×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Attentäterin«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Attentäterin« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Attentäterin

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Ein verheerender Bombenanschlag des IS im Pariser Marais-Viertel zwingt Gabriel Allon ein letztes Mal ins Feld: Anstatt seinen Posten als Chef des israelischen Geheimdienstes anzutreten, hilft der legendäre Agent den französischen Behörden, den Drahtzieher des blutigen Terroraktes zu suchen. Außer dessen Namen - Saladin - weiß man nichts über ihn. Allon sieht die einzige Möglichkeit an ihn heranzukommen darin, jemanden in das Terrornetzwerk des IS einzuschleusen. Eine junge Ärztin scheint die perfekte Rekrutin für das gefährliche Unterfangen zu sein …

"‚Die Attentäterin‘ zeigt Daniel Silva in gewohnter Form. 80 kurze Kapitel voll überraschender Wendungen und rasanter Action bieten spannende Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite." dpa

"Realistischer und aktueller geht es nicht." Landeszeitung für die Lüneburger Heide

"Routiniert entwickelt der Bestsellerautor realistische Figuren, deren radikale Denkmuster er glaubhaft wie hautnah vermitteln kann, und steigert die Spannung bis zum dramatischen Finale. Da bleibt nur zu hoffen, dass seine fiktionale Terrorszenarien niemals Realität werden und verdammt gute Unterhaltungsliteratur bleiben." Kulturnews

"Mich hat sowohl das Personal überzeugt als auch die Handlung. Alle Figuren sind für mich stimmig, sie interagieren überzeugend und haben mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Genauso die Handlung, die zwar mutig ist, aber ich kann mir trotzdem vorstellen, dass sie (fast) genau so real passieren kann." Krimimimi

"Von den tatsächlichen Ereignissen beim Schreiben überholt, zeigt der US-Amerikaner einmal mehr, wie nahe er in seinen Büchern der Wirklichkeit kommt. Packend spiegelt ‚Die Attentäterin‘ die komplexen Welten von Geheimdiensten, Spionen und einem global agierenden Terrornetzwerk wider und zeichnet sich dabei neben fundierter Recherche durch facettenreiche Figuren aus, die die Motive aller Charaktere nachvollziehbar machen." Krimi-Tipp

"Personen, Dialoge und Handlungen wirken komplett authentisch - und das ist man von Daniel Silva so gewohnt. Auf manchen Büchern steht nur Thriller drauf - hier ist Spannung auch wirklich drin." Krimi-Couch.de

"Daniel Silva bestätigt seinen Ruf als einer der führenden Autoren von Agententhrillern. Die Seiten blättern sich, wie von selbst." - New York Journal of Books

"Ein literarisches Pulverfass” - The Huffington Post


  • Erscheinungstag: 09.10.2017
  • Aus der Serie: Gabriel Allon
  • Bandnummer: 16
  • Seitenanzahl: 544
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676564
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Stephen L. Carter, für Freundschaft und Vertrauen.

Und wie immer für meine Frau Jamie
und meine Kinder Nicholas und Lily

Die schwarzen Fahnen werden aus Osten kommen, geführt von mächtigen Männern mit langen Haaren und Bärten, die sich nach ihren Heimatstädten nennen.

AUS DEN HADITHEN

Gib mir ein Mädchen im formbaren Alter, dann ist es lebenslänglich mein.

Muriel Spark, DIE LEHRERIN

VORWORT

Mit der Arbeit an diesem Roman habe ich begonnen, bevor die als „Islamischer Staat“ bekannte islamische Terrormiliz in Paris und Brüssel eine Welle von Schießereien und Bombenanschlägen verübte, die über 160 Todesopfer forderte. Nachdem ich kurz überlegt hatte, ob ich das Manuskript beiseitelegen sollte, entschied ich mich dafür, es wie ursprünglich geplant abzuschließen, als hätten sich diese tragischen Ereignisse in der imaginären Welt, in der meine Gestalten leben und arbeiten, noch nicht ereignet. Die Ähnlichkeiten zwischen den realen und den fiktiven Anschlägen, auch die Verbindungen zu dem Brüsseler Stadtteil Molenbeek, sind reiner Zufall. Ich bin nicht stolz auf meine Vorahnung. Ich wünschte mir nur, der mörderische, fanatische Terrorismus des Islamischen Staats lebte einzig und allein auf den Seiten dieses Romans.

