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A Pessimist's Guide to Love

Als Buch hier erhältlich:

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Manchmal braucht es Dunkelheit, um den schönsten Lichtschimmer erkennen zu können

Nachdem er Lucy beinahe für immer verloren hätte, reißen die Wunden vergangener Erinnerungen in Cal endgültig auf. Gefangen in einem Strudel aus Selbsthass und dem Glauben, schuld an der Verfassung seiner ehemals besten Freundin zu sein, flüchtet Cal sich in die betäubende Stille des Alkohols. Einzig dieser kann ihm helfen, die Vorwürfe und Ängste für eine Weile zum Verstummen zu bringen. Währenddessen versucht Lucy, wieder zurück ins Leben zu finden und sehnt sich nach ihrem besten Freund. Denn obwohl sie weiß, dass Cals Finsternis sie mit sich reißen könnte, ist sie bereit, mit all ihrer Helligkeit für sie beide zu kämpfen.


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Aus der Serie: Heartsong Duet
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704372

Leseprobe

Playlist

»A Lot of Things« — Rosi Golan

»Don’t Swallow the Cap« — The National

»Time Ago« — Black Lab

»In This Life« — Delta Goodrem

»Inside These Lines« — Trent Dabbs

»Heart on Fire« — Scars On 45

»Breathe (2 AM)« — Anna Nalick

»I Get My Beat« — Richard Ashcroft

»Thunder Clatter« — Wild Cub

»Can’t Go Back« — Rosi Golan

»Desert Days« — Elenowen

»If I Die Young« — The Band Perry

»Ready to Start« — Arcade Fire

»Give Me Something« — Scars On 45

»You’re My Home« — Joshua Radin

»Mine Again« — Black Lab

»Run Away to Mars« — TALK

»Over My Head (Cable Car)« — The Fray

»Break« — Gin Blossoms

»Can’t Get It Right« — Matthew Perryman Jones

»Something in the Orange« — Zach Bryan

»I Need My Girl« — The National

»Apocalypse« — Cigarettes After Sex

»Eleanor Rigby« — The Beatles

»Here With Me« — d4vd

»I Will Follow You into the Dark« — Daniela Andrade

Kapitel 1

Lucy

13 Jahre alt

Die Nacht, in der sie nicht mehr wiederkam

Ein Schrei weckt mich von den Toten auf.

Zuerst denke ich, es liegt am Fieber – schon seit Tagen kämpfe ich mit einer Atemwegsinfektion. Ich fühle mich weder schwitzig noch zittrig, aber so einen Schrei gibt es nicht im echten Leben.

Es war nur eine Fieberfantasie. Ein Albtraum.

Ich rolle mich auf die Seite und vergrabe mich tiefer in meine Bettdecke.

Genau da höre ich wieder etwas.

»Nein! Nein, bitte nicht!«

Ich reiße die Augen auf und setze mich ruckartig aufrecht hin. Dann spähe ich zu dem Fenster neben meinem Bett. Regentropfen schlittern an der Scheibe entlang, der Wind pfeift laut und schrill, fast so, als wolle er in das Geschrei der Frau einstimmen.

Ein Sturm tobt. Mein Herz rast.

Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht.

Ich werfe die Decke zur Seite und rutsche aus dem Bett, rücke mein Baumwollnachthemd zurecht, als ich zum Fenster trete. Die Äste des Baums zucken hin und her wie in einem gespenstischen Tanz. Wütender Wind schmettert einen von ihnen gegen die Seitenwand, und ich springe erschrocken zurück.

»Mein Baby! Mein Baby!«

Ich schlucke meine Angst herunter und presse hastig meine Nase gegen die Fensterscheibe. Blaulicht erregt zuerst meine Aufmerksamkeit. Blau und rot. Ganz verschwommen im Nieselregen. Streifenwagen parken in unserer Straße, direkt vor dem Haus der Bishops.

Und Mrs. Bishop ist in ihrer Einfahrt zusammengebrochen und klammert sich an den Knöchel eines Polizisten.

Mein ganzer Körper fängt an zu schlottern, mit etwas viel Schlimmerem als Fieber.

Emma. Cal.

Oh nein, oh nein, oh nein.

Ich denke nicht nach.

Ich schnappe mir keinen Mantel, keine Schuhe oder einen Regenschirm – ich renne einfach nur los. Ich dürfte gar nicht im Regen rennen, ich bin immer noch schwach und fiebrig. Aber ich kann nicht anders. Meine nackten Füße klatschen auf den Treppenstufen, als ich aus dem Haus stürze. Rauer Wind und wütender Regen werfen mich fast um.

Irgendetwas will, dass ich drinnen bleibe.

Ich soll nicht herausfinden, wieso Mrs. Bishop schluchzend in ihrer Auffahrt liegt und darum fleht, dass ihr Baby zurückkommt.

Vielleicht sollte ich darauf hören, aber ich ignoriere die Hinweise. Ich renne weiter, direkt durch das Gras zu meinem Lieblingshaus auf der linken Seite. Erleichterung rauscht durch mich hindurch, als ich Cal in der Nähe seiner Veranda stehen sehe.

Ihm geht’s gut. Cal geht’s gut.

»Cal!«, rufe ich über den dröhnenden Himmel hinweg. »Cal, was ist hier los?«

Ich bin jetzt schon außer Atem. Mein Herz donnert lauter als das Gewitter.

Ich werde langsamer, als meine Lungen zu pfeifen beginnen, und halte neben Cal auf dem Rasen an. Mein weißes Baumwollnachthemd ist tropfnass, und meine Fußsohle tut weh, nachdem ich auf einen Stein getreten bin. Mrs. Bishop fängt wieder kläglich an zu weinen, und ein Polizist hockt sich zu ihr, um sie zu trösten. Ich schlage mir die Hand vor den Mund, während sich ein Gefühl des Grauens in meiner Magengrube ausbreitet.

Ich schaue mich um und entdecke Mr. Bishop, der im feuchten Gras sitzt, den Kopf in die Hände gestützt, und sich hin und her wiegt.

Als ich mich wieder zu Cal umwende, habe ich Angst, ihn zu fragen, was los ist. Ich habe Angst, die Wahrheit zu erfahren.

Wo ist sie?

Wo ist Emma?

Ich glaube, ich weiß es. Ich glaube, ich weiß es, aber ich will es gar nicht wissen.

Cal wirft mir schließlich einen Blick zu, den ich niemals vergessen werde. Mein ganzes Leben lang nicht. Durch den Regen klebt ihm das dunkelbraune Haar in der Stirn, seine Augen sind glasig und gequält. Als ein Blitz aufflammt und den Himmel in gedämpftem Gelb erhellt, sagt er mit leiser Stimme zu mir: »Sie ist fort.«

Die Luft entweicht mir in einem kränklich-zittrigen Atemstoß.

»F-fort?«, stammle ich, meine Unterlippe bebt, so wie mein ganzer Körper nun auch zu zittern beginnt. Vielleicht habe ich ihn nicht richtig gehört. »Was heißt das? Sie wollte zu Marjorie. Sie ist bei Marjorie.«

Ich bestehe darauf. Das muss wahr sein.

Sie ist nicht fort. Sie ist bei Marjorie.

Cal sieht weg, starrt hinunter aufs Gras. »Ich hätte bei ihr sein sollen. Es ist meine Schuld.«

Er schüttelt heftig den Kopf und ballt die Hände zu Fäusten. »Heilige Scheiße, Lucy. Heilige Scheiße … sie ist tot. Sie ist fort, und das ist alles meine Schuld.«

Nein, das glaube ich nicht.

