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2B Trilogy - Die Liebe hat ihren eigenen Plan

hier erhältlich:

Die Liebe hat ihren eigenen Plan: Die packende New Adult-Reihe der New York Times-Bestsellerautorin Ann Aguirre in einem E-Book-Paket zum Vorteilspreis.

I WANT IT THAT WAY

Liebe? Dafür hat Nadia gerade überhaupt keinen Kopf. Die ehrgeizige Studentin verfolgt so zielbewusst ihren Weg, dass zwischen College und Job jeder Flirt auf der Strecke bleibt. Doch dann zieht sie mit ihrer WG um - und trifft diesen wortkargen, aber unwiderstehlichen Typen aus dem Erdgeschoss. Ty, der seinen kleinen Sohn allein großzieht, macht keinen Hehl daraus, dass auch ihm komplizierte Gefühle derzeit nicht in den Kram passen. Dennoch verbindet die beiden etwas, das so viel tiefer als eine normale Freundschaft geht. Und Nadia wird klar: Das Leben hat seine eigenen Pläne …

AS LONG AS YOU LOVE ME

Durchgefallen! Weil Lauren den College-Stress nicht mehr aushält, vergeigt sich absichtlich alle Prüfungen. Erleichtert zieht sie wieder zu Hause ein. Doch es gibt noch einen zweiten Grund für ihre Rückkehr, den sie niemandem verrät: Rob Conrad! Seit sie denken kann, schwärmt Lauren insgeheim für den älteren Bruder ihrer besten Freundin. Bislang hat er sie zwar kaum eines Blickes gewürdigt, aber Lauren ist entschlossen, das zu ändern. Sie will ihm zeigen, dass sie anders ist als seine Exfreundinnen, und nicht nur eine kurze Affäre mit ihm möchte, sondern das volle Programm …

THE SHAPE OF MY HEART

Große Gefühle? Bloß nicht! Courtney hat bereits einen geliebten Menschen verloren und will diesen Schmerz nicht noch mal erleben. Da hält sie die Welt lieber auf Abstand! Gelegentliche Blicke hinter ihre ausgeflippte Fassade erlaubt sie nur ihrem Mitbewohner Max, der seine verletzte Seele ebenfalls gut verbirgt: unter der Macho-Maske des superheißen Bikers. Standhaft verdrängt Courtney, wie sehr sie sich auch körperlich zu Max hingezogen fühlt - wild entschlossen, ihm eine gute Freundin zu sein und sonst gar nichts! Doch dann bittet Max sie, ihm bei einem gefürchteten Familientreffen beizustehen - das beider Leben für immer ändern wird …

"Der elegante und raffinierte Erzählstil ist einmalig für das Genre."
New York Times-Bestellerautorin Jay Crownover über "I Want It That Way"

"Ann Aguirre hat das Talent, starke Figuren zu schaffen, die ihre Leser an sich fesseln."
Publishers Weekly

"Ich habe längst aufgehört, mich darüber zu wundern, wie gut Ann Aguirre ist."
Leserstimme auf Goodreads


  • Erscheinungstag: 19.03.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 908
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768966
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Ann Aguirre

2B Trilogy - Die Liebe hat ihren eigenen Plan

Ann Aguirre

I Want It That Way

Roman

Aus dem Amerikanischen von Alexandra Hinrichsen und Ivonne Senn

image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright eBook © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

I Want It That Way

Copyright © 2014 by Ann Aguirre

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-465-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

Als ich Ty zum ersten Mal begegnet bin, fiel ich gerade die Treppe hinunter und zerriss mir die Jeans.

Jemand, der zu Aberglauben neigt, hätte das vielleicht als Omen bezeichnet, aber Ty war natürlich nicht schuld; es war nur ein blöder Zufall.

Während Lauren und ich mit dem Sofa kämpften, betrat ein Typ das Gebäude, den ich für einen unserer Nachbarn hielt. Er hatte rötliches Haar, braune Augen und rotblonde Stoppeln am ausgeprägten Kinn. Ich hatte schon immer eine Schwäche für rothaarige Männer, wahrscheinlich, weil ich mit den Harry-Potter-Filmen aufgewachsen bin. Der Unbekannte war außerdem groß und hatte ein schön geschnittenes, kantiges Gesicht, wie ein harter Krieger, der auf dem Bug eines Schiffes zu Hause ist. Okay, zugegeben, ich hatte in dieser Woche möglicherweise zu viele Folgen von „Vikings“ gesehen.

Er musterte uns, während wir das schwere Möbelstück anhoben, seufzte und schritt zu seinem Briefkasten. Kein Gruß oder „Ah, die neuen Nachbarn, herzlich willkommen“. Nichts. Wir hatten unterdessen schon fast den ersten Treppenabsatz erreicht, da rutschten meine Hände ab, und die Couch polterte die Stufen hinunter. Ich wollte sie festhalten, beugte mich vor, griff daneben und stürzte hinterher. Lauren sprang zur Seite, als müsste sie einem Bob auf der Eisbahn ausweichen, und das braune Monster klapperte mir voran zurück ins Erdgeschoss.

Das Sofa schaffte es, nirgends gegenzuknallen, ich hatte weniger Glück. Zu Ehren unseres Umzugs hatte ich meine älteste und bequemste Hose an, die offenbar ein paarmal zu oft gewaschen worden war. Jedenfalls hörte man deutlich, wie sie aufriss, während ich von der Wand abprallte und unsanft vor Laurens Füßen landete.

Meine Freundin riss die Augen auf und zog mich hoch. „Alles in Ordnung?“

„Nur meine Hüfte und mein Stolz sind angeschlagen“, murmelte ich.

Sie schaute durch die offene Eingangstür nach draußen zu der ganzen Arbeit, die noch auf uns wartete. „Vielleicht sollten wir doch erst weitermachen, wenn die Jungs vom Bierholen wieder da sind.“

Ich betrachtete das Chaos, das wir vor der Haustür angerichtet hatten. Auf dem Weg hinein mussten unsere Nachbarn im Moment einen Hindernislauf absolvieren. „Wir können die Sachen da nicht so stehen lassen.“

„Ich helfe euch mit der Couch.“

Er klang nicht gerade begeistert, dennoch krempelte der mies gelaunte Rotschopf die Ärmel seines weißen Hemds hoch, und ich bemerkte gleich seine schönen Arme: leicht gebräunt, ein paar zarte rotblonde Haare darauf, schlank, doch kräftig mit starken Handgelenken. Seine Hände mochte ich ebenfalls. Er hatte lange elegante Finger wie ein Klavierspieler. Ich kann immer schlecht schätzen, wie alt jemand ist, aber er schien mit dem Studium fertig zu sein, denn er trug einen Anzug und kam offensichtlich gerade aus dem Büro.

Zu spät fiel mir auf, dass ich ihn eine halbe Minute intensiv anstarrte. „Das wäre echt nett, doch das musst du natürlich nicht.“

„Kein Problem. Ich nehme das eine Ende und gehe rückwärts nach oben.“

„Danke“, schaltete Lauren sich ein. „Wir würden allerdings ungern gleich am ersten Tag hier jemanden mit unserem Sofa ermorden.“

Da ich mit dem Rücken an der Wand stand, blieb mir zumindest die Peinlichkeit erspart, dem neuen Nachbarn meine Panda-Unterhose zu präsentieren. Er schob sich an mir vorbei und hievte die Couch allein ein paar Stufen nach oben. Lauren und ich griffen uns das andere Ende. Diesmal war es deutlich einfacher, weil der Wikinger ordentlich zupackte. Ohne weitere Zwischenfälle und Schwierigkeiten wuchteten wir das Möbelstück in den ersten Stock. Dort hielt er an.

„Apartment A oder B?“, fragte er.

„B.“ Ich gewinne zweifellos mal den Preis für Spritzigkeit und spontane Flirtversuche.

Nickend half er uns, die Couch den Flur hinunter und in die Wohnung zu tragen. Wir hatten die Tür offen gelassen, weil drinnen ja kaum etwas war. Max und Angus waren los, sobald wir alles ausgeladen hatten aus meinem Auto, aus dem von Angus und aus dem Umzugswagen. Das meiste stapelte sich in der Lobby und draußen. Die Jungs meinten, die Arbeit würde mit Pizza, kaltem Bier und einem leichten Schwips wesentlich mehr Spaß machen.

„Ihr wohnt direkt über mir“, stellte unser Nachbar fest und wirkte nicht gerade überglücklich darüber.

Ich warf Lauren einen Blick zu, der besagte: Was hat er nur? Sie zuckte mit den Schultern.

„Ich bin Nadia“, sagte ich.

Erst antwortete er nicht, also fügte Lauren hinzu: „Und ich Lauren.“

„Ty“, meinte er schließlich steif, als wären wir in einem Business-Meeting.

Lauren versuchte weiter, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen: „Unsere beiden Mitbewohner sind gleich mit dem Bier zurück, falls du …“

„Nein, nein, schon okay. Ich muss nach Hause.“ Wieder knapp und unfreundlich.

„Tja, dann danke, dass du uns geholfen hast. Die Kartons schaffen wir auch alleine hoch.“

Ty nahm das als Stichwort, um abzuhauen, und wir folgten ihm die Treppe hinunter. Er sah vollkommen erschöpft aus, wie er nun zu Apartment 1B lief. Es lag nach hinten raus, und ein hübscher Garten im Innenhof gehörte dazu. Bei uns gab es immerhin einen Balkon, der allerdings nicht groß genug war für Grillpartys, sofern die Gäste sich nicht wie Sardinen in der Dose fühlen sollten.

Lauren und ich zogen mit zwei Freunden in die neue Wohnung, und weil wir beide beim Losen verloren hatten, mussten wir uns das geräumige Schlafzimmer teilen, während Angus und Max jeder einen Raum für sich hatten. Einen Vorteil hatte das, wir mussten uns kein Badezimmer mit den nicht gerade putzfreudigen Jungs teilen, sondern hatten unser eigenes, das direkt vom Zimmer abging. Zu viert war die Miete erschwinglich, und da ich mich Ende des Monats meistens von Asia-Nudelsuppen ernährte, konnte ich mich nicht beklagen. Ich schnappte mir eine meiner Kisten mit der Aufschrift KLAMOTTEN, rannte damit nach oben und stöhnte, da meine angeschlagene Hüfte wehtat.

„Süßer Panda“, sagte Lauren trocken hinter mir. „Klappe.“

Ich verschwand in unserem Bad und schlüpfte in eine Jogginghose, danach rannte ich wieder nach unten und schlängelte mich an Lauren auf der Treppe vorbei. Während ich einen der Kartons stemmte, kam eine grauhaarige Frau aus Apartment 1B. Sie hatte eine entschieden birnenförmige Figur, bewegte sich, als täten ihr die Füße weh, lächelte mir im Vorbeigehen zu und winkte freundlich.

„Normalerweise hätte ich jetzt ‚bis morgen‘ gesagt, aber das hier ist mein letzter Tag.“

Mit dieser kryptischen Bemerkung verschwand sie, und ich schleppte meine Kiste nach oben.Kaum dass Lauren und ich für die nächste Ladung unten ankamen, tauchten Max und Angus auf. Die Pizza duftete köstlich, und ich beschloss, dass die beiden doch keine so schlimmen Mistkerle waren, wie ich vorher gedacht hatte.

Sie gaben Lauren und mir Pizza und Bier und schnappten sich je zwei Kartons. Dann ging es wieder nach oben. Zu viert hatten wir bald unseren gesamten Kram in der Wohnung. Natürlich herrschte noch heilloses Chaos, aber immerhin konnten wir die Tür hinter uns zumachen.

„Tut mir leid, dass wir so lange weg waren.“ Angus wirkte aufrichtig zerknirscht. „Wie lief es denn mit der Couch?“

Ich warf Lauren einen warnenden Blick zu, damit sie ja nicht meinen Sturz und das Hosen-Desaster erwähnte. „Sie war widerspenstig, doch nachdem ich ihr ins Gewissen geredet habe, hat sie sich benommen.“

Max betrachtete das renitente Möbelstück und zog die Augenbrauen hoch. Offenbar gefiel ihm der Platz nicht, den wir dem guten Stück zugewiesen hatten.

„Die Couch muss an die andere Wand, da kann man besser fernsehen und Videospiele spielen.“

Typisch. Max war kein übler Kerl, aber …

Seit seinem ersten Semester gab er sich Mühe, sämtliche Frauen am Mount Albion College ins Bett zu kriegen. Da das College nicht unbedingt klein war, hatte er sich damit einiges vorgenommen, was ich gleichermaßen ehrgeizig und beunruhigend fand. Lauren und ich kannten ihn zu gut, um etwas mit ihm anzufangen, denn natürlich versuchte er es auch bei uns.

Mein Interesse an Bad Boys aus kaputten Familien war gleich null. Ich überließ es gern einer anderen, sich in Max zu verlieben und aus ihm einen normalen Menschen zu machen. Mir reichte es schon, wenn er in Zukunft den Abwasch erledigte, sobald er dran war. Allerdings hatte er eine feste Stelle und war damit in meinen Augen als Mitbewohner qualifiziert, weil er seinen Teil der Miete rechtzeitig zahlen würde. Angus hingegen kam aus einer „guten Familie“, wie meine Mutter das nannte, und sein Vater hatte seinen Kautionsanteil gleich an die Wohnungsgesellschaft überwiesen.

Lauren und ich erhielten keine solche Unterstützung von daheim, hatten jedoch beide Teilzeitjobs. Das klappt schon. Jedenfalls sagte ich mir das immer wieder, seit ich im Frühling den Mietvertrag unterschrieben und meinen Teil der Kaution gezahlt hatte. Dennoch war die erste eigene Bleibe ein wenig beängstigend, da ich vorher nur im Wohnheim gelebt hatte.

„Okay“, meinte Lauren und half Max, das Sofa umzustellen.

Daraufhin verpflichtete er sie, mit ihm zusammen Fernseher und Spielkonsole aufzubauen und anzuschließen. Unterdessen stellten Angus und ich den Retro-Esstisch inklusive chromgefasster Resopalplatte auf und die gelben Vinyl-Stühle. Den Tisch hatte ich auf dem Flohmarkt ergattert. Ein Stück mit Cha rakter, das wahrscheinlich tatsächlich aus den Fünfzigerjahren stammte. Ich legte Platzdecken auf die zerkratzten Stellen, während Angus die Küchenutensilien einräumte. Bisher hatte ich noch nie irgendwo gewohnt, wo es einen Geschirrspüler gab, was ich den Jungs allerdings nicht auf die Nase band. Lauren wusste es natürlich.

Meine Eltern bezahlten einen Teil meiner Studiengebühren, für den Rest hatte ich ein Stipendium. Bei uns zu Hause hatte es nie großen Luxus gegeben. Lauren und ich kannten uns seit der zweiten Klasse. Ihre Familie war mal ziemlich wohlhabend gewesen, aber dann zahlten sich die Investitionen ihres Vaters nicht mehr aus. In seinem Frust hat er die Familie verlassen, als Lauren gerade mal elf war. Zehn Jahre später saßen wir finanziell nun im gleichen Boot.

Nachdem Lauren und Max mit dem Fernseher und den anderen Geräten fertig waren, brachte Angus die Küche auf Vordermann. Ich spülte die vier Teller ab, stellte Bier und Pizza auf die Arbeitsplatte und brach dann stöhnend auf der Couch zusammen. Der Rest der Kartons musste warten. Angus saß neben mir, Lauren ließ sich auf der anderen Seite nieder, für Max blieb der Sessel. Er legte sofort einen lauten Actionfilm ein, und ich war zu erschöpft, um deshalb Streit anzufangen.

„Den hast du schon zwölfmal gesehen“, meinte Angus.

„Vierzehnmal! Na und?“ Max lächelte, was viele Leute unwiderstehlich fanden.

Ich aß weiter Pizza und schaute zu, wie auf dem Bildschirm ein Auto nach dem anderen explodierte.

Frisch gestärkt, war ich danach bereit, mir die Kisten mit den Deko-Sachen vorzunehmen. Ein paar Bilder, Duftkerzen und eine seltsame Statue, die Angus’ Mutter angefertigt hatte. Angeblich war sie als Bildhauerin in Europa sehr erfolgreich. Anfangs fragte ich die anderen noch nach ihrer Meinung, doch bis ich so weit war, die Bilder aufzuhängen, merkte ich schnell, dass es ihnen egal war. Also suchte ich nach einem Hammer und Nägeln und fing an.

Einige Minuten später klopfte es an die Tür. Meine drei Mitbewohner schauten mich auffordernd an.

„Worauf wartest du?“, wandte sich Lauren an mich. „Du stehst ja schon.“

„Okay.“

Ich öffnete die Tür und hatte Ty vor mir. Womöglich sah er jetzt noch fertiger aus als vorhin. Das Hemd hatte er gegen ein Converse-T-Shirt getauscht, das ziemlich nass war, wieso, konnte ich mir nicht erklären. Der Stoff klebte an seinem Oberkörper, und man erkannte hervorragend seine breiten Schultern und die muskulöse Brust. Bei diesem erfreulichen Anblick musste ich lächeln, jedenfalls bis unser Nachbar den Mund aufmachte.

„Könntet ihr den Fernseher leiser stellen und nicht so spät noch hämmern?“

Überrascht zog ich mein Handy aus der Tasche. Zwanzig Uhr vierzig. Mann, wir hatten Wochenende, und es war nicht mal neun. Da war ich ja in der Grundschule länger wach gewesen. „Ich glaube, wir haben nicht ganz die gleiche Definition von spät. Doch ich sage Max wegen der Lautstärke Bescheid.“ Ich rief in das Apartment: „Hey, man kann euren Film noch ein Stockwerk weiter unten hören! Macht mal leiser!“

Max drückte fluchend auf der Fernbedienung herum. Oh Gott, es stimmte, es war wirklich höllisch laut. Kein Wunder, dass der Wikinger schlecht gelaunt war. Wahrscheinlich hatte er deshalb vorhin gestöhnt, nachdem er Lauren und mich mit der Couch erblickt hatte. Studenten waren ja berühmt für ihre wilden Partys, für Kotzlachen und für nackte Schnapsleichen im Hausflur.

„Danke“, meinte Ty, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand im Eilschritt die Treppe hinunter.

„Na, super, wir wohnen über einer Spaßbremse“, murmelte Max.

„Wir wussten doch, dass wir hier nicht nur mit Studenten zusammenleben.“ Dafür stimmte die Miete, auch wenn es etwas weiter weg zum Campus war. Das war allerdings kein großes Problem, wir hatten zu viert zwei Autos und einen Nutzungsplan für die Wagen.

„Ich will nicht, dass unsere neuen Nachbarn uns gleich hassen, besonders wenn sie so heiß sind“, erklärte Lauren. „Und uns noch dazu beim Schleppen der Couch geholfen haben.“

„Du hast echt einen furchtbaren Männergeschmack“, erwiderte Max.

Während die beiden sich stritten, schnappte sich Angus die Fernbedienung und regelte die Lautstärke des Fernsehers weiter runter. Ich legte den Hammer weg und beschäftigte mich mit der Deko, die keinen Krach verursachte. Die Bilder konnten auch bis morgen warten. Möglicherweise studierte Ty ja Medizin, hatte Bereitschaft im Krankenhaus und war seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Statt ihn also noch mehr aufzuregen, trug ich die Kiste mit meinen Klamotten in unser Zimmer und räumte sie in den Schrank. Danach bezog ich mein Bett und hängte Handtücher ins Bad. Um zehn hatte ich genug und duschte zum ersten Mal in der neuen Wohnung.

Um halb elf rief meine Mom an, gerade als ich einen Fuß auf den Badvorleger setzte. Erst war ich erstaunt, aber dann wurde mir klar, dass sie wohl die zwei Stunden Zeitverschiebung vergessen hatte. Mal wieder. Meine Eltern wohnten in den Rocky Mountains, ich an der Ostküste. Das entfiel ihr mindestens einmal pro Monat. Oder sie konnte es einfach nicht bis zum nächsten Tag aushalten.

Ich schnappte mein Handy. „Alles gut gelaufen, Mom.“

„Du teilst dir doch das Zimmer mit Lauren, ja? Nicht mit diesem gut aussehenden jungen Mann, der so düster guckt?“

Ich grinste. Ob die Beschreibung Max gepasst hätte? „Nein.“

„Gut, irgendwie habe ich ihn nicht gemocht. Doch der andere Junge macht einen netten Eindruck.“

„Angus ist schwul, Mom.“

„Bist du sicher? Manchmal stimmt das gar nicht, weil sie nur metrosexuell sind. Sieht man doch immer im Fernsehen, so was.“

„Ich kenne seinen Freund.“

„Tja, das dürfte wohl als Beweis reichen. Fall abgeschlossen.“ Sie klang enttäuscht. „Schön, ich wollte nur hören, ob es Probleme beim Umzug oder mit der Wohnung gab.“

„Nein, alles super.“

Falls sie mir ein Geschenk oder einen Zuschuss anbieten sollte, würde ich das keinesfalls annehmen. Meine Eltern kratzten auch so schon jeden Cent zusammen, um mir zu helfen. Sobald ich als Lehrerin richtig verdiente, hatte ich vor, ihnen alles zurückzuzahlen. Nicht dass sie mich darum gebeten hätten, allerdings wusste ich, wie schwer die beiden arbeiteten. Eine Zeit lang nahm meine Mutter neben ihrem regulären Job noch einen zweiten an, damit ich studieren konnte. Das ging so, bis sie im Supermarkt zur Geschäftsführerin befördert wurde. Wenn ich ihnen das Geld wiedergäbe, könnten sie mal etwas zurücklegen oder meinetwegen auch endlich mal verreisen. Bei dem Gedanken lächelte ich glücklich.

„Ich schicke dir ein Carepaket“, verkündete Mom stolz. „Ich kann es gar nicht erwarten, deine neue Adresse draufzuschreiben.“

„Ich dachte, Mütter wären immer traurig, wenn ihre Kinder erwachsen werden“, scherzte ich.

„Nein, nein, es ist schön zu beobachten, wie du flügge wirst, deine Flügel spreizt und in die weite Welt fliegst.“

Oh Schreck, es wurde dringend Zeit, dieses Telefonat zu beenden, sonst würde sie gleich noch mit dem Schmetterling anfangen. Ich war als Kind das hässliche Entlein gewesen, in der Highschool änderte sich das langsam, und im College hat sich mein Aussehen dann entschieden verbessert. Ich hatte dunkles lockiges Haar, eine lange Nase, ein energisches Kinn und ausgeprägte Wangenknochen. Ein Gesicht mit Charakter, wenn man so wollte. Mom behauptete außerdem, ich hätte einen guten Knochenbau und würde deshalb angeblich so wie Katherine Hepburn schön altern. Da ich die mit neun Jahren noch nicht kannte, war das damals ein schwacher Trost gewesen.

„Ich hab dich lieb, Mom. Gib Dad und Rob einen Kuss von mir.“ Rob war mein älterer Bruder, er arbeitete wie mein Dad für eine Baufirma.

„Mach ich, ich reiche dich eben an deinen Vater weiter.“

„Hallo, Böhnchen.“

Mein Bruder hat mich früher Bohnenstange genannt, und obwohl ich heutzutage wirklich nicht mehr dürr war, blieb mein Dad dabei.

„Wie läuft’s?“

Er zögerte. „Nicht schlecht. Keine Ahnung, ob deine Mutter dir das schon erzählt hat, aber Rob will sich wohl ein Haus kaufen.“

„Bist du dafür?“, fragte ich.

„Ja, wird langsam Zeit. Sag mal, brauchst du noch was für die Wohnung?“

Dad war kein Mann für lange Gespräche und zeigte seine Liebe anders als mit Worten.

„Nee, wollte Mom auch schon wissen. Wie ist es bei der Arbeit?“

„Ich baue gerade an einem Einkaufszentrum mit. Ziemlich hässlich, doch bringt Geld.“

Sein kühler Pragmatismus erinnerte mich daran, wie er in meiner Kindheit immer alle meine Probleme gelöst hatte. Zum Beispiel, wenn die Kette an meinem Fahrrad riss, hatte er das repariert. „Ich vermisse dich, Dad.“

„Ich dich auch, bis bald dann.“ Und damit unterbrach er die Verbindung.

Um mir ein Glas Wasser zu holen, ging ich nach dem Telefonat in die Küche. Lauren war an Angus’ Schulter eingenickt, Max war unterwegs. Ich winkte kurz und trat hinaus auf den Balkon zum Sternegucken. Seufzend legte ich den Kopf zurück und lauschte dem Zirpen der Grillen, in das sich leise die Stimme eines Mannes mischte. Das Fenster unter uns musste offen stehen. Es klang, als würde jemand – Ty? – „Hallo, lieber Mond“ vorlesen. Wahrscheinlich zum hundertsten Mal, wie man am Ton merkte. Die Antwort erfolgte in einer deutlich helleren Stimmlage, dann herrschte Schweigen. Hm, das war definitiv ein Kind.

