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Ewiger Atem

hier erhältlich:

Die 15-jährige Flora fühlt sich ausgenutzt und will nur weg - weg aus der Drogenhölle ihrer Großeltern, weg von deren perfiden Machenschaften. Inständig bittet sie Charlie Quinn um Hilfe. Als die Anwältin die Familie ihrer Klientin zur Rede stellt, schlägt ihr ein unerwarteter Hass entgegen. Um jeden Preis will sie verhindern, dass die Jugendliche zum Opfer von Geldgier und Gewalt wird. Doch ihre Nachforschungen konfrontieren Charlie mit einer furchtbaren Wahrheit, deren Tragweite sie nur erahnen kann.

Der Short Thriller von Karin Slaughter erzählt die Vorgeschichte zu ihrem Roman "Die gute Tochter".


  • Erscheinungstag: 12.06.2017
  • Seitenanzahl: 130
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676762
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1

„Geben Sie sich einen Ruck, Miss Charlie.“ Dexter Blacks Stimme hörte sich kratzig an über das Münztelefon im Gefängnis. Er war fünfzehn Jahre älter als sie, aber das „Miss“ sollte Respekt für ihre jeweilige Stellung zum Ausdruck bringen. „Ich sag doch, ich kümmere mich um Ihre Rechnung, sobald Sie mich aus diesem Schlamassel rausholen.“

Charlie Quinn verdrehte die Augen so stark, dass ihr schwindlig wurde. Sie stand vor einem Raum voller Pfadfinderinnen der YWCA. Sie hätte den Anruf nicht annehmen sollen, aber es gab nur wenige Dinge, die noch schlimmer waren, als von einer Schar schnatternder Teenager umringt zu sein. „Dexter, genau dasselbe haben Sie auch das letzte Mal gesagt, als ich Ihnen aus der Patsche geholfen habe, und kaum waren Sie aus der Entzugsklinik spaziert, haben Sie Ihr gesamtes Geld für Lotterielose ausgegeben.“

„Ich hätt’ ja gewinnen können, und dann hätte ich Sie ausbezahlt. Nicht nur, was ich Ihnen schulde, Miss Charlie. Die Hälfte.“

„Das ist sehr großzügig, aber die Hälfte von nichts ist immer noch nichts.“ Sie wartete darauf, dass er eine weitere Ausrede vorbrachte, aber alles, was sie hörte, war die Geräuschkulisse der Vollzugsanstalt von North Georgia. Es wurde an Gitterstäben gerattert. Kraftausdrücke flogen durch die Luft. Erwachsene Männer weinten, und Wärter befahlen allen, verdammt noch mal den Mund zu halten.

„Ich verschwende mein Handy-Guthaben nicht für Ihr Schweigen“, sagte sie.

„Ich hab da was“, sagte Dexter. „Etwas, das Geld einbringt.“

„Hoffentlich nichts, das die Polizei besser nicht über ein aufgezeichnetes Gespräch aus dem Gefängnis erfahren sollte.“ Charlie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Flur war wie ein Backofen. „Dexter, Sie schulden mir fast zweitausend Dollar. Ich kann nicht umsonst als Anwältin für Sie arbeiten. Ich habe eine Hypothek abzuzahlen und ein Studiendarlehen, und ich möchte gern hin und wieder in einem netten Restaurant essen können, ohne Angst haben zu müssen, dass sie meine Kreditkarte zurückweisen.“

„Miss Charlie“, wiederholte Dexter. „Ich hab schon verstanden, dass Sie mich daran erinnern wollten, dass das Gespräch aufgezeichnet wird, aber was ich sagen will, ist: Ich habe etwas, was der Polizei ein bisschen Geld wert sein könnte.“

„Dann sollten Sie sich einen guten Anwalt besorgen, der Sie in den Verhandlungen vertritt, denn ich werde es nämlich nicht sein.“

„Warten Sie, warten Sie, nicht auflegen“, flehte Dexter. „Ich denke nur grade an das, was Sie mir damals vor Jahren gesagt haben, als wir noch ganz am Anfang standen. Wissen Sie noch?“

Wieder verdrehte Charlie die Augen, diesmal allerdings nur leicht. Dexter Black war ihr erster Mandant gewesen, als sie unmittelbar nach dem Jurastudium ihre Anwaltskanzlei eröffnet hatte.