Ich weigere mich.

Tränen prickeln hinter meinen Augenlidern. Meine Kehle brennt vor Unglauben. »Nein … nein, Cal, es geht ihr gut.« Ich schaue mich in dem Garten um, betrachte die Lichter, die Angst, den Regen, der wie Tränen fällt.

Ihr geht es nicht gut. Das ist nicht gut.

Wut und Trauer erfassen meinen Körper, und ich stürze mich auf ihn, hämmere mit den Fäusten gegen seine Brust. »Du lügst! Nimm es zurück. Bitte nimm es zurück …« Er fängt meine Handgelenke und hebt wie in Zeitlupe das Kinn, seine Augen spiegeln all das wider, was ich in mir fühle. Er schüttelt nur den Kopf, von links nach rechts, von rechts nach links, und seine Züge sind vor Entsetzen verzerrt.

Ich bin so aufgewühlt und hysterisch, dass ich glaube, mein Herz könnte versagen.

Ich hätte nie erwartet, dass es ihres überleben würde.

»Nein!« Ich schreie und bettle und flehe um etwas anderes als das. Tränen vermischen sich mit Regentropfen, als er meine Arme festhält, aber der Widerstand ist längst aus mir gewichen. Er lügt nicht. Ich wünschte, er würde lügen, doch das tut er nicht. »Nicht sie, Cal. Nicht Emma. Nicht Emma

Er lässt meine Handgelenke los, packt mich und zieht mich an seine Brust.

Wir brechen beide zusammen, als sich meine Hände in sein nasses T-Shirt krallen und unsere Beine unter uns einknicken. Wir sinken als zwei Häuflein Elend auf den Rasen, und er schlingt seine Arme um mich.

»Lucy, Lucy, Lucy.« Er wiederholt meinen Namen, immer und immer wieder, als würde er sich daran klammern. Als würde er sich an mich klammern.

Zitternd und schluchzend halte ich ihn so fest wie möglich, nur für den Fall, dass er mich auch verlassen will.

In dem Moment werde ich gepackt. Jemand zerrt mich von Cal weg, und ich beobachte, wie mein Freund nach vorne fällt, mit den Fingern die Grashalme umklammert, den Kopf vor Trauer gesenkt, während ein gramvolles Knurren über seine Lippen rollt.

»Nein! Nein, lass mich los!«, schreie ich, strample mit den Beinen und greife nach Cal. »Lass mich los, er braucht mich!«

»Lucy, Liebling, alles ist gut. Alles wird wieder gut.«

Es ist Dad.

Dad schleppt mich von meinem Freund weg.

Aber Cal braucht mich, er braucht mich, er braucht mich.

Ich brauche ihn.

Ich versuche, meinem Vater zu sagen, dass es nicht gut ist, dass nichts gut ist, dass Emma weg ist, doch er hört nicht zu. Er flüstert mir nur sanfte Worte ins Ohr, während er über mein Haar streicht und mich immer weiter vom Bishop-Haus wegträgt.

Danach ist alles nur noch verschwommen.

Ich erinnere mich an nicht mehr viel von dieser Nacht, außer an eines.

Als ich aufschaue, schießt eine Sternschnuppe über den dunklen Himmel.

Ein kleines Licht in der Dunkelheit.

Wie ein Glühwürmchen.

Ich wünsche mir etwas, während ich Cals Namen schreie, immer noch strampelnd, immer noch weinend, und weiß, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.

Ich wünsche mir nur eine einzige Sache.

Komm zurück, Emma. Bitte komm zurück …

* * *

Heute

»Lassen Sie mich los. Sie braucht mich, verdammt noch mal.«

Ich höre eine Stimme. Undeutlich. Gedämpft.

Irgendwie weiß ich, dass er es ist.

Ich träume anscheinend. Ein Schauer durchfährt mich, als Winterkälte an meiner Haut nagt. Vielleicht mache ich gerade einen Schnee-Engel oder fahre Schlitten. Es ist schon ewig her, dass ich Schlitten gefahren bin.

Ich vermisse das.

»Lassen Sie mich … Lucy!«

Die Stimme dringt aufs Neue zu mir durch, als Licht hinter meinen Lidern zu flimmern und zu flackern beginnt. Da sind kleine Sternenschweife. Ich finde meine Stimme nicht, kann ihn nicht rufen. Ich will ihm doch sagen, dass ich genau hier bin.

Ich bin hier. Ich bin hier.

Cal.

Etwas in meiner Brust zuckt. Eine Schockwelle. Kribbelnde Wärme schießt durch mich hindurch, und ich möchte schreien, aber ich kann mich nicht mitteilen.

Mehr Licht, mehr Lärm.

Es fühlt sich an, als ob ich in meinem eigenen Körper gefangen wäre. Teils bei Bewusstsein, doch gleichzeitig hilflos. Meine Augen gehen nicht auf, sie kleben wie Toffee aneinander. Angst sickert in mich hinein, während ein lautes Geräusch durch meinen Gehörgang rauscht und mein Verstand ein Bild von Cal heraufbeschwört, wie er über mir kauert.

Wir sind im Schnee. Vielleicht fahren wir ja wirklich Schlitten, am Fuß des Hügels verschlungen in einem Knäuel aus Liebe und Lachen. Er ist direkt über mir, erzählt mir all die Dinge, die ich unbedingt hören will.

Meine Augenlider flattern kurz.

Ich glaube, ich sehe ihn.

»Lucy … Lucy, fuck … Sunshine …«

Das ist seine Stimme, ganz sicher.

Ich höre ein Piepen, Gewusel, ein Klingeln in meinen Ohren.

Cal, Cal, ich bin hier.

Das Letzte, was ich sehe, ist sein Gesicht, ganz verschwommen, ein helles Licht strahlt ihn von hinten an. Ein Heiligenschein aus Sonnenstrahlen. Sorge, Qual und Herzschmerz starren herunter zu mir. Seine Lippen bewegen sich.

Er nennt mich seinen Sonnenschein – Sunshine –, dabei ist er meiner.

Ich strebe zum Licht.

Aber dann …

Dann wird alles dunkel.

Kapitel 2

Cal

»Frohe Weihnachten!«

Zuerst höre ich die Worte gar nicht, so verloren bin ich in meinen Gedanken. Ich stehe immer noch auf dem Bürgersteig, immer noch am Boden zerstört, und sehe immer noch das Bild, wie Lucys Brust mit einem Defibrillator geschockt wird und ein Sanitäter sie wieder zurück ins Leben holt. Ich sehe, wie ihr regloser Körper springt und zuckt, so blass und leblos. So kalt.

Frohe Weihnachten!

Jemand besitzt allen Ernstes die Frechheit, mir ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen, während ich zusammengekauert im Wartezimmer sitze, den Kopf in die Hände gestützt.

Ich blicke auf.

Es ist eine Krankenschwester, ihr Kittel in einem fröhlichen Pink.

Ich lasse den Kopf nach unten sinken, kehre in die tröstliche Stütze meiner Hände zurück, wo ich von den zu grellen Lichtern, den sterilen Wänden und Krankenschwestern abgeschirmt bin, die mir ein gottverdammtes frohes Weihnachtsfest wünschen. Die Bewegungen sind verschwommen, Geräusche zu einem dumpfen, bedeutungslosen Rauschen verkommen.

