessiert an. »Wie?«

»Herr Meyfarth muss ein echtes Ekel gewesen sein. Die Frau hatte Streit mit ihm wegen ihrem Hund.«

»Braucht sie ja nicht gleich so auszurasten.«

Christine schaut Andrea erstaunt an, dann lacht sie. »Steile These. Hey Alter, hast du meinen Fips schief angeschaut? Hast du? – Ja? – Was? – Blöde Töle?! – Hier! Nimm das!«

»Und das!« Andrea sticht mit einem imaginären Messer auf Christine ein.

»Nein, nein, bitte nicht, ich muss noch fahren!«

Sie lachen. Christine lässt den Motor an und fährt los. Fädelt in den dichten Verkehr ein, konzentriert sich. Stadteinwärts.

»Was glaubst du – wer war’s?«, fragt Christine schließlich auf der Dachauer Straße.

»Die Ehefrau, also die Exfrau«, sagt Andrea.

»Des Mauserl?«

»Stille Wasser stechen tief.«

Christine stöhnt auf. »Oh, komm!«

»Doch, im Ernst. Das ist eine, die steckt viel ein. Und irgendwann ist es dann genug. Er provoziert sie, macht sie runter, und dann plötzlich Kurzschluss und die ganze aufgestaute Wut platzt heraus. Auf einen Schlag. Oder mit 50 Messerstichen. Das Messer lag in der Spüle oder auf der Arbeitsplatte, sie greift es sich, sticht zu. Da steckt eine enorme Wut dahinter, die entsteht nicht von jetzt auf gleich, sondern hat einen ganz langen Vorlauf.«

»Aha. Bist du jetzt Psychologin oder was?«

»Ich denk nur laut nach«, sagt Andrea.

»Und dann ist sie so zurückhaltend, so passiv wie vorhin? Sitzt oben auf dem Bett und unten in der Küche liegt ihr Exmann in einer Blutlache? Und steht uns brav Rede und Antwort.«

»Sie hat sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückgezogen. Rede und Antwort würde ich das auch nicht nennen. Sie hat nicht wirklich viel gesagt.«

»Hm, Andrea, ich weiß nicht. Wir haben nichts. Keiner aus dem Haus hat was gesehen. Wenn es wenigstens einen Hausmeister gäbe. Natürlich nicht. Der ist outgesourced. Was machen wir?«

»Wir besprechen uns mit Josef.«

»Dr. Sommer hat gesagt, dass wir um drei Uhr zu ihm kommen können.«

»Hat der die Leiche dann schon fertig?«, fragt Andrea.

»Nur die ersten Fakten. Und ob Fremdspuren zu finden sind.«

»Von seiner Frau. Dann wäre es einfach.«

»Wieso? So verwunderlich wäre das nicht. Es ist ja seine Frau.«

Andrea schüttelt den Kopf. »Gewesen. Sie ist vor einem halben Jahr ausgezogen.«

»Erbt sie das Haus?«, überlegt Christine.

»Keine Ahnung.«

»Wäre aber ein gutes Motiv. Das ist lässig zwei Millionen wert.«

»Sie hat ihn nicht mit Vorsatz erstochen. Also, wenn sie es war, dann war es eine Affekthandlung.«

»Und dann lassen wir sie gehen?«

»Wir haben nichts in der Hand. Bis jetzt. Vielleicht hat Tom noch was für uns. Oder Dr. Sommer, wenn er den Mann auf dem Tisch hatte.«

Christine nickt. »Wenn sie es tatsächlich getan hat, dann hat sie erstaunlich gute Nerven. Ich würde durchdrehen nach so einer Tat. Und schnellstmöglich den Tatort verlassen. Also mit Josef hatte ich ja auch immer wieder handfeste Auseinandersetzungen …«

»Hä?«

»Nur Spaß, meine Liebe.«

»Das hoff ich doch.«

50/70

Dr. Sommer steht mit seinem Diktiergerät an der Leiche. »Circa 50 Einstiche im Oberkörper. Vor allem an Rücken und Schultern. Etwa die Hälfte der Einstiche sehr tief. Zahlreiche Verletzungen an inneren Organen. Todesursache: innere Blutungen.«

Christine und Andrea bleiben im Türstock stehen und sehen Sommer bei der Arbeit zu. Er ist bestens gelaunt und pfeift leise, während er die zahlreichen Stiche noch mal in Augenschein nimmt.

»Summertime – and the killing is easy …«, trällert Christine.