„Sie sagten, Sie haben die tollen Jobs in der Großstadt sausen lassen, weil Sie Menschen helfen wollten.“ Er machte eine dramatische Pause. „Wollen Sie immer noch Menschen helfen, Miss Charlie?“

Sie murmelte ein paar Flüche, die die Beamten, die ihr Gespräch abhörten, sicher zu würdigen wussten.

„Carter Grail“, sagte sie. Es war der Name eines anderen Anwalts.

„Dieser alte Säufer?“ Für einen Mann in einem orangefarbenen Gefängnisoverall klang Dexter wählerisch. „Bitte, Miss Charlie, können Sie …“

„Unterschreiben Sie nichts, was Sie nicht verstehen.“ Charlie klappte ihr Handy zu und ließ es in ihre Handtasche gleiten. Eine Gruppe von Frauen in Radlerhosen kam vorbei. Am späten Morgen bestand das Publikum des YWCA aus Rentnern und jungen Müttern. Sie hörte das Wummern eines schweren Basses aus einem Kursraum. Aus dem Hallenbad roch es nach Chlor. Durch die doppelt verglasten Tennishallen drang das Ploppen der geschlagenen Bälle.

Charlie lehnte sich an die Wand und ging Dexters Anruf in Gedanken noch einmal durch. Er saß wieder einmal im Gefängnis. Wieder wegen Meth. Wahrscheinlich glaubte er, einen anderen Meth-Süchtigen oder einen Dealer verpfeifen zu können, um die Anklage auf diese Weise verschwinden zu lassen. Ohne einen Anwalt, der den Deal der Bezirksstaatsanwaltschaft prüfte, würde er besser dran sein, wenn er die Arschbacken zusammenkniff und noch ein paar Lotterielose kaufte.

Er tat ihr leid, aber nicht so leid wie die Aussicht, die Raten für ihren Wagen nicht bezahlen zu können.

Die Tür des Aufenthaltsraums ging auf. Belinda Foster schaute panisch drein. Sie war achtundzwanzig, genauso alt wie Charlie, aber mit einem Kleinkind zu Hause, einem zweiten Baby, das unterwegs war, und einem Mann, von dem sie sprach, als wäre er ein weiteres anstrengendes Kind. Die Organisation des Berufsorientierungstags für die Pfadfinderinnen zu übernehmen war nicht der dümmste Fehler, den Belinda in diesem Sommer gemacht hatte, aber er rangierte unter den Top Drei.

„Charlie!“ Belinda zerrte an dem dreifach gefalteten Tuch um ihrem Hals. „Wenn du nicht sofort wieder hier reinkommst, stürze ich mich vom Dach.“

„Du würdest dir nur den Hals brechen.“

Belinda hielt die Tür auf und wartete.

Charlie quetschte sich an dem sehr schwangeren Bauch ihrer Freundin vorbei. In dem Raum hatte sich nichts verändert, seit das Läuten ihres Handys ihr eine kleine Pause verschafft hatte. Zwanzig kichernde Pfadfinderinnen im Alter zwischen fünfzehn und achtzehn verbrauchten den gesamten Sauerstoff. Charlie hatte Mühe, bei ihrem Anblick ihrer frischen Gesichter ein Schaudern zu unterdrücken. Sie hatte den meisten Mädchen gerade mal gut zehn Jahre voraus, aber jedes einzelne von ihnen kam ihr irgendwie bekannt vor.

Die Mathe-Nerds. Die künftigen Englisch-Studentinnen. Die Cheerleader. Die Bonzenkinder. Die Gruftis. Die Deppen. Die Freaks. Die Geeks. Sie lächelten sich alle auf dieselbe Weise an, zogen nur leicht die Mundwinkel hoch, und jederzeit konnte eine von ihnen dich ins Messer laufen lassen: weil dein Haarschnitt womöglich bescheuert aussieht, du vielleicht den falschen Lack auf den Fingernägeln trägst, die falschen Schuhe, die falschen Leggins, ein falsches Wort sagst, und plötzlich bist du raus.

Charlie erinnerte sich noch gut daran, wie es sich angefühlt hatte, im Fegefeuer der Ausgrenzung zu verglühen. Es gab nichts Quälenderes, nichts Einsameres, als wenn dich eine schnatternde Schar Teenager in der Kälte stehen lässt.