Ich hatte gar nicht gemerkt, wie weit ich mich über die Brüstung lehnte, und erschrak, da ich unten ein Geräusch hörte. Ty stand plötzlich auf der Terrasse, die im Mondlicht wunderschön aussah: Lampen am Zaun, ein kleiner Kräutergarten in wuchtigen Töpfen, Blumenampeln und Rattanmöbel, auf denen gestreifte Kissen lagen. Bestimmt wohnte er mit einer Frau zusammen. Ein Mann würde niemals so viel Zeit für eine hübsche Terrasse verschwenden.

Mein Gott, war ich oberflächlich! Ich hasste es bei anderen Leuten, wenn sie mich nach meiner Größe oder dem Gewicht beurteilten. Du spielst doch sicher Basketball? Nein? Ach, was ist denn dann deine Lieblingssportart?

Während ich noch so meinen Gedanken nachhing, machte Ty etwas sehr Ungewöhnliches. Er schritt zum Zaun, ballte eine Hand zur Faust und presste sie an seinen Hinterkopf. Nicht unbedingt meine Methode gegen Kopfweh. Das schien eher Erschöpfung oder Verzweiflung zu sein. Es war mir unangenehm, dass ich ihn dabei beobachtete, als würde ich ihn bespitzeln, wenn das natürlich auch nicht meine Absicht gewesen war. Ich wollte verschwinden, doch in dem Moment drehte er sich um, als hätte er meinen Blick im Rücken gespürt. Im Dunkeln konnte ich seine Augen nicht erkennen, erinnerte mich aber, dass sie goldbraun waren.

Aus irgendeinem Grund war ich wie gelähmt und wagte es nicht mal, mich gerade hinzustellen. Er sollte nicht glauben, er würde mich vom Balkon vertreiben oder, schlimmer noch, dass ich heimlich spionierte. Und so standen wir beide da, starrten uns an und schwiegen. Ty lächelte nicht. Die Situation wurde immer angespannter, dann ging er wieder hinein, und der Moment zwischen uns war vorbei. Ich fühlte mich auf einmal unerklärlich allein.

2. KAPITEL

Am nächsten Tag musste ich arbeiten.

Der Kindergarten war besser als die meisten anderen Studentenjobs. In diesem Sommer hatte ich mehr Stunden bekommen und vertrat die Kollegen, die im Urlaub waren. Bald allerdings würde ich nur Teilzeit eingesetzt werden und konnte mir kulanterweise die Arbeitszeit so legen, dass sie nicht mit dem Studium kollidierte. Am Montag, Mittwoch und Freitag war ich nachmittags da. Dienstags und donnerstags am Vormittag. Manchmal hatte die Direktorin bestimmte Aufgaben für mich, ansonsten sprang ich immer da ein, wo gerade Hilfe gebraucht wurde.

Mir gehörte eins unserer beiden Autos, Angus das andere. Seins war aus offensichtlichen Gründen ein deutlich teurerer Wagen, doch mein Toyota hatte Herz. Er hatte schon eine Trillion Meilen auf dem Buckel gehabt, als ich ihn vor vier Jahren erstanden hatte, trotzdem schnurrte der Motor noch. Max besaß ein antikes Motorrad, an dem er herumschraubte, seit ich ihn kannte, aber neben dem Studium und dem Job blieb ihm eben nicht viel Zeit. Daher fuhr das Ding auch immer nur streckenweise. Es war ein Sensibelchen. Mein Auto hingegen sprang zuverlässig an und brachte mich stets sicher zur Arbeit.

Im Kindergarten angekommen, schickte man mich in die Gruppe der Zweijährigen  – ja, wahnsinnig aufregend! Die Gruppenleiterin hieß Charlotte Reynolds und hatte Pädagogik studiert. Charlotte war nett, Mitte dreißig und üblicherweise sehr geduldig, nur heute Morgen war sie ein Nervenbündel. Zusammen versuchten wir, die Kinder davon abzuhalten, sich gegenseitig umzubringen, wir verteilten Malbücher, überwachten das Mittagessen und den anschließenden Schlummer. Dann tobten die Kleinen draußen, malten wieder, spielten unter Anleitung, und um halb fünf neigte der Tag sich glücklicherweise langsam seinem Ende zu.

„Mann, waren die heute stur“, murmelte Charlotte.

„Das war meine letzte volle Schicht“, erklärte ich.

„Ja, leider. Hoffentlich hast du ein tolles Semester vor dir.“

Ich nickte, und wir räumten noch auf. Gegen sechs waren alle Kinder abgeholt. Müde trabte ich zu meinem Toyota und wollte heim, bog aber in Gedanken falsch ab und landete beim Wohnheim statt zu Hause. Leise fluchend wendete ich und hielt schließlich auf dem Parkplatz vor unserer Wohnung hinter einem silbergrauen Ford Focus. Ty stieg aus.

Nach dem Moment auf dem Balkon wollte ich nicht, dass er sich von der neuen aufdringlichen Nachbarin verfolgt fühlte. Ich nahm meine Tasche vom Rücksitz (mit dem Logo der Kindertagesstätte: ein paar Gebäude mit einem Regenbogen darüber) und schloss den Wagen ab. Danach wollte ich mich unauffällig an Ty vorbeischummeln. Der allerdings tat so, als wäre am Abend zuvor nichts gewesen, und sprach mich auf die ABC Rainbow Academy an.

„Hey, arbeitest du in dem Kindergarten?“

„Ja, warum?“

„Kannst du den empfehlen?“

Hallo, lieber Mond – ja, richtig. Gab es auch eine Mrs Ty?

Peinlich, jetzt dachte ich schon darüber nach, ob er wohl verheiratet war! Normalerweise war ich nicht so neugierig, nicht einmal bei so attraktiven Männern. Moment, was hat er mich eben doch gleich gefragt? Ich blieb auf der ersten Stufe vor der Eingangstür stehen und nickte. „Die Erzieher haben alle eine solide Ausbildung, die Vorschule ist kompetent, und die Kinder werden zuverlässig beaufsichtigt“, schnurrte ich meinen Text herunter. „Ich arbeite seit einem Jahr da, und es gab keine größeren Unfälle.“

„Klingt nach einer echten Empfehlung. Hast du vielleicht eine Karte mit der Nummer da?“

Hatte ich tatsächlich. Ich wühlte in meiner Tasche, in der alles durcheinanderflog, unter anderem die Bilder, die mir die Kinder im Sommer gemalt hatten. Die von meinen besonderen Lieblingen hatte ich mitgenommen, obwohl man natürlich keine Lieblinge haben durfte.

„Hier, bitte sehr. Steht zwar hinten was drauf, aber das kannst du einfach ignorieren.“

Er drehte die Karte um. Wenn man Ty sagte, dass etwas gerade frisch gestrichen war, überprüfte er das bestimmt auch erst mit einem Finger.

„Erin, Lubriderm“, las er vor. „Dreimal am Tag. Interessant …“

„Eins von den Kindern hatte eine winzige Stelle mit Ausschlag. Ihre Eltern sind keine Organisationskünstler.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Ah, das haben sie dir also als Anweisung aufgeschrieben?“

„Genau, und keine Sorge – der Kleinen geht es schon wieder besser.“ Ich lächelte ihn an, was er erwiderte, dabei war Ausschlag eigentlich kein Grund zur Freude. „Der Name und die Nummer der Direktorin stehen vorn drauf. Mach gern einen Termin aus, um dir alles anzusehen.“

„Danke.“

Ich fragte lieber nicht, ob die Frau von gestern seine Babysitterin war – wenn ich ihn noch länger aufhielt, würde er bestimmt nur versuchen, mich endlich loszuwerden. Also winkte ich und ließ ihn mit Erins Behandlungsanweisung allein.

Oben in der Wohnung sah Max sich gerade einen Film an.

„Produktiven Tag gehabt?“, fragte ich.

„Nicht so richtig. Ab morgen entwickle ich neuen Ehrgeiz.“

Das Wort Ehrgeiz fiel einem im Zusammenhang mit Max nun wirklich nicht ein. Aber dafür, dass er von einer Party zur nächsten zog, waren seine Noten noch ganz okay. Ich hingegen hatte die Bücher fürs Semester schon online gekauft und konnte nun nur mit meinem Tablet bewaffnet in die Vorlesung marschieren. Hoffentlich bringt der Umzug hierher nicht meine Routine durcheinander. In diesem Semester hatte ich vier Kurse belegt und machte ein Praktikum an der Highschool. Allerdings würde ich dort nur zusehen. Selbst unterrichten war erst im letzten Semester dran.

„Wo stecken die anderen beiden?“, erkundigte ich mich.

„Lauren bei der Arbeit und Angus ist einkaufen. Er holt sie nachher ab.“ Max grinste. „Es wäre so schön, wenn ihr mal miteinander reden würdet, damit ihr mich nicht immer zur Nachrichtenübermittlung missbrauchen müsstet.“

„Schon klar.“

Ich wusch mir die Hände, machte mir ein paar Cornflakes und ließ mich auf der Couch nieder. Der Film lief bereits zu lange, als dass ich noch reinkommen könnte, aber ich wartete eh nur darauf, dass meine Mitbewohner nach Hause kamen. Ich war sensationell gut darin, Max zu ignorieren, sonst wäre ich nie mit ihm in eine Wohnung gezogen. Irgendwann langweilte ich mich und begann, die restlichen Bilder aufzuhängen. Ich bemühte mich, das so leise wie möglich zu erledigen, um unseren Nachbarn von unten nicht zu stören.

Seltsamerweise war ich fast enttäuscht, weil Ty nicht hochkam, um sich zu beschweren, nicht mal, als Lauren und Angus nach zehn polternd eintrudelten. Die beiden waren zu müde, um sich noch zu unterhalten, und so landete ich alleine auf dem Balkon. Selbstverständlich nicht, um Ty hinterherzuspionieren, wie ich mir versicherte, sondern um einen letzten Tee zu trinken, bevor es ab ins Bett ging. Max hatte einen Stuhl hinausgestellt.

Diesmal war Ty nirgends zu sehen, wie ich erleichtert feststellte. Ich wollte ihn nicht schon wieder in so einem unbedachten Moment erwischen. Natürlich hatte ich jedes Recht, mit einer Tasse Tee auf meinem Balkon zu sitzen, dennoch könnte es den Eindruck erwecken, ich sei übermäßig neugierig.

Dann sah ich, dass er sehr wohl in seinem Garten war. Er saß auf der Rattanbank. Ganz allein. Ich musterte ihn und nippte am Tee. Er las etwas auf einem E-Reader, das Mondlicht ließ ein paar seiner Haarsträhnen kupfern glänzen.

„Du hast wirklich was übrig für Sterne, was?“, sagte er, ohne den Kopf zu heben.

Zwar hatte er leise gesprochen, aber er meinte eindeutig mich. Warum fand ich das eigentlich so toll? Ho Braune, kann durchaus sein, dass er verheiratet ist. Oder besetzt. Oder … sonst was. Er sucht auf jeden Fall einen Kindergarten und …

Vielleicht sollte ich mit der ständigen Grübelei aufhören.

„Mir gefällt es einfach hier draußen“, verkündete ich, ebenfalls leise.

Irgendwie war das Ganze wie unser Geheimnis. Unser Abend im Garten. Es schien Ty nichts auszumachen, beides mit mir zu teilen. Ich hatte nicht das mindeste Bedürfnis, einen der anderen dazuzuholen, insbesondere nicht Lauren, denn ich hatte keine Lust, mich anschließend von ihr durchanalysieren zu lassen.

„Ja, ist das Beste an den Wohnungen hier.“

„Was liest du da?“

Er zögerte, als wäre er nicht sicher, ob er das Gespräch fortsetzen wollte.

„Ein paar Kapitel für mein Seminar morgen.“

„Oh, dann bist du doch Student? Ich dachte, damit wärst du bestimmt durch.“

„Ich hab auch noch einen richtigen Job.“

„Ah, Teilzeitstudent?“, riet ich.

„Genau.“

„Und was studierst du?“ Oh Mann, das artete gerade in ein Verhör aus. Okay, keine weiteren Fragen mehr, lass ihn erzählen. Das Gespräch fühlte sich seltsam intim an, so im Dunkeln, ohne dass ich Tys Gesicht sehen konnte. Ich hörte nur seine sanft klingende Stimme, die Luft war lau, und es duftete nach den Blumen auf seiner Terrasse.

„Architektur.“

„Klingt interessant“, stellte ich fest und musste mich sehr zurückhalten, um nicht weiterzubohren. Wie viele Semester hast du noch vor dir? Was arbeitest du denn sonst? Und was würdest du gern mal bauen?

Ganz ehrlich, bis jetzt war ich noch nie so schrecklich neugierig gewesen, aber bei Ty war das anders. Ich hätte am liebsten sofort alles über ihn erfahren, etwaige dunkle Geheimnisse inklusive. Etwas erschrocken über mich selbst nippte ich zur Beruhigung am Tee. Das Gespräch schien damit leider beendet zu sein.

Doch dann fragte er: „Und du?“

Hurra! „Ich studiere Sonderpädagogik. Sechstes Semester.“ So präzise hatte er es wahrscheinlich gar nicht wissen wollen. Außerdem konnte er sich mein Alter nun ziemlich genau ausrechnen. Falls ihn das denn interessierte. Vermutlich nicht.

Normalerweise flog ein ganz bestimmter Typ Mann auf mich. Sportlich, auffallend groß mit einer Vorliebe für Outdoor-Kram und auf der Suche nach einer Frau, die ihn beim Klettern begleitete, beim Campen und bei anderen Extremsportarten. Und obwohl ich über eins achtzig maß, leicht Muskeln aufbaute und aus Gesundheitsgründen dreimal die Woche ins Fitnessstudio ging, hatte ich für all das nichts übrig.

„Ah, daher die Arbeit im Kindergarten“, sagte Ty und stand auf. „Ich geh jetzt rein. Gute Nacht, Nadia.“

Ein Schauer lief mir über den Rücken, weil er sich an meinen Namen erinnerte. Wie blöd von mir. Etwas außer Atem flüsterte ich: „Nacht, Ty.“

Nadia, rief meine innere Stimme, komm zu dir, der Mann ist Vater, dreh bloß nicht durch! Aber mein Verstand kämpfte auf verlorenem Posten.

Am nächsten Tag fand ich problemlos alle Räume, in denen meine Seminare stattfanden, die auch noch alle tatsächlich gut waren, dann holte ich meine Skripte ab und hastete zur Arbeit. Ich war so beschäftigt, dass die Zeit nur so raste, bis es sieben Uhr abends war und ich verspätet gehen konnte. Der daran schuldige Vater murmelte etwas über einen Stau, was in dieser Kleinstadt allerdings nicht unbedingt glaubwürdig klang. Weil seine Tochter seit einer Stunde weinte und Angst hatte, dass er sie schon wieder vergessen haben könnte, war ich nicht gerade bester Laune, als ich schließlich ins Auto stieg. Doch dann sang ich die Songs im Radio mit, was meinen Ärger vertrieb. Zu Hause angekommen, war meine Wut verraucht.

Das dauerte aber nur bis zum Aussteigen an. In unserer Wohnung lief so laut Musik, dass ich jede einzelne Note bis unten auf den Parkplatz hörte. Innerlich bereitete ich mich auf die nächste Beschwerde vor. Als ich unsere Wohnungstür öffnete, spielte Max gerade den DJ, während Angus und Lauren tanzten wie die Derwische. War schwer, ihnen bei dem Anblick böse zu sein.

Ich grinste. „Wie traurig ist das denn bitte?“

Max grinste zurück. „Komm schon, bemüh mal deine Fantasie und mal dir die Party am Wochenende aus.“

„Nee, bin grad nicht in Stimmung.“

„Ach, Nadia.“

Lauren zog mich näher, und ich begann ebenfalls zu tanzen. Ich hatte ihr noch nie widerstehen können, wenn sie guter Laune war. „Ist irgendwas Tolles passiert?“, fragte ich und wackelte mit dem Hintern. Angus war nebenbei bemerkt der beste miserable Tänzer der Welt. Er kannte alle Tanzbewegungen längst untergegangener Epochen von Charleston bis Twist und Break-dance. Es war nicht leicht, ihm zuzusehen, ohne loszuprusten, aber genau darum ging es ihm ja. Er liebte es, seine Freunde zum Lachen zu bringen.

„Oh ja!“

Lauren drehte sich wild, und Angus tanzte weiter.

„Bitte mach jetzt nicht noch den Roboter, das kann ich nicht mehr ab. Ich bin zu müde und sterbe vor Hunger. Erzähl mir einfach, was los ist, Lauren!“

„Okay!“

Angus tänzelte im Kreis um uns herum und sang: „Do you really want to hurt me.“ Max bekam einen Lachanfall, rutschte vom Stuhl und riss die Teller mit, die er als Pseudo-Plattenteller benutzt hatte. Ich wagte es nicht, mir auszumalen, wie laut das wohl unten gewesen sein musste, wollte aber nichts sagen, um Lauren nicht die Laune zu verderben.

„Spuck’s schon aus“, verlangte ich und ließ mich auf die Couch fallen.

„Ich hab eben zum letzten Mal bei Teriyaki King gearbeitet. Heute habe ich einen Studentenjob in der Kunstakademie ergattert.“

„Und was genau sollst du da machen?“ Alles war besser als ein Job bei TK.

„Anrufe annehmen, Mails verschicken, Sachen ablegen und so weiter. Da muss ich nur tagsüber aufschlagen und habe am Wochenende frei.“

Max stand vom Boden auf. „Na bitte, das schreit nach einer Party, oder? Ich schau mal, dass ich was organisiere.“

„Herzlichen Glückwunsch, Lauren, lass mich nach dem Kindergarten eben duschen, und dann koche ich was.“

„Ich habe Hühnchen mitgebracht“, erklärte Lauren. „Und nicht vom Teriyaki King.“

Über die Schulter hinweg warf ich ihr eine Kusshand zu. „Ich weiß doch, warum du meine Lieblingslauren bist.“

Beim Essen stellte Angus die Musik ab, damit wir tatsächlich hören konnten, was der andere sagte. Jedenfalls behauptete er, das sei der Grund. Ich wusste jedoch, dass er Rücksicht auf die Nachbarn nahm, und bedachte ihn mit einem dankbaren Blick. Er lächelte nur, obwohl Max rummoserte und meinte, unser Kumpel habe sich in einen alten Spießer verwandelt.

Angus sei Dank bekamen wir also nicht schon wieder Besuch von einem aufgebrachten Nachbarn, und als ich meinen Tee auf dem Balkon trank, war der Garten unten leer. Ich war auf einmal froh, dass ich Lauren nichts von Ty erzählt hatte. Der hat kein Interesse. Du bildest dir manchmal echt komische Sachen ein. Um mir zu beweisen, dass mir das völlig egal war, genoss ich in aller Ruhe meinen Tee, bevor ich reinging. Doch ich lag lange wach und spürte einen merkwürdigen Stich in der Herzgegend, den ich mir nicht erklären konnte.

Am Morgen verschlief ich, rannte dann eilig aus dem Haus und strich auf dem Weg meine Kleidung glatt. Für ein Frühstück war es zu spät gewesen, was meine Laune nicht gerade verbesserte. Vielleicht habe ich Glück, und Louisa macht mir nebenbei einen Snack. Die rundliche Köchin in der Rainbow Academy war über sechzig und versuchte ständig, mich zu füttern. Normalerweise verweigerte ich mich da aber.

Am Auto angekommen, blieb ich verwirrt stehen und starrte auf das zusammengefaltete Stück Papier unter dem Scheibenwischer. Bestimmt irgendeine Werbung, dachte ich und schmiss den Zettel beim Einsteigen auf den Beifahrersitz. Dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit. Während der Fahrt bewegte jedoch ein Luftzug vom Fenster das Blatt, sodass ich lesen konnte, was darauf stand.

Tut mir leid, dass ich dich gestern Abend verpasst habe, ich war spät dran.

Mein Herz machte einen merkwürdigen kleinen Hüpfer. Ich war inzwischen ganz sicher gewesen, dass nur ich ihn wiedersehen wollte und dass ich für Ty bloß die nervige Nachbarin war.

Aber dann hinterlässt er mir diesen Zettel. Vielleicht unterhält er sich doch gern mit mir?

Eigentlich war es ja keine große Sache, trotzdem kribbelte es in meinem Bauch, und die Zeit im Kindergarten und während der Nachmittagskurse an der Uni flog nur so dahin. Nach dieser ersten Woche würde es im Studium ernst werden und Hausaufgaben hageln. Und ich war gespannt auf die Schüler, mit denen ich an der Calvin Coolidge Junior High arbeiten würde, besser bekannt als C-Cool. Der Spitzname sollte der Schule ein Badass-Image geben, doch da überwiegend weiße Kids dort hingingen, war das nur Show.

Ich kam etwas früher als sonst nach Hause, um kurz nach vier schon, und hatte die Wohnung für mich allein. Auf dem Parkplatz hielt ich Ausschau nach einem silbergrauen Ford, aber von Tys Wagen war weit und breit nichts zu sehen. Er hatte ja erzählt, dass er abends studierte, und ich hatte keine Ahnung, wie oft er zu Seminaren ging. Je mehr ich über ihn herausfand, desto mehr wollte ich wissen.

Trotzdem verdrängte ich ihn aus meinen Gedanken, um den Lesestoff für meinen Kurs über kindliche Sprachentwicklung zu bewältigen und anschließend das erste Kapitel über Schreibunterricht für Kinder mit Lernbehinderung folgen zu lassen. Als ich damit fertig wurde – ich lese eher langsam –, war es draußen dunkel, und von meinen drei Mitbewohnern war nach wie vor niemand zu Hause. Weil ich Hunger bekam, machte ich mich über den Kühlschrank her. Dann fiel mir ein, dass ich gar nicht nach der Post gesehen und meine Mom etwas von einem Carepaket gesagt hatte. Wahrscheinlich war es noch nicht da, aber sie legte immer Reese’s Peanutbuttercups rein.

Ich schnappte mir den Schlüssel vom Haken neben der Tür, lief die Treppe hinunter und machte den Briefkasten auf. In dem Moment kam Ty von draußen herein. Er hatte einen Jungen dabei, den ich ungefähr auf vier Jahre schätzte, sein Haar glänzte wie Kupfer, und sein Lächeln war unglaublich süß. Ich musste bei seinem Anblick ebenfalls lächeln, woraufhin der Kleine mir zuwinkte. Mit der anderen Hand hielt er einen fleckigen und offenbar heiß geliebten Teddy fest.

Ty hingegen würdigte mich kaum eines Blickes. Er nickte mir nur zu, dann verschwanden die beiden schon in ihrem Apartment, als wäre das Gespräch auf dem Balkon nie gewesen und als hätte er mir nie diesen Zettel geschrieben.

Mein Herz klopfte heftig, während ich verwirrt die Augenbrauen hochzog.

3. KAPITEL

Bitte sehr, mir doch egal! Solchen Spielchen verweigerte ich mich.

Ich nahm die Post raus, ging wieder nach oben und machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Meine Freunde kamen erst gegen neun heim, und Lauren hatte eine Menge von ihrem neuen Job zu erzählen. Sie saß jetzt direkt an der Quelle für sämtliche Klatsch- und Tratschgeschichten über die Profs. Ich lauschte brav, während sie ihr Insiderwissen zum Besten gab. Max schüttelte nur gelangweilt den Kopf, aber Angus war begeistert bei der Sache.

„Ha! Ich dachte, der wäre verheiratet!“, rief er.

Ist er“, erklärte Lauren vielsagend. „Und das ist nicht mal das Härteste dabei.“

Max machte sich lustig über sie: „Oh Gott! Spann uns nicht so auf die Folter. Ich ertrag es ja kaum noch.“

Sie warf ihm einen bösen Blick zu, dann sah sie wieder Angus und mich an. „Die Sekretärin meinte, er hat eine Affäre mit einem Mann!“

„Das ist wirklich der Knaller“, sagte Angus. „Bisher hatte ich nicht mal gerüchteweise gehört, dass er für mein Team spielt.“

Max sprang abrupt auf. „Ich geh in mein Zimmer.“

Lauren warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern.

Danach hockten Angus und ich eine Stunde lang vor einem Videospiel, während Lauren eine Zeitschrift durchblätterte. Irgendwann gingen die beiden ins Bett, ich stellte den Wasserkocher an und überlegte, ob ich meinen Tee auf dem Balkon trinken sollte oder nicht. Sich darüber Gedanken zu machen, war eigentlich schon vollkommen überflüssig. Ungeduldig zog ich den Teebeutel durchs heiße Wasser, süßte und trat hinaus.

Es war eine wunderschöne klare Nacht, und am Himmel funkelten Tausende Sterne. Die Luft war kühl und frisch. Spätestens in zwei Monaten würde es so kalt sein, dass man nicht mehr draußen sitzen konnte. Ich nahm Platz, schloss entspannt die Augen und lauschte dem Konzert der zirpenden Grillen und den Eichhörnchen, die in den Bäumen spielten.

Nach ein paar Minuten öffnete sich knarrend die Terrassentür unten, woraufhin ich schnell hineinverschwand. Selbst wenn er mit mir reden wollte, war ich nicht in Stimmung dafür, nachdem er mir vorhin die kalte Schulter gezeigt hatte. Ich lief auf Zehenspitzen in unser Zimmer, um Lauren nicht zu wecken, und duschte.