Sommer sieht von seiner Arbeit auf. »Hallo, die Damen. Was ihr mir so alles auf den Tisch bringt. Muss man mögen. Sieht aus wie die Übungspuppe einer Messerwerfertruppe. Da ist was ganz schön aus dem Ruder gelaufen.«

»Irgendwas, was wir so nicht sehen?«, fragt Andrea. »Außer den Einstichen?«

»Nicht wirklich. Aber Klingenlänge und -breite passen zu dem Fleischmesser, das Tom mitgebracht hat.«

»Sind Spuren dran?«

»Gar nichts. Das Messer war bei 70 Grad in der Spülmaschine.«

»Ja, leider.«

»War es ein Täter oder eine Täterin?«, fragt Christine.

»Kann man nicht sagen. Auch Frauen können erstaunliche Kräfte entwickeln.«

»Wenn sie bedrängt werden«, sagt Andrea. »Also die Frau des Opfers.«

»Die Stiche wurden von rechts ausgeführt«, erklärt Dr. Sommer. »Ist sie Rechtshänderin?«

»Müssen wir noch checken«, meint Andrea.

»Ist sie überhaupt der Typ für eine solche Übertötung?«, fragt Dr. Sommer. »Das sind schon ziemlich überbordende Aggressionen.«

Christine zuckt mit den Achseln. »Also besonders impulsiv schien mir die Frau nicht zu sein.«

»Man sieht nicht rein in die Leute«, meint Andrea.

Sommer schüttelt den Kopf. »Ich schon. Aber erst, wenn sie tot sind. Waren an ihren Händen Anhaftungen vom Blut des Opfers?«

Andrea schüttelt den Kopf. »Toms Kollegen haben das geprüft. Nein, da war kein Blut. Allerdings eine hohe Konzentration von Flüssigseife. Was ja durchaus ein Indiz ist, dass sie sich nachhaltig die Hände gewaschen hat. Ein Indiz, das uns allerdings hinsichtlich der Beweislage nicht wirklich weiterbringt.«

Sommer nickt. »Wenn ich noch was rauskriege, melde ich mich.«

»Danke!«, sagen Andrea und Christine gleichzeitig.

»Immer gerne.« Er zieht ein Tuch über den toten Körper und hängt seinen Kittel auf.

»Schon fertig für heute?«, fragt Andrea erstaunt.

»Nein. Aber meine Patienten laufen mir nicht davon. Ich muss noch zum Metzger fürs Abendessen. Es gibt Hackbraten.«

26/39

Andrea zieht noch mal alleine los. In die Schleißheimer Straße 112 b. Es ist halb fünf und schon dämmerig. Sie hat sich von Tom den Schlüssel zum Hinterhofhaus organisiert. Vom Team waren alle beschäftigt. »Soll ich mitkommen?«, hatte Tom angeboten. Sie hatte abgelehnt. Jetzt ärgert sie sich. Falscher Stolz. Sie fühlt sich unwohl, als sie durch die Einfahrt in den dunklen Hinterhof tritt.

Sie sieht an der rückwärtigen Hausfassade hoch. Hinter zahlreichen Fenstern brennt Licht, oft flimmern auch nur die Fernseher bläulich. Sie sperrt die Haustür der Remise auf, drückt den Lichtschalter im Flur. Poff! Die Glühbirne des Flurlichts hat sich verabschiedet.

»Na super.« Andrea tastet sich den Gang entlang zur Küche, räumt unterwegs ein paar Jacken von der Garderobe. Dann endlich Licht. Ihr Blick geht zu dem großen Blutfleck auf den Fliesen. Übelkeit steigt in ihr hoch.

Sie sieht weg. Stellt das Wasser am Spülbecken an und beugt sich unter den Hahn, um zu trinken. Frisches, klares Wasser. Sie fühlt sich augenblicklich besser. Trotzdem. Sie hätte nicht alleine herkommen sollen. Diese Stille. Plötzlich – ein Klirren! Erschrocken dreht sie sich um, hat die Hand an der Waffe. Nur der Kühlschrank, der sich geschüttelt hat.

Andrea geht nach oben. Schlafzimmer. Sie sieht die zerwühlte Tagesdecke. Dort saß sie. Mit ängstlichen Augen. Mit stockender Stimme. Andrea öffnet den Kleiderschrank. Mit dem Öffnen der Türen glimmt die Innenbeleuchtung auf. Penible Ordnung: Anzüge, Hemden, alles gebügelt. Pullover akkurat gefaltet. Vier Paar schwarze, glänzende Männerschuhe. Sie schließt den Schrank, probiert eine der beiden Türen, die von dem großen Schlafzimmer weggehen. Badezimmer. Sie sieht sich um. Inspiziert den Boden, den Mülleimer. Nichts. Auf der Ablage und im Badschrank nur Hygieneartikel für Männer. Also auch keine neue Frau. Was wollte seine Exfrau abholen? Kleider? Haben sie und Christine nachgefragt? Nein, haben sie nicht. Fahrlässig.