„Kuchen?“ Belinda bot ihr ein hauchdünnes Stück Blechkuchen an.

„Hm“ war alles, was Charlie herausbrachte. Ihr war ein bisschen flau im Magen. Sie konnte nicht aufhören, ihren Blick durch den karg möblierten Raum schweifen zu lassen. Die Mädchen waren alle auf eine Weise jung, schlank und schön, die Charlie nicht so recht schätzen konnte, solange sie sich unter ihnen aufhielt. Kurze Miniröcke, eng sitzende T-Shirts und Blusen, die einen Knopf zu weit geöffnet waren. Sie wirkten so erschreckend selbstsicher. Sie strichen ihre langen, blondierten Haare über die Schulter zurück, wenn sie lachten. Sie kniffen die fachkundig geschminkten Augen zusammen, wenn sie einer Geschichte lauschten. Schief sitzende Schärpen. Offen stehende Westen. Manche dieser Mädchen verstießen massiv gegen den Dresscode der Pfadfinderinnen.

„Ich weiß gar nicht mehr, worüber wir gesprochen haben, als wir in ihrem Alter waren“, sagte Charlie.

„Darüber, dass die Culpepper-Mädels allesamt Miststücke sind.“

Charlie zuckte beim Namen ihrer Quälgeister zusammen. Sie nahm den Teller von Belinda entgegen, aber nur, damit ihre Hände etwas zu tun hatten. „Warum stellt mir keine von ihnen eine Frage?“

„Wir haben auch keine Fragen gestellt“, sagte Belinda, und Charlie bedauerte augenblicklich, dass sie all die Karrierefrauen ignoriert hatte, die bei ihren Pfadfindertreffen gesprochen hatten. Sie waren ihr alle so alt vorgekommen. Charlie war nicht alt. Sie hatte immer noch ihre Schärpe voller Abzeichen irgendwo zu Hause in einem Schrank. Sie war eine ausgezeichnete Anwältin. Sie war mit einem anbetungswürdigen Typ verheiratet. Sie war in absoluter Bestform. Diese Mädchen müssten sie fantastisch finden. Sie müssten sie überhäufen mit Fragen danach, wie sie nur so cool werden konnte, statt in ihren kleinen Cliquen zu kichern und wahrscheinlich zu besprechen, wie viel Schweineblut sie in den Eimer geben sollten, den sie ihr über den Kopf schütten würden.

„Unglaublich, wie viel Make-up sie tragen“, sagte Belinda. „Meine Mutter hat mir fast die Augen aus dem Gesicht geschrubbt, wenn ich nur versucht habe, mich mit Wimperntusche aus dem Haus zu schleichen.“

Charlies Mutter war ermordet worden, als Charlie dreizehn war, aber sie erinnerte sich an so manche Standpauke von Lenore, der Sekretärin ihres Vaters, über die gefährliche Botschaft, die eine zu eng sitzende Jeans aussandte.

Nicht dass es etwas genützt hatte.

„So werde ich Layla nicht erziehen“, sagte Belinda. Sie meinte ihre dreijährige Tochter, die sich trotz der lebenslangen Liebe ihrer Mutter zu Beer Pong, Tequila-Runden und arbeitslosen Motorradfahrern zu einem aufmerksamen, engelsgleichen Kind entwickelt hatte. „Diese Mädchen sind süß, aber sie haben kein Schamgefühl. Sie denken, alles, was sie tun, ist in Ordnung. Und von Sex will ich gar nicht erst anfangen. Was die in den Gruppentreffen so von sich geben …“ Sie schnaubte und ließ den besten Teil aus. „Wir waren nicht so.“

Charlie hatte das glatte Gegenteil erlebt, vor allem, wenn eine Harley im Spiel war. „Ich würde sagen, der Sinn von Feminismus besteht darin, dass sie Wahlmöglichkeiten haben, und nicht, dass sie genau das tun, was wir für richtig halten.“

„Das mag ja sein, aber wir haben trotzdem recht, und sie liegen falsch.“

„Jetzt klingst du aber wirklich wie eine Mutter.“ Charlie stocherte mit ihrer Gabel ein Stück Schokoladenglasur von dem Kuchen. Sie lag wie Kleber auf ihrer Zunge. Sie gab Belinda den Teller zurück. „Ich hatte schreckliche Angst, meine Mom zu enttäuschen.“

Belinda aß den Kuchen auf. „Ich hatte schreckliche Angst vor deiner Mom. Punkt.“

Charlie lächelte, dann legte sie die Hand auf ihren Magen, als die Glasur wie Treibholz in einem Tsunami darin herumgeworfen wurde.