Die Woche flog nur so vorbei, während ich zwischen Arbeit, Studium und meinem neuen Praktikum hin und her hetzte. Ich würde zum ersten Mal wirklich vor einer Klasse stehen. Zur Feier des Ereignisses zog ich einen eleganten marineblauen Rock, eine weiße Bluse und flache Schuhe an. Sehe ich so präsentabel aus? Nervös verließ ich die Wohnung.

C-Cool gefiel mir schon, als ich auf den Parkplatz der Schule fuhr. Sie stammte aus den Sechzigern, war einstöckig und in einem Rechteck um einen großen Innenhof gebaut. Vom Hauptflur gingen zwar weitere Korridore ab, doch wenn man ihm bis zum Ende folgte, kam man wieder da an, wo man gestartet war.

Ein Blick in die Klassenräume verriet mir, dass ich ein wenig zu förmlich angezogen war. Eine schickere Hose und eine Bluse hätten auch gereicht.

Schließlich fand ich den Raum, in dem ich mich melden sollte, und die Lehrerin, die ich an diesem Tag begleiten würde. Meine Hände waren feucht vor Nervosität, als ich hineinging. Die blonde Frau drehte sich zu mir um. Sie war dieser zierliche Typ, in dessen Gegenwart ich mir immer wie der Elefant im Porzellanladen vorkam. Ihr herzliches Lächeln allerdings ließ meine Verunsicherung verschwinden.

„Sie müssen Nadia sein. Ich bin Madeline Parker.“

Sie trug Jeans und Pullover, und ich kam mir noch idiotischer vor.

Was hast du dir eigentlich bei deinem Aufzug gedacht? Das hier ist ja kein Bewerbungsgespräch.

So unauffällig wie möglich wischte ich die Hand an meinem Rock trocken, bevor ich ihre schüttelte. Ein amüsiertes Aufblitzen in ihren braunen Augen verriet, dass sie genau wusste, wie ich mich fühlte, und es verstehen konnte.

„Schön, Sie kennenzulernen“, murmelte ich.

„Oh, ganz meinerseits, da können Sie sicher sein.“

Ich schätzte sie auf Mitte dreißig, also nicht so alt, um schon frustriert von ihrem Job zu sein.

„Manche meiner Kollegen empfinden es als Zumutung, auch noch für einen Studenten zuständig zu sein, aber ich kann Ihre Hilfe gut gebrauchen. Ich habe gerade Pause, daher lassen Sie uns schnell ein paar Dinge besprechen, bevor es richtig losgeht. Wollen wir uns kurz setzen?“

„Gern.“ Ich nahm neben ihrem Schreibtisch Platz.

Was dann kam, war ziemlich überraschend.

„Ich arbeite als Lehrerin für Sozialkunde, Englisch, Chemie und Mathe. Und zwar als Co-Lehrerin für die Kinder mit besonderen Bedürfnissen oder mit Lernschwierigkeiten. Ansonsten helfe ich nach dem regulären Unterricht bei den Hausaufgaben. Außerdem gebe ich Förderunterricht in Englisch und Lerntechniken und kümmere mich um verhaltensauffällige Schüler und um Jungen und Mädchen mit unterschiedlichen Formen von Autismus.“

„Wow“, entfuhr es mir.

„Viele Sonderschullehrer leiden an Burn-out. Nicht falsch verstehen, ich liebe meine Arbeit, aber es ist wichtig, dass man sich nicht überfordert, okay?“

Ich dachte an meinen abendlichen Entspannungstee und nickte. „Ich werde das im Hinterkopf behalten.“

Als ich ein paar Stunden später meinen ersten Praktikumstag hinter mir hatte, wusste ich genau, was sie meinte. Ich war restlos erschöpft. Obwohl ich immer noch unterrichten wollte, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich die innere Kraft besaß, die man für die Sonderpädagogik brauchte. Man wurde dabei geradezu mit Aufgaben überrollt, wie ich bei meiner Mentorin beobachten konnte. Alle zwei Minuten wollte jemand etwas von ihr. Madeline Parkers Geduld war erstaunlich.

Am Abend aß ich eine Nudelsuppe und ging früh ins Bett. Weder unterhielt ich mich mit meinen Mitbewohnern noch setzte ich mich auf den Balkon. Der Donnerstag verlief ereignislos, und abends schaffte ich es, meine schlechte Laune abzuschütteln, um mit Angus und Lauren einen Film zu schauen. Max hatte natürlich ein Date, von dem er erst um zwei Uhr morgens nach Hause kam. Ich war unfreiwilligerweise noch wach. Offenbar wirkte mein Schlaftee am Küchentisch nicht so gut wie draußen auf dem Balkon im Mondschein. Max war überrascht, mich im Wohnzimmer anzutreffen.

„Wilde Nacht?“

„Klar, nichts ist so wild wie Kräutertee.“

„Mann, Conrad, ich mache mir Sorgen um dich, du verlierst ja völlig die Kontrolle.“

Ich zeigte ihm den Stinkefinger.

„Hättste wohl gern.“ Er ging an mir vorbei und schnappte sich eine Flasche Wasser. „Bleib nicht zu lange auf.“

Weil ich nun ohnehin wach war, las ich ein paar Kapitel für die Uni und arbeitete an einem Referat, das ich in zwei Wochen halten musste. Als ich zu meinem ersten Seminar losmusste, hatte ich gerade mal vier Stunden geschlafen.

Freitagnachmittag holte mich die Leiterin des Kindergartens aus der Küche, wo ich Louisa beim Brotschmieren half. Ich wusch mir schnell die Hände und folgte ihr hinaus in den Flur.

„Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte“, sagte Mrs Keller, „aber ich habe einen Doppeltermin vereinbart. Einerseits mit einem Vertreter, von dem ich ein paar Dinge für die Gruppenräume kaufen will, und mit einem Vater, der sein Kind vielleicht hier anmelden möchte. Können Sie den übernehmen?“

„Natürlich.“

Doch dann sah ich diesen Vater. Neben der Eingangstür stand Ty mit dem Kleinen an der Hand. Zwei hübsche rothaarige Jungs auf einmal, bei deren Anblick ich in ein völlig unprofessionell breites Grinsen ausbrach, statt als freundlich-kompetente Mitarbeiterin der Einrichtung aufzutreten. Mrs  Keller stellte uns einander vor. Ich hätte ihr sagen können, dass das nicht nötig war, behielt es aber für mich.

„Sie besprechen dann alles mit Nadia, ja? Sollten Sie danach noch Fragen haben, bin ich in einer halben Stunde gern für Sie da.“

„Vielen Dank.“

Ah, er klang also immer so ernst und nicht nur, wenn er mit seinen neuen Nachbarn redete.

Ich hatte von Mrs Keller gelernt, dass man sich bei solchen Terminen besser auf die Kinder und nicht auf die Eltern konzentrierte. Daher hockte ich mich auf Augenhöhe mit Klein-Ty und lächelte ihn an. „Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Nadia. Ich führe dich gleich hier herum und zeig dir alles, okay?“

Erst überlegte er einen Moment und nickte dann, ohne seinen Vater anzusehen. Aha, ein selbstbewusster Junge. Der Teddy war zu Hause geblieben, also hatte er heute einen besonders mutigen Tag.

„Ich heiße Sam.“

Er hielt mir seine kleine Hand hin, was ich so süß fand, dass ich ihn am liebsten an mich gedrückt hätte.

„Ich muss jetzt in den Kindergarten, weil meine Tante nicht mehr auf mich aufpassen kann.“

Vermutlich meint er die grauhaarige Frau, die bei unserem Einzug ihren letzten Tag hatte.

„Das tut mir leid.“ Ich hoffte, das war die richtige Antwort.

„Aber jetzt kann ich mehr mit anderen Kindern spielen.“

Offensichtlich machte Ty ihm die Umstellung damit schmackhaft.

„Das stimmt genau. Wenn du dir gleich alles angeschaut hast, frage ich Mrs Trent, ob du eine Weile zu ihr in die Gruppe darfst.“

Diesmal sah Sam seinen Vater fragend an.

Ty nickte. „Klingt gut.“

Während ich meinen Vortrag abspulte, war mir die ganze Zeit bewusst, dass zwischen Ty und mir etwas im Raum stand, etwas Unausgesprochenes. Wir schauten durch die Scheibe in der Tür in die Gruppenräume, und ich erzählte, wer die einzelnen Betreuer waren. Sam machte nicht den Eindruck, als würde es ihm große Angst bereiten, von nun an nicht mehr mit einem Babysitter zu Hause zu bleiben, sondern in die Kita zu gehen.

Als wir mit der Besichtigungstour fertig waren, streckte ich dem Jungen die Hand hin. Er nahm sie ohne Zögern, während ich zu seinem Vater hinüberschaute, der deutlich nervöser wirkte als sein Sohn. Aber weil er nichts sagte, klopfte ich an Mrs Trents Gruppenraumtür. Bei ihr war noch ein Platz frei.

„Sam überlegt, ob er in Zukunft zu uns kommt. Ist es in Ordnung, wenn er bei Ihnen ein bisschen mitmacht?“

„Absolut. Wir spielen gerade Kreisspiele. Sam, du kannst dich auf einen von den rechteckigen blauen Teppichen dort setzen.“

Ich gab Ty einen Wink. „Man geht am besten, während sie beschäftigt sind. Ist auch nicht für lange.“

Ich nahm ihn mit in unseren Pausenraum fürs Personal, der neben der Küche lag. Es waren erst fünfzehn Minuten vergangen, also war Mrs Keller mit ihrem Termin wahrscheinlich noch nicht fertig. „Hättest du gern einen Kaffee oder Tee?“

„Kaffee wäre toll.“

Wie immer sah er auch heute erschöpft aus. Das schien sein Normalzustand zu sein.

„Hast du weitere Fragen?“ Während wir uns alles angesehen hatten, war ich mit ihm bereits die Öffnungszeiten, die Sicherheitsbestimmungen und unseren pädagogischen Ansatz durchgegangen, nur die Preise hatte ich nicht erwähnt. Ich hasste es, mit Eltern über Geld zu sprechen. Manchmal wurde ich richtig wütend, wenn die Leute offensichtlich der Meinung waren, ihre Kinder hätten keine anständige Kita verdient.

Während Ty nachdachte, schenkte ich einen Kaffee ein und bot ihm Milch und Zucker dazu an.

„Nein danke, ich nehme ihn schwarz.“

Er sah mich aus goldbraunen Augen an.

„Die einzige Frage, die ich im Moment habe – wo warst du die ganze Woche?“

Ich hätte mir eine Ausrede einfallen lassen und ihm etwas vorlügen können, stattdessen entschied ich mich für die Wahrheit. „Ich bin dir aus dem Weg gegangen.“

„Warum?“

„Ich bin vielleicht nicht die perfekte Nachbarin, aber dass man mir im Hausflur die kalte Schulter zeigt, habe ich auch nicht verdient. Ich brauche keine Freunde, die mich einfach ignorieren, wenn es gerade passt.“

„Freunde.“

Er wiederholte das Wort in einem merkwürdigen Ton, als wäre es ein Begriff, den er schon mal gehört hatte, an dessen Bedeutung er sich aber nicht mehr erinnerte.

„Was dachtest du denn, was wir sind?“

Er lachte verwirrt. „Keine Ahnung, entschuldige.“

Ich musterte seinen Gesichtsausdruck. Er schien es ehrlich zu meinen. Ich wusste nicht, was er denn nun von mir wollte und wieso er mal interessiert und dann wieder kühl tat. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich absichtlich schwierig gab. „Erklär mir einfach, was los ist, und ich werde es schon verstehen, okay?“

„Das war Unsicherheit. Sam hatte dich ja noch nie gesehen, und er musste während der Fahrt nach Hause bereits seit mindestens zehn Minuten aufs Klo. Ich wollte nicht, dass er dir bei der ersten Begegnung vor die Füße pinkelt.“

Ich war mir nicht sicher, ob das wirklich der einzige Grund war, fragte aber nicht weiter nach. Durch meine Arbeit in der Kita wusste ich, dass ein kleines Pinkel-Malheur bei einem Jungen in Sams Alter noch ein vergleichsweise harmloses Problem war. Insofern hatte Ty die Wahrheit gesagt, nur wohl nicht darüber, wieso er mich wie Luft behandelt hatte.

„Niedlicher Junge“, sagte ich und lenkte damit ein.

„Finde ich auch.“

Sein Lächeln entkrampfte sich deutlich, dann stürzte er die halbe Tasse Kaffee auf einmal hinunter, als wäre Koffein seine Lieblingsdroge.

„Du musst ja jung Vater geworden sein.“ Okay, zugegeben, das war ein Schuss ins Blaue. Sam hätte auch sein kleiner Bruder sein können, aber davon ging ich nicht aus.

„Zwanzig, als er geboren wurde.“

Oh Mann, jünger als ich jetzt! Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, in meinem Alter schon Mutter zu sein. Jedes Mal, wenn ich hier in der Rainbow Academy fertig war, beobachtete ich dankbar, wie die Eltern ihre Sprösslinge wieder abholten. Zu Hause empfing mich dann niemand, der von mir Sicherheit, Verantwortung, Essen, Trost und ein Dach über dem Kopf erwartete. Genau das alles war Ty nun bereits seit vier Jahren für Sam. Das hieß … er musste vierundzwanzig sein. Ungefähr jedenfalls.

Der spielt in einer ganz anderen Liga als du. Innerlich seufzend fügte ich ihn der langen Liste attraktiver Männer hinzu, an die ich nie rankommen würde. Ansonsten befanden sich vor allem Schauspieler darauf. Verdammt. Bisher hatte mich in der Kita noch kein Vater gereizt. Normalerweise schreckte es mich schon ab, dass sie überhaupt Kinder hatten, aber bei Ty war das anders … Ich musterte seine Klavierspielerhände, mit denen er den Kaffeebecher hielt. Ein paar Sekunden schaute ich fasziniert zu, wie er mit den Fingern am Henkel drehte.

Hör auf damit!

„Sam ist jedenfalls sehr gut erzogen“, sagte ich schnell.

„Danke.“

„Will seine Mutter sich die Rainbow Academy nicht auch ansehen, bevor ihr eine Entscheidung trefft?“ Das klang tatsächlich völlig sachlich und professionell, obwohl ich in Wirklichkeit darauf brannte, etwas über Sams Mom herauszubekommen. Insbesondere, ob sie noch mit Ty zusammen war.

„Nein, das entscheide ich.“

Ah, alleinerziehend. Sehr gut. Aber warum? Ob er Kontakt zur Mutter hatte? Und falls nicht, wieso? Hat sie ihn verlassen … oder ist sie gestorben? Beides ziemlich traurig … Ich platzte vor Neugier!

„Passen unsere Öffnungszeiten denn zu euren Bedürfnissen? Um sechs Uhr schließen wir nämlich.“

„Das ist kein Problem. Wenn ich Abendseminare habe, springen meine Eltern ein.“

Wenn er tagsüber arbeitet, abends studiert und sich um einen kleinen Jungen kümmert – wann genau schläft er dann? Das erklärte jedenfalls seine Dauererschöpfung.

Offenbar hatte Ty meinen Blick aufgefangen und ihn fälschlicherweise als vorwurfsvoll gedeutet, denn er sagte: „Ich verbringe jeden Sonntag mit Sam. Absolut jeden.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Ich hab gehört, wie du ihm vorliest. Und mir ist auch nicht entgangen, wie er dich ansieht. Du bist bestimmt ein toller Vater, daran zweifle ich nicht.“

Er schloss kurz die Augen. Man merkte, wie gut ihm das Lob tat. Am liebsten hätte ich ihm übers Haar gestrichen, konnte mich im letzten Moment jedoch zurückhalten. Eine unerklärliche Sehnsucht brannte plötzlich in mir, ich hatte mich noch nie so stark zu einem Mann hingezogen gefühlt.

Ty fuhr sich mit der Hand über den Mund. Dabei flüsterte er etwas. Es klang wie: Bitte nicht jetzt, für so was habe ich überhaupt keine Zeit. Aber da musste ich mich irren, es war wahrscheinlich nur ein leises Seufzen gewesen oder pure Einbildung meinerseits.

Um meine Verwirrung zu überspielen, schaute ich auf die Uhr. „Wie wäre es, wenn du nun mit Mrs Keller sprichst? Bestimmt ist ihr Besucher inzwischen gegangen. Währenddessen hole ich Sam, sorge dafür, dass er sich falls nötig die Hände wäscht, und warte mit ihm am Eingang auf dich, okay?“

„Ja, das wäre gut. Danke, Nadia.“

Oh Gott, ich wusste nicht, was dieser Mann hatte, aber wann immer er meinen Namen sagte, war das ähnlich wie Sex! Und dass er sich bedankte, hatte fast die gleiche Wirkung auf mich, denn ich war ziemlich sicher, dass er das nicht oft tat.

Errötend drehte ich mich um und ging. Mrs Trent war mit ihren Kreisspielen so gut wie fertig, und Sam klatschte mit den anderen Kindern mit. Am Ende faltete er brav seinen kleinen Teppich zusammen und packte ihn weg. Er sah mich und lächelte, als wären wir alte Freunde. So offen, wie er sich gab, verriet das ein sonniges Gemüt. Bestimmt ein lebhafter Junge voller Energie und mit einer grenzenlosen Neugier.

„Muss ich schon gehen?“, fragte er und öffnete die Tür.

„Ja, leider. Dein Dad wartet auf dich. Aber nachdem er dich angemeldet hat, kannst du mit den anderen Kindern herkommen.“

„Wenn Dad zur Arbeit geht?“

„Ja, ganz genau. Und du bist so lange zum Spielen und Lernen bei uns.“

Er nickte. „Abgemacht.“

Es berührte mich, wie ernst der kleine Kerl das meinte. Vertrauensvoll nahm er meine Hand, und ich ging mit ihm ins Büro, wo Ty schon die Formulare unterschrieb. Ich setzte mich mit Sam in die Spielecke, und wir bauten einen beeindruckend hohen Turm aus Klötzchen. Als wir fertig waren, besprachen Ty und Mrs Keller die letzten Einzelheiten. Ich wusste, dass wir Sams Impfpass brauchten, aber den konnte sein Vater auch später nachreichen.

„Gratuliere“, sagte Mrs Keller zu Sam. „Du bist jetzt unser Kindergartenkind.“

Er grinste sie an. „Mein neuer Job.“

„Ganz genau.“ Sie hielt Sam die Hände hin, und er klatschte sie ab.

Ich war mir nicht sicher, ob ich die beiden nach draußen begleiten oder zurück in die Küche gehen sollte. Mrs Keller nahm mir die Entscheidung leider nicht ab, weil auf dem Tisch ihr Handy klingelte und sie eilig das Gespräch annahm. Ich fuhr mir nervös durchs Haar und holte tief Luft. Eine völlig blöde Reaktion von mir. Schließlich hatte ich selbst gesagt, dass wir Freunde waren. Bei Freunden bekommt man kein Herzklopfen, aber das konnte ich jetzt nicht mit Ty diskutieren.

„Er fängt Montag an und kommt in Mrs Trents Gruppe“, sagte Ty. „Ich werde die Eltern anrufen, die Mrs Keller mir als Referenz genannt hat, doch ich bin sicher, dass es nichts Nachteiliges zu berichten gibt.“

Er schaute mir direkt in die Augen, und mir lief es heiß und kalt über den Rücken. Was ist nur los mit mir?

„Super.“

Ty lächelte noch süßer als sein Sohn, schließlich drehte er sich zu Tür um. „Dann … bis heute Abend.“

4. KAPITEL

Das hatte überhaupt nichts zu bedeuten, überlegte ich. Aber vielleicht hatte es sehr wohl was zu bedeuten. Manche Leute verabschiedeten sich allerdings mit „wir sehen uns“, obwohl klar ist, dass man sich jahrelang nicht wiedertrifft.

Leider hielt mich mein Verstand nicht davon ab, aufgeregt zu sein, als ich nun zu Hause auf die Magnetwand am Kühlschrank schaute. Nachricht von Angus: Bin mit Josh los, wartet nicht auf mich. Darunter eine von Lauren: Der Kunst-Prof ist okay, hoffentlich ist er auch interessant. Wird spät! Weil wir beide den ganzen Sommer über Vollzeit arbeiteten, kam es mir wie eine Ewigkeit vor, seit wir zum letzten Mal richtig gequatscht hatten.

Oder ob sie mir aus dem Weg geht? Blödsinn, was für ein alberner Gedanke!

Max stand vor dem Herd, verschlang den Rest eines Baguettes und starrte mich an. Die Mädchen, mit denen er was hatte, würden ihn bestimmt nicht so attraktiv finden, wenn sie wüssten, dass er seine Unterwäsche im Bad liegen lässt. Angus hatte ihn irgendwann deswegen angeschrien. Außerdem trank Max die Milch direkt aus dem Tetrapak, den er dann zurückstellte. Das glich er mit seiner fantastischen Figur und seinem dunkel-geheimnisvollen Blick wohl wieder aus. Jedenfalls bei den anderen, auf mich verfehlte das seine Wirkung.

„Und was machst du hier?“, fragte ich.

Es war Freitagabend – eigentlich hätte ich auch etwas vorhaben sollen. Nur hatte mich die erste Woche mit Studium, Praktikum und Arbeit vollkommen geschafft.

„Essen.“

„Schon klar. Du weißt, was ich meinte.“

„Ich werde mein Motorrad zum Laufen bringen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. In nächster Zukunft habe ich keine Zeit mehr, daran zu basteln. Nimm dir übrigens morgen Abend nichts vor, die Party findet definitiv statt.“

„Cool, wer kommt denn alles?“

Er zählte eine ganze Menge unserer gemeinsamen Freunde auf, mit denen wir im Wohnheim zusammengelebt hatten, aber auch ein paar Namen, die ich nicht kannte. Alles in allem erwarteten wir wohl dreißig Leute. Irgendwie war mir mulmig dabei. Selbst an guten Tagen war ich nicht gerade ein Feierbiest, obwohl ich im ersten Semester einige Male in die Büsche gekotzt hatte. Ironischerweise sogar einmal, als ich nichts getrunken hatte. Schuld waren zu viele Koffeintabletten und Energydrinks, mit denen ich mich beim Lernen wach hielt, weil Klausuren drohten. Inzwischen allerdings erlaubte ich mir nie mehr als einen leichten Glimmer, und zwar weil ich den Kater am nächsten Morgen scheußlich fand. Der konnte einen ganzen Tag kosten, bis es wieder halbwegs ging.

Max schaute mich erwartungsvoll an. „Los, sag mir, was für ein toller Typ ich bin.“

Ich streckte mich. „Nö, das sagst du dir ja dauernd selbst. Ist wie ein Mantra bei dir.“

„Was soll ich machen, mein Spiegel bestätigt mir das jeden Morgen.“ Er grinste.

„Viel Glück mit dem Motorrad.“

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es zu früh für den Balkon und Ty war, also machte ich zwei Stunden lang Hausaufgaben. Danach war mein Fleiß aufgebraucht, und ich durchstöberte das Carepaket meiner Mom. Darin befanden sich verschiedene Süßigkeiten, aber auch ein Schal und ein Poster fürs Wohnzimmer.

Dann holte ich einen kleinen Korb aus dem Schrank und suchte nach dem Wollknäuel, das noch von meinen Strickversuchen stammte. Meine Mom beherrschte diese Kunst perfekt, ich hingegen bekam dabei nie etwas hin, das nicht aussah, als hätte die Katze es zerfetzt. Ich fädelte den Wollfaden durch den Bast und überlegte, wie tief es wohl bis zu Ty nach unten war. Schließlich verknotete ich die Fäden und hatte nun eine Art Schlaufe.

Inzwischen war es schon acht und fast dunkel draußen. Ich öffnete die Balkontür einen Spalt, um etwas frische Luft hereinzulassen. Im Moment war es nicht mehr warm genug, um die Klimaanlage anzustellen, von nun an würde es jede Woche kälter werden. Durch die Scheibe beobachtete ich, wie die letzten Sonnenstrahlen über die Baumkronen hinwegblinzelten, als wollten sie sich verabschieden, dann ging die Sonne endgültig unter. Endlich! Ich machte mir einen Tee und entschied mich dabei zur Abwechslung mal für Ceylon Spice, holte zwei Peanutbuttercups von Mom und lauschte, bis ich hörte, wie Ty die Terrassentür öffnete.

Lächelnd deckte ich den Korb mit einer Papierserviette aus, dann legte ich einen Teebeutel, Ingwerkekse und ein Peanutbuttercup hinein. Vielleicht hätte ich besser die Kühle spielen sollen, nur war ich noch nie gut bei solchen Spielchen. Also ging ich raus auf den Balkon und ließ vorsichtig das Bastkörbchen zu Ty hinunter. Er starrte zu mir hinauf, als hätte er schon sehnsüchtig gewartet, und mein Herz schlug schneller.

„Was ist das?“ Er griff nach dem Korb.

„Meine Mom hat Leckerchen geschickt, ich teile sie mit dir, damit wir beide was davon haben.“

Zu meiner Überraschung diskutierte er gar nicht erst, sondern lächelte im Schein der Lampions. Warum fragte er eigentlich nicht, ob ich runterkommen wollte? Wahrscheinlich wegen Sam, überlegte ich. Ty nahm die Sachen aus dem Korb.