Andrea probiert die andere Tür. Eine Kammer, ein begehbarer Schrank. Sie knipst das Licht an. Hier jetzt Frauenkleidung. Mäntel, Jacken, Kleider, Röcke. Jede Menge Schuhe und Hosen. Sie zieht eine Levis heraus und studiert das Etikett am Bund. Weite 26. Oh Mann, sie selbst hat Größe 29 und ist durchaus schlank. 26 ist eine Kindergröße. Oder Kate Moss. Kein Wunder, dass Frau Meyfarth sich kaum bewegen kann. Andrea hat genau vor Augen, wie sie heute Vormittag davongestakst ist. Sie mustert die Stiefel. Besonders die schwarzen handgearbeiteten Cowboystiefel. Solche wollte sie schon immer haben. Sie nimmt einen Stiefel und betrachtet die Sohle. Keine Größenangabe. Kurz zögert sie, dann zieht sie ihren rechten Schuh aus und schlüpft in den Boot. Passt perfekt. Wie angegossen. Butterweiches Leder. Sie zieht auch den zweiten Stiefel an und begutachtet sich im bodentiefen Spiegel. Cool! Könnte sie glatt in Versuchung kommen. Wenigstens ist das eine normale Schuhgröße – 39. Sie mustert sich im Spiegel, ihre Figur, überlegt. 26 und 39? Sie zieht die Stiefel wieder aus. Steckt die Levis in ihre Umhängetasche und verlässt das Haus.

Rablstraße 4 lautet die Adresse von Frau Meyfarth. In Haidhausen. Ist das denn okay, ihr so spät noch einen Besuch abzustatten? Ihr Fragen zu stellen? Einen Versuch ist es wert.

Eine halbe Stunde später steigt Andrea am Rosenheimer Platz aus der S-Bahn und geht die Franziskanerstraße vor bis zur Rablstraße. Es riecht nach gebratenen Zwiebeln. Und Fleisch. Den Burgerladen speichert sie für nachher ab. Sie hat jetzt schon Riesenhunger.

Nummer vier. Sie studiert das Klingelschild. Meyfarth. Vierter Stock. Sie klingelt. Nichts. Noch mal. Dann schließlich eine unsichere Stimme: »Ja?«

»Frau Meyfarth, ich bin’s noch mal. Andrea Mangfall. Kripo. Ich hätte da noch ein paar Fragen. Darf ich reinkommen?«

Türöffner summt. Andrea betritt das Haus. Macht das Licht an. Das Treppenhaus ist erheblich schöner, als die Fassade des Altbaus von außen vermuten lässt. Understatement. Sie liest am schwarzen Brett den Namen der Hausverwaltung. Meyfarth & Co. Klar, ihr Exmann. Hat er sie nach der Trennung noch mit einer hübschen Altbauwohnung versorgt? Vermutlich.

Frau Meyfarth wartet in der offenen Tür. Sie sieht nicht gut aus. Frisur derangiert, Gesicht sehr blass, dunkle Ränder um die Augen.

»Entschuldigen Sie, dass ich so spät noch störe.«

»Ich hatte mich hingelegt.«

»Das tut mir leid. Darf ich eintreten?«

»Bitte.« Frau Meyfarth gibt die Tür frei.

Andrea betritt die kleine, geschmackvoll eingerichtete Wohnung. Auf dem Sofa liegen ein zerdrücktes Kissen und eine Wolldecke.

»Kann ich Ihnen was anbieten?«

»Ein Wasser, gerne.«

Als Frau Meyfarth in die Küche geht, betrachtet Andrea nachdenklich ihre Beine und ihren Po in der grauen Jogginghose.

Sie kommt mit dem Wasser zurück. »Setzen Sie sich doch bitte. Also?«

»Ich wollte Ihnen noch von der Obduktion erzählen.«

»Muss das sein?«

»Ja. Ich denke, Sie sollten das wissen. 50 Einstiche.«

»Mein Gott!«

»Teilweise mit sehr großer Wucht ausgeführt. Wir sprechen bei so einer Tatmotivation von Übertöten. Wahrscheinlich stressbedingt.«

Frau Meyfarth sieht Andrea starr an.