„Alles in Ordnung?“, fragte Belinda.

Charlie hob die Hand. Die Übelkeit kam so plötzlich über sie, dass sie nicht einmal mehr fragen konnte, wo die Toilette war.

Belinda kannte den Blick. „Es ist den Flur entlang auf der …“

Charlie stürzte aus dem Raum. Sie presste die Hand auf den Mund und probierte Türen aus. Ein Schrank. Noch ein Schrank.

Eine blendend aussehende Pfadfinderin kam aus der letzten Tür, die sie versuchte.

„Oh“, sagte der Teenager, riss die Hände in die Höhe und wich zur Seite.

Charlie stürzte in die Kabine und entleerte ihren Mageninhalt in die Toilette. Es kam mit solcher Gewalt, dass ihr Tränen aus den Augen kullerten. Sie hielt sich mit beiden Händen am Rand der Kloschüssel fest. Sie hoffte, dass niemand das hilflose Würgen hörte.

Aber jemand hörte es.

„Ma’am?“, fragte der Teenager, was irgendwie alles noch schlimmer machte, denn Charlie war entschieden zu jung, um mit Ma’am angesprochen zu werden. „Alles in Ordnung, Ma’am?“

„Ja, danke.“

„Sicher?“

„Ja, danke. Du kannst gehen.“ Charlie biss sich auf die Lippe, damit sie das hilfsbereite kleine Geschöpf nicht anschnauzte wie einen Hund. Sie suchte nach ihrer Handtasche. Sie lag außerhalb der Kabine. Ihre Brieftasche war herausgefallen, ihre Schlüssel, ein Päckchen Kaugummi, Kleingeld. Der Gurt schlängelte sich wie ein Schwanz über den schmierig aussehenden Fliesenboden. Sie wollte danach greifen, gab es aber auf, als sich ihr Magen krampfartig zusammenzog. Alles, was sie tun konnte, war, auf dem schmutzigen Toilettenboden zu sitzen, ihr Haar im Nacken zusammenzuhalten und zu beten, dass ihre Probleme sich auf ihren Magen beschränkten.

„Ma’am?“, wiederholte das Mädchen.

Charlie hätte ihr liebend gern geantwortet, dass sie verdammt noch mal verschwinden sollte, aber sie konnte es nicht riskieren, den Mund zu öffnen. Mit geschlossenen Augen wartete sie, horchte auf die Stille und hoffte inständig, dass das Mädchen endlich verschwinden würde.

Stattdessen wurde der Wasserhahn aufgedreht. Der Strahl ergoss sich in das Waschbecken. Papierhandtücher wurden aus dem Spender gezogen.

Charlie öffnete die Augen, drückte die Toilettenspülung. Wieso um alles in der Welt war ihr übel?

An dem Kuchen konnte es nicht liegen. Charlie hatte zwar eine Laktoseintoleranz, aber Belinda machte nie etwas selbst, und Glasur aus der Dose bestand zu neunundneunzig Prozent aus Chemikalien und führte normalerweise zu keiner Reaktion. War das Happy Chicken von General Ho schuld, das sie gestern Abend gegessen hatte? Die Frühlingsrolle, die sie vor dem Schlafengehen noch aus dem Kühlschrank stibitzt hatte? Das Frühstücksfleisch, das sie heute Morgen vor ihrem Joggen verdrückt hatte? Das Frühstücks-Burrito, das sie sich auf dem Weg zur YWCA bei Taco Bell geholt hatte?

Himmel, sie aß wie ein sechzehnjähriger Junge.

Der Wasserhahn wurde abgestellt.

Charlie hätte wenigstens die Tür der Kabine öffnen sollen, aber nach einer raschen Bestandsaufnahme änderte sie ihre Meinung. Ihr dunkelblauer Rock war hochgeschoben, die Strumpfhose zerrissen. Auf ihrer weißen Seidenbluse waren Spritzer, die wahrscheinlich nie mehr rausgingen. Und am schlimmsten: Sie hatte sich die Spitze eines ihrer neuen Schuhe abgestoßen, marineblaue High Heels, die sie zusammen mit Lenore für den Gerichtssaal ausgesucht hatte.