„Lass mich kurz Wasser kochen“, sagte er. „Einen Tee könnte ich gerade gut vertragen.“

„Klar, ich warte.“

Ich setzte mich auf den Stuhl, aß aber noch nichts von den Süßigkeiten, das hätte ich unhöflich gefunden. Stattdessen nippte ich an meinem Tee und stellte die Tasse zurück auf die Stuhllehne. Ty musste das Wasser in der Mikrowelle heiß gemacht haben, weil er für den Herd viel zu schnell zurückkam.

„Wieder da.“ Er nahm auf dem Rattan-Zweisitzer Platz.

„Keks zuerst“, erklärte ich.

Schweigend machten wir uns darüber her. Ich liebte die Kombination aus Süße und Gewürzen und erinnerte mich daran, wie meine Mutter früher für uns Plätzchen gebacken hatte. Plötzlich bekam ich Heimweh. Weil ich in diesem Sommer so viel gearbeitet und jeden Cent für schlechte Zeiten gespart hatte, war ich nicht zu Hause gewesen. Schon eine Fahrt dauerte sechzehn Stunden. Aber zu Thanksgiving bin ich definitiv bei meinen Eltern. Wenn ich ein bisschen Glück hatte, würde mein Toyota noch einige so lange Ausflüge mitmachen.

„Phänomenal“, sagte er.

„Moms Ingwerkekse mag ich am liebsten, allerdings macht sie zu Weihnachten welche mit Pfefferminz und weißer Schokolade. Die sind echte Konkurrenz.“

„Klingt, als würdest du deine Familie vermissen.“

„Ja.“

„Woher kommst du eigentlich ursprünglich?“

Oh, eine richtige Frage! Dann kann ich ihm auch ein paar stellen.

„Aus Nebraska, an der Grenze zu South Dakota und Wyoming.“

„Ich habe noch niemals jemanden aus der Ecke kennengelernt.“

Michigan war wirklich weit weg von zu Hause. „Ja, ich hör oft genug blöde Witze, weil ich angeblich aus der Provinz komme, und überlege jedes Mal, ob ich mich aufrege oder einfach schwach lächle.“

„Und wofür entscheidest du dich normalerweise?“

„Ich lächle schwach.“

„Nicht grade konfliktfreudig, was?“

Heute Abend benahm er sich ganz normal und nicht so, als wäre es eine schwere Bürde, mit mir reden zu müssen. Das fand ich ziemlich erleichternd, weil ich mich auf diesen Moment inzwischen jeden Tag freute. Zu sehr möglicherweise. Freunde, vergiss das nicht. Ich lenkte mich damit ab, dass ich über seine Frage nachdachte. „Ich vermeide Konflikte lieber, wenn es geht, das stimmt. Ich bin nicht streitlustig. Aber sobald es sich um etwas Wichtiges handelt, gebe ich nicht einfach kampflos auf. Und du?“

„Nein.“ Es klang bitter. „Ich auch nicht. Nicht mal, wenn ich es sollte.“

Wow, das scheint ein belastetes Thema zu sein.

Hätte ich vom Balkon springen können, ohne mir die Beine zu brechen, hätte ich es sofort getan. Es kam mir vor, als könnte ich es keine Sekunde länger aushalten, ohne Ty zu berühren und herauszufinden, wie weich sein Haar war und wie er roch. Ich wollte ihn mehr, als ich jemals irgendjemanden gewollt hatte.

Auf der Highschool hatte ich einen Freund gehabt, der Basketball spielte. Doch dann ging ich hierher aufs College, und wir trennten uns. Eine rationale Entscheidung, und sobald ich fort war, vermisste ich ihn nicht einmal besonders. In meinen ersten beiden Semestern hatte ich diverse Dates, war aber nicht verliebt. Das Studium, Freunde und die Arbeit kamen mir wichtiger vor. Dass ich mich so stark zu Ty hingezogen fühlte, war für mich etwas Neues und Beängstigendes. Wäre ich der Meinung gewesen, dass er bewusst mit mir spielte, hätte ich mich jetzt schnellstens zurückgezogen.

Diese verdammten Gefühle! Es wäre alles so viel einfacher, wenn ich wirklich nur einen Freund in ihm sähe.

Dann fiel mir auf, dass ich ja seine vielsagende Andeutung bisher ungenutzt gelassen hatte. „Im Nachhinein gibt es doch wohl bei uns allen Dinge, die wir lieber anders gemacht hätten.“

„Wie schaffst du das bloß?“, fragte er verwundert.

„Bitte?“

„Du … du hast eine Wirkung auf mich … ich werde entspannter, ruhiger.“

„Ach, ich bin dein Valium?“ Ich lachte. Das war wohl das unerotischste Kompliment, das ich je bekommen hatte. Okay, mal abgesehen von einem alten Klassenkameraden vielleicht, der fand, mein Gesicht sei gar nicht so schlimm.

Ty lachte auch, und man hörte, dass es ihm peinlich war.

„Nein, das meinte ich natürlich nicht. Es ist eher so … ich habe dauernd Angst, dass ich es nicht mehr hinbekomme, alle Bälle in der Luft zu halten, mit denen ich jongliere. Aber sobald ich hier draußen sitze und deine Stimme höre, fällt das alles von mir ab, und ich kann wieder frei atmen.“

Oh Gott. Ich schluckte und konnte erst einmal gar nichts sagen.

„Ich bin froh, dass du dich genauso auf unsere Unterhaltungen freust wie ich“, brachte ich schließlich heraus. Und weil ich im Dunkeln mutiger war, fügte ich hinzu: „Übrigens wollte ich dich am ersten Abend nicht stören.“

„Das weiß ich. Aber eure Wohnung hat eine ganze Zeit leer gestanden, da war mir wohl entfallen, dass ich hier nicht alleine bin.“

Bei dem Ton, in dem er das sagte, wurde mir heiß, obwohl er es natürlich nicht so gemeint haben konnte.

Wir waren uns da ja gerade erst begegnet, und ich hatte bestimmt nicht unbedingt einen blendenden Eindruck gemacht, als ich der fliehenden Couch hinterherkullerte. Eigentlich war es ein Wunder, dass er mich nicht für eine Gefahr für mich und andere hielt.

„Nein“, sagte ich. „Damit ist es vorbei, uns wirst du so schnell nicht wieder los.“ Da fiel mir ein, dass ich ihn besser vorwarnen sollte. „Ach, übrigens, morgen läuft bei uns eine Party mit mindestens dreißig Leuten, und weil sich so was ja herumspricht, können es auch leicht fünfzig werden. Hoffentlich wird es nicht zu laut, sodass Sam nicht die ganze Nacht kopfsteht.

Es folgte eine längere Pause. „Danke für die Warnung“, sagte er endlich.

„Bist du sauer?“

„Nein. Ich überlege, wie sich das Problem lösen lässt. Am besten lege ich ihn mit SleepPhones hin. Keine Angst, ihr seid ja nicht die Einzigen, die hier im Haus ein Sozialleben haben. Nur sagen die anderen vorher nicht Bescheid.“

Das klang entschuldigend, als wüsste er, dass wir das auch nicht mussten.

„Ich würde dich ja einladen …“

„Ein anderes Mal“, unterbrach er mich. „Meine Eltern passen immer am letzten Wochenende des Monats auf Sam auf. Sie wollen natürlich, dass ich mal losziehe und Spaß habe, aber meistens versuche ich einfach, so viel Schlaf zu bekommen, wie es nur irgend geht.“

„Den hast du auch dringend nötig“, murmelte ich.

„Das hab ich gehört.“

So unglaublich es war, ich konnte tatsächlich ein Lächeln in seiner Stimme hören und rutschte nach vorn ans Geländer, um die Bestätigung zu sehen.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich ins Licht beugte, ein goldener Schein aus seinem Wohnzimmer, und wir uns ansahen. Ich fühlte seinen hungrigen Blick auf meinen nackten Schultern, auf meinen Wangen und meiner Nackenlinie. Trotzdem hätte ich bei meinem Grab geschworen, dass es am Nachtwind lag, dass meine Brustwarzen sich zusammenzogen. Aber selbstverständlich taten sie es allein wegen dieses Blickes. Ich leckte mir die Lippen. Er beobachtete mich.

„Damit wollte ich lediglich andeuten, dass du müde wirkst. Natürlich bist du ansonsten …“ Ich biss mir auf die Zunge, um mich nicht restlos zu blamieren.

„Was?“

„Nichts.“

„Bitte, Nadia, sag es schon.“

Seine Stimme klang auf einmal so warm, dass ich mich fragte, ob er nicht vielleicht doch ein ganz klein wenig an mir interessiert war.

Natürlich bist du ansonsten unglaublich heiß, und ich würde dich am liebsten sofort ins Bett zerren … Da meins schmal war, hätten wir uns dafür allerdings ein Hotelzimmer nehmen müssen. Was hatte Ty wohl für ein Bett? Herrgott, hör auf damit, Nadia!

Leider ließ sich mein Mund von meinem Gehirn keine Befehle erteilen. „Unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Du musst mir eine Frage beantworten.“

„Kommt auf die Frage an“, sagte er leise.

Man konnte fast fühlen, wie er das Visier herunterließ. Offensichtlich dachte er, ich würde etwas über Sams Mutter wissen wollen. Da hatte ich eine angenehme Überraschung für ihn parat. Mir war doch klar, dass er darüber nicht mit mir reden wollte, deshalb würde ich ihn deswegen auch nie ausquetschen. Ich verstand ihn gut, schließlich hatten wir uns gerade erst kennengelernt. Unsere Freundschaft hatte noch nicht einmal richtig begonnen.

„Ich wüsste gern, was für ein Gebäude du als Architekt am liebsten planen und bauen würdest? Was wäre da dein Traum?“

„Oh.“

Er seufzte erleichtert, offensichtlich war er erstaunt.

„Interessant, du scheinst ja davon auszugehen, dass ich eines Tages tatsächlich mit dem Studium fertig werde. Ich bin mir da manchmal nicht so sicher. Wird noch ewig dauern bis dahin.“

„Ja, kann ich gut verstehen, dass es sich für dich so anfühlt.“

„Ich hab mit achtzehn angefangen zu studieren, aber dann wurde Sam geboren, und seitdem mache ich nur ein paar Kurse pro Semester. Na ja, lassen wir das, ich will dir nichts vorjammern.“ Er trommelte mit den Fingern auf die Lehne des Stuhls und schaute mich schüchtern an. „Verflixt, ich habe keine Ahnung, ob ich das wirklich beantworten soll. Ich hab das noch nie jemandem erzählt.“

Das überraschte mich und gab meiner Frage eine völlig unerwartete Bedeutung. „Musst du ja nicht. Doch dann beende ich meinen Satz von eben natürlich auch nicht.“

Er fluchte, was ich zum ersten Mal bei ihm hörte. Ich musste heftig grinsen. Wieder hatte ich diesen Schmerz in der Brust, spürte diese Sehnsucht. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, ihm die Stirn geküsst, die Augenlider und … Verdammt, hör auf damit! Ich zitterte – nicht, weil es kalt war, sondern vor Verlangen. Total verrückt, aber das hier war das beste erste Date meines Lebens.

Dabei war es nicht mal eins. Oder doch?

Definitiv nicht.

„Du bist eine harte Verhandlungspartnerin. Okay, ich würde gern Kirchen entwerfen.“ Er rutschte nervös auf dem Stuhl herum, bevor er hinzufügte: „Sicher kann ich damit nicht gleich anfangen. Da plane ich wahrscheinlich Bürogebäude und Eigentumswohnungen. Aber irgendwann. Das ist mein größter Wunsch, das mit der Kirche. Den Bau vom ersten Stein an mit verfolgen, sehen, wie die Buntglasfenster eingesetzt werden, während ich danebenstehe und sie bestaune.“

„Warum?“ Das war keine merkwürdige Frage, fand ich. Bis eben hatte ich Ty nicht für sonderlich religiös gehalten.

Er seufzte leise. „Um Gott persönlich für Sam zu danken.“

Tränen stiegen mir in die Augen, weil er seinen Sohn so sehr liebte. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, fing ich an zu weinen. Ich überspielte das, indem ich mir schnell ein Peanutbuttercup in den Mund steckte, den ich dann mit lauwarmem Tee runterspülte. Ich sagte lieber nichts, weil meine Stimme mich verraten hätte.

Er wartete einen Moment, aber da ich schwieg, fügte er hinzu: „Das klingt wahrscheinlich blöd oder angeberisch. Hätte ich dir das bloß nicht …“

„Nein.“ Ich wollte nicht, dass er so etwas glaubte. „Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Es ist das Tollste, was ich je gehört habe. Sam hat wirklich Glück mit dir, Ty.“

„Nein, wenn hier einer Glück hat, dann ich. Wäre nur gut, ich würde das nicht dauernd vergessen.“

Er schaute zu mir nach oben, und obwohl ich schnell außer Sichtweite rutschte, war es zu spät.

„Weinst du?“

„Vielleicht. Mach jetzt bloß keinen blöden Kommentar. Das war einfach so süß.“ Ich schluchzte und wischte mir über die Augen. War schon peinlich, wie leicht er mich aus der Fassung brachte.

Oder mir das Herz brechen konnte.

„Nun bin ich froh, dass ich es dir erzählt habe“, sagte er sanft.

„Ich auch.“

„Okay, und was ist mit unserer Abmachung? Glaub nicht, ich hätte das vergessen!“

„Keine Sorge.“ Ich holte tief Luft und sagte dann das, was mir schon die ganze Zeit im Kopf herumspukte, obwohl mir klar war, was ich da tat. Aber ich hatte es ja versprochen … „Du bist verdammt heiß und völlig unwiderstehlich.“

Ty atmete hörbar ein.

Jetzt war es raus, und mir fehlten die Nerven, auf seine Antwort zu warten. Schnell schnappte ich meinen Kram, verschwand damit nach drinnen und schloss die Balkontür. Zitternd wie Espenlaub schlich ich mich in mein Zimmer und schloss auch dessen Tür, als wäre Ty hinter mir her. Oh Gott, was sollte ich nur Lauren sagen, falls sie demnächst nach Hause käme? Ich konnte noch nicht darüber reden.

Schon an jenem Abend ahnte ich wohl, was zwischen Ty und mir passieren würde. Zu erfahren, dass es sein Wunsch war, eine Kirche zu bauen, weil er seinen Sohn so sehr liebte, bildete den Anfang. Ab da war ich vollkommen und restlos fasziniert von dem Mann, der unter uns wohnte.

5. KAPITEL

Die Bässe dröhnten so sehr, dass der Fußboden vibrierte. Am Samstagabend drängten sich die Leute bei uns in der Wohnung wie Sardinen in der Dose. Max war zufrieden mit sich. Angus hatte ebenfalls gute Laune, er knutschte mit seinem Freund Josh in unserer Küche. Josh war groß und schlank, stammte aus einer puerto-ricanischen Familie, hatte schwarze Haare und wunderschöne braune Augen. Er fing meinen Blick auf und grinste über Angus’ Schulter fröhlich zu mir herüber.

„Wie findest du den?“

Lauren stupste mich lachend an und zeigte auf einen von Max’ Freunden. Man roch, dass sie einiges getrunken hatte, aber sie stand noch gerade.

„Geht so. Hast du denn deinen Kunststudenten nicht eingeladen?“

„Bist du irre? Der war stinklangweilig.“ Sie holte tief Luft. „Okay, ich schnapp ihn mir.“

Es war schon erstaunlich, wie sie sich verändert hatte, in der Mittelstufe war sie der totale Computernerd gewesen und heimlich verknallt in meinen großen Bruder. Danach hatte sie sich einen kompletten Imagewechsel verpasst und sich innerlich und äußerlich verwandelt. Wer sie jetzt erlebte, wäre nie darauf gekommen, dass sie einmal schüchtern war. Strahlend lächelnd bahnte sie sich einen Weg durch die Menge und tippte ihrem Opfer auf die Schulter. Der Typ hieß Gabe oder Garth, irgendwas mit G jedenfalls, und so, wie er Lauren zehn Minuten später küsste, schien er sie ziemlich spannend zu finden. Dabei zuzusehen, wie er den Hintern meiner besten Freundin betatschte, hatte eine seltsam hypnotisierende Wirkung auf mich. Kopfschüttelnd drehte ich mich schließlich weg und holte mir ein Bier aus dem Eiskübel in der Ecke.

Vor vier Stunden waren wir noch meilenweit davon entfernt gewesen, am Abend tatsächlich eine große Party zu schmeißen. Dann war Max nach Hause gekommen, hatte fünf Freunde mitgebracht, und ab da ging es zügig voran. Wannen und Kübel wurden mit Eis gefüllt, weitere Tüten mit zerstoßenem Eis warteten darauf, in Cocktails zu landen, und langsam sah es doch nach einer bevorstehenden Party aus. Kurz danach erschienen diverse Frauen mit Knabberkram und Dips und Fingerfood. Es war erstaunlich, aber Max schaffte es, dass seine Bettgeschichten so etwas für ihn taten, wie auch immer er das hinbekam. Um acht Uhr war jedenfalls alles fertig gewesen.

Um Partylaune zu heucheln, trank ich mein halbes Bier auf ex und machte bei einem Trinkspiel mit. Die anderen waren schon ziemlich hinüber, deshalb war es nicht schwer, alle Fragen richtig zu beantworten, und als alle Frauen was trinken mussten, nippte ich an meinem Bier. Auf gar keinen Fall würde ich mich mit Alkohol ausknocken.

„Du siehst todernst aus“, flüsterte Josh mir ins Ohr.

Auf der anderen Seite stand Angus neben mir, wie mir ein Blick über die Schulter verriet. Ich lächelte und strengte mich an, die Musik zu übertönen, als ich sagte: „Wenn ich mich ablenken lasse, muss ich das da trinken.“ Ich zog ein angewidertes Gesicht und zeigte auf den wild gemixten Cocktail auf dem Tisch.

Angus schüttelte den Kopf. „Dann wird dieser Abend auf ewig dafür in die Geschichte eingehen, dass wir Nadia mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus bringen mussten.“

„Du hast es erfasst, Angus Star.“

„Das ist ja ekelhaft, komm mit.“ Josh zog mich fort.

„Wo willst du denn mit mir hin?“

„In deinem Schlafzimmer ist es angenehmer“, stellte Angus fest.

Ich grinste. „Was meinst du, wie oft ich das schon gehört habe.“

„Ein Mal?“

Josh hatte einen bissigeren Humor als Angus, der einen ganz schön treffen konnte.

„Leider wahr.“ Grinsend folgte ich den beiden über den Flur. In meinem Zimmer saßen zehn Leute im Kreis auf dem Fußboden. Zwar lag bisher kein fummelndes Paar auf meinem Bett, aber die Nacht war ja auch noch jung. Ich schaute Angus fragend an, doch Josh bat die Anwesenden schon, Platz für uns zu machen. Falls das ebenfalls ein Trinkspiel werden sollte, würde ich mich für den Rest der Party im Schrank verstecken. Oder … ich konnte in die Uni-Bibliothek flüchten.

„Courtney verbiegt Löffel … nur mit der Kraft ihrer Gedanken“, sagte ein Mädchen namens Emily.

„Ja, genau.“

Eine Blondine mit großen Rehaugen erwiderte: „Doch, glaub’s ruhig. Das haut dich um.“

Verspätet fiel mir nun der Geruch nach Gras auf. Ah, kein Wunder, Courtney konnte hier gleich tricksen, wie sie wollte, und niemand würde es merken. Dafür waren alle viel zu stoned.

„Ist es schon so spät?“, flüsterte ich Josh ins Ohr.

„Wenn man so high ist, bestimmt.“

„Alle bereit?“, fragte Courtney. „Ich mach das jetzt zum letzten Mal.“

Sie zwinkerte mir zu, und ich unterdrückte ein Lachen. Mit dramatischer Geste presste sie sich einen Metalllöffel an die Stirn, der sich langsam nach oben wölbte. Den Stiel hielt sie so geschickt, dass man nur nüchtern und mit äußerster Konzentration erkennen konnte, dass sie mit aller Kraft draufdrückte.

„Siehst du, was hab ich gesagt?“ Emily stieß mich an und fiel dabei fast um.

„Ja, das war wirklich erstaunlich.“

Courtney stand auf und verbeugte sich. „Und jetzt her mit der Knete. Zwanzig Dollar, ihr Nasen.“

Worum die wohl genau gewettet haben? Alle händigten Courtney zerknitterte kleine Dollarscheine aus. Courtney zählte nach, warf die Arme hoch und verließ das Zimmer wie ein triumphierender Rockstar. Dann bahnte sie sich einen Weg durch den überfüllten Flur und gab Max einen langen, sexy Kuss. Offenbar machte es sie an, bekiffte Leute übers Ohr zu hauen.

„Jetzt sind wir dran!“, rief Josh.

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was passieren würde, doch das hier war deutlich besser als Trinkspielchen. Joshs Humor konnte spitz sein, war aber nie grausam. Er erklärte kurz die Regeln des Spiels, das er Schleck-Quiz nannte. Die anderen kamen längst schon nicht mehr mit, das sah man an ihren Gesichtern. Trotzdem grinsten sie, offenbar war es ihnen egal, dass sie den Witz nicht verstanden hatten.

„Ich vereinfache das mal“, sagte Angus. „Wer eine Frage richtig beantwortet, darf einen Mitspieler seiner Wahl küssen. Wer sie falsch beantwortet, küsst die Person links neben sich.“

Okay, so musste das jetzt jeder verstehen.

Obwohl es vielleicht herzlos war, konnte ich es kaum erwarten, die Fragen zu hören. Das wird ein Spaß. Josh zeigte auf die Blondine von vorhin. „Bei welcher Temperatur kocht Wasser?“

„Ähm. In Celsius oder Fahrenheit?“

„Egal“, sagte Angus. „Wir wollen ja unsere nördlichen Nachbarn in Kanada nicht diskriminieren“

Sie überlegte. „Weiß ich nicht“, meinte sie.

Dass links neben ihr ein Mädchen saß, und zwar Emily, schien sie nicht zu stören. Die beiden küssten sich ungefähr eine volle Minute, und es sah ziemlich erotisch und sinnlich aus. Hm, wenn das so weitergeht, endet der Abend in einer Orgie auf meinem Schlafzimmerfußboden.

„Gut, jetzt habt ihr die Regeln drauf“, sagte Josh.

„Will dein Freund unbedingt, dass hier alle übereinander herfallen, oder was?“, flüsterte ich Angus ins Ohr.

Es folgten einfache Fragen, die natürlich trotzdem falsch beantwortet wurden. Weiteres Geknutsche. Zwei Hetero-Jungs waren so bei der Sache, dass sie auf den Boden sanken. Ich beobachtete, wie die beiden sich umarmten und schwer atmeten.

Angus lächelte. „Klar legt Josh es auf eine Orgie an, er hat manchmal einen diabolischen Humor.“

„Nächste Frage.“ Josh schaute mich an. „Du bist dran.“

Ich bezweifelte, dass er mich dranbekam. Schließlich hatte ich nichts geraucht und war klar im Kopf. Das eine Bier änderte nichts daran.

„Kann losgehen.“

„Wie heißt die Hauptstadt von Illinois?“

Springfield. Sollte ich lieber die sichere Option wählen, so tun, als wüsste ich es nicht, und Angus küssen? Oder die richtige Antwort geben und mir jemanden aussuchen. Ich schaute mir meine Mitspieler an. Einige der Jungs waren schon ziemlich süß, wenn derzeit auch nicht gerade im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Ich könnte mir einen Lover für die Nacht auswählen. Eigentlich war ich in Stimmung dafür, aber … Hier ist niemand, den ich will …

„Kairo“, antwortete ich schließlich.

Josh kniff die Augen zusammen. „Blöde Kuh, du willst ja nur mit meinem Freund knutschen.“

„Wer nicht? Schau ihn dir mal an“, erwiderte ich grinsend. „Selbst schuld, sind ja deine Regeln.“

Angus drehte sich zu mir, schaute mich auffordernd an, und ich küsste ihn neben die Lippen auf die Wange. Lächelnd legte er mir einen Arm um die Schultern und drückte mich kurz. Die beiden knutschenden Jungs auf dem Boden wurden immer leidenschaftlicher, womit wahrscheinlich nicht mal Josh gerechnet hatte. Ich stand auf und ging raus, weil ich nicht zusehen wollte, wie jemand hier Sex hatte, während ich leer ausging.

In der Wohnung drängelten sich die Leute. Mir war nicht klar, dass ich beschlossen hatte abzuhauen, bis ich mir meine Tasche und die Autoschlüssel schnappte. Ich hielt die Lautstärke bei uns einfach nicht mehr aus. Ehrlich gesagt besuchte ich lieber Partys bei anderen, als selbst welche zu geben. Da konnte ich jederzeit gehen, wenn ich genug hatte. Ich war schon im Treppenhaus, als ich Schritte hinter mir hörte. Lauren.