Mal abgesehen von den beschissenen Weihnachtsjingles, die aus den Lautsprechern dringen und mir einen Schlag in die Fresse verpassen.

Nein … nicht ins Gesicht, sondern mehr ein Schlag gegen die Kehle.

Oder eine Bleikugel, die in meinen Eingeweiden steckt.

It’s the most wonderful time of the year, singt er. Es ist die wunderbarste Zeit im Jahr. Ich möchte nichts anderes, als ihn erwürgen, damit er weiß, wie sich meine Brust durch das Gewicht von tausend Fünfzig-Tonnen-Ziegeln abgeschnürt fühlt.

Zitternde Finger streichen über meine Wirbelsäule; die Berührung einer Mutter, aber ich weiß, dass es nicht meine Mutter ist. Es war niemals meine Mutter. Die Hand wandert immer weiter nach oben, landet auf meiner Schulter, drückt zu, und das Schniefen einer weinenden Frau durchschneidet das Lied.

Lucys Mom.

Sie weint leise, und ihre Hand sinkt von meiner Schulter.

Ich wünschte, ich könnte weinen. Ich wünschte, ich könnte schluchzen und trauern und mich fühlen wie auf dem vereisten Bürgersteig, aber alles in mir ist taub und gefühllos. Ich will mich einfach nur verstecken.

»Alles ist gut«, flüstert sie, eine hoffnungsvolle Wehklage. Ein Widerspruch. »Ihr wird’s wieder gut gehen.«

Lügen, Lügen, Lügen.

Genau das hat auch Dad in der schlimmsten Nacht meines Lebens gesagt.

»Ihr geht es gut, mein Sohn. Wir werden sie finden. Sie ist nur falsch abgebogen und wird wiederauftauchen.«

Zwei Wochen später hat er sich das Leben genommen.

Es gab eine Zeit, in der ich dachte, er hätte den einfachen Ausweg gewählt, dieser erbärmliche Feigling. Jetzt bin ich mir nicht sicher, ob ich ihm das wirklich vorwerfen kann. Ein Teil von mir sehnt sich nach Unkompliziertheit, nach Ballastlosigkeit, nach etwas anderem als diesem Teufelskreis aus Schmerz. Und ich bin mir des gemeinsamen Nenners, der im Zentrum dieses Kreislaufs steht, nur allzu bewusst.

Ich.

Lucy liegt hier, halb tot in einem Krankenhausbett – meinetwegen. Ich habe das verursacht, ich habe das getan. Ich habe ihr zerbrechliches Herz so lange splittern lassen, bis es keine andere Wahl hatte, als in tausend Stücke zu zerspringen.

Fast so, als wüsste sie von meinen verstörenden Gedanken, legt Farrah Hope ihre Hand wieder auf meine Schulter.

Hope. Hoffnung.

Ich habe einmal geglaubt, dass es der perfekte Nachname für ein Mädchen wie Lucy ist, aber jetzt dient er nur noch dazu, mich zu verhöhnen.

»Es ist nicht deine Schuld«, sagt sie sanft. Zu sanft, um bedeutsam zu sein.

Ich hebe den Kopf, stütze die Ellbogen auf die Knie und das Kinn auf die gefalteten Hände. »Ich habe es losgetreten«, murmle ich düster. »Es ist meine Schuld.«

»Tu dir das nicht an, Callahan. Sie würde nicht wollen, dass du das denkst.«

»Es ist egal, was sie will. Es ist die Wahrheit.«

»Die Wahrheit ist, Lucy kämpft schon ihr ganzes Leben lang gegen das Herzleiden. Das ist die einzige Wahrheit hier.« Sie seufzt müde, ein trauriges Wimmern webt sich in diesen Ton. »Sie hat den Termin beim Kardiologen immer wieder verschoben. Ich hatte solche Angst, dass genau das passiert.«

Ich schließe die Augen, knirsche mit den Zähnen. »Sie hat mir gesagt, dass das passieren würde. Sie hat gesagt, ihr Herz habe ein Verfallsdatum, und ich habe es beschleunigt. Das ist kein Zufall.«

Ein weiterer Seufzer dringt an meine Ohren, mit dem Druck ihrer Hand versucht sie, meine Wahrheit zu widerlegen.

»Sie hat mir gesagt, sie würde sterben«, füge ich hinzu, wobei Wut und Selbstverachtung die einzigen Dinge sind, die das Blut noch aktiv durch meine Adern pumpen. »Sterben. Und ich habe alles auf mich bezogen. Darauf, wie ich mich dabei fühle. Ich bin so ein elender Egoist.«

»Was?« Sie zieht die Hand so hastig wieder weg, als hätte das Wort sie verbrüht, so wie sich diese zwei giftigen Silben auch durch mich gebrannt haben. »Sie hat dir gesagt, dass sie stirbt?«

»Ja.«

»Ich kann nicht glauben, dass sie dir das gesagt hat … oder überhaupt nur daran gedacht hat«, sagt Farrah, und ihre Worte entzünden sich an der Emotion, gehen in Flammen auf. »Ihre Krankheit ist behandelbar. Wir hatten keinen Grund zu der Annahme, dass sie kein langes, glückliches Leben führen würde. Sie ist immer regelmäßig zu ihren Arztterminen gegangen, aber im letzten Jahr war sie so beschäftigt …«

»Daran hat sie nicht geglaubt, und sie lag offensichtlich nicht falsch.«

Ein paar Herzschläge lang befällt uns Stille, bevor das leise Weinen wieder ertönt. Ich beuge mich vor und halte mir die Ohren zu, um es auszublenden. Eine Weile sitzen wir so da, Farrah weint neben mir, ihre Tränen verschmelzen mit der fröhlichen Weihnachtsmusik.

Und ich, ich bin komplett teilnahmslos, abgestumpft.

Einige Zeit später, vielleicht sind es Minuten, vielleicht auch Stunden, tritt ein Arzt in mein Blickfeld. Ich sehe zuerst seine Beine, die von einer blauen OP-Hose umhüllt sind, über die ein weißer Kittel gezogen ist. Sein Namensschild ist ein Wirrwarr aus Buchstaben, das ich nicht entziffern kann, denn ich bin geblendet von zu viel Trauer und Hoffnungslosigkeit.

»Guten Tag. Ich bin Dr. Malcom.«

Mein Magen schnürt sich zusammen, als hätte er mich mit einem rot glühenden Schürhaken durchbohrt.

Malcom.

Fucking Malcom.

Ein Kerl namens Malcom, der uns Lucys Schicksal verkündet, stellt den Inbegriff von aberwitziger Ironie dar.

Farrah umklammert mein Knie, ihre Angst überträgt sich auf mich, als sie sich ruckartig aufrichtet. »Ist mein kleines Mädchen okay?«, schreit sie. Es ist ein echter Schrei, ihre Worte sind zweitrangig angesichts des Schreckens, der darin steckt. Die Kraft, mit der sie sich in mein Knie krallt, verdoppelt sich, irgendwann spüre ich, wie sich ihre Fingernägel durch den Jeansstoff bohren.

Ausdruckslos starre ich den Arzt an, warte auf die Nachricht.

Ich warte auf die Nachricht, dass sie tot ist, dass ich sie verloren habe, dass ich sie umgebracht habe.

»Miss Hope ist stabil«, sagt er.

Farrah stößt einen weiteren Schrei aus, diesmal einen Schrei der freudigen Verblüffung.