„Ma’am?“, sagte der Teenager und streckte ein nasses Papierhandtuch unter der Kabinentür hindurch.

„Danke“, brachte Charlie heraus. Sie drückte das kühle Tuch in ihren Nacken und schloss die Augen wieder. War es ein Magen-Darm-Virus?

„Ma’am, ich kann Ihnen etwas zu trinken holen“, bot das Mädchen an.

Charlie hätte sich beim Gedanken an Belindas nach Hustensaft schmeckendem Punsch fast wieder übergeben. Wenn das Mädchen schon nicht ging, konnte es sich wenigstens nützlich machen. „In meiner Geldbörse ist Kleingeld. Würde es dir etwas ausmachen, mir ein Ginger Ale aus dem Automaten zu holen?“

Das Mädchen kniete sich auf den Boden. Charlie sah die vertraute, kakifarbene Schärpe mit den vielen aufgenähten Abzeichen darauf. Kundentreue. Geschäftsplanung. Marketing. Finanzwissen. Spitzenverkäuferin. Die Kleine verstand sich offenbar auf den Absatz ihrer Kekse.

„Die Scheine sind im Seitenfach“, sagte Charlie.

Das Mädchen öffnete die Brieftasche. Charlies Führerschein steckte in einer durchsichtigen Plastikhülle. „Ich dachte, Sie heißen Quinn mit Nachnamen?“

„Das stimmt, was den Job angeht. Das hier ist mein Ehename.“

„Wie lange sind Sie schon verheiratet?“

„Viereinhalb Jahre.“

„Meine Oma sagt, es dauert fünf Jahre, bis man sie hasst.“

Charlie konnte sich nicht vorstellen, ihren Mann jemals zu hassen. Sie konnte sich außerdem nicht vorstellen, diese Unterhaltung unter der Kabinentür hindurch fortzusetzen. Es kribbelte sie schon wieder in der Kehle, als müsste sie gleich erneut kotzen.

„Ihr Dad ist Rusty Quinn“, sagte das Mädchen, was bedeutete, dass sie seit mehr als zehn Minuten in der Stadt wohnte. Charlies Vater hatte wegen der Klienten, die er verteidigte, seinen Ruf weg in Pikeville – Ladendiebe, Drogenhändler, Mörder und andere Verbrecher. Wie die Stadtbewohner zu Rusty standen, hing meistens davon ab, ob sie selbst oder ihre Angehörigen seine Dienste nötig hatten oder nicht.

„Ich habe gehört, er hilft Leuten“, sagte das Mädchen.

„Das stimmt.“ Es gefiel Charlie nicht, wie in den Worten des Teenagers nachhallte, woran Dexter Black sie vorhin erinnert hatte – dass sie Jobs mit einem sechsstelligen Einkommen in der City ausgeschlagen hatte, um für Menschen zu arbeiten, die sie wirklich brauchten. Wenn es eine Leitlinie in Charlies Leben gab, dann die, nicht so zu werden wie ihr Vater.

„Ich wette, er ist teuer.“ Dann fragte das Mädchen: „Sind Sie teuer? Ich meine, wenn Sie Leuten helfen?“

Charlie legte die Hand wieder auf den Mund. Wie konnte sie diesen Teenager dazu bringen, ihr bitte ein Ginger Ale zu bringen, ohne ausfällig zu werden?

„Mir hat Ihr Vortrag gefallen“, sagte das Mädchen. „Meine Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich klein war.“

Charlie wartete darauf, dass die Kleine den Zusammenhang erklärte, aber sie tat es nicht. Sie fischte einen Dollarschein aus Charlies Brieftasche und ging gottlob endlich.

In der nachfolgenden Stille blieb Charlie nichts anderes zu tun, als zu versuchen, aufzustehen. Sie war zum Glück in der Behindertenkabine gelandet. Sie packte die Metallgriffe und zog sich hoch, bis sie auf wackligen Beinen stand. Sie spuckte ein paarmal in die Schüssel, ehe sie noch einmal spülte. Als sie die Kabinentür öffnete, blickte ihr eine blasse, krank aussehende Frau in einer Hundertzwanzig-Dollar-Bluse voller Kotzflecken aus dem Spiegel entgegen. Ihr dunkles Haar sah zerzaust aus. Ihre Lippen waren bläulich verfärbt.