„Wo willst du denn hin?“

„Weg. Aber lass dir davon nicht die Party vermiesen.“

„Ist alles in Ordnung, Nadia?“ Sie musterte mich besorgt. „Ja, klar. Ach, und hab bitte ein Auge auf die Orgie, die Josh in unserem Zimmer angezettelt hat, okay?“ Wie ich angenommen hatte, entschwand Lauren nach dem Hinweis schnellstens wieder nach drinnen, ohne mir weitere Fragen zu stellen. Von der Musik dröhnte mir der Kopf. Ich wollte nur irgendwohin, wo es leise war, und dann … was? Keine Ahnung.

Bevor ich darüber nachdenken konnte, öffnete sich eine Tür, und Ty kam in den Flur. Nachdem ich mich ihm am Abend zuvor praktisch nackt auf einem Silbertablett präsentiert hatte, erwartete ich fast, dass er bei meinem Anblick zurück in seine Wohnung flüchtete. Stattdessen lächelte er vorsichtig und senkte schüchtern den Kopf. Ebenfalls vorsichtig lächelte ich zurück.

„Willst du reinkommen? Wenn Sam SleepPhones aufhat, wacht er meistens nicht auf, außer ich hab vergessen, die Musik auf Endlosschleife einzustellen. Heute hab ich dran gedacht.“

Ich war so glücklich über diesen unfassbaren Zufall, dass mein Lächeln immer breiter wurde. Das musste einfach die karmische Belohnung dafür sein, dass ich nicht mit irgendeinem bekifften Kerl rumgeknutscht hatte. „Ja, das wäre toll, ich suche nämlich eine Zuflucht.“

Ty zeigte auf die Tür. „Du kannst dich gern bei mir verstecken, bis oben Ruhe ist.“

„Danke.“ Ich fing im Vorbeigehen seinen Duft auf, sah sein feuchtes Haar. Er schien gerade aus der Dusche gekommen zu sein.

Seine Wohnung war viel schöner eingerichtet als unsere, und ich fühlte mich sofort wohl bei ihm. Der Schnitt war im Prinzip gleich, und hier gab es ebenfalls eine halb offene Küche. An die schloss sich ein kombiniertes Ess- und Wohnzimmer an, das ein Frühstückstresen begrenzte. Drei Stühle mit Lederbezug standen an einem Bistrotisch. Über der beigefarbenen Auslegeware lag ein Läufer mit geometrischem Muster, und als Sofatisch diente ein cooler alter Seekoffer. Er bestand aus Holz und war an den Ecken und Kanten mit Bronzebeschlägen verstärkt. An den Wänden hing eine interessante Kombination aus gezeichneten Stadtansichten und farbenfroher abstrakter Kunst. Bei genauerem Hinsehen war ich mir ziemlich sicher, dass Ty seine eigenen Werke und Bilder von Sam gerahmt und aufgehängt hatte. Ansonsten war es bemerkenswert sauber und aufgeräumt, was ich ihm auch sagte.

„Die Tante, die Sam erwähnt hat, ist die Schwester meiner Mutter. Wenn sie hier ist, putzt sie immer“, gestand er. „Aber jetzt hat sie eine Knieoperation, und es dauert ewig, bis sie auf Sam aufpassen kann. Falls sie dazu je wieder in der Lage sein wird.“

„Aha, deshalb suchst du eine Tagesstätte für ihn.“

„Ja, stimmt. Möchtest du was trinken?“ Er sprach leise, obwohl er gesagt hatte, es sei unwahrscheinlich, dass Sam aufwachte. Und selbst wenn, das wäre ja wohl auch kein Problem, oder? Ty hatte doch bestimmt ab und zu Besuch von Freunden.

„Tee?“, schlug ich vor.

„Deinen Gewürztee hab ich leider nicht da, aber Chai oder Honig-Zitrone.“

„Honig-Zitrone klingt gut. Ich brauche was, um meine Nerven zu beruhigen. Oben tobt das Chaos.“

„Dann wollen wir mal hoffen, dass eure Gäste nicht auch noch den Rest des Hauses stürmen und dabei die Treppe runterfallen.“ Er grinste mich an, während er zwei Becher mit Wasser in die Mikrowelle stellte, und ich wurde rot.

„Im Kampf Nadia gegen die Treppe hat die Treppe mich geschlagen.“

„Mach’s dir bequem. Ich bin gleich wieder da.“

„Klar.“ Ich setzte mich auf die Couch, über deren Lehne eine samtweiche Flauschdecke lag. Ich konnte nicht widerstehen, wickelte mich darin ein und lauschte den dröhnenden Bässen über mir, die aus unserer Wohnung drangen. „Klingt, als würden sie demnächst durch die Decke kommen“

„Genau das habe ich erwartet, als ich sah, dass hier eine Studi-WG einzieht.“

„Aber du bist doch selbst Student“, erwiderte ich.

Ty schaute mich an, da klingelte die Mikrowelle.

„Bist du tatsächlich der Meinung, man könnte mein Leben mit eurem vergleichen?“

„Nein, bestimmt nicht.“

Ich kam mir plötzlich dumm und naiv vor, das erste Mal, dass er mir dieses Gefühl gab. Das Schweigen zwischen uns dauerte an, und ich überlegte, ob ich gehen sollte, da sagte er endlich: „Tut mir leid … ich bin da ein bisschen empfindlich. Ich bekomme immer wieder zu hören, dass ich mehr weggehen und das Leben genießen soll, solange ich noch jung bin. Als wäre es so einfach.“

Ich nahm den Becher, den er mir reichte, und drückte den Teebeutel mit dem Löffel hinein. „Schon okay. Lass uns einen Deal machen. Ich erzähle dir nicht, dass du mehr Spaß haben sollst, dafür fragst du mich nicht, ob ich Basketball spiele. Einverstanden?“

„Jetzt hab ich grade Spaß“, sagte er. „Und anderen Leuten mit Fragen auf die Nerven zu gehen, ist nicht mein Ding.“

Er setzte sich ans andere Ende der Couch. Es war zu laut, um sich einen Film anzuschauen, und das Letzte, was wir brauchten, wäre noch mehr Musik gewesen. Außer uns zu unterhalten, blieb da nichts übrig, was mir durchaus entgegenkam.

„Meins auch nicht. Du hast vorhin SleepPhones erwähnt. Ist das was anderes als ordinäre Kopfhörer?“

„Ja, das ist so was wie ein Stirnband mit Kopfhörern dran. Zum Schlafen wesentlich bequemer.“

„Wie cool. Vielleicht kaufe ich mir auch welche. Was hört Sam denn so zum Einschlafen?“

„Du wirst bestimmt lachen.“

„Kann sein. Erzähl’s mir trotzdem.“

„Er ist wahrscheinlich der einzige One-Direction-Fan der Welt.“

Zwar kostete es mich allergrößte Selbstbeherrschung, doch ich machte keinen Mucks, obwohl ich Tränen in den Augen hatte. „Weißt du, wie süß das ist?“

„Ich find das ja auch.“

„Und was ist mit deinem Musikgeschmack? Irgendwelche Lieblingsbands?“ In Gedanken gratulierte ich mir dazu, dass ich völlig normal rüberkam und nicht so, als hätte ich Ty beim letzten Mal mehr oder weniger gesagt, dass ich ihn mir mit Schleife um den Hals zu Weihnachten wünschte. Dass er das mit keinem Wort erwähnte, machte eins klar. Er hatte kein Interesse an einer Beziehung oder Affäre.

Gut, dann also Freunde.

„Im Moment Grouplove, Tove Lo, Passenger, The National und Speedy Ortiz.“

„Hältst du mich für peinlich, wenn ich zugebe, dass ich nur eine von denen kenne?“

„Passenger“, tippte er.

Ich nickte. „Der war mit Ed Sheeran auf Konzerttour. Eine Freundin von mir hat sie live gesehen und meinte, es wäre großartig gewesen.“

Er nippte an seinem Tee und wirkte nachdenklich. „Das vermisse ich tatsächlich.“

„Was genau?“

„Konzertbesuche. Und die Clubs in der Stadt, in denen die Indie-Bands spielen.“ Als er mein erstauntes Gesicht sah, fügte er schnell hinzu: „Ja, schon klar, was du denkst. Wenn meine Eltern Sam babysitten, könnte ich doch hingehen.“

Ich schaute ihn mit gespielter Ehrfurcht an. „Hättest du mir  nicht mal stecken können, dass du Gedanken lesen kannst?“

„Das ist alles nicht so einfach“, murmelte er.

„Dann erklär’s mir. Die Party oben läuft auf Hochtouren, ich habe Zeit.“

„Die Leute, mit denen ich zusammen studiert habe, sind längst fertig, haben ihre ersten Jobs und sind weggezogen. Meine Arbeitskollegen sind deutlich älter als ich und haben keinerlei Interesse daran, sich privat noch zu treffen.“

„Such dir neue Freunde“, schlug ich vor.

„Die meisten Menschen wollen keinen Freund, der nie spontan sein kann, dessen Tagesablauf genau festgelegt ist und der oft ziemliche Scheißlaune hat.“

„Und trotzdem sitz ich jetzt hier.“

„Ja, aber du … bist eine Ausnahme.“

War das ein Kompliment? Hm, Interpretationssache. Ich beschloss, dass es egal war, wie er es meinte. Es war ja nun ohnehin klar, dass außer Freundschaft nichts lief, ich hatte mich damit abgefunden. „Wir könnten ja mal an einem deiner freien Wochenenden zusammen in ein Konzert gehen“, schlug ich vor. „Du kannst dann Samstagnachmittag schlafen und bist abends fit.“

„Vielleicht“, sagte er.

Um meine Enttäuschung zu verbergen, senkte ich den Kopf und starrte in meinen Becher. Der Tee hatte eine wunderbare Farbe. Wie Bernstein. Wenn ich ihn noch länger ziehen ließe, würde er zu stark werden, also holte ich den Beutel heraus, legte ihn auf den Löffel und beides zusammen auf den alten Seekoffer. Egal, wie ich mir das Hirn zermarterte, mir wollte nichts einfallen, das ich hätte sagen können. Mein Besuch bei ihm lief nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte, und ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

„An deinem Gesicht kann man ganz genau ablesen, was du denkst. Ich hoffe, du kommst nie auf die Idee, Poker zu spielen. Die machen dich sonst arm.“

Seine Stimme klang so sanft, ja zärtlich, und sie schien nicht vom anderen Ende der Couch zu kommen. Während ich mich mit dem Tee beschäftigt hatte, war Ty unbemerkt näher gerückt. Jetzt hob er eine Hand und legte sie mir an die Wange.

„Was …“, begann ich, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich den Satz überhaupt beenden wollte.

„Okay, am besten sag ich es einfach offen heraus, weil dieses Hin und Her doch nirgendwo hinführt. Glaube bitte nicht, dass ich dich nicht will. Der Gedanke an deine Beine hält mich nachts wach und deine Augen … Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich, du bist garantiert Model.“

Ich lachte heiser. „Wirklich?“

Endlich kamen wir mal auf den Punkt.

„Und falls du dich das fragst, ja, ich würde es so gern mit dir machen, dass es schon wehtut.“

Mir verschlug es den Atem, und das Blut rauschte aus meinem Kopf in tiefere Bereiche. „Das … höre ich nicht gerade ungern.“

„Da liegt das Problem“, gab er zu. „Ich mag dich wirklich, aber ich bringe keine Frauen mit hierher zu Sam.“

„Er kennt mich doch schon“, entgegnete ich dümmlich.

„Deshalb kann ich trotzdem nicht mit dir schlafen. Du und ich, wir sind Freunde. Anders geht es nicht. Du wohnst im selben Haus, du bist intelligent, witzig, ich mag dich, und du arbeitest in der Rainbow Academy. Würden wir was miteinander anfangen, hätte das negative Konsequenzen für Sam. Alles wäre auf einmal anders. Verstehst du, was ich meine?“

Um ehrlich zu sein, war ich gedanklich noch damit beschäftigt, dass er so sehr mit mir ins Bett wollte, dass es wehtat. Ich spürte mein eigenes Verlangen, gab mich dem kurz hin, nickte jedoch. „Ja, ich verstehe dich, du hast ja auch recht. Das erklärt aber nicht, warum du seit fünf Minuten auf meinen Mund starrst.“

Ihm entschlüpfte ein leises Stöhnen, und dann, fast gegen seinen Willen, nahm er mein Gesicht in beide Hände.

6. KAPITEL

Ty schaute mir in die Augen, und ich bemerkte, dass sein Atem schneller ging. Sein Blick kam aus halb gesenkten Lidern und wirkte verschleiert. Ich wusste, dass er mich küssen wollte, trotz all der vielen guten Gründe, die er eben dagegen aufgezählt hatte.

„Es ist nicht verboten“, sagte er heiser.

Was? Mich anzusehen?

Es war nicht leicht, klar zu denken, während sein Gesicht meinem so nahe war, und ich schaffte es nicht, auf Abstand zu gehen. Also tat ich das einzig Vernünftige in diesem Moment, ich schlang meine Arme um seinen Nacken, und Ty zog mich an sich. Ihn zu spüren, seine Wärme, seinen muskulösen Körper, half nicht gerade weiter, insbesondere, weil er mit dem Kinn über meine Wange strich.

Nur eine Umarmung. Unter Freunden.

Natürlich musste ich jetzt endlich sein Haar berühren, wonach ich mich schon so lange sehnte. Es fühlte sich an wie Seide. Mit einem erneuten Stöhnen lehnte er den Kopf an meine Hand. Derart ermutigt, streichelte ich ihn zärtlich, bis er praktisch schnurrte.

„Du bist ein roter Kater“, neckte ich ihn, während er sich so drehte, dass ich auch an die andere Seite herankam.

„Ein Straßenkater, der viele Narben aus seinen Kämpfen davongetragen hat.“ Er schmiegte sein Gesicht an meinen Hals, und mein Puls begann zu rasen. Ich fühlte seine Bartstoppeln an der Haut, was mich total erregte. Das hatte mit Freundschaft alles nichts zu tun.

Um es mir bequem zu machen, streifte ich die Schuhe ab, und Ty, der keine trug, legte seinen Kopf in meinen Schoß. Er schloss die Augen, und ich streichelte weiter sein Haar.

„Wenn du meinst.“ Ich konnte es noch immer nicht fassen, dass ich in seinem Apartment saß und er mir so nahe war. Es war zwar nicht ganz das, was ich wollte, aber es war besser als nichts. Es würde mir reichen müssen. „Ist das in Ordnung?“ Ich fragte lieber mal nach.

„Ja, hör nicht auf.“

Federleicht ließ ich meine Finger über seine Nase, die Wangenknochen, sein Kinn und um seinen Mund gleiten. Man merkte, wie sehr er es genoss. Vermutlich vermisste er Zärtlichkeiten, von Sex ganz zu schweigen.

„Darf ich dich was Persönliches fragen, Ty?“

„Wann, wenn nicht jetzt?“ Verträumter Ton.

„Wie lange ist es her?“

Seine Wimpern mit den goldenen Spitzen flatterten, dann öffnete er die Augen und schaute mich an.

„Seit ich das letzte Mal Sex hatte?“

„Ja.“

„Ein paar Monate.“

Das war wesentlich kürzer, als ich erwartet hatte, so, wie er auf mich reagierte. „Hm.“

„Dachtest du, ich lebe seit Jahren im Zölibat?“

„So ungefähr.“

„Enttäuscht?“

„Warum sollte ich?“ Ich lächelte zu ihm hinunter.

„Mädels neigen dazu, gewisse Situationen zu romantisieren. ‚Der arme Ty, wenn er nur eine Frau hätte, die sich um Sam kümmert und mit ihm ins Bett geht, dann wäre sein Leben kein solcher Albtraum mehr.‘“ Er zuckte mit den Schultern. „Ohren!“, verlangte er.

Ich war mir nicht komplett sicher, was er damit meinte, massierte aber dennoch vorsichtig sein Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger. „Gut so?“ Er holte scharf Luft, als meine Fingernägel die Haut streiften.

„Ja, genau so.“

Es mochte falsch sein, doch ich hoffte, dass es ihn so scharf machen würde wie mich. Einfach nur seinen Kopf auf meinem Schoß zu spüren, fühlte sich an wie Vorspiel, allerdings beherrschte ich mich und kreiste nicht mit den Hüften, sondern strich wieder durch sein Haar. Das erschien mir sicherer. Die Party oben lief weiter auf Hochtouren. Möglicherweise blieben mir noch ein paar Stunden hierfür. „Hoffentlich siehst du mich nicht auch so.“

„Hm?“

„Wie diese Frauen, die dich retten wollen.“

„Nein, du kommst nicht rüber, als hättest du ein Helfersyndrom. Andernfalls würde ich dich meiden wie die Pest, anstatt meinen Samstagabend mit dir zu verbringen.“ Er klang entspannt, sogar ein wenig schläfrig. „Obwohl ich keine Ahnung habe, was dir das mit mir gibt.“

„Ich mag dich“, erwiderte ich sanft. Du ahnst gar nicht wie sehr.

„Du spinnst ja total. Hast du nicht zugehört? Ich bin ein launischer Mistkerl.“

„Vielleicht kannst du die Seite ja bei anderen Leuten ausleben.“ Ich beschloss, kreativ zu werden, und massierte ihm den Hinterkopf, wie ich das ab und zu bei Profis beobachtet hatte. Da ich darin keine Ausbildung hatte, wusste ich nicht, ob ich es richtig machte. Dennoch drückte ich meine Handballen an seinen Nacken und glitt seinen Hals hinauf und hinunter. Ty hob leicht den Kopf, damit ich freie Bahn hatte.

„Oh Gott, das ist gut! Ich würde dich sogar dafür bezahlen.“ Er stöhnte.

„Erst bin ich eine Schlaftablette, und jetzt …“

„Schlag mich ruhig.“ Schützend hielt er einen Arm vors Gesicht.

„Ich kuschele dich einfach, bis du willenlos bist.“

„Funktioniert.“

„Was vermisst du sonst noch, außer Konzerten?“

Er presste seinen Kopf gegen meine Hand, sodass ich schon Angst hatte, ich könnte ihm wehtun.

„Wie ehrlich darf ich sein?“

„Absolut ehrlich. Ich erzähle auch nichts weiter.“

„Ah, du willst Seelenstriptease, was?“

Ich will dir die Hose ausziehen, wenn du es genau wissen möchtest. Aber ich gebe mich ausnahmsweise mit einem tiefgründigen Gespräch zufrieden. Selbst in Gedanken meinte ich es halb ernst, andererseits war Tys Freundschaft mir wichtig. Es hatte wahrscheinlich in letzter Zeit nicht viele Menschen gegeben, denen er sich öffnete. Damit vermittelte er mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

„Ja“, entgegnete ich.

„Ich vermisse es auszuschlafen. Jemanden, der neben mir liegt und mit dem ich wunderbaren, sinnlichen Sex am Morgen habe.“

Hallo! Ja, bitte! Die Bilder, die ich plötzlich im Kopf hatte, quälten mich. Ich stellte mir einen verschlafenen scharfen Ty vor, der mich umarmte, seine Lippen an meinem Hals, während er mich langsam und mit unendlicher Geduld von hinten nahm. Ich konnte seine Hände fast auf meinem Körper spüren, die mich bei jedem Stoß liebkosten und streichelten. Wir würden über Stunden und Stunden weitermachen, einen Orgasmus nach dem anderen haben, bis wir am Nachmittag irgendwann aufstanden.

Ich musste ein Stöhnen unterdrücken.

Ohne dass er begriff, was er mir antat, sprach er weiter: „Ich vermisse es, hinterher zusammen zu duschen und sich beim Frühstück gegenseitig wieder heiß fürs Bett zu machen.“

Er wirkte ernst und fast traurig. Bestimmt waren das Erinnerungen an die Frau, die ihn verlassen hatte.

Verdammt. Intuitiv erkannte ich, dass es hier nicht um Trauer ging. Ty war nicht nostalgisch, sondern schien eher ein schlechtes Gewissen zu haben. Dass er zur Seite schaute und mich nicht ansah, während er das sagte, bestätigte nur, dass er sich für etwas schuldig fühlte.

Ich versuchte, ihn damit abzulenken, dass ich ihm einen Einblick in mein Seelenleben gewährte. „So was habe ich alles nie erlebt. Erst bin ich natürlich noch zur Schule gegangen und habe bei meinen Eltern gelebt. Und bis wir hier eingezogen sind, hatte ich ein Zimmer im Wohnheim. Die meisten Leute sind da genervt, weil sie keine Privatsphäre haben, aber …“ Meine Stimme erstarb zu einem schüchternen Flüstern. „Ich fand es toll.“

„Was?“ Er öffnete die Augen und starrte mich fasziniert an.

Das hatte ich noch niemals jemandem gestanden, nicht mal Lauren. „Meine Mitbewohnerin hat manchmal einen Mann mitgebracht, wenn sie betrunken war. Ich hab dann vorgegeben zu schlafen. In Wahrheit habe ich gelauscht und beobachtet, wie sie sich bewegen.“

Dass ich es mir dabei selbst besorgt hatte, behielt ich für mich. Stattdessen schaute ich ihn an, um herauszufinden, wie er reagierte. Immerhin wirkte er nicht mehr traurig.

„Und schon will ich wieder mit dir vögeln“, erklärte er rau. „Geht die Party bei euch eigentlich nie zu Ende?“

Seine Jogginghose konnte nicht verhehlen, dass er die Wahrheit sagte. Ich blickte hinauf zur Decke und flehte um Selbstbeherrschung. „Ich kann verschwinden, wenn du möchtest.“

„Nein, ich widerstehe der Versuchung“, erwiderte er sanft. „Ich habe viel Übung im Ignorieren frustrierender Wünsche.“

„Okay, Ty, zurück zu den anderen Dingen, die du vermisst.“

„Das ist vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber …“

„Was denn?“, fragte ich.

„Zum Beispiel … Mit meiner Freundin auf der Highschool hab ich zusammen auf dem Bett gelernt. Ich ausgestreckt, sie ans Kopfteil gelehnt. Dabei hat sie manchmal mein Hemd hochgezogen und mir mit den Fingernägeln über den Rücken gestrichen. Ich bin fast durchgedreht, doch ich hab’s geliebt.“

„Hat dich das scharfgemacht?“ Vielleicht ging mich das nichts an, doch ich konnte mich nicht zurückhalten.

Er lachte. „Ja. Ich hatte am ganzen Körper Gänsehaut. Na ja, ich war sechzehn. Mich hat alles scharfgemacht.“

„Bestimmt.“ Ich musste unbedingt das Thema wechseln. Andernfalls würde ich gleich kalt duschen müssen. „Ist Ty die Abkürzung von Tyler?“

„Ja, das ist aber mein Nachname.“

„Und wie heißt du mit Vornamen?“

„Daniel. Und dein Nachname?“

„Conrad.“

Da ich auf keinen Fall länger mit ihm über Sex sprechen konnte, lenkte ich das Thema auf Musik. Eine Stunde später schlief Ty ein, den Kopf auf meinem Schoß, und nach einer Weile fielen auch mir die Augen zu. Irgendwann weckte mich die plötzliche Stille. Keine dröhnenden Bässe mehr und kein Getrampel. Ty und ich lagen ineinander verschlungen auf dem Sofa, obwohl ich mich nicht erinnerte, dass ich mich im Schlaf gerührt hatte. Er roch unglaublich gut nach Honig und Sheabutter, deren Duft sich mit dem frischen Geruch seines Hemdes mischte.

So schwer es mir auch fiel, ich beschloss aufzustehen. Einige Herzschläge lang lauschte ich auf seinen regelmäßigen Atem, dann löste ich mich vorsichtig aus seiner Umarmung. Tatsächlich schaffte ich es, ihn nicht zu wecken. Er bewegte sich ein wenig und berührte dabei mein Haar. Ich erstarrte. Es hätte mich umgebracht, wenn er jetzt aufgewacht wäre. Er sollte nicht sehen, wie ich verschwand, obwohl ich doch so ungeheuer gern geblieben wäre.

Aber das geht nicht. Weder heute noch sonst irgendwann. Wenn Sam aufsteht, muss ich fort sein. Ty hat so viel für ihn aufgegeben und wird nie seine Meinung ändern, was uns beide angeht.

Wahrscheinlich sollte ich ihm sogar dankbar sein, dass wenigstens er vernünftig blieb. Dennoch empfand ich ein solches Verlangen nach ihm, eine solche Sehnsucht, dass ich zitterte, als er seine Finger aus meinem Haar löste. Ich verdrängte dieses Gefühl, stand auf, schnappte mir meine Schuhe und die Handtasche und schlich auf Zehenspitzen aus der Wohnung. Ich prüfte noch, ob die Tür wirklich fest geschlossen war, dann lief ich nach oben.

Bei uns herrschte Chaos. Um in mein Zimmer zu gelangen, musste ich über vier Leute steigen, von denen zwei keine Hose anhatten. Mein Bett war frei, Lauren schien es mit ihrem Leben verteidigt zu haben, bis sie in unserem Einbauschrank eingeschlafen war.