»Das Messer ist noch in der KTU

»KTU

»Kriminaltechnische Untersuchung. Es ist ein bisschen blöd, das Messer war in der Spülmaschine. Bei 70 Grad. Aber es gibt jetzt ein neues Verfahren mit Infrarotlicht. Ganz neu. Da kann man noch kleinste Anhaftungen sichtbar machen. Die Kollegen haben eine DNA-Probe von Ihnen?«

»Ihre Kollegen sagten doch …«

»Dass es um das Ausschließen von Spuren geht. Natürlich. Ihre DNA ist im ganzen Haus verteilt. Nur damit wir das sauber trennen können. Wir suchen nach anderen Spuren.«

»Aha. Und das Messer?«

»Wir werden sehen. Sagen Sie, kann ich schnell mal Ihre Toilette benutzen?«

»Hinter dem Bad rechts.«

Andrea steht auf und geht zum Klo. Am Schlafzimmer vorbei. Sie späht durch den Spalt der angelehnten Tür. Nein, da kann sie nicht einfach rein. Zu auffällig.

Das Bad. Sie huscht hinein und greift in den Wäschekorb. Nichts. Oder? Die Hose von heute Morgen ist nicht dabei. T-Shirts, Unterwäsche – doch, ganz unten eine Jeans. Andrea zieht sie heraus. Kein Etikett am Bund. Aber innen am Waschhinweis steht die Bundweite. 29. Na bitte! 

»Was machen Sie da?!«, fragt Frau Meyfarth.

Andrea sieht sie ernst an. »Ist das Ihre Hose?«

»Das ist mein Badezimmer.«

»Wo ist die Hose von heute Morgen?«

»Bitte?«

»Die Sie heute Morgen anhatten. Die sehr eng war.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Bitte gehen Sie jetzt!«

Andrea geht ins Wohnzimmer, holt aus ihrer Tasche die Jeans aus der Remise. »Die hier hat Größe 26. Ich schätze mal, Sie hatten heute Morgen eine Hose in dieser Größe an. Nur, dass sie Ihnen nicht mehr passt. Schon länger nicht mehr. Damals hatten Sie sich für Ihren Mann runtergehungert. Heute tragen Sie Größe 29. Wie ich. Was ist mit der Hose, die Sie ursprünglich anhatten, als Sie das Haus Ihres Mannes betreten haben? Sind Blutflecken darauf?«

Die zwei Frauen sehen sich in die Augen. Frau Meyfarth ist ganz blass. Ihr Blick ist fiebrig. In ihrem Kopf arbeitet es gewaltig.

Andrea sieht auf den rechten Oberschenkel der Frau. Auf dem grauen Sweatpants-Stoff breitet sich ein dunkler Fleck aus.

Jetzt sackt Frau Meyfarth zusammen. Andrea zieht sie ins Wohnzimmer aufs Sofa und legt ihre Beine hoch, ruft einen Krankenwagen. Dann sucht sie eine Schere. In der Küchenschublade findet sie eine. Sie schneidet den Hosenstoff an der blutigen Stelle auf, legt eine durchweichte Mullbinde frei. Sie holt aus dem Bad ein frisches Handtuch, entfernt die Binde und presst das Handtuch auf die klaffende Schnittwunde. Frau Meyfarth atmet flach.

»Es kommt gleich Hilfe!«, versucht Andrea sie zu beruhigen und ruft einen Krankenwagen.

Die Sanitäter kommen sehr schnell und kümmern sich um die Wunde.

»Das sieht nicht gut aus«, sagt einer der beiden Sanitäter. »Die Frau muss schnellstens ins Krankenhaus.«

»Wo bringen Sie sie hin?«

»Rechts der Isar.«

Andrea ruft die Kollegen an und bestellt eine Beamtin zum Krankenhaus, die sich nach der OP vor dem Krankenzimmer postiert. Sie verlässt mit den Sanitätern das Haus. Unten wartet sie, bis der Krankenwagen abgefahren ist. Dann atmet sie tief durch. Ihre Handy-Uhr zeigt Viertel nach acht. Sie sieht zu den Fenstern der Häuser hoch. Auch hier viele flimmerblau. Bestimmt schauen die meisten Leute jetzt einen Fernsehkrimi. Ihr kriminalistischer Bedarf ist für heute gedeckt.

Sie überlegt. Was für ein voller Tag. Aber durchaus effektiv. Schon ist der Fall gelöst. Opfer oder Täterin? Wahrscheinlich beides. Offenbar hat Frau Meyfarth sich im Handgemenge mit ihrem Exmann verletzt. Vielleicht hat er sie bedroht, zuerst zugestochen und sie ist durchgedreht. Hat ihm das Messer entwunden und zurückgestochen. Immer wieder zugestochen. Und schon ist die Katastrophe da. Sie beschließt, nicht dafür verantwortlich zu sein. Verarztet sich notdürftig und lässt die beschädigte und blutdurchtränkte Hose verschwinden, zwängt sich in eine ihrer alten Jeans und ruft die Polizei. Schon kaltblütig. Hätte sie lieber auf Notwehr plädieren sollen? Schwer bei 50 Einstichen. Das hätte ihr niemand abgekauft. Aber es war ein Ausraster. Kein Vorsatz. Da ist sich Andrea sicher.