Charlie raffte ihr Haar zusammen und hielt es als Pferdeschwanz fest. Sie ging zum Waschbecken und schlürfte Wasser. Als sie ausspuckte, fiel ihr Blick wieder auf ihr Spiegelbild.

Die Augen ihrer Mutter blickten ihr entgegen. Die hochgezogenen Brauen ihrer Mutter.

Was geht in deinem Kopf vor, Charlie?

Charlie hatte diese Frage mindestens drei- oder viermal in der Woche gehört, als ihre Mutter noch lebte. Sie saß immer in der Küche und machte ihre Hausaufgaben – oder in ihrem Zimmer auf dem Boden, wenn sie mit einer Bastelei beschäftigt war, und ihre Mutter saß ihr gegenüber und stellte die Frage, die sie immer stellte.

Was geht in deinem Kopf vor?

Die Frage diente nicht dazu, ein Gespräch in Gang zu bringen. Ihre Mutter war Wissenschaftlerin, eine Gelehrte. Für belangloses Geplauder war sie nie zu haben gewesen. Sie war ernsthaft neugierig auf die Gedanken, die ihrer dreizehnjährigen Tochter durch den Kopf gingen.

Bis Charlie ihren Mann kennenlernte, hatte nie wieder jemand ein so aufrichtiges Interesse an ihr zum Ausdruck gebracht.

Die Tür ging auf. Das Mädchen war mit einem Ginger Ale zurück. Sie war hübsch, wenngleich nicht auf eine konventionelle Art. Sie schien nicht zu ihren perfekt gestylten Altersgenossinnen zu passen. Ihr dunkles Haar war lang und glatt, mit einer silbernen Klammer seitlich zurückgesteckt. Sie sah jung aus, wahrscheinlich fünfzehn, aber in ihrem Gesicht war kein Make-up. Ihr knallgrünes Girl-Scout-T-Shirt steckte in der ausgewaschenen Jeans, was Charlie unfair fand, denn zu ihrer Zeit hatten sie kratzige weiße Blusen mit Knöpfen und Kaki-Shorts mit Kniestrümpfen tragen müssen.

Charlie wusste nicht, was sich schlimmer anfühlte: dass sie sich übergeben hatte oder dass sie gerade den Ausdruck „zu ihrer Zeit“ gebraucht hatte.

„Ich lege das Wechselgeld in Ihr Portemonnaie“, sagte das Mädchen.

„Danke.“ Charlie trank von dem Ginger Ale, während das Mädchen den Inhalt ihrer Handtasche wieder ordentlich einräumte.

„Diese Flecken auf ihrer Bluse lassen sich mit einer Mischung aus einem Esslöffel Ammoniak, einem Viertelliter warmem Wasser und einem halben Teelöffel Waschmittel entfernen. Weichen Sie die Bluse in einer Schüssel ein.“

„Danke noch mal.“ Charlie war sich nicht sicher, ob sie ein Teil ihrer Garderobe in Ammoniak einweichen wollte, aber nach den Abzeichen an seiner Schärpe zu schließen, wusste das Mädchen, wovon es sprach. „Wie lange bist du schon bei den Pfadfinderinnen?“

„Ich habe als Brownie angefangen. Meine Mom hat mich angemeldet. Ich fand es uncool, aber man lernt eine Menge, zum Beispiel betriebswirtschaftliche Fertigkeiten.“

„Mich hat auch meine Mom angemeldet.“ Charlie hatte es nie uncool gefunden. Sie hatte die Projekte und Zeltlager geliebt, und vor allem hatte sie es geliebt, die Kekse zu essen, die sie ihre Eltern zu kaufen zwang. „Wie heißt du?“

„Flora Faulkner“, sagte sie. „Meine Mom hat mich Florabama getauft, weil ich auf der Staatsgrenze zur Welt gekommen bin, aber alle nennen mich Flora.“

Charlie lächelte, allerdings nur weil sie wusste, dass sie später mit ihrem Mann darüber lachen würde. „Es hätte dich schlimmer treffen können.“

Flora senkte den Blick. „Viele von den Mädchen sind ziemlich gut darin, sich gemeine Dinge auszudenken.“

Das war eindeutig ein Gesprächsöffner, aber Charlie wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Sie durchforstete ihren Wissensschatz nach Teenagerproblemen. Doch ihr fiel nur dieser Film ein, in dem Ted Danson mit Glenn Close verheiratet ist, und sie findet heraus, dass er ihre Teenager-Tochter sexuell missbraucht, aber sie zeigt ihm im Bett die kalte Schulter, also war es wahrscheinlich ihre Schuld, und so gehen sie alle zur Therapie und lernen, damit zu leben.