Der Arzt redet und erklärt und informiert uns über Details, die keinen Sinn ergeben. Medizinische Ausdrücke und Fachjargon. Kauderwelsch. Ich picke mir heraus, was geht, was ich verarbeiten kann.

Herzstillstand.

Undichte Herzklappe.

Glück gehabt.

Ein langer Weg liegt vor ihr.

Wochenlange Reha.

Sie ist am Leben, sie ist am Leben, sie ist am Leben.

Ich verschlucke mich an der Luft und werde daran erinnert, dass ich noch genug Atem in meinen Lungen habe, um mich zu verschlucken.

Eine gute Nachricht.

Es ist eine gute Nachricht.

»Es ist ein Wunder«, wimmert Farrah und zieht mich in eine Umarmung.

Instinktiv hebe ich die Hand und umarme sie locker zurück, während mein Verstand abschweift.

Ich glaube nicht an Wunder. Ich habe aufgehört, an sie zu glauben, als ich fünfzehn war – als die Sterne ihren Glanz und die Glühwürmchen ihr Licht verloren haben und jedes Lied anfing, traurig zu klingen.

Sie sagt »Wunder«, ich sage »falsch-positives Ergebnis«.

Aber Lucy lebt, sagt er uns, sie wird es schaffen, sagt er uns.

Und auch wenn ich nicht an Wunder glaube, ziehe ich den einzigen Hoffnungsschimmer daraus, den ich finden kann.

Eine zweite Chance.

Das ist mehr, als ich mit meinem Vater bekommen habe.

Das ist mehr, als ich mit Emma bekommen habe.

Das ist mehr, als ich verdiene …

Aber es ist alles, was ich habe.

Kapitel 3

Lucy

Blumen.

So viele Blumen, in allen erdenklichen Farben.

Auf eine Art ist das Spektrum der Liebe dem Farbspektrum sehr, sehr ähnlich.

Liebe ist doch nichts anderes als verstreute Pigmente und Gefühle, wenn Licht darauf trifft. Warme und kalte, pastellige und dunkle Farben. Feuerrot steht für unser leidenschaftliches, aufopferndes Herz. Rosa für zarte Küsse, Gelb für Freundschaft, Grün für Neid.

Blasses Indigo für die kühlen, einsamen Momente in deren Abwesenheit.

Ich zupfe die Blütenblätter meiner eingetopften Rosen ab.

Er liebt mich.

Er liebt mich nicht.

Dabei stelle ich fest, dass ich die abgezupften Blättchen gar nicht brauche, um eine Antwort zu erhalten. Die Antwort liegt kristallklar vor mir, hallt in der Schlucht seines Schweigens wider.

Meine Mutter ist dabei, mein Krankenzimmer zu verlassen, ihre Finger greifen nach dem kornblumenblauen Vorhang und ziehen ihn zur Seite. »Morgen ist es so weit«, sagt sie mit kläglichem Lächeln und verschleiertem Blick. »Ich bleibe so lange bei dir, wie du brauchst, Schatz.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich muss das Gästezimmer für dich vorbereiten.« Das Gästezimmer ist Emmas Zimmer, und es ist noch nicht vorbereitet. Es ist noch voller Gespenster. Normalerweise schlafe ich in Cals altem Zimmer, aber nicht in dieser letzten Nacht – nicht an Heiligabend, als ich mit tränenfeuchten Haaren und Wangen eingeschlafen war und meine Gedanken in eine Vergangenheit abgeglitten waren, in der alles noch wundervoll war. »Im Haus herrscht pures Chaos.«

»Mach dir deswegen keine Gedanken. Mach dir überhaupt keine Gedanken wegen irgendwas, außer wieder gesund zu werden.«

Ein Seufzer entweicht mir, hinterlässt eine schmerzende Brust und wackelige Glieder. Ich nicke, ein pinkes Blütenblatt zwischen Daumen und Zeigefinger eingequetscht. »Hast du mit ihm gesprochen?«

Der Themenwechsel ist so abrupt wie dieser weiß bestäubte Weihnachtsmorgen – in der einen Minute schnüffelte Kiki noch an einem verschneiten Fleckchen Gras, und in der nächsten bin ich an Kabeln, Nadeln und Monitore angeschlossen, verwirrt und allein in einem Krankenhausbett.

So abrupt. Aus völlig heiterem Himmel.

Ich habe noch nie großartig über diesen Satz nachgedacht. Aus dem heiteren blauen Himmel, dem blauen Meer, den blaugrauen Sturmwolken. Saphire sind blau, Blutergüsse auch. Vögel, Heidelbeeren, Blumen.

Vergissmeinnichts.

Ich zupfe noch zwei Blütenblätter ab.

Er vergisst mich.

Er vergisst mich nicht.

Mom dreht sich zu mir um und lässt den Vorhang los, als sie die Melancholie in meiner Stimme bemerkt. »Callahan geht es gut, Schätzchen. Er … er bemüht sich.«

»Bemüht sich?«

Mein Ton ist nicht anklagend, er ist verwirrt. Verloren und auf der Suche.

Was soll das bedeuten?

Er bemüht sich, sein Motorrad in Gang zu bringen, um mich zu besuchen?

Er bemüht sich, sein Telefon aufzuladen, um mich anzurufen?

Er bemüht sich, seine Beine rhythmisch und zielstrebig in Bewegung zu setzen, damit er sich auf den Weg zu mir machen kann?

Nein, nein, nichts davon ist von Bedeutung, aber alles davon ist wahr.

Es ist jetzt zwei Wochen her.

Zwei Wochen ohne ihn, zwei Wochen voller Fragen, ob es ihn überhaupt interessiert.

»Lucy … er fühlt sich verantwortlich«, erklärt sie mir. »Das ist eine schwere Last, die er zu tragen hat. Er versucht, es zu verarbeiten, damit er dir ins Gesicht sehen kann.«

Ich schlucke und drehe den Kopf zur Decke in das grelle, harsche Krankenhauslicht. Er muss mir nicht ins Gesicht sehen – ich muss nur sein Gesicht sehen. »Er ist für all das nicht verantwortlich. Ich bin krank, Mom. Ich war schon immer krank, und das musste ja irgendwann passieren.« Weitere Blütenblätter lösen sich von den leuchtend grünen Stängeln und segeln auf mein gestärktes Bettlaken.

»Hast du ihm gesagt, dass du stirbst?«

Bei dem Schluchzer im letzten Wort drehe ich mich zu ihr um und sehe, wie sich die Verzweiflung im Licht der Leuchtstoffröhre spiegelt. Sie sieht blasser aus, abgezehrter. In ihren Augen schwimmt ein dunklerer Blauton, als ich es gewohnt bin, ein Farbton, der meinem eigenen verblüffend ähnlich ist. »Ja«, stoße ich erstickt hervor.

Ich habe das alles vielleicht falsch betont – war zu kalt, zu grausam –, aber ich lag nicht falsch.

Ganz eindeutig lag ich nicht falsch.

»Lucy.« Sie seufzt meinen Namen, fast so, wie Cal es immer tat. Der Ich-bin-am-Ende-meiner-Kräfte-Tonfall fädelt sich durch das Wort und verstrickt die Silben zu Knoten. »Warum sagst du so etwas nur?«

Ich kann sie nicht anschauen. Die Lichter sind zu hell, zu entblößend. Alles, was ich sehe, ist ihre Bestürzung. Die Decke ist weniger niederdrückend, also konzentriere ich mich stattdessen auf die Popcorn-Struktur da oben. »Er wollte die Wahrheit wissen. Er wollte mehr, als ich ihm geben konnte.«

Er wollte mehr, aber nicht alles.