Neuerdings trank sie ziemlich viel, und ich war nicht sicher, ob ich deshalb was sagen sollte. Vielleicht würde sie behaupten, dass sie eben einfach Spaß hatte. Beim letzten Mal meinte sie, ich würde nie was anderes machen als arbeiten, während sie gern etwas von ihrem Leben hätte. Seufzend ging ich ins Bad, putzte mir die Zähne und stolperte ins Bett. Die Nacht war in jeder Beziehung anstrengend gewesen.

Doch obwohl ich völlig fertig war, konnte ich nicht einschlafen. Meine Uhr zeigte schon halb fünf, und ich wälzte mich immer noch hin und her. Dann gab ich der Versuchung nach, stellte mir Tys Gesicht vor und ließ eine Hand in meinen Slip gleiten. Oh Gott, war das gut, war ich feucht. Es dauerte nicht lange, bis ich kam, ohne einen Laut von mir zu geben.

Wenige Sekunden später schlief ich.

Am nächsten Tag wachte ich panisch auf. Ich hatte verschlafen! Ich kam zu spät zur Arbeit! Oder zur Uni! Als ich begriff, dass Sonntag war, ließ ich mich seufzend zurück in die Kissen sinken. Ein Blick aufs Handy verriet mir, dass es erst elf Uhr war. Lauren im Bett nebenan sah so miserabel aus, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Irgendwann in der Nacht musste sie aus dem Schrank gekrochen sein.

„Meine Lippen pulsieren mit meinem Herzschlag“, jammerte sie.

„Klingt nicht gut.“ Ich flüsterte vorsichtshalber. Da ich keinen Kater hatte, wusch ich mir im Bad die Hände und holte Lauren ein Glas Wasser und Schmerztabletten. „Toast?“

„Lass mich einfach sterben. Dann hast du das Zimmer für dich.“

„Wir können uns die Bude ohne dich nicht leisten“, stellte ich trocken fest. „Außerdem liebe ich dich dafür viel zu sehr. Also – Toast oder Cracker?“

„Cracker.“

Ich tappte in die Küche. Zu meiner Zufriedenheit machte Max bereits sauber. Inzwischen hatte er die letzten Schnapsleichen aus der Wohnung geworfen. „Dann meintest du es ja ernst mit deinem neu entflammenden Ehrgeiz, sobald die Semesterferien um sind.“

„Du bist gestern Nacht abgehauen. Stimmte was nicht?“

„Tu mal nicht so, als hättest du dir Sorgen gemacht. Als ich gegangen bin, warst du grade dabei, mit Courtney rumzumachen.“

Er grinste. „Okay, ich gebe es zu. Lauren hat es mir gesagt, mir wäre es in dem Moment nicht aufgefallen.“

„Nein, war alles in Ordnung.“ Ich machte den Schrank auf und holte ein Päckchen Cracker heraus. „Hast du Angus heute schon gesehen?“

„Der schläft noch, glaub ich.“

Ich nickte und brachte Lauren ihr Frühstück. „Bitte sehr, damit geht es dir gleich viel besser.“

„Dir ist klar, dass die nur aus Mehl und Salz bestehen, ja? Das ist kein magisches Wundermittel.“

„Mach nicht so ein Gesicht, du Schnapsleiche. Du bist nur sauer, weil ich nicht leide.“

Lauren lächelte zögerlich, während sie an einem Cracker knabberte. „Kann sein. Ein bisschen vielleicht.“

„Mit dem menschlichen Auge kaum erkennbar“, sagte ich.

„Wünschst du dir manchmal, wir wären noch in Sharon?“

Das war ein so abrupter Themenwechsel, dass ich mich auf dem Weg zur Tür umdrehte und die Augenbrauen hochzog.

„Nein, eigentlich nicht, aber ich vermisse meine Familie.“ Das war natürlich nicht dasselbe, was mir bewusst war. Laurens Gesichtsausdruck veränderte sich.

„Was Rob wohl gerade macht?“

Es war Sonntagvormittag, da dachte ich nicht zwingend über meinen Bruder nach. Trotzdem wusste ich, was er normalerweise um diese Zeit tat. „Vermutlich bruncht er mit meinen Eltern. Warum?“

„Reine Neugier. Ich denke komischerweise im Moment oft an zu Hause und frage mich, wie es den Leuten da geht. Krista hat mir vor ein paar Tagen eine SMS geschickt, und wir haben gechattet. Über alte Zeiten.“

Ich musste kurz überlegen, dann fiel es mir wieder ein. Krista war eine gemeinsame Freundin, die lange vor dem Schulabschluss weggezogen war. Irgendwann hatte ich den Kontakt zu ihr verloren. „Und was ist bei ihr so los?“

„Ich weiß es nicht, wir haben uns vor allem über die Schule unterhalten. Weißt du noch, wie Rob sich mit Kent Walker geprügelt hat?“

„Ehrlich gesagt nicht“, gab ich zu. „Schlaf ein bisschen, ich helfe Max inzwischen, das Wohnzimmer auszuräuchern.“

„Bitte? Räumt der etwa auf?“ Sie setzte sich auf und hielt sich den Kopf. „Wunder gibt es immer wieder.“

Als ich rausging, murmelte Lauren irgendwas vor sich hin. Wir brauchten volle drei Stunden, um die Wohnung wenigstens ansatzweise in den Zustand vor der Party zurückzuversetzen. Das Werk der Zerstörung hatte begonnen, obwohl wir gerade eingezogen waren.

Angus stand auf, nachdem alles fertig war, und Max warf ihm einen finsteren Blick zu. „Tu bloß nicht so, als wärst du eben erst aufgewacht.“

Ich hatte keine Lust, den Schiedsrichter für die beiden zu spielen. Außerdem war es schon ein bisschen dreist, wenn Max jemanden anmeckerte, weil derjenige sich vor der Hausarbeit drückte. Also sagte ich schnell: „Im Großen und Ganzen ist alles heil geblieben, die Möbel sind auch noch da, und niemand hat in irgendwelche Schuhe gekotzt. Ich würde sagen, die Party war ein Erfolg.“

Max nickte. „Trotzdem war das meine letzte in diesem Semester. Ist mir zu anstrengend, den Gastgeber zu spielen. Nächstes Mal kann jemand anders den Dreck wegräumen.“

„Da hörst du von mir keinen Widerspruch“, stellte ich fest.

Ich musste dringend duschen, was ich so leise wie möglich erledigte, weil Lauren wieder schlief. Danach band ich mir einen Pferdeschwanz, zog eine Jogginghose an und suchte in der Küche nach etwas Essbarem. Als Wiedergutmachung dafür, dass er die Putzaktion verpasst hatte, stand Angus am Herd und zauberte eine Gemüsepfanne. Max hingegen saß am Frühstückstresen und wartete hungrig.

„Das riecht fantastisch.“ Mein Magen knurrte.

„Hast du einen Tyrannosaurus verschluckt? Oder hast du nur Hunger?“, fragte Max grinsend.

Ich setzte mich zu ihm, und zusammen beobachteten wir Angus bei der Arbeit. Unsere Stühle waren billig und aus Plastik, gar kein Vergleich mit Tys schöner Wohnungseinrichtung. Sobald ich in Gedanken wieder bei ihm war, bekam ich ihn nicht mehr aus dem Kopf.

Ich fragte mich, wo er wohl gerade war. Vielleicht mit Sam im Park? Im Kino? Ich hätte eine Menge dafür gegeben, jetzt bei ihnen zu sein. Leider war das vollkommen ausgeschlossen, das hatte Ty unmissverständlich klargestellt.

Innerhalb einer halben Stunde hatte Angus das Essen auf dem Tisch, und ich machte mich darüber her wie ein Wolf. Obwohl er seine Kochkünste nicht allzu oft unter Beweis stellte, hatte er sie offenbar von der professionellen Köchin seiner Familie gelernt. Wahrscheinlich hätte er sich diese Wohnung problemlos allein leisten können, aber er wollte offensichtlich weder allein leben noch mit Josh zusammenziehen. Für Letzteres war es wohl zu früh.

„Das war köstlich.“ Ich schaute traurig auf meinen bereits leeren Teller.

Max nickte. „Ja, hervorragend! Dafür sei dir verziehen!“

„Genau das hoffte ich damit zu erreichen.“ Angus grinste.

Ich verbrachte den Rest des Nachmittags mit Lernen. Abends konnte Lauren schließlich aufstehen, ohne sich übergeben zu müssen. Ein gutes Zeichen. Ich machte ihr ein paar Reste warm und zog dann meine Schuhe an.

Max musterte mich missbilligend von Kopf bis Fuß. „Heißes Date?“

Da ich noch immer Jogginghose und ein altes T-Shirt mit einem Pinguinbild darauf trug, wollte er sich offensichtlich über mich lustig machen. „Ich war bisher nicht einmal im Fitnessraum, seit wir eingezogen sind.“

„Den kann man auf keinen Fall mit dem auf dem Campus vergleichen“, warnte Lauren mich vor.

„Da stinkt’s“, ergänzte Angus.

Ich schaute flehend zur Decke. „Warum versuchen die beiden nur so verzweifelt, meine Motivation zu zerstören?“

„Weil du viel lieber mit uns abhängen und fernsehen würdest.“ Max klopfte einladend auf das Kissen, das neben ihm auf dem Sofa lag.

Lachend schüttelte ich den Kopf. „Natürlich wäre mir das lieber, aber ich bleibe stark.“

„Wohin bist du gestern Abend eigentlich verschwunden?“, erkundigte sich Lauren.

„Geheimnis!“ Damit verließ ich trotz eines Proteststurms meiner Freunde grinsend die Wohnung. Einer der drei warf mir sogar einen Schuh hinterher, weil ich ihre Neugierde nicht befriedigte. Allerdings traf das Geschoss nur die Tür, die ich hinter mir zuzog.

Ich lief die Treppe hinunter und joggte bis zum Clubhaus unserer Wohnanlage, obwohl es die Bezeichnung eigentlich nicht verdient hatte. Dafür war es viel zu klein. Dort enterte ich das Laufband, weil das Fahrrad bereits besetzt war. Nach zwanzig Minuten konnte ich endlich wechseln, und nach weiteren vierzig Minuten reichte es mir. Auf dem Weg zur Wohnung wischte ich mir den Schweiß vom Gesicht.

Auf dem Parkplatz half Ty seinem Sohn gerade aus dem Kindersitz. Nach unserem Gespräch in der vergangenen Nacht war ich mir nicht sicher, wie ich am besten reagierte. Schließlich winkte ich den beiden zu und ging einfach weiter. Sie winkten zurück, Sam lächelte fröhlich, Ty bedachte mich mit einem verlangenden Blick, von dem mein Slip fast zu glühen begann.

Vermutlich gehe ich dabei drauf, aber das Feuerwerk am Ende wird glorios.

7. KAPITEL

Der Montag fing grandios an.

Als der Professor mir eine Frage stellte, hatte ich die Antwort parat und rettete mich so davor, zum Ziel seines berühmten Spotts zu werden. Lynch war für seine bösartigen Bemerkungen berüchtigt: „Sie wollen also mal Lehrer sein, halten es selbst jedoch nicht für notwendig, sich auf meinen Unterricht vorzubereiten. Dann hoffe ich, dass Sie in fünf Jahren lauter Schüler haben, die genauso sind wie Sie.“

Der Rest des Vormittags verlief ähnlich positiv. Gegen zwölf kaufte ich mir schnell ein Sandwich, das ich auf der Fahrt zur Rainbow Academy verschlang. Mir fiel Ms Parkers Rat ein. Ich sollte gut auf mich aufpassen, hatte sie gesagt. Na, das klappt ja gerade großartig, dachte ich und bekam ein schlechtes Gewissen.

Angekommen, stellte ich den Wagen auf dem Parkplatz ab und lief hinein. Meine Chefin winkte mich zu sich. „Gehen Sie bitte in die Gruppe von Mrs  Trent. Ihre Assistentin kommt heute nicht.“

„Alles klar.“

„Nadia … ich wollte Sie übrigens fragen, ob Sie gern fest einer Gruppe zugeteilt werden möchten. Elaine hat sich jetzt zum vierten Mal in zwei Wochen krankgemeldet, ich denke, wir trennen uns von ihr.“

„Und ich soll dann auf Dauer zu Mrs Trent?“

Mrs Keller nickte. „Das ist eine schöne Gruppe. Die Vierjährigen sind längst nicht so anstrengend wie die Zweijährigen.“

„Hätte ich da flexible Arbeitszeiten?“ Ich zögerte. Was würde Ty wohl dazu sagen, wenn ich so viel Zeit mit seinem Sohn verbrachte?

„Ja, ich stelle noch einen Springer ein, der während Ihrer Abwesenheit übernehmen kann.“

Zweimal Teilzeit bedeutete, dass sie keine Sozialabgaben zahlen musste. Allerdings konnte ich ihr nicht vorwerfen, dass sie versuchte, Kosten zu sparen. Die Zeiten waren hart.

„Okay, ich bin einverstanden.“

„Großartig. Ich mache den Vertrag fertig, und Sie können ihn am Ende Ihrer Schicht unterschreiben.“

Ich ging in die Gruppe hinüber, wo Mrs Trent gerade aufräumte. „Ah, dann werden Sie meine neue Verstärkung?“

„Oh, Mrs Keller muss sich ja sehr sicher gewesen sein, dass ich den Job annehme, was?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich sie darum gebeten.“

Das war schmeichelhaft, aber … „Wie kommt’s?“

„Sie sind geduldig, verstehen sich gut mit den Kindern und haben im ganzen letzten Jahr nicht ein Mal gefehlt.“

„Danke. Wie kann ich denn jetzt helfen?“ Manchmal wünschte ich mir wirklich, ich wäre ein bisschen mehr wie Lauren und nicht so verdammt zuverlässig. Andererseits hatte ich hart an diesem Ruf gearbeitet, bemühte mich immer, den Erwartungen meiner Eltern zu entsprechen, und hatte daher für emotionales Chaos einfach keine Zeit. Deshalb stellte Ty ja auch eine solche Gefahr für mein wohlgeordnetes Leben dar.

„Sie könnten die Tische abwischen und die Betten für den Mittagsschlaf vorbereiten.“

„Die Liegen sind im Schrank?“

„Ja, vielen Dank.

Meine einfachste Übung.

Ich holte Sprühflasche und Wischtuch und schrubbte alle Reste des Mittagessens weg. Während ich noch damit beschäftigt war, kam Sam zu mir gelaufen. „Nadia! Bist du meine neue Lehrerin?“

„Ich helfe Mrs Trent nur.“

„Hilfst du mir auch?“

Wie er mich so anschaute, sah er seinem Vater so unfassbar ähnlich, dass ich es kaum ertragen konnte. Ich widerstand der Versuchung, ihm über den Kopf zu streichen.

„Klar, wenn ich was für dich tun kann?“

„Im Moment nicht, ich wollte es nur wissen.“

Zucker, dieses Kind! Er plapperte weiter, und ich versuchte, die umherlaufenden Zwerge durchzuzählen. Keine leichte Aufgabe. Neunzehn.

Während ich die Bettchen aufstellte, sagte Mrs Trent: „Okay, Kinder, wird Zeit, dass ihr eure Spielsachen aufräumt.“ Die Kleinen folgten brav.

„Ich muss auf den Topf“, erklärte ein Mädchen.

„Die anderen bestimmt auch“, stellte ich fest. „Soll ich loslegen?“

„Ja, bitte.“

Tatsächlich ging die Sache viel schneller über die Bühne als bei den Zweijährigen, denen man noch die Windeln wechseln musste. Diese Kinder machten das meiste allein. Ich musste nur manchmal beim Hochziehen der Hose helfen und aufpassen, dass sich hinterher alle die Hände wuschen.

„Gut, dann holt jetzt eure Schlafsäcke aus den Fächern. Ich lese eine Geschichte vor, und anschließend geht das Licht aus.“ Mrs Trent marschierte zu den Schränken.

Niemand beschwerte sich, aber Sam machte ein unglückliches Gesicht. Hatte er Angst im Dunkeln? Dennoch ging er gehorsam zu seinem Fach, nahm einen kleinen Hulk-Rucksack und trug ihn zu einer der Liegen am Fenster. Ich musste ein Lächeln verbergen, als er seinen Teddy herauszog. Während die Kinder sich hinlegten, holte Mrs Trent ein Bilderbuch.

Sie konnte wirklich toll vorlesen, ihre Stimme war dramatisch und ausdrucksvoll. Als die Geschichte zu Ende war, legte sie eine CD mit beruhigender Musik ein und schaute nach, ob auch alle gut zugedeckt waren. Das Licht im Raum wurde angenehm gedimmt, aber nicht vollkommen ausgeschaltet, sodass ich die kleinen Gesichter noch erkannte. Einige schlossen gleich die Augen, die anderen wälzten sich hin und her und würden bestimmt in einer Viertelstunde wieder auf den Beinen sein.

Mrs Trent und ich setzten uns auf einen Stapel runder Teppiche in eine Ecke. Hier hatten wir den Überblick und konnten im Zweifelsfall sofort eingreifen. Ich flüsterte ihr eine Frage zu, aber sie legte einen Finger an die Lippen und gab mir ein Notizheft. Gute Idee. Womöglich würden die Zwerge sonst auch gleich anfangen zu plappern.

Was machen wir mit den Kindern, die nicht schlafen wollen, schrieb ich.

Wir warten eine halbe Stunde, dann bekommen sie ein Buch. Nach den Vorschriften müssen sie zwei Stunden ruhen, schrieb sie zurück. Aber man kann sie ja nicht zum Schlafen zwingen.

Alles klar.

Sie fügte hinzu: Normalerweise gehe ich jetzt in die Mittagspause, doch heute bleibe ich die erste Stunde hier, bis wirklich fast alle eingenickt sind.

Okay, danke.

Falls ein Kind Probleme macht, während ich weg bin, massieren Sie ihm den Rücken. Das hilft manchmal. Sollte sich das Ganze zu einem Wutanfall entwickeln, sagen Sie mir Bescheid, dann regele ich das.

Die Kinder machten tatsächlich keine Probleme, und Mrs Trent verschwand schließlich in ihre wohlverdiente Pause. Wie aufs Stichwort fiel Sam von seiner Liege. Kleiner Schauspieler.

Er schaute zu mir herüber. „Nadia?“

Ich bahnte mir einen Weg zu ihm. Falls ich die schlafenden Kinder jetzt aufweckte, tobte hier die Hölle, wenn Mrs Trent wiederkam. Schließlich hatte ich Sam erreicht und kniete mich neben ihn. „Was ist los?“, flüsterte ich.

„Ich kann nicht schlafen. Die atmen alle so laut.“

„Hast du Lust, dir ein Buch anzusehen?“

„Okay“, wisperte er.

Ich holte ihm das Bilderbuch, aus dem Mrs Trent vorgelesen hatte. Natürlich wusste ich nicht, ob er vielleicht schon lesen konnte, aber diese Geschichte kannte er auf jeden Fall.

„Kannst du dich hersetzen?“

Ohne zu antworten, nahm ich Platz, eingeklemmt zwischen Sam und der Wand, an der seine Liege stand. Beruhigend begann ich, ihm den Rücken zu streicheln. Zu meiner Überraschung legte er sofort das Buch beiseite und ließ sich wieder aufs Kissen sinken. Er lächelte noch einmal müde und schloss die Augen. Es war geradezu lächerlich, wie glücklich ich darüber war, ungefähr so, als hätte ich gerade den Mount Everest bestiegen.

Auf Zehenspitzen kehrte ich auf meinen Teppichstapel zurück, und als Mrs Trent kam und das Licht hochdrehte, waren die Kinder ausgeruht und fröhlich. Sie gab ihnen einen Snack, während ich die Liegen wegräumte. Danach ging die Gruppe raus zum Spielen, und als sie wieder hereinkam, wurde gemalt. Eine halbe Stunde später erschienen die ersten Eltern, um ihre Sprösslinge abzuholen. Um kurz nach fünf waren nur noch dreizehn Kinder da, eins von ihnen war Sam.

„Gleich können Sie auch gehen, Nadia.“

„Ja, das wäre gut.“ Auf mich wartete eine Menge Studienkram, und in einer Woche musste ich den Plan für eine Probe-Unterrichtsstunde einreichen.

Ty kam zur Tür herein, und Sam sprang auf und lief zu ihm. Dabei wedelte er aufgeregt mit dem Bild, das er gemalt hatte. Der Junge redete und redete, er hatte tausend Sachen zu erzählen. Ty strahlte, und man merkte, dass dies der schönste Augenblick seines ganzen Tages war. Viele Väter waren genervt und ungeduldig mit ihren Kindern, wenn sie abends herkamen. Wie Ty hingegen mit seinem Sohn umging, machte ihn für mich nur noch attraktiver.

Du kommst schon darüber hinweg.

Mrs Trent ging zu den beiden und berichtete, wie Sams erster Tag bei uns gelaufen war. Ich hielt mich im Hintergrund. Doch dann drehte sie sich zu mir um und rief: „Ab nach Hause mit Ihnen, Nadia!“

Also trug ich mich aus, holte meine Tasche und wollte mit Ty und Sam das Gebäude verlassen. Ty nahm den kleinen Rucksack seines Sohnes und musterte mich ab und zu mit einem schwer zu deutenden Blick. Am Eingang fing mich jedoch Mrs Keller ab.

„Sie müssen schnell noch den Vertrag unterzeichnen, dauert auch nicht lang.“

Ich winkte Ty und Sam zum Abschied. Fünf Minuten später konnte ich endgültig verschwinden. Enttäuscht sah ich, dass der silbergraue Ford nicht mehr auf dem Parkplatz stand. Ich stieg in meinen Toyota und fuhr heim. Ty und Sam waren schon hineingegangen. Ich hätte gern gewusst, ob Ty sich weiter abends mit mir unterhalten würde nach dem, was am Samstag passiert war, aber vielleicht tat uns etwas Abstand auch ganz gut. Müde schleppte ich mich in unsere Wohnung. Tatsächlich waren meine Mitbewohner bereits alle da. Das war um diese Uhrzeit eher ungewöhnlich, und ich spielte die Überraschte.

„Habt ihr euch verabredet?“

Lauren schaute mich an. „Wieso? Hast du Geheimnisse? Wolltest du lieber alleine sein, damit wir nichts davon mitbekommen?“

„Na klar“, behauptete ich grinsend und ließ mich auf den freien Sessel fallen. Auf dem Sofa hatte sich Lauren an Angus gekuschelt und Max dazu gebracht, dass er ihr die Füße massierte. Irgendwann muss ich mal rausfinden, wie sie das macht. Mit ihrem blonden Haar und den blauen Augen war Lauren sehr hübsch, aber natürlich der Meinung, sie müsste dringend zehn Kilo abnehmen. Wir waren seit der siebten Klasse befreundet, als sie Billy Derwent durch einen beherzten Schlag mit einer Kleberflasche davon abgehalten hatte, meine Brotdose zu klauen.

„Du verheimlichst mir was, und das macht mir Sorgen“, sagte sie stirnrunzelnd.

„Ich kann erst was sagen, wenn es überhaupt was zu erzählen gibt.“

„Und das von einer Frau.“ Angus stöhnte auf, als Lauren ihm nun den Ellbogen in die Seite stieß.

„So faszinierend das auch alles ist“, schaltete sich Max ein, „würde ich doch gern zwischendurch fragen, ob ihr Lust habt, ins Dollar House zu gehen.“

In Mount Albion gab es zwei Kinos, ein neues Cineplex und ein altes schmutziges Filmtheater mit kleiner Leinwand, in das man billig reinkam. Die abgefahrenen Sachen, die Max dort meistens sehen wollte, kosteten in der Regel gerade mal zwei Dollar.

„Ich hab immer noch genug von ‚Thankskilling‘ oder wie der hieß“, sagte Lauren. „Aber da ich heute Abend an einem Referat für Geschichte arbeiten muss, wäre ich dennoch willig und bereit für ein paar Nachos und einen Film.“

Angus schüttelte den Kopf. „Josh und ich essen zusammen, er kocht.“

„Schick“, stellte ich fest.

„Absolut nicht, das wird eine Katastrophe. Aber ich hab es nicht über mich gebracht, ihm zu sagen, dass er für alle Ewigkeit besser vom Herd wegbleibt. Es ist einfach so süß, wenn er es versucht.“

„Und du, Conrad? Wenn du nicht dabei bist, fahr ich mit meinem Bike und nehme Lauren hinten drauf, und dann denkt sie noch, wir hätten ein Date. Das kannst du doch nicht wollen. Blanke Anarchie!“ Max schaute mich flehend an.

„Ihr seid wie Hund und Katze“, stellte ich fest.

Angus stand auf, holte etwas aus seinem Zimmer und ging los zu Josh. Ich überlegte nach wie vor, ob ich ins Kino wollte. Wenn alle meine Mitbewohner weg waren, könnte ich mich nachher auf dem Balkon ganz ungezwungen und frei mit Ty unterhalten. Andererseits war es bestimmt besser, dass ich trotz meiner Faszination Abstand zu ihm hielt. Sonst war ich bald völlig besessen von diesem Mann, und leider hatte er mir ja klargemacht, dass da nichts laufen würde.