„Miss Quinn?“ Flora stellte Charlies Handtasche auf die Ablage neben dem Waschbecken. „Soll ich Ihnen ein paar Cracker holen?“

„Nein, es geht mir gut.“ Erstaunlicherweise ging es Charlie tatsächlich gut. Was immer den Aufruhr in ihrem Magen verursacht hatte, es war vorbei. „Lass mir doch noch eine Minute Zeit, damit ich mich säubern kann, dann komme ich zu euch in den Gruppenraum zurück.“

„Okay“, sagte Flora, aber sie ging nicht.

„Ist noch etwas?“

„Ich dachte nur …“ Sie sah in den Spiegel über dem Waschbecken, dann senkte sie den Blick wieder zum Boden. Das Mädchen hatte etwas Zerbrechliches, das Charlie zuvor nicht aufgefallen war. Als Flora wieder aufblickte, weinte sie. „Können Sie mir helfen? Als Anwältin, meine ich?“

Die Bitte überraschte Charlie. Das Mädchen wirkte kein bisschen wie ihre normalen jugendlichen Übeltäter, die man etwa dabei erwischt hatte, wie sie hinter der Schule Gras verkauften. In ihrem Kopf tauchten all die netten Probleme weißer Mädchen auf: schwanger, Geschlechtskrankheit, Kleptomanie, schlechte Punktzahl beim College-Aufnahmetest. Statt zu raten, fragte sie: „Was ist los?“

„Ich habe nicht viel Geld, zumindest jetzt noch nicht, aber …“

„Mach dir darüber erst mal keine Sorgen. Sag mir einfach, was du brauchst.“

„Ich möchte für mündig erklärt werden.“

Charlies Mund formte ein überraschtes O.

„Ich bin fünfzehn, aber nächsten Monat werde ich sechzehn, und ich habe es in der Bibliothek nachgeschlagen. Ich weiß, das ist das gesetzliche Mindestalter in Georgia, um für mündig erklärt zu werden.“

„Wenn du es nachgeschlagen hast, dann kennst du die Kriterien.“

„Ich muss verheiratet sein oder im aktiven Militärdienst. Oder ich muss vor Gericht beantragen, für mündig erklärt zu werden.“

Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. „Lebst du bei deinem Vater?“

„Bei meinen Großeltern. Mein Vater ist tot. Er hat sich im Gefängnis eine Überdosis gespritzt.“

Charlie nickte, denn sie wusste, dass das häufiger geschah, als die Behörden einräumen wollten. „Gibt es sonst noch jemanden in deiner Familie, der dich aufnehmen könnte?“

„Nein, es sind nur noch wir drei übrig. Ich liebe Paw und Meemaw, aber sie sind …“ Flora tat das, worauf es ankam, mit einem Achselzucken ab.

„Tun sie dir weh?“, fragte Charlie.

„Nein, Ma’am, niemals. Sie sind …“ Wieder das Achselzucken. „Ich glaube, sie mögen mich nicht sehr.“

„Dieses Gefühl haben viele Jugendliche in deinem Alter.“

„Sie sind keine starken Menschen“, sagte sie. „Was ihren Charakter angeht.“

Charlie lehnte sich an den Waschtisch. Sie hatte Kindesmissbrauch bei ihrer Liste möglicher Teenagerprobleme ausgelassen. „Flora, ein Antrag auf vorzeitige Mündigkeit ist ein schwerwiegendes Ersuchen. Wenn ich dir helfen soll, brauche ich Einzelheiten.“

„Haben Sie schon mal einem Jugendlichen bei so etwas geholfen?“

Charlie schüttelte den Kopf. „Nein. Falls dir also wohler wäre, wenn …“

„Nein, schon gut“, sagte Flora. „Ich war nur neugierig. Ich glaube nicht, dass es sehr oft vorkommt.“

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