Nur … selbst mehr hatte sich wie zu viel angefühlt.

Mehr gestohlene Küsse, mehr sinnliche Worte, die mir ins Ohr geflüstert werden. Mehr Haut, mehr Stöhnen, mehr schwache Momente.

Ich wollte auch mehr, aber ich wollte auch alles.

Und mein Herz war nicht für all das gemacht, was ich wollte.

Ich vergrabe mich noch tiefer in der Matratze und halte den mühsam errichteten Tränendamm aufrecht. »Alyssa hat mich besucht. Gemma, Knox, Greg. Nash. Sogar die Jungs aus dem Laden sind vorbeigekommen, um zu fragen, wie es mir geht.« Ein Riss zieht durch den Damm, und eine Träne gleitet hindurch. »Aber nicht Cal.«

So viele Blumen, keine davon von ihm.

Ein Regenbogen aus Farben, die alle in trübem Grau verlaufen.

Er vergisst mich.

Er liebt mich nicht.

Ich stelle den Topf mit den Rosen zurück auf den Nachttisch und lege mich wieder hin. Mein Vater hat mir einmal gesagt, dass am Ende des Regenbogens der einzige Topf mit Gold die Schätze sind, die wir selbst dort ablegen. Und wenn dort nichts von Wert auf uns wartet, müssen wir nach einem anderen Regenbogen suchen.

Aber ich will keinen anderen Regenbogen.

Ich will nur ihn.

Mom lässt auch eine Träne frei. Sie gleitet ihre Wange hinunter und setzt sich in ihrem Mundwinkel fest. »Er war jeden Tag hier«, gesteht sie sanft. »Im Wartezimmer. Er sitzt auf demselben Stuhl, mit demselben Blumenstrauß und demselben gequälten Gesichtsausdruck.« Meinem erschrockenen Blick begegnet sie mit einem Lächeln. »Ich verspreche dir, dass er sich bemüht, Lucy. Ich verspreche dir, dass es ihn kümmert.«

In meiner Brust breitet sich ein Hitzeball aus, der mich ganz und gar erfasst. Ich fühle mich warm und erstickt. Ihre Worte brennen wie die Tränen hinter meinen Augen, wie ein Hornissennest, das sich in meiner Kehle verfangen hat. Ich nicke und bohre mir die Zähne in die Unterlippe, um zu verhindern, dass ein hässlicher Laut aus mir heraussprudelt. Meine Augen sind zur Decke gerichtet, die Finger krallen sich in das steife Laken.

»Ich werde mit ihm reden«, fährt Mom fort und zieht den Vorhang wieder ein Stückchen zu. »Ruh dich aus, Süße.«

Sie lässt mich allein. Ich versuche, Ruhe zu finden und die Flammen zu löschen, die immer noch an mir lecken, aber in mir ist nichts als Unruhe.

Ich bin vor über einer Woche von der Intensivstation in ein normales Krankenhauszimmer verlegt worden, nachdem ich wegen einer undichten Herzklappe operiert worden war, die mich fast umgebracht hätte – eine undichte Herzklappe, die entdeckt worden wäre, hätte ich meinen Termin beim Kardiologen nicht verschoben.

Ein Defibrillator ist nötig gewesen, um mein Herz wieder in einen normalen Rhythmus zu versetzen, nachdem Cal mich zusammengebrochen auf dem Bürgersteig entdeckt hatte.

So wurde es mir jedenfalls erzählt.

Meine Erinnerungen an diesen Morgen sind bestenfalls verschwommen. Ich kann mich vage entsinnen, dass Cal über mir stand, das Licht der Sonne im Rücken, und meinen Namen rief, aber das könnte auch ein Traum gewesen sein. Es könnte auch ein Delirium gewesen sein. Immerhin ist er jetzt nicht hier.

Ich bin noch am Leben, und er ist nicht hier.

Ich wackle mit den Zehen unter der Bettdecke. Man hat mich ermuntert, so oft wie möglich im Zimmer herumzulaufen, aber ich bin träge und schwach. Und traurig.

Traurig und einsam.

Ich möchte nach Hause gehen und meine Hunde sehen. Ich möchte wieder Lieder auf einer sechseckigen Bühne singen, während die Leute lächeln, klatschen und mitsingen. Jeder Zentimeter von mir vermisst jeden Zentimeter außerhalb dieses Krankenhauszimmers.

Während ich all diese Zentimeter und Zwischenräume, all die kostbaren Millimeter meines Lebens Revue passieren lasse, höre ich, wie sich der Vorhang zurückzieht. Ich denke, es ist eine Krankenschwester, also pflastere ich mir ein Lächeln ins Gesicht und neige den Kopf nach links.

Es ist keine Krankenschwester.

Es ist Droge, Medizin, Heilmittel, ja, aber es ist keine Krankenschwester.

»Cal.« Meine Kehle ist kratzig, wie Sandpapier in der Stille. Er steht direkt vor dem Eingang, eine Hand in der Tasche seiner Jeans, die andere umklammert einen Strauß sterbender Blumen. Ohne die Mütze, die er sonst aufhat, sehe ich, dass sein Haar noch länger geworden ist. Zottelig und zerzaust kringelt es sich um seine Ohren. Aus den Stoppeln ist ein Kinnbart geworden, und die Schatten in seinen Augen sind dunkler als je zuvor. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, um ihn näher an mich zu ziehen, also flüstere ich wieder nur seinen Namen. »Cal.«

Es scheint zu genügen. Er stapft vorwärts und zögert bei jedem Schritt nach vorn. Die Blumenstängel umklammert er mit weißen Fingerknöcheln, die Brauen sind nervös zusammengekniffen. Er sagt kein Wort. Er schleppt einfach einen Stuhl zu meinem Bett und lässt sich darauf fallen, als wäre er erschöpft. Als ob die fünf Schritte zu mir einer zehn Meilen langen Wanderung über den Kamm eines Berges durch unwegsames Gelände gleichkämen.

Er sieht todmüde aus.

Cal überreicht mir die Blumen. »Die sind für dich.«

Meine Hand zittert, bemerke ich, als ich sie ausstrecke. Aber zitternd oder nicht – ich greife dennoch danach.

Ob todmüde oder nicht, er ist trotzdem gekommen.

»Das letzte Mal, als ich einem Mädchen Blumen geschenkt habe, sind die Blüten auf meinem Schreibtisch zu Staub verwelkt, denn das Mädchen kam niemals zurück.«

Schmerz schneidet quer durch meine Brust, aber es hat nichts mit den Folgen der Herz-OP zu tun. Es ist das Bröckeln in seiner Stimme, die Verzweiflung in seinem Gesicht. Seine Worte, sein Kummer.

Ich strecke die Hand immer noch aus, überspringe aber die Blumen und fasse stattdessen seine Hand. Sie ist kalt und klamm unter meiner Berührung – ein Gletscher, der schmilzt, je fester ich ihn halte –, bis sich seine Finger lockern und sich mit meinen verflechten. Wir atmen beide gleichzeitig ein, der Kontakt ist mehr als nur körperlich. Ich spüre ihn überall; sogar an den Stellen, an denen ich ihn nicht spüren sollte. »Danke, dass du hergekommen bist.« Ich ertappe mich dabei, wie ich seine Hand drücke, um hinter meine Worte ein Ausrufezeichen zu setzen.