„Wenn ihr in die Spätvorstellung geht, bin ich dabei. Vorher hab ich noch ein paar Sachen auf dem Zettel.“

„Ich mag fleißige Frauen“, sagte Max. „Besonders in der Küche. Machst du mir ein Sandwich?“

Ich schlug ihm auf den Arm, dann ging ich tatsächlich in die Küche, machte mir eine Asia-Suppe und verzog mich an den Schreibtisch. Nach einer Weile kam Lauren dazu, klappte ihren Laptop auf und begann, an ihrem Referat zu arbeiten.

Gegen neun steckte Max den Kopf zur Tür herein, kam schließlich zu uns und wanderte gelangweilt durchs Zimmer. Als er dabei war, die Schublade mit meiner Unterwäsche aufzuziehen, um einen Blick zu riskieren, sprang ich auf und schubste ihn weg. „Okay, Max, du willst los. Sehe ich das richtig?“

Ich marschierte ins Bad, versuchte, meine Locken zu zähmen, und putzte mir die Zähne, dann zog ich mit Gloss meine Lippen nach. Die Jeans behielt ich an, setzte aber ein Beanie auf, weil meine Frisur nicht mehr zu retten war.

„Hat ja ewig gedauert“, sagte Lauren und grinste, um zu zeigen, dass es nur ein Scherz war.

„Okay, ich geh also davon aus, dass ich fahre, ja?“

„Leider passen wir nicht zu dritt aufs Bike“, sagte Max.

Ich brummelte zwar vor mich hin, hatte in Wahrheit aber gar nichts dagegen, den Chauffeur zu spielen. Max stieg hinten ein und überließ Lauren den Beifahrersitz. Ich drehte die Musik so laut, dass wir gar keine andere Wahl hatten, als mitzugröhlen. Dann schauten wir uns eine Horrorkomödie an, die tatsächlich nur zwei Dollar Eintritt kostete. Zum Abendessen gab es Nachos, Schokolade und viel zu lachen.

Gar nicht übel.

Max überredete uns, nach der Vorstellung ins Restaurant zu gehen, und so wurde es sehr spät, bis wir wieder zu Hause ankamen. Lauren und Max verzogen sich sofort ins Bett, nur ich machte mir noch einen Tee und ging auf den Balkon. Ty schläft auf jeden Fall schon. Und tatsächlich waren Garten und Wohnung unten dunkel. Ich trank schnell meinen Tee aus und schaute nicht nach oben zu den Sternen, weil ich nicht wissen wollte, ob sie ohne Ty weniger funkelten.

„Wir wären ein Traumpaar“, flüsterte ich in die Nacht.

Entschlossen nahm ich die Schultern zurück und ging hinein.

8. KAPITEL

Der September zog vorbei, und ich blieb stark.

Ich ging zur Uni, traf mich mit Freunden, lernte, gab alle meine Hausarbeiten rechtzeitig ab und zweifelte bei meinem Schulpraktikum weiter an meiner Berufswahl. Ty sah ich eigentlich nur, wenn er Sam aus der Kita abholte. Da er nicht fragte, weshalb ich mich zurückgezogen hatte, nahm ich an, dass er die Antwort kannte. Falls es ihm etwas ausmachte, hätte er mir das ja wohl mitgeteilt. Nicht dass ich heimlich darauf wartete. Mir ging es darum, meine eigene Haut zu retten, weil er mir sonst das Herz brechen würde. Aber immerhin war er ehrlich mit mir gewesen, und so konnte ich ihm aus dem Weg gehen, bevor Schlimmeres passierte.

Wenn wir uns zufällig auf dem Parkplatz oder im Fitnessraum trafen, ignorierte er mich nicht, sondern unterhielt sich ganz normal mit mir. Zum Beispiel über Sam und wie er sich in der Kita machte. Klar gab es mir manchmal einen Stich, weil wir uns so gut verstanden und trotzdem nichts daraus werden würde. Das war allerdings viel besser, als irgendwann an gebrochenem Herzen zu sterben.

Nur vernünftig. Keine Frau sollte sich auf einen Typen fixieren, den sie nicht haben kann.

Mein Leben lief also ziemlich glatt, und meine Zensuren konnten sich durchaus sehen lassen. Inzwischen hatte ich fast vergessen, wie aufregend es gewesen war, im Dunkeln mit Herzklopfen auf dem Balkon mit Ty zu reden. Daher stellte ich eines Abends nach der Arbeit zu meiner Überraschung fest, dass er auf dem Parkplatz der Kindertagesstätte auf mich wartete.

„Hast du mal kurz Zeit?“, fragte er.

„Klar.“ Ich war zu erstaunt, um irgendetwas anderes zu sagen.

„Ich setze nur eben Sam in den Wagen. Kommst du mit?“

„Bitte, Nadia!“

Klein-Ty schaute flehend zu mir auf, und in diesem Moment hätte ich ihm sogar leichten Herzens eine meiner Nieren gegeben. Dieser Blick!

„Kein Problem, Hase.“

„Ich heiße Sam!“

Erst sah er mich vorwurfsvoll an, brach dann aber in Lachen aus. Der Junge war einfach das Traumkind – aufgeweckt, niedlich, fröhlich. Am Auto angekommen, umarmte er mich und drückte mir einen feuchten Kuss auf die Wange.

„Bis Montag!“

Ty schnallte den Kleinen im Kindersitz an und klappte die Autotür zu, damit wir in Ruhe reden konnten. Ich hatte mir die ganze Zeit verboten, an ihn zu denken und ihn zu vermissen, in diesem Moment allerdings brachen sich all diese unterdrückten Gefühle Bahn. Wahrscheinlich starrte ich ihn an wie eine ausgehungerte Großkatze ihr Mittagessen, aber ich vermochte nichts dagegen zu tun.

„Kommt mir vor, als hätten wir uns seit einer Ewigkeit nicht mehr unterhalten“, sagte er leise.

„Ein paar Wochen ist es schon her.“

„Ich denke oft an dich. Sam erzählt dauernd von dir.“

Ich bemühte mich um ein ungezwungenes Lächeln. „Ich bin wirklich froh, dass es ihm so gut in der Kita gefällt. Ich hätte euch die Rainbow Academy nicht empfohlen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass sie eine hervorragende Einrichtung ist.“

„Ja, klar. Aber ich wollte mit dir über was anderes sprechen.“

„Worüber denn?“ Ich hoffte, dass mein Lächeln anhielt und dass nichts meine plötzliche Gefühlsaufwallung verriet.

Ty legte mir eine Hand auf die Schulter. „Hör auf damit, hör einfach auf.“

„Womit?“

„Verstell dich nicht. Sei du selbst.“

Der Mann konnte in mir lesen wie in einem offenen Buch, was mich erschreckte. Ihm war klar, dass ich nach drei Wochen Abstand noch lange nicht über meine Empfindungen für ihn hinweg war. Um ehrlich zu sein, hatten sie sich nicht im Mindesten verändert. Verdammt, wem will ich eigentlich was vormachen? Am liebsten hätte ich mich an ihn gelehnt, widerstand dem Impuls jedoch.

„Okay.“ Ich hörte auf, zwanghaft zu lächeln. „Ich habe dich vermisst, trotzdem dachte ich, dass ich mich besser zurückziehe. Das war eine ziemlich intensive Nacht, als ich bei dir in deiner Wohnung war.“

„Das stimmt, und es ging alles ein bisschen schnell. Dafür bin ich nicht gerade bekannt. Ich lasse das Visier sonst lieber so lange unten wie möglich. Daher bin ich dir auch dankbar, dass ich seitdem Zeit hatte, in Ruhe darüber nachzudenken. Und … ich würde dein Angebot gern annehmen, falls es noch steht.“

Mein Herzschlag setzte einmal aus. „Welches denn?“

„Am Wochenende spielen Broken Arrow. Die wollte ich schon ewig mal live sehen. Ich bringe Sam jetzt zu meinen Eltern. Hast du Lust, morgen mit mir ins Konzert zu gehen?“

„Ja, sehr gern! Heute bin ich auf einer Party, morgen hab ich aber nichts vor.“

„Ich würde dich ja abholen, angesichts unserer Wohnsituation schlag ich jedoch vor, dass du einfach zu mir nach unten kommst, sobald du fertig bist.“

„So machen wir’s. Wo findet das Konzert statt?“ Ich fragte das, damit ich eine Ahnung hatte, was ich anziehen sollte.

„In einer Whiskey-Bar. Die ist wie eine geheime Flüsterkneipe eingerichtet. Weißt du, was das ist?“

„Machst du Witze? Goldene Zwanziger, Prohibition. Ich hatte Geschichte.“

Lächelnd schaute er mich an. „Du bist süß, wenn du dich so verteidigst. Nimm das bitte nicht persönlich. Die meisten Leute in unserem Alter würden mich bei dem Wort Flüsterkneipe nur verständnislos anstarren.“

„Mann, du musst dich mal hören.“

„Nicht positiv genug?“

„So kann man es auch sagen. Eher wie ein mies gelaunter alter Penner.“

„Du brichst mir das Herz. Jeans sind übrigens total in Ordnung, außer du bestehst auf einem Zwanzigerjahre-Outfit.“

Geistig ging ich bereits den Inhalt meines Kleiderschranks durch und überlegte, ob sich da etwas Passendes finden ließ. „Abwarten.“

„Auf keinen Fall, ich werde zu Hause sofort eine Zeitmaschine erfinden.“

„Ich vermute, dass du dafür länger brauchst als vierundzwanzig Stunden“, sagte ich.

„Immer dasselbe. Frauen unterschätzen mich total“, erklärte er betrübt.

Wenn du wüsstest, wie kolossal unrecht du hast.

Stattdessen antwortete ich leichthin: „Das Genie gilt nichts im eigenen Land.“

„Ah, endlich jemand, der mich versteht. Sams Tasche liegt im Auto, und ich esse bei meinen Eltern zu Abend. Daher komme ich erst später zurück.“

Offenbar verriet mein Gesichtsausdruck, dass ich nicht wusste, warum er mir das erzählte, denn er sagte: „Nur, falls du es dir doch anders überlegst. Am besten gebe ich dir meine Handynummer. Für den Fall der Fälle.“

Ich zückte mein Telefon. „Leg los.“

Nichts auf der Welt könnte mich davon abhalten, morgen mit ihm in dieses Konzert zu gehen, aber das musste ich ihm ja nicht verraten. Ich wollte seine Nummer und schickte ihm sofort eine Test-SMS, damit er auch meine hatte.

Die Nachricht ging mit einem Ping bei ihm ein, und Ty lächelte so zufrieden, dass ich ihn dabei gern fotografiert hätte.

„Ah, und das ist dann deine Nummer.“

„Ja.“ Grinsend schoss ich ein Bild von ihm.

„Hey, du verstößt gerade gegen meine Persönlichkeitsrechte.“ Doch statt mich zu bitten, das Foto von ihm zu löschen, machte er eins von mir. „Vergeltung!“

Seine Rache ließ mich vor Freude erröten. Hör auf, du drehst ja völlig durch! „Schön, dann haben wir das ja klar. War sonst noch was?“

„Nein. Ich fahr jetzt los. Bis später.“

„Bis später.“

Ich klopfte gegen die Scheibe, und Sam schaute von seinem Bilderbuch hoch. Während Ty einstieg, winkte ich den beiden und lief zu meinem Toyota. Bevor ich den Parkplatz verließ, richtete ich Tys Eintrag in den Kontakten meines Handys ein und fügte sein Bild hinzu. Darauf stand die Sonne hinter ihm und malte goldene Strähnen in sein Haar. Die kleinen Falten an seinen Augen trugen nur noch zu seiner Attraktivität bei. Dieses Gesicht. Ein Gesicht, das ich lieben könnte. Den ganzen Mann, um genau zu sein, und alles, was zu ihm gehört.

Im Nachhinein wäre es wohl klüger gewesen, sich nicht auf die Freundschaft mit ihm einzulassen. Ich hätte ihm ehrlich sagen müssen, dass ich so viel Selbstbeherrschung einfach nicht hatte. Trotzdem war meine Verabredung mit Ty das Highlight des Wochenendes, und ich fuhr aufgeregt nach Hause.

Ich hatte mit der Party am Abend leicht übertrieben. Tatsächlich hatte Angus uns nur zu Josh eingeladen, um „Project Runway“ zu schauen. Max wollte nicht mit, aber Lauren und ich hatten zugesagt. Außerdem kamen noch zwei andere Freunde: Courtney und Darius (nicht schwul, nur modebegeistert).

Als ich unsere Wohnung betrat, lief Lauren genervt hin und her. „Weißt du, wie viele SMS von Josh ich schon habe?“

„Siebenundzwanzig?“

„Acht.“ Sie verdrehte die Augen. „Ich hab ihm gesagt, er soll sich abregen und notfalls eben ohne uns anfangen.“

„Ich zieh nur die Arbeitskleidung aus, dann können wir gleich los, versprochen.“

Ich duschte in Weltrekordzeit, zog Jeans und Hoodie über und lief ins Wohnzimmer. „Auf geht’s.“

Josh hatte eine fantastische Wohnung, und näher zur Uni als unsere lag sie auch noch. Er hatte während der Woche vier Stunden „Project Runway“ aufgenommen, und da er keine Mitbewohner hatte, konnte uns niemand nerven, weil wir den Fernseher den ganzen Abend mit Beschlag belegten. Wir bestellten Pizza, alberten rum, machten uns über die Designer lustig und genossen das Leben in vollen Zügen.

„Timm Gunn ist ein Gott“, sagte Angus.

„Ich glaube, ich habe mal einen Film mit ihm gesehen, in dem er wirklich Gott gespielt hat“, stellte Courtney fest.

Josh zückte sein iPad und suchte nach dem Film. „Nein, nicht Gott, aber einen seiner Handlanger. Bravo.“

Kurz danach fand die „Party“ ihr Ende. Lauren und ich fuhren nach Hause, während Angus bei Josh blieb. Mir fiel auf, wie nachdenklich Lauren wirkte.

„Stimmt was nicht?“

„Existenzielle Krise, aber sonst alles okay.“

„Raus damit!“

„Ich frage mich nur, ob ich mit dem, was ich im Moment mache, jemals wirklich etwas verändern kann. Politikwissenschaft ist einfach bescheuert. Am Ende werde ich noch so eine aalglatte Parteisoldatin.“

„Willst du dein Hauptfach wechseln?“ Das wäre nicht ungewöhnlich, viele Studenten machten das, aber es würde bedeuten, dass wir nicht zusammen mit dem Studium fertig wurden.

„Vielleicht, ich weiß es nicht. Das ist Teil des Problems.“

Sie klang auf einmal so seltsam, dass ich zu ihr rüberschaute.

„Und welches Problem wäre das?“

Sie seufzte. „Ach, vergiss es. Vermutlich dreh ich einfach ab, weil wir bald einen Abschluss haben und uns richtige Jobs suchen müssen. Nächstes Jahr um diese Zeit bist du weg und unterrichtest irgendwo. Und wer weiß, was ich dann mache. Wahrscheinlich kellnern.“

Sie zwang sich zu einem Lachen, doch ich spürte, dass sie das wirklich belastete. Dabei war sie nicht die Einzige, die gerade alles infrage stellte. „Dieses Praktikum gibt mir den Rest, Lauren. Es ist viel, viel härter, als ich dachte, und die Kinder brechen mir jeden Tag das Herz. Sie wollen manchmal so verzweifelt etwas lernen, aber sie können es schlicht nicht wegen ihrer Behinderung. Ich würde ihnen so gern helfen. In ihrer Frustration drehen sie durch und werfen mit Sachen. Ein kleines Mädchen schaukelt hin und her und stöhnt. Damit muss ich dann die nächsten dreißig Jahre leben.“

„Wow“, flüsterte Lauren. „Du hast auch eine Krise.“

„Ich weiß nicht, ob ich die Kraft für Sonderpädagogik habe. Natürlich wünsche ich mir das, nur sicher bin ich mir nicht.“

„Versteh das nicht falsch, es ist nur so, es hilft mir gerade, dass ich nicht die Einzige mit Zukunftsangst vor dem wirklichen Leben nach der Uni bin.“

Während wir zu Hause auf den Parkplatz fuhren, dachte ich darüber nach. „Dass wir unser Leben nicht für echt halten, ist doch Teil des Problems. Ich meine, wir arbeiten, wir zahlen Miete. Ja, wir haben Spaß und nehmen nicht alles so ernst, trotzdem ist das unser Leben. Jeder Moment. Und ich weiß, dass ich eines Tages mitten in der Nacht aufwachen und todtraurig sein werde, weil du nicht in einem Bett nebenan liegst.“

Sie starrte mich ein paar Sekunden an, dann verfinsterte sich ihre Miene, und sie wischte sich über die Augen. „Blöde Kuh, jetzt hast du mich auch noch zum Heulen gebracht.“

Ich umarmte sie schnell und stieg aus dem Wagen. „Wenn du möchtest, rühr ich einen Keksteig zusammen, und wir reden statt über unsere Gefühle darüber, wie mies unsere Zukunftsaussichten sind.“

„Lieber fernsehen.“

„Gebongt.“

Ich ging in die Küche und machte die Kekse. Weil ich kochen und backen konnte, seit ich zwölf war, dauerte es nicht lange. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, schaute Lauren gerade irgendeinen Actionstreifen. Romantische Komödien hasste sie, was man nicht unbedingt vermutete, wenn man sie sah. Äußerlich wirkte sie eher wie das typische Girlie. Tatsächlich stand sie aber auf Ego-Shooter und Filme, in denen Brücken und Autos reihenweise in die Luft flogen. Auf der Highschool hatte sie viel Zeit mit dem Spielen oder Programmieren von MMOs zugebracht, inzwischen gab sie das Fetenbiest.

Zehn Minuten später erhob ich mich wieder. „Ich schau mal nach den Keksen. Die müssten fertig sein.“

„Dann dürfen Sie servieren, Nadia.“ Lauren unterstrich den Satz mit einer gebieterischen Geste.

Ich legte acht Kekse auf einen Teller und lieferte sie bei ihr ab, und sie sah mich gespielt vorwurfsvoll an. „Gib’s zu, du mästest mich, damit du mich in schlechten Zeiten in den Ofen schieben kannst.“

„Du musst unbedingt aufhören, Fan-Fiction für ‚Tribute von Panem‘ zu schreiben. Ernsthaft. Außerdem ist die Hälfte für mich, komm gar nicht erst auf die Idee, mir die wegzuessen!“

Als der Film halb vorbei war, schlief Lauren ein, und ich deckte sie zu. Dann ging ich in den Flur, weil mein Handy piepte. Es war fast drei Uhr morgens, wer schrieb mir jetzt? Ich öffnete die Nachricht. Tys Bild erschien.

Ich hör dich oben herumlaufen. Weißt du, wie SPÄT es ist?

Grinsend antwortete ich:

Zeit für ein Abenteuer, Ty?

Führe mich nicht in Versuchung! Ich sitze hier völlig unbeaufsichtigt.

Solltest du nicht schlafen? Ich dachte, du hast morgen Abend große Pläne.

Vielleicht deshalb? Balkon?

Weil wir uns in Riesenschritten dem ersten Oktober näherten, war es nun nachts kühl draußen, und ich nahm außer meinem Geschenkkorb auch eine Decke mit. Gut, dass der Fernseher noch lief, andernfalls hätte ich bestimmt Lauren aufgeweckt. Ich hatte fünf Schokoladenkekse in den Korb gepackt, den ich nun zu Ty hinunterließ.

„Aha, du willst deinen Nachbarn bestechen, damit er sich nicht über das Getrampel um diese Uhrzeit beschwert. Das grenzt an eine Straftat.“

Er nahm die Kekse heraus, und ich holte den Korb wieder ein. „Nein, selbst gebackene Kekse sind höchstens eine Ordnungswidrigkeit.“

Ich wollte mich gerade setzen, als Ty sagte: „Komm runter.“

„Meine Mitbewohnerin schläft auf der Couch, ich hab Angst, sie aufzuwecken.“

„Dann klettere über den Balkon und spring. Ich fang dich.“

„Bist du wahnsinnig?“

„Wahrscheinlich. Hol deinen Schlüssel und komm herunter.“

Natürlich wäre es klüger gewesen, jetzt abzulehnen, aber meine Überlebensinstinkte versagten auf ganzer Linie. Auf Zehenspitzen holte ich also meinen Schlüsselbund, kehrte leise auf den Balkon zurück, schloss die Tür hinter mir und kletterte über die Brüstung. Wenn Lauren aufgewacht wäre und mich dabei entdeckt hätte, sie wäre vermutlich an einem Herzinfarkt gestorben. Langsam rutschte ich an einer der Stangen der Balkonkonstruktion hinunter. Ty ergriff meine Knöchel.

„Ich hab dich, keine Angst.“

„Ich verlass mich auf dich.“ Ich ließ los, und er fing mich tatsächlich auf. Für ein paar wunderbare Sekunden hielt er mich einfach im Arm, doch allzu schnell stand ich wieder auf meinen eigenen Füßen. Seine Hände glitten an meinen Armen hinunter und schienen einen Herzschlag zu lange zu verweilen. Eine Berührung, die verriet, dass wir niemals nur Freunde sein würden, egal, wie sehr wir uns auch bemühten.

„Du bist ganz kalt“, stellte er fest. „Ich hole dir was.“

Er kehrte sofort mit der kuscheligen Decke von seiner Couch zurück. Am liebsten hätte ich darauf hingewiesen, dass es in seinem Bett garantiert wärmer war, aber ich beherrschte mich. Ty ging mit mir zu dem Zweisitzer, und wir nahmen nebeneinander Platz. Sein kleiner Garten war aus der Nähe betrachtet noch hübscher. Ich bewunderte ihn gebührend, bis Ty mich damit ablenkte, dass er einen Arm um meine Schultern legte. Ich schmiegte mich gegen besseres Wissen und beste Vorsätze an ihn.

„Weißt du, was?“, fragte er leise.

„Ich weiß viele Dinge. Aber höchstwahrscheinlich nicht das, was du meinst.“

„Als du wegen der Party bei mir warst und eingeschlafen bist, war ich einmal vor dir wach. Statt dich zu wecken und dich nach Hause zu schicken, hab ich es uns beiden gemütlicher macht.“

„Wieso?“, fragte ich.

„Ich … ich wollte nicht, dass du gehst. Dann hat Sam mich irgendwann geweckt, und ich war gleichzeitig erleichtert und traurig darüber, dass du fort warst. Seitdem bekomme ich dich einfach nicht mehr aus dem Kopf.“

„Was soll das genau heißen?“

„Dass ich im Moment ständig an dich denke. Wenn ich mir nicht vorstelle, wie es ist, dich zu küssen, denke ich daran, dass du gern zuschaust.“

Mir wurde heiß. „Du meinst, dass ich dir zuschaue?“

„Ja.“ Er musterte meinen Mund. „Du treibst mich in den Wahnsinn.“

„Aber ich tu doch gar nichts“, protestierte ich.

Ty strich mir durchs Haar. „Das ist Teil des Problems.“

9. KAPITEL

„Wenn ich der Meinung wäre, dass du das wirklich willst …“ Ich zögerte lange. Er hätte jetzt nur sagen müssen, ja, los, heute kann uns niemand aufhalten. Stattdessen hörte ich den Wind in den Blättern rauschen. Also zog ich mich bewusst zurück, obwohl ich es hasste, als er mich losließ.

„Bis später?“, fragte er.

Ich konnte an seiner Miene nicht ablesen, ob er froh oder enttäuscht darüber war, dass ich seine Wünsche respektierte. Bevor ich irgendetwas tat, wollte ich von ihm hören, dass er seine Meinung über uns geändert hatte. Ich erhob mich und verließ den Garten durch das kleine Tor im Zaun. Dann ging ich zur Eingangstür und zurück ins Haus. Wenn ich nur Lauren nicht weckte! So leise wie möglich betrat ich die Wohnung, doch statt Lauren stand ich plötzlich Max gegenüber. Wir erstarrten beide vor Schreck. Er war gerade dabei, die schlafende Lauren ins Bett zu tragen. Man merkte, dass es ihm unangenehm war, bei einer so selbstlosen Geste ertappt zu werden. Ich nickte ihm nur zu, damit er weiterging, schwieg jedoch ansonsten. Dann wartete ich mit verschränkten Armen darauf, dass er zurückkehrte.

„Wie lange läuft das schon?“

„Was denn?“, fragte er.

„Dass du in sie verliebt bist?“ Eigentlich rechnete ich fest damit, dass er alles abstritt. Stattdessen ließ er sich seufzend auf die Couch plumpsen.

„Na und? Da läuft eh nichts.“

„Deshalb wolltest du, dass ich neulich Abend mit ins Kino komme, weil du dann mit Lauren nicht allein sein musstest.“

„Ich wäre gern mit ihr allein“, antwortete er. „Aber sie umgekehrt nicht mit mir.“

„Fällt mir immer noch schwer, das zu glauben. Ich würde dir ja meine Hilfe anbieten. Allerdings müsstest du mich davon überzeugen, dass du sie nicht nur mal für eine Nacht in dein Bett kriegen willst.“

„Nein, es ist mir ernst.“

„Und was lief da mit Courtney auf der Party?“

„Wir haben uns geküsst, mehr ist nicht passiert. Uns ging es beiden an dem Abend nicht besonders gut.“

„Dabei hast du die Party doch vorgeschlagen!“ Dann begriff ich es. „Weil du wusstest, dass Lauren ihren neuen Job gern feiern würde. Oh verdammt, Max, das habe ich wirklich nicht geschnallt.“

Nun allerdings fiel mir so einiges auf. Im letzten halben Jahr musste Lauren nur andeuten, dass sie an irgendetwas Interesse hatte, und Max sorgte dafür, dass sie es erhielt. Wenn auch so unauffällig, dass es nicht danach aussah. Jetzt tat er mir tatsächlich leid, dabei waren wir eigentlich immer nur oberflächlich befreundet gewesen.