TEIL EINS

RUE DES ROSIERS

1

LE MARAIS, PARIS

Es war Toulouse, das sich als Hannah Weinbergs Verderben erweisen sollte. An jenem Abend telefonierte sie mit Alain Lambert, ihrem Verbindungsmann im Innenministerium, und erklärte ihm, diesmal müsse unbedingt etwas getan werden. Alain versprach eine rasche Reaktion. Sie würde entschlossen ausfallen, versicherte er Hannah, wobei „entschlossen“ die Standardformel eines Funktionärs war, der in Wirklichkeit nichts zu tun beabsichtigte. Am Morgen danach besuchte der Minister den Ort des Überfalls und rief mit vagen Worten zu „Dialog und Aussöhnung“ auf. Den Eltern der drei Opfer sprach er lediglich sein Bedauern aus. „Wir wollen besser werden“, sagte er vor seiner Rückkehr nach Paris. „Das müssen wir.“

Sie waren zwölf Jahre alt, die Opfer, zwei Jungen und ein Mädchen, alle drei Juden, obwohl die französischen Medien es in den ersten Berichten versäumten, ihre Konfession zu erwähnen. Sie machten sich auch nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass die sechs Angreifer Muslime waren, sondern bezeichneten sie nur als Jugendliche aus einer Banlieue im Osten der Stadt. Die Schilderung des Überfalls war vage bis zur Ungenauigkeit. Wie der französische Rundfunk meldete, sei es vor einer Patisserie zu einer Auseinandersetzung gekommen. Dabei seien drei Personen verletzt worden, eine davon schwer. Die Polizei habe Ermittlungen aufgenommen. Festnahmen habe es keine gegeben.

Tatsächlich war dies keine Auseinandersetzung, sondern ein sorgfältig geplanter Überfall gewesen. Und die Angreifer waren keine Jugendlichen, sondern junge Männer Anfang zwanzig, die auf der Suche nach Juden, denen sie etwas antun konnten, in die Innenstadt von Toulouse gekommen waren. Dass ihre Opfer Kinder waren, schien sie nicht zu stören. Die beiden Jungen wurden mit Füßen getreten, bespuckt und anschließend blutig geschlagen. Das Mädchen drückten sie aufs Pflaster und zerschnitten ihm das Gesicht mit einem Messer. Bevor die Angreifer flüchteten, wandten sie sich an eine Gruppe wie gelähmt dastehender Augenzeugen und riefen: „Chaibar, Chaibar, ja-Jahud!“ Obwohl die Zuschauer das nicht wussten, bezog der arabische Ruf sich auf die muslimische Eroberung einer jüdischen Oase nördlich der heiligen Stadt Medina im siebten Jahrhundert. Die Botschaft war eindeutig. Die Heerscharen Mohammeds, riefen die sechs jungen Männer, zögen in den Krieg gegen die französischen Juden.

Bedauerlicherweise ereignete der Überfall in Toulouse sich nicht ohne Präzedenzfälle oder reichliche Vorwarnung. Frankreich erlebte gegenwärtig die schlimmsten Ausschreitungen gegen Juden seit dem Holocaust. Auf Synagogen waren Brandanschläge verübt, Grabsteine waren umgeworfen, Läden geplündert, Häuser verwüstet und mit Hassparolen besprüht worden. Allein im Vorjahr hatte es insgesamt über viertausend dokumentierte Anschläge gegeben, die Hannah und ihr Team im Isaac-Weinberg-Zentrum für das Studium des Antisemitismus in Frankreich sorgfältig