Er schluckt und nickt einmal. »Ich wollte schon früher kommen. Nur …« Er räuspert sich und der Atemzug, den er nimmt, klingt zittrig. »Ich konnte einfach nicht.«

Da ist Bourbon in seinem Atem und Rauch auf seiner Haut.

Da ist Gift in seinen Worten.

Ähnliche Worte quollen letzten Herbst auf dem Riesenrad aus ihm heraus, als ich ihn fragte, warum er nie versucht hat, nach mir zu suchen.

Ich hatte keine andere Wahl, hat er mir gesagt.

Es klang so, als existierte ein handfester Grund für seine Abwesenheit, und den gab es wohl auch.

Er ist das Hindernis, seine Dämonen die Barrikade.

Ich drücke fester zu. »Aber jetzt bist du hier«, murmle ich und sehe durch den hell erleuchteten Raum in seine Augen. Ich beobachte, wie das Gold und das Braun ineinanderfließen, während er meine Worte aufnimmt. »Das ist alles, was zählt.«

Ich bin nicht sauer.

Ich kann keinen Mann verdammen, der sich schon selbst verdammt hat.

Cal löst unsere Hände und steht vom Stuhl auf. »Scheiße«, flüstert er. »Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um dich zu sehen.«

Innerhalb eines Wimpernschlags klettert er ins Bett.

Meine Herzfrequenz rast in schwindelerregende Höhen. Er schlüpft unter die Decke, legt den Arm um mich, während er das Gesicht in meiner Halsbeuge vergräbt. Ich schließe die Augen vor lauter Erleichterung, als seine Nasenspitze mein Ohr berührt und mich eine Gänsehaut überzieht. Ich spüre, wie sich seine Knöchel unter der Decke mit meinen kreuzen, und ich atme kurz und stoßweise ein, die Luft abgeschnürt vor Nervosität und Verlangen.

Seine Körperwärme ist wie die Sonne auf meiner Haut.

Sein Atem ist neues Leben, das mich von innen heraus erfüllt.

Und seine Worte, seine Worte …

Sie sind alles.

»Es tut mir so verdammt leid«, wispert er rau in mein zerzaustes Haar. »Ich dachte, ich würde nie wieder die Chance bekommen, dich zu berühren, dich zu spüren, dich einzuatmen.« Er atmet tief ein und stöhnt fast, als er die Luft ausstößt. Sein Griff um meine Mitte wird fester, als er mich näher zu sich zieht. »Ich musste jeden Tag bei der Arbeit diese Glöckchen hören und daran denken, wie du mit deinem perfekten Lächeln hereinspazierst. Und ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich es jemals wiedersehen werde.«

»Ich bin hier«, krächze ich und nicke unerbittlich mit dem Kopf. »Ich bin immer noch hier.«

Er seufzt direkt in mein Ohr, als wäre es ein gequältes Versprechen. »Ich auch.«

Als Cal halb ausgestreckt neben mir liegt, einen muskulösen Arm um meine Mitte geschlungen, streiche ich mit den Fingern durch sein Haar. Es ist weich und seidig, als ich die Strähnen um meinen Zeigefinger wickle. Sein Atem wird ruhiger, genau wie meiner. Mit der freien Hand suche ich nach dem weggeworfenen Blumenstrauß und finde ihn auf meiner gegenüberliegenden Seite liegen, die Blütenblätter welk und stumpf. Ich umklammere die Stiele mit harter Faust.

Sie sind verwelkt, aber noch nicht tot.

Es gibt noch Hoffnung für sie.

Ich schaue zu dem Mann neben mir hinüber – er hat die Augen geschlossen und einen zufriedeneren Ausdruck im Gesicht –, und das Strahlen in meinem Lächeln kehrt zurück, wie Sonnenlicht, das durch einen Wolkenhimmel bricht.

Es gibt immer noch Hoffnung.

Kapitel 4

Cal

Einen Monat später

Es sind die Glöckchen, die mich fertigmachen.

Mein Herz macht jedes Mal einen Satz, wenn sie zu klingeln beginnen. Meine Muskeln zucken, ich knirsche mit den Zähnen. Ein Kunde schlendert aus dem Laden, und ich erinnere mich kaum noch an unser Gespräch, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, an meine Verabredung zum Abendessen mit Lucy zu denken.

Ich bin mir nicht sicher, wie ich das durchstehen soll. Ich bin ein Wrack, und das ist das Letzte, was sie jetzt braucht, wo sie sich noch von der beschwerlichen Operation erholt. Nicht, wenn ihr Herz so zerbrechlich ist.

Nicht, wenn die Verantwortung, die ich trage, so verdammt schwer lastet.

Ich muss für sie stark sein. Unbesiegbar. Und das einzige Mal, dass ich mich unbesiegbar gefühlt habe, war, als ich ein wenig Hilfe hatte. Vielleicht ist der einzige Weg, um vorwärtszukommen, ein paar Schritte zurückzugehen.

Ich werde nicht dort bleiben.

Es ist nur vorübergehend.

Es sind also die Glöckchen, die mich dazu bringen, zur Werkstatttür zu marschieren, um Ike zu erwischen. Ich bin verzweifelt auf der Suche nach etwas, das mir ein wenig die knochenbrechende Last von meinen Schultern hebt.

Nicht dass ich die Gnadenfrist verdient hätte, aber die Schuld wiegt schwer, und sie braucht mich.

»Büro«, befehle ich und fege an Ike vorbei durch die Werkstatt, während er einen Ölwechsel erledigt.

»Was gibt’s, Boss?«

Ich antworte nicht, und er folgt mir einfach. Wir gehen in mein Büro, und Ike schließt die Tür hinter sich, bevor er seine Hände in die Taschen seiner ölverschmierten Hose stopft. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«, fragt er und lehnt sich zurück. »Du siehst beschissen aus.« Seine Worte sind barsch, doch die Sorge in seinen blassblauen Augen ist echt.

Ich hasse es, dass sie dort ist.

»Ich brauche etwas … um mich runterzubringen.« Für andere mag diese Aussage vage klingen, aber nicht für ihn – er weiß, was ich brauche. Er weiß genau, wie meine Ecken und Kanten aussehen, scharf und gezackt, die gegen alles scheuern, was ich berühre.

Einen Moment lang werde ich von noch mehr Schuldgefühlen heimgesucht.

Mehr Scham, mehr Selbsthass.

Ich versuche, stark zu sein, aber die Bitte trieft förmlich vor Schwäche.

»Was?« Ike zögert und schaut weg, während er den Atem ausstößt, bis Enttäuschung seine Besorgnis verdrängt. »Nein.«

»Ich meine es ernst«, presse ich hervor, ohne meine Stimme zu heben. »Ich habe mir neulich auf dem Motorrad den Rücken verrenkt.«

Nicht mein Rücken ist das Problem, sondern mein Herz. Es fühlt sich an, als würde ein Felsbrocken in meiner Brust sitzen und mich erdrücken.

Er weiß das auch.

Die leise Stimme in meinem Kopf quält mich, fleht mich an, mich zurückzuziehen, alles zurückzunehmen, aber ich kriege die Worte nicht heraus.

Ich starre ihn an, mit steifer Haltung und pochendem Puls.

»Nee, Bishop«, antwortet er und schüttelt seinen rasierten Kopf hin und her. »Das geht nicht. Damals warst du nichts weiter als ein Kunde. Jetzt bist du ein Freund.«

Ich schnaube angesichts dieser Aussage und lehne mich mit der Hüfte an meinen Schreibtisch. »Ich habe keine Freunde.«

»Das ist irgendein Bullshit, den du dir gerne einredest.«

Na schön.