„Niemand weiß das“, entgegnete er achselzuckend.

„Als sie mit Angus über diesen Prof geredet hat, warst du ziemlich komisch.“

„Ich war eifersüchtig. Angus ist witzig und interessant, und sie kuschelt dauernd mit ihm.“

„Hey, er ist schwul, schon vergessen?“

„Trotzdem kommt er ihr viel näher, als ich es je schaffen werde. Ich behaupte ja nicht, das wäre eine besonders rationale Reaktion.“

„Kann ich was für dich tun?“

„Klar.“ Er starrte mich mit einem regelrechten Röntgenblick an. „Wo kommst du nachts um drei ohne Schuhe her?“

Da ich nun sein Geheimnis kannte, kam es mir nur fair vor, ihm auch die Wahrheit zu sagen. „Ich treffe mich ab und zu mit unserem Nachbarn von unten.“

Er runzelte die Stirn. „Wollte er mit dir ins Bett?“

„Gott, das wäre ein Traum! Leider nicht. Wir sind nur Freunde.“

„Dann haben wir also dasselbe Problem.“ Seine Miene hellte sich auf, und er zerzauste mir freundschaftlich die Haare. „Lass dich nur nicht von dem Penner ausnutzen, Conrad. Da hast du was Besseres verdient.“

„Ach, vielleicht will ich ihn ja auch nur fürs Bett?“

Max legte den Kopf schief. „Es wäre alles viel einfacher, wenn ich was mit dir anfangen würde.“

„Dafür brauchst du mich nicht, bei der Auswahl, die du ansonsten hast.“ Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Gute Nacht.“

Lauren lag in ihre Decke gewickelt auf dem Bett, ich putzte mir die Zähne und kuschelte mich dann auch in die Federn. Da es inzwischen vier geworden war, schlief ich am nächsten Tag fast bis Mittag.

Die Kekse waren natürlich alle aufgegessen, daher gab es für mich nur Cornflakes zum Frühstück. Dafür hatte ich aber eine SMS von Ty.

Das Konzert geht um acht los, wir brauchen eine Stunde mit dem Auto. Um sieben bei mir?

Okay, bis dann, Ty.

Meine Mitbewohner hingen im Wohnzimmer ab. Angus sah richtig mies aus. Normalerweise war er sogar zu Hause immer top gestylt, aber heute hatte er kein Gel im Haar und trug Jogginghose. Neben ihm stand ein leerer Teller, und ich ahnte, wer meine Kekse auf dem Gewissen hatte.

„Was ist los?“

Max stöhnte. „Mist, wir hatten ihn gerade ein bisschen abgelenkt.“

„Josh hat mich betrogen“, sagte Angus tonlos.

Stirnrunzelnd blickte ich Max an. „Schau dir sein Gesicht an. Ihr habt ihn null abgelenkt.“ Dann wandte ich mich an Angus: „Möchtest du darüber reden?“

Er tat, als hätte er mich nicht gehört. „Das Verrückte ist, dass es schon letzten Sommer passiert ist. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Angeblich nur einmal, als ich drei Wochen durch Europa getourt bin.“

„Und warum zum Henker beichtet er dir das jetzt?“, fragte Lauren.

„Weil er sein Gewissen erleichtern und reinen Tisch machen wollte, bevor wir unsere weitere Zukunft planen.“

„Das ist doch eigentlich auch gut so“, meinte Max. „Klingt, als wäre es ihm wichtig. Wenn er von Schuldgefühlen geplagt wird, könnte das sonst leicht eure Beziehung zerstören. Er scheint es wirklich ernst mit dir zu meinen.“

Den anderen beiden entging, was für eine kluge und durchdachte Antwort das war. Ganz anders, als man es von dem Max erwartete, mit dem wir unsere ersten Semester verbracht hatten. Damals war er der Partyfreak gewesen, und mehr hatte nie einer von uns in ihm gesehen. Ich allerdings wusste es jetzt besser.

„Trotzdem finde ich nicht, dass Josh einfach so damit durchkommen soll. Er hat sich wie ein Idiot benommen und tut es jetzt schon wieder, indem er Angus mit diesem Geständnis verletzt“, sagte Lauren.

„Das stimmt“, erwiderte Max. „Aber manchmal ist die Wahrheit wichtiger, auch wenn sie schmerzhaft ist.“

Ich nickte. „Ja. Andernfalls baut ihre Beziehung auf einer Lüge auf. Es ist ätzend, doch Angus muss nun entscheiden, ob er Josh verzeihen will.“

„Danke für dein Verständnis, Lauren.“ Angus umarmte sie.

Lauren stellte sich immer leidenschaftlich auf die Seite ihrer Freunde und Familie, selbst wenn sie unrecht hatten. Im Moment sah sie so traurig aus, als hätte Josh nicht Angus, sondern sie betrogen. Oder hatte sie ein anderes Problem? Überrascht beobachtete ich, wie sie ein paar Tränen wegblinzelte.

„Ist doch klar“, murmelte sie.

„Es ist schrecklich, ich fühl mich, als müsste ich mich gleich übergeben“, sagte Angus. „Trotzdem war’s richtig, dass er mir reinen Wein eingeschenkt hat. Obwohl ich noch nicht weiß, wie ich ihm verzeihen soll oder kann.“

„Dir ist nur schlecht, weil du alle meine Kekse aufgegessen hast, du Trostesser.“ Ich lächelte und streichelte ihm den Rücken.

Er kniff die Augen zusammen. „Die waren verdammt lecker, und ich bereue nichts!“

Ich holte tief Luft. „Bis heute Abend kümmere ich mich gern um dich, aber dann habe ich was vor. Kommst du klar, Angus?“

„Ich geh mit ihm shoppen“, sagte Lauren.

„Keine Lust“, erklärte Angus missmutig.

Max tat, als wollte er aufspringen. „Oh Gott, ich ruf einen Krankenwagen!“

Ich hoffte inständig, dieses Drama würde von meinen Plänen ablenken, aber da hatte ich Lauren unterschätzt.

„Und wo willst du heute Abend hin, Nadia? Scheint ja was ganz Wichtiges zu sein, wenn unser armer Angus in seiner Stunde der Not nicht mitkommen kann.“

Jetzt musste ich es ihnen sagen … also, ich musste ihnen irgendwas sagen. Gut, Max wusste Bescheid, aber die anderen beiden nicht. „Ty, unser Nachbar von unten, will mit mir in ein Konzert. Wir hören uns in der Stadt Broken Arrow an.“

„Oh Gott, du hast ein Date mit dem heißen Typen aus 1B!“, rief Lauren so laut, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn Ty es in seiner Wohnung gehört hätte. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.

„Wir sind nur Freunde“, stellte ich entschieden fest.

„Wie ätzend, der ist echt süß“, meinte Angus. Weil ich die Augenbrauen hochzog, fügte er hinzu: „Was? Ich bin nicht blind, das ist was anderes als ein Seitensprung!“

Ich gestand leise: „Ja, er ist echt süß.“

„Vielleicht trinkt er zu viel und betatscht dich“, sagte Lauren aufmunternd.

Max warf ihr einen entsetzten Blick zu. „Sag mir bitte nicht, Frauen stehen auf so was?“

„Wenn sie was von dem Mann wollen, schon. Besonders, falls er es nüchtern nicht auf die Reihe bringt.“

Lauren schien bereit, einen Streit mit Max vom Zaun zu brechen, und ich ließ die drei allein.

Eine sehr lange Dusche später hatte ich mein inneres Gleichgewicht ansatzweise wiedergefunden, fuhr dann aber das volle Date-Programm, obwohl ich gerade behauptet hatte, ich hätte keins. Die Beine rasierte ich mir natürlich nur, damit ich ein Kleid anziehen konnte, nicht weil Ty sie möglicherweise berühren würde. Anschließend cremte ich mich ein und legte etwas Selbstbräuner auf.

„Wow!“, rief Lauren, als sie in unser Zimmer kam. „Du bist ja richtig scharf auf den Kerl.“

Es wäre sinnlos gewesen, das noch lange abzustreiten. „Trotzdem wird daraus nichts. Er hat ein kleines Kind, arbeitet Vollzeit, studiert abends und datet nicht.“

„Autsch. Das sieht ja nicht nach Happy End aus. Aber komm, ich lackiere dir für alle Fälle die Fußnägel.“ Lächelnd holte sie ihre Schminktasche. „Rubinrot?“

„Bitte.“

Lauren verpasste mir eine volle Maniküre und Pediküre. Seit sie ihr Image verändert hatte, hatten ihre Ansichten und Interessen das ebenfalls getan. Neuerdings wusste sie viel mehr über Beauty und Kosmetik als ich. Als sie fertig war, saß ich noch eine Stunde still, damit ich den Nagellack auf keinen Fall verwischte. Inzwischen war es fünf Uhr, und ich hatte Hunger, war jedoch zu nervös zum Essen. Das ist kein Date, sagte ich mir immer wieder, schaffte es aber nicht, es auch zu glauben.

„Soll ich dir die Haare frisieren und dich schminken?“

Dies war einer der vielen Gründe, aus denen ich Lauren liebte. Obwohl es Angus schlecht ging, hatte sie gemerkt, dass die Verabredung mit Ty für mich sehr wichtig war. Ohne mir weitere bohrende Fragen zu stellen, gab sie ihr Bestes, um mich zu unterstützen.

„Das wäre toll“, sagte ich.

„Was ziehst du denn an? Brauche ich als Anhaltspunkt.“

Vorsichtig, wegen meiner Zehen, ging ich zum Kleiderschrank. Ich besaß genau vier Kleider. Eins davon hatte ich bei der Hochzeit meines Cousins getragen und mir geschworen, es nie wieder anzuziehen. Die anderen drei passten auch nicht. Lauren kam zu mir herüber und verschwand mit dem Kopf in ihrem Teil des Schrankes.

„Lauren, ich kann seit der Mittelstufe deine Klamotten nicht mehr tragen.“

„Das hier könnte trotzdem passen. Bei dir ist es bestimmt ein Mini, probier’s mal an. Dann sehen wir ja …“

Was sie mir hinhielt, war ein weißer transparenter Hauch von einem Kleid aus Chiffon, nicht mein üblicher Stil, erinnerte aber doch an die Zwanzigerjahre, und ich war bereit, es zu versuchen.

Ich schlüpfte aus meinen Sachen und in das Kleid. Lauren hatte mehr Oberweite und Hintern und dafür kürzere Beine, daher saß es recht locker, und der Saum endete eine Handbreit über meinen Knien.

„Wie ist das?“

„Sieht echt süß aus. Aber du musst auf jeden Fall eine Jacke anziehen.“

„Die rote?“ Ich probierte sie an.

„Du siehst fantastisch aus.“ Sie schloss die Schranktür, damit ich mich im großen Spiegel daran bewundern konnte. „Schuhe?“

Da sie viel kleinere Füße hatte als ich, konnte Lauren mir da nicht helfen. Am Ende entschied ich mich für ein paar silberne Sandalen. Lauren war einverstanden. Etwas anderes kam aber auch nicht infrage, da mein restliches Arsenal aus Boots, noch mehr Boots und Converse-Sneakers bestand.

„Gut, dann mache ich jetzt deine Haare und die Schminke.“ Sie legte mir ein Handtuch um die Schultern, damit das Kleid nichts abbekam, und machte sich an die Arbeit.

Als sie fertig war, traute ich meinen Augen kaum. Ehrlich gesagt hatte ich befürchtet, sie könnte es vielleicht übertreiben. Ich wollte nicht, dass Ty fand, ich würde es zu verzweifelt bei ihm versuchen. Aber Lauren hatte sich zurückgehalten, das Make-up war dezent, nur die Lippen und die Augen waren stärker betont. Es sah wirklich gut aus, und auch meine Haare saßen super. Irgendwie war es ihr gelungen, meine Locken zu zähmen, sodass sie mir nun voll und glänzend über den Rücken fielen, statt widerspenstig in alle Richtungen abzustehen.

„Du darfst Vollzeit bei mir anfangen.“

„Schön, dass es dir gefällt. Wenn unser Nachbar dir heute widerstehen kann, bleibt ihr wohl für immer Freunde.“

Als ich das Wohnzimmer betrat, ließ Max die Fernbedienung fallen. „So kann ich dich leider nicht gehen lassen, Nadia.“

Ich grinste. „Danke für das Kompliment.“

„Schaut euch diese Beine an“, sagte Angus. „Wenn du dazu einen Männerhintern hättest, würde ich mich betrinken und schmutzige Sachen mit dir machen.“

Natürlich war das nur ein Scherz, obwohl Angus in seinem ersten Semester vorm Coming-out noch eine Freundin gehabt hatte, und niemand wusste, wie weit die beiden gegangen waren. Danach konnte man auch schlecht fragen. Jedenfalls war sie sehr dünn gewesen, fast knochig, eher der androgyne Typ. Angus redete nicht über Chelsea, und nach ihrer Trennung hatten sie keinen Kontakt mehr. Gerüchteweise hatte ich gehört, dass sie das alles ziemlich getroffen hatte und sie sich fragte, wieso sie nicht gemerkt hatte, dass er schwul war.

„Josh mit mir eifersüchtig machen zu wollen, ist sinnlos“, stellte ich fest.

Seufzend nickte er. „Dreh dich!“

Ich machte eine Pirouette und überlegte, wie groß Ty wohl war. Mit den Sandalen war ich über eins achtzig, und manche Männer standen absolut nicht darauf, wenn die Frau sie überragte. Leider wusste ich das aus eigener deprimierender Erfahrung. Ich hatte mich mit einigen dieser Exemplare getroffen. Dann fiel mir ein, dass Tys Größe egal war.

Das wird kein Date.

„Fabelhaft. Soll ich jetzt beleidigt sein, dass ihr das ganz allein zustande gebracht habt?“

Das war nur ein Witz, Angus kümmerte sich sonst auch nicht darum, uns Modetipps zu geben.

„Vielleicht sollte ich Stylistin für die Reichen und Schönen werden, wenn ich mit der Politikwissenschaft aufhöre“, sagte Lauren nachdenklich.

Damit nahm das Gespräch eine neue Richtung. Ich setzte mich und schaute fern, während Max mit Lauren redete, um herauszufinden, was ihre letzte Bemerkung genau zu bedeuten hatte. Das war allerdings nicht besonders erfolgreich, weil sie wie immer in solchen Situationen der Diskussion auswich und Witze riss.

„Wann geht deine Kutsche?“, fragte Max schließlich, musterte mich von Kopf bis Fuß und zog eine dunkle Augenbraue hoch.

„Um sieben.“

„Das ist ja noch eine halbe Stunde“, sagte Angus. „Wenn du jetzt schon fertig bist, zeigt das nur, wie scharf du auf den Mann bist.“

„Na danke“, murmelte ich. „Wieso bist du eigentlich nicht shoppen?“

„Wir warten, bis du abhaust“, informierte Lauren mich. „Ich will doch mitbekommen, wie unser Nachbar auf mein Meisterwerk reagiert.“

Ich seufzte und überlegte, ob ich besser flüchtete. Leider würde ich auf den hohen Schuhen nicht weit kommen, bis die drei mich eingeholt und geschnappt hatten. Also blieb mir nichts übrig, als die Bemerkungen meiner Mitbewohner über mich ergehen zu lassen. Um zehn vor sieben ging ich ins Bad, putzte mir die Zähne und kam mit meiner Handtasche wieder. Meine Freunde standen an der Tür Spalier.

„Sagt bitte nicht, dass ihr mich nach unten in seine Wohnung begleiten wollt.“

Max lachte. „Lauren nimmt dich nur hoch. Wir gehen was essen.“

„Danke, lieber Gott.“

Obwohl wir zusammen aufbrachen, marschierten die drei brav weiter zum Parkplatz, während ich zu Ty ging. Offenbar hatten Laurens Sprüche sich irgendwie in meinem Kopf festgesetzt. Jedenfalls erwartete ich halb, dass Ty die Tür öffnen und sich sofort auf mich stürzen würde. Ich brauchte einen Kuss, wollte meine Finger in seine Schultern krallen, ein Bein um seine Oberschenkel schlingen. Meine Sehnsucht und mein Verlangen taten schon weh.

Ich klopfte. Ty riss fast im selben Moment die Tür auf und erstarrte. Erst schaute er mir in die Augen, dann ließ er den Blick zu meinen Brüsten und bis zu den Hüften gleiten. Normalerweise hasste ich es, angestarrt zu werden, aber nicht bei ihm. Während er mich so offensichtlich bewunderte, ballte er unwillkürlich die Hände zu Fäusten und schnappte hörbar nach Luft.

„Wow!“ Er schüttelte den Kopf. „Du musst mich wirklich hassen und mir nach dem Leben trachten.“

Nicht ganz die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte. „Bitte?“

„Ich hab dir doch gesagt, welchen Effekt deine Beine auf mich haben. Und natürlich weißt du, dass ich jetzt an nichts anderes denken kann.“

„Nein, eigentlich sollte das kein Mordversuch werden. Ich wollte nur wie ein Charleston-Girl aus den Zwanzigern aussehen.“

„Charleston hin oder her, du schaust einfach unglaublich aus. Ich hole meine Schlüssel.“

10. KAPITEL

Wir verließen schweigend das Gebäude. Ty öffnete die Beifahrertür seines Wagens für mich, und ich stieg ein.

„Du kannst gern am Radio herumspielen, bis du was findest, das dir gefällt. Oder wir schließen meinen iPod an“, sagte er.

„Ja, das interessiert mich.“ Er gab mir den iPod, ich stöpselte ihn ein und stellte ihn auf shuffle. „Ich bin sehr gespannt, was mir dein Musikgeschmack über dich verrät.“

„Du weißt jetzt schon mehr über mich als die meisten Leute.“

Aber nicht alles. Nichts über Sams Mom und warum sie euch verlassen hat, oder auch nur, wo du arbeitest. Es ging mit Musik von The National los, doch ich hatte bereits gewusst, dass er die Band mochte.

„Echt?“

„Ja. Ich habe mich noch mit niemand anderem so wohlgefühlt.“

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. „Ich weiß, was du meinst.“

Bevor er etwas erwidern konnte, klingelte sein Handy. Ty schaute aufs Display und schüttelte den Kopf. „Nein, kommt gar nicht infrage. Das ist mein einziges freies Wochenende.“

„Arbeit?“, riet ich.

„Ja, wenn das Projekt feststeckt, ruft der Vorarbeiter immer bei mir an, damit ich das regele. Ich wusste nicht mal, dass mein Team heute dran ist.“ Er stöhnte leise. „Das wird er mir Montag um die Ohren hauen. ‚Ich hab Sie trotz allem genommen, Tyler, aber Sie müssen nun auch Verantwortung übernehmen.‘“

„Trotz allem? Fehlte dir die Qualifikation?“

„Nein, eigentlich nicht. Ein Freund meines Vaters hat eine Baufirma und brauchte einen Office Manager. Ich hatte keinerlei Berufserfahrung und nur ein entsprechendes Seminar gemacht, aber mein Dad hat ihn überzeugt, mir den Job zu geben. Dad meinte, ich würde schnell alles Wichtige begreifen.“

„Und wie lief es damit?“ „Das ganze erste Jahr war ich nur erschöpft und machte dauernd Fehler. Ich musste wirklich eine Menge lernen, und es grenzt an ein Wunder, dass Bill mich nicht gefeuert hat. Also habe ich online ein paar Kurse belegt, während ich schon völlig verzweifelt war. Jetzt habe ich alles unter Kontrolle, aber … es hat verdammt lange gedauert.“

„Ruft dein Chef oft am Wochenende an? Was ist dann mit Sam?“

„Meistens geht es nur um irgendwelche Unterlagen, ob ich dies oder das fertig gemacht habe. Genehmigungen und so was. Ich arbeite keine extra Schichten, insofern ist mit Sam alles okay.“

Er klang so frustriert, dass ich noch ein wenig weiterbohrte. „Gibt es irgendwas an diesem Job, das du magst?“

„Ich bekomme die vollen Sozialleistungen. Und es kann nicht schaden, sich auch mit diesem Teil des Baugeschäfts auszukennen. Ich will ja mal Architekt werden. Mir ist natürlich bewusst, dass die Aussichten für Architekten momentan miserabel sind, aber das soll sich in fünf Jahren oder so ändern. Und so langsam, wie es bei mir mit dem Studium geht, hab ich bis dahin höchstens einen Bachelor, vom Master ganz zu schweigen.“

„Du musst dich vor mir nicht für deine Träume rechtfertigen, Ty.“

„Da bist du die Erste“, murmelte er. „Entschuldige bitte, dass ich mir wegen der Arbeit die Laune habe verderben lassen. Damit beschäftige ich mich frühestens wieder am Montag.“

„Du hattest mich ja davor gewarnt, dass du ein Griesgram bist.“

„Stimmt.“

Danach war er allerdings für den Rest der Fahrt sehr charmant. In der Innenstadt von Ann Arbor war die Hölle los, weshalb wir ein paar Straßen entfernt parken mussten. Ty kam herüber und hielt mir die Wagentür auf, und als ich ausstieg, konnten wir uns direkt in die Augen sehen.

„Du bist eins fünfundachtzig groß“, stellte ich fest.

Er grinste. „Du heute Abend auch.“

„Macht dir das was aus?“

„Nichts an dir macht mir was aus, Nadia.“

Ich überlegte, ob ich ihn gegen das Auto drängen und mich auf ihn stürzen sollte, widerstand aber.

„Wo lang?“, murmelte ich.

Ty legte mir unter der Jacke eine Hand auf den Rücken und dirigierte mich in die entsprechende Richtung. Zwischen uns war nur ein Hauch von Stoff. Wir gingen weiter, und er ließ seine Hand, wo sie war, und als wir die Bar erreichten, brannte diese Stelle wie Feuer. Ty, der offensichtlich schon mal hier gewesen war, führte mich die Stufen hinunter ins Souterrain, wo der Club zu Hause war.

Drinnen war es eng und schummerig. Es gab einige gemütliche Nischen, die restlichen Tische standen vor einem niedrigen Podest. Falls die Akustik gut war, würde es ein tolles Konzert werden.

Ty hielt auf ein paar Stühle an der Seite zu, die relativ dicht an der Bühne standen. Mit einem Blick versicherte er sich, dass ich damit einverstanden war. Sobald ich saß, fragte er, ob ich etwas trinken wollte.

„Klar. Meinst du, die haben irgendwelche ungewöhnlichen Biersorten hier? Irgendwas von einer lokalen Brauerei, wenn’s geht.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Mann, warum muss er solche Sachen sagen? Wenn er so auch mit seinen anderen Freunden spricht, fresse ich auf der Stelle Laurens Kleid!

Außerdem trug er ein elegantes Hemd und ein marineblaues Cordjackett dazu. Ich bezweifelte, dass er an einem Abend mit seinen Freunden so etwas anziehen würde. Aber vielleicht bemerkte er gar nicht, wie das wirkte, dass es den Eindruck eines Dates nur noch verstärkte.

„Alles bekommen?“, fragte ich, als er sich nun neben mich setzte.

„Ich habe fünf kleine Biere aus lokaler Produktion zum Probieren bestellt. Und ich habe einen Korb mit Käsecrackern besorgt.“

„Das klingt großartig.“ Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war.

„Die esse ich immer hier, ich liebe sie. Obwohl die Nachos auch ziemlich genial sind. In deiner Gesellschaft ist es allerdings fast egal, was es gibt, ich werde davon sowieso nichts mitbekommen.“

„Ty, hör bitte auf, mit mir zu flirten. Ich ertrage das nicht.“

„Entschuldige. Aber wenn ich dich anschaue, vergesse ich einfach alle Vernunft und …“

Ihm schienen einen Moment zumindest die Worte zu fehlen.

„Versteh ich“, sagte ich leise. „Geht mir mit dir genauso. Doch du bist derjenige von uns beiden, der keine Dates will.“

„Tut mir leid, wahrscheinlich sollten wir heute nicht einmal zusammen hier sein.“

Ich starrte ihn an. „Warum?“

„Weil ich mir noch so viel Mühe geben kann, Nadia, ich werde nie nur einen Freund in dir sehen oder nur die Kindergärtnerin meines Sohns oder meine coole Nachbarin. Du bist Nadia, die Frau, die ich gern in meinem Bett hätte.“

„Das Problem hast nicht nur du“, murmelte ich.

„Warum?“ Er sah mich kurz an. „Du liegst doch die ganze Zeit mit dir im Bett.“

Ich lachte. „Und das ist eine unverzichtbare Erfahrung. Manchmal komme ich tagelang nicht aus meinem Schlafzimmer.“

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