Die Frau tut Andrea leid. Sie ist ein Opfertyp. Hat bestimmt Unmengen von Demütigungen in sich hineingefressen. Sonst würde man nicht so austicken. Jetzt steigt Andrea wieder der Burgergeruch in die Nase. Sie hat einen Bärenhunger. Aber nein, Hackfleisch geht jetzt gar nicht. Sie wird sich zu Hause was machen. Käsebrot oder so. Irgendwas wird schon im Kühlschrank sein. Wenn Paul ihn nicht wieder leer gefressen hat.

Als sie die Treppen zur S-Bahn runtergeht, fallen ihr die Cowboystiefel ein. Die jetzt garantiert lange nicht mehr getragen werden. Wahrscheinlich gar nicht mehr. Schade eigentlich. Sie hat den Wohnungsschlüssel noch dabei, die Stiefel wird niemand vermissen. Sie grinst. Nur Spaß. Natürlich.

Schön

Schon im Treppenhaus riecht Andrea es. Ein intensiver Duft, orientalische Gewürze. Paul wird doch nicht …? Nein, warum sollte er? Bestimmt kommt das von Karim aus dem dritten Stock. Vielleicht könnte sie einfach bei ihm klingeln und seine marokkanische Gastfreundschaft ausnutzen? Nein, das wäre unverschämt.

Als sie oben vor ihrer Wohnungstür steht, weiß sie, dass sie sich geirrt hat. Nicht Karim kocht, der wunderbare Duft kommt aus ihrer eigenen Wohnung. Super! Paul kann Gedanken lesen. Vielleicht hat Tom ihm verraten, dass sie heute einen harten Tag hatte und sich über ein gutes Abendessen freuen würde. Mischt sich Tom jetzt schon wieder in ihr Leben ein? Quatsch. Langsam wird sie paranoid. Sie sieht auf die Uhr. Kurz vor neun. Na ja, so ein Tajine-Gericht kann man ja ein paar Stunden köcheln lassen. Ob Tom auch da ist?

Sie sperrt die Tür auf und schlüpft aus den Schuhen, geht in die Küche. Gedeckter Tisch, Weingläser, ein voller Brotkorb, Salat, eine offene Flasche Wein. Im Ofen die Tajine. Sie holt sich einen Topflappen und hebt den Tondeckel an, schnuppert. Köstlich, umwerfend!

Andrea strahlt. »Paul?«

Keine Antwort. Sie geht zu seinem Zimmer. Tür nur angelehnt. Sie schaut hinein. Nicht da. Erstaunlich aufgeräumt. Jetzt hört sie die Dusche. So spät noch? Aber bei Paul gibt es keine Standardzeiten. Vielleicht ist er erst am frühen Abend aufgestanden. Sähe ihm ähnlich, im Schlafanzug das Abendessen kochen. Sie hat nach dem Fernsehauftritt ja gar nicht mehr mit ihm gesprochen. Paul im Fernsehen, schon der Hammer! Hätte sie nie gedacht. Komisch, das hat sie heute den ganzen Tag über vergessen. Aber wenn so viel los ist, verschieben sich die Prioritäten schon mal. 50 Messerstiche! Das hat schon was Surreales. Mal sehen, was die anderen morgen zu ihrem schnellen Ermittlungserfolg sagen.

Sie gießt sich ein Glas Wein ein. Hey, das ist der gute Rotwein, den Papa ihr aus der Toskana mitgebracht hat. So eine gute Flasche an einem Wochentag? Cool bleiben, Paul hat gekocht. Der erste Schluck schießt ihr sofort in den Kopf. Sie trinkt ein halbes Glas Wasser hinterher und isst ein Stück Weißbrot.

»Hey, Schwesterherz!« Paul steht in der der Küchentür, frisch geduscht, weißes T-Shirt, pechschwarze nasse Haare.

»Hey, Bruderherz.« Andrea deutet auf den Tisch. »Wahnsinn, das ist super, ich …«

Das Klingeln unterbricht sie. Paul springt zur Wohnungstür und drückt den Summer.

»Wie blöd muss ich sein?«, murmelt Andrea. Sie nimmt noch einen großen Schluck Rotwein.

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