Ich habe eine Freundin, die allein in ihrem von Erinnerungen geplagten Backsteinhaus sitzt und darauf wartet, dass ich heute Abend zu ihr komme, damit sie mir Tamales zubereiten kann. Sie ist der Grund, warum ich das hier tue – um ihr ein Freund zu sein, um die Art von Mensch zu sein, der sie aufbaut und nicht weiter in den Abgrund zieht.

Aber ich kann diese Person im Moment nicht sein. Nicht so.

Als ich ihr endlich gesagt habe, dass ich vorbeikomme, hat sie mit einem Feuerwerk an glücklichen Emojis und kleinen roten Herzen reagiert. Sie fügte versehentlich eine Aubergine hinzu und schickte mir daraufhin fünfzig weitere Textnachrichten, in denen sie sich beschämt entschuldigte.

Lucy:

Oh Gott, die wollte ich dir nicht schicken.

Ich schäme mich so!

Vielleicht hast du die gar nicht gesehen. Warte. Guck 1 Sekunde nicht auf dein Handy.

Kann man nicht löschen. Natürlich nicht. Ich schreie.

Es tut mir echt leid. Die stammt noch aus einem Chat mit Alyssa.

Aber kein Chat über dich.

Argh. Lösch am besten meine Nummer.

Ohne Mist – so nah dran an einem Lächeln bin ich seit Langem nicht mehr gewesen. Meine Lippen haben leicht gezuckt. Ich schwöre, dass mein Herz sogar geflattert ist und die Takte übereinandergestolpert sind.

Die Wahrheit ist, dass ich sie sehen will. Dringend. Zwischen meinem vollen Terminkalender, ihrer vierwöchigen Erholungsphase mit ihrer Mutter und meinen eigenen Schuldgefühlen, die an meinen Knochen nagen, habe ich kaum einen Blick auf das Lächeln erhaschen können, nach dem ich mich sehne. Ich habe ihre tröstliche Wärme durch Whisky und Gin ersetzt und mich wochenlang fast jede Nacht betrunken. Ich weiß, dass Alkohol ein Kipppunkt ist. Er wird mich auf jenen düsteren Pfad führen, den ich nur allzu gut kenne … aber ich habe keinen anderen Ausweg gesehen.

Und jetzt muss ich ihr in diesem gottverlassenen Haus gegenübertreten.

Ich brauche etwas Stärkeres.

Das Sonnenlicht strömt durch die teilweise zerknickte Jalousie, obwohl ich mir sicher bin, dass ich sie so fest wie möglich geschlossen habe. Meine Augen werden vor Verachtung schmal angesichts des kleinen Sonnenstrahls, der es geschafft hat, durchzubrechen und eine Wolke aus Staubpartikeln zu erleuchten, und die Schatten aufhellt, die ich unbedingt zurückhaben will.

Seufzend reibe ich mir übers Gesicht, ziehe mir die Beanie vom Kopf und drehe sie in meinen Händen. »Hör zu, das ist nur eine vorübergehende Lösung, bis mein Rücken wieder heil ist. Ich weiß, was du denkst, aber es geht mir gut. Es geht mir bestens. Ich brauche nur etwas, das mir hilft, bis ich über den Berg bin.«

Er durchschaut mich mit seinem bohrenden Blick. »Dafür gibt es Therapeuten.«

Schwermut raubt mir die Sicht und drängt die automatische Antwort über meine Lippen. Mit weißen Knöcheln wringe ich die Mütze und starre auf meine schmutzigen Boots. »Ich hab’s versucht. Es funktioniert nicht.«

»Noch mehr Bullshit, noch mehr Ausreden. Du bist dabei, in einen Abwärtsstrudel zu geraten, Cal, und ich will da nicht mitmachen.«

»Ich strudle nicht abwärts. Ich bewältige es.«

»Finde einen besseren Ansatz.«

Mit einem scharfen Blick stößt sich Ike vom Türrahmen ab, wendet sich zum Gehen und reißt die Tür auf. Die Glöckchen bimmeln wieder und mahnen mich, dass ich gerade versuche, Pillen zu kaufen, während ich wie ein rückgratloser Trottel auf der Arbeit bin.

Herrgott!

Ich stürze ab.

Der Tiefpunkt rückt gefährlich nahe, ich kann fast den Kies auf meiner Zunge schmecken. Ich weiß das – ich war schon mal da, bin an einem Mund voller Trümmer und schlechten Entscheidungen erstickt, mit dem Gesicht voran im Schotter gelandet. Ein Teil von mir fragt sich, ob es beim zweiten Mal anders schmeckt. Beim dritten Mal, beim vierten Mal. Irgendwann muss ein Stein ja etwas Lebenswichtiges durchtrennen.

Ike zögert, streckt seinen Kopf in Richtung Eingangsbereich und blickt dann über seine Schulter zu mir zurück. »Hier ist ein Kunde. Reiß dich zusammen, Bishop, ich meine es ernst.«

Die Tür knallt zu.

Ich sehne mich nach einem doppelten Bourbon und lasse mich mit einem kehligen Knurren in meinen Drehstuhl plumpsen. Scham, Enttäuschung. Irgendwas dazwischen. In gewisser Weise verachte ich mich dafür, dass ich so tief gesunken bin, aber es wäre nicht auf Dauer. Ein vorübergehendes Laster, um mir über die Bergspitze zu helfen.

Um mir zu helfen, ihr zu helfen.

Das Licht des frühen Februars sickert durch den Spalt im Fenster und erleuchtet die toten Orchideen und zerdrückten Zigarettenstummel, die mein Büro übersäen. Wenn ich die Augen lange genug schließe, kann ich sie fast sehen, wie sie mit einem strahlenden Lächeln und einem Arm voller blühender Blumen hin und her läuft und mich fragt, ob sie mir bei irgendetwas helfen kann. Ich kann fast hören, wie ihr Lachen durch den Raum schallt, während sie staubsaugt, die Fenster putzt oder zum achtzigmilliardsten Mal meinen Aktenschrank aufräumt. Ich rieche das Birnenaroma in ihrem Shampoo, die zuckrige Creme auf ihrer Haut. Ich schmecke ihre Kaugummiküsse, die auf meinen Lippen festkleben.

Ich hätte sie verdammt noch mal nicht feuern müssen; ich habe es nicht einmal gewollt. Es war ein feiger Trick, um Abstand zwischen uns zu bringen, weil ich zu schwach war, meine Finger von ihr zu lassen.

Das Bedauern frisst sich in mich hinein, wie Säure in die Knochen. Ich krame in meiner Zigarettenschachtel, ziehe eine heraus und zünde sie an, bis die Glut knistert. Ich fühle mich nervös und ängstlich, also greife ich nach meinem Handy und scrolle durch die Flut von Benachrichtigungen, die ich immer wieder ignoriert habe und immer noch ignoriere, und rufe Instagram auf. Ich klicke auf ihr Profil und sehe zu, wie ihr Feed geladen wird.

Ein neues Foto starrt mir entgegen.

Es ist ein Bild von Lucy und ihrer Gitarre. Sie sitzt auf ihrem Bett, die Beine vor sich ausgestreckt, und auf beiden Seiten der Matratze liegen Zettel lose verstreut. Die Kamera muss auf einen Timer eingestellt gewesen sein. Vielleicht war auch jemand bei ihr, der nicht ich war, und hat das Lächeln auf ihrem Gesicht eingefangen, das teilweise von einem Wasserfall aus goldbraunem Haar eingerahmt wird. Es ist ein Lucy-Lächeln. Das Lächeln, das ich vermisst habe, das vor Monaten zu verblühen begann. Jetzt ist es strahlend und hell, von Aufrichtigkeit durchtränkt und reicht bis zum Blau ihrer Augen.

In dem Blau liegt etwas leuchtend Schönes. Etwas, das himmelhoch fliegt, anstatt auf dem Meer verloren gegangen zu sein.

Das Foto ist mit einer Bildunterschrift versehen, die lautet: »Keine traurigen Lieder mehr«.

Ich schlucke und wünsche mir, dass Schnaps meine Kehle herunterrinnt. Sie macht wieder Musik. Schon bald wird sie Liveshows spielen und Weinbars mit Magie und Melodien zum Erstrahlen bringen. Sie stiehlt Herzen, fesselt Gemüter und lässt selbst die stärksten Männer auf ihren Sitzen unruhig zappeln.

Verführung hat viele Gesichter, aber nichts ist vergleichbar mit dem, wenn Lucy singt.

In den dunkleren Momenten, wenn ich mich selbst quäle, denke ich an den ersten Abend, an dem ich ihre Show vom Rand der Bar aus beobachtet habe. Ihr letzter Song war einer von Stevie Nicks, und ich war wie betört. Ich war hingerissen von ihr. Die Art und Weise, wie sich ihr Mund bewegte, der heisere Klang ihrer Stimme, das unverfälschte Talent, das ihr aus jeder Pore drang. Unschuld und Sex-Appeal, vereint in meinem endgültigen Verderben.

Dann hüpfte sie in ihrem kleinen Kleid zu mir herüber, ihre Haare wirbelten um sie herum, ihr Lächeln war so verdammt süß, und sie platzte damit heraus, sie wolle mich einreiten.

Fuck.

Ein Mund, der so gut singen kann, hat mich in meinem Kopf die Frage stellen lassen, worin er wohl noch so gut war.

Mein Penis zuckt bei dem Gedanken, aber das Timing ist nicht gut, denn Ike brüllt mir aus dem Eingangsbereich zu, dass er Hilfe bei einem Motorschaden braucht.

Missmutig lege ich mein Handy beiseite, weil ich weiß, dass dieser Gedankengang sowieso zu nichts führt, und rücke ihn in meiner Jeans zurecht.

Das Einzige, was mich durch den Arbeitstag bringt, ist die Gewissheit, dass ich Lucy bei Anbruch der Dämmerung sehen werde.

* * *

Sie schreibt mir nicht zurück.

Ihr Telefon ist ausgeschaltet, und ihre Stimme auf ihrer Mailbox, die immer wieder ertönt, jagt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

»Hey, ich bin’s, Lucy! Wahrscheinlich singe ich gerade meinen Hunden vor, aber dein Anruf ist mir wichtig. Wirklich wichtig. Hinterlass mir eine Nachricht, und ich rufe dich gleich zurück, danach entschuldige ich mich vielmals dafür, dass ich deinen Anruf verpasst habe. Bitte verzeih mir unverzüglich, sonst wird mich diese verpasste Gelegenheit, deine Stimme zu hören, für den Rest meines Lebens verfolgen. Nur kein Druck. Pieeeep!«

Als ich nur noch das Bild von Lucy vor Augen habe, wie sie am ersten Weihnachtstag reglos in meinen Armen baumelte, geisterhaft weiß und nur noch halb lebendig, schnappe ich mir meine Jacke und renne zur Haustür, um nach ihr zu sehen.

Das Problem ist, dass ich stockbesoffen bin.

Als ich von der Arbeit nach Hause kam, habe ich beschlossen, strunzdumm zu sein und eine unverantwortliche Menge Whisky zu saufen, weil ich mich gequält und verzweifelt genug gefühlt habe, um meine Dämonen ertränken zu wollen.

Das bereue ich jetzt.

Was ist, wenn Lucy in Schwierigkeiten steckt? Was ist, wenn ich zu sehr aus der Spur bin, um ihr zu helfen?

Ich verzichte auf mein Bike, um der immer größer werdenden Last auf meinen Schultern nicht noch mehr Schuld hinzuzufügen, und jogge unbeholfen die anderthalb Meilen zu ihrem Haus. Ich stolpere den Bürgersteig hinunter – nicht beschwingt, nur schwankend – und schlängle mich schließlich durch ihren Vorgarten, bis ich mich an der Backsteinsäule abstütze. Das letzte Mal, als ich hier stand, hatte ich ein Geschenk für sie dabei.

Jetzt stehe ich hier mit leeren Händen und einem bedenklichen Blutalkoholspiegel. Das Haus ragt vor mir auf wie ein riesiger Schatten all der Dinge, die ich zurückgelassen habe, und ich bin dankbar, dass der Whisky meine Sicht so verschwommen macht, dass ich das Gelb der Ziegelsteine und die Risse in den Fensterläden kaum noch erkennen kann.

Ich werde nie verstehen, was sie dazu bewogen hat, dieses elende Gebäude zu kaufen. Es ist nichts weiter als eine Gruft voller Geister und Staub. Eine Krypta. Aber Lucy hat das anders gesehen, denn sie dachte, sie könnte diese Relikte zu Gold spinnen. Alten Knochen neues Leben einhauchen. Sie wollte die Tragödie in etwas Hoffnungsvolles verwandeln, und das war schon immer ihre Art, selbst als wir noch Kinder waren – Lucy hat alles repariert und die verbogenen Teile perfekt an ihren Platz gefügt, während Emma der Kitt war, der das Ganze zusammenhielt.

Und ich?

Ich bin die Abrissbirne.

Ich muss wohl geklopft haben, denn die Haustür schwingt auf.

Mein Gleichgewicht gerät ins Wanken, obwohl ich mich an einen dicken Pfeiler gelehnt habe. Ich schwanke immer noch, zucke immer noch zusammen und reagiere immer noch körperlich darauf, sie zu sehen. Lucy steht vor mir und krallt sich an den Türrahmen, ihre Knöchel sind weiß, die Augen blau.

Selbst in meinem benebelten Zustand erkenne ich die Magie in diesem Blau. Ihre Augen blicken zu mir auf und ahmen den changierenden Ton des Himmels nach, als wir in dieser einen Nacht in einer Gondel des Riesenrads saßen und die Sterne zählten. Das Blau war so blau, wie ich es noch nie gesehen hatte, ein auffälliges Indigo, das die schwarze Weite überstrahlt hatte.

Ich bin stinksauer, dass ich zu kaputt bin, um diesen Moment in seiner Gänze zu schätzen. Lucy steht lebendig und strahlend vor mir, mit Atem in ihren Lungen und schlagendem Herzen. Sie ist hier, es geht ihr gut, sie ist aufrecht und nur eine Armlänge entfernt.

Ich blinzle und versuche, meine Sicht zu schärfen.

Ich blinzle noch einmal, sehe doppelt, will aber nur eine sehen. Es ist schon schwer genug, nur einer Lucy gegenüberzustehen.

Sie sagt meinen Namen so, wie sie ihn immer sagt, als hätte sie ein Wörterbuch durchforstet, bis sie auf ihr Lieblingswort gestoßen ist, mit dem kein anderer Begriff je vergleichbar war. »Cal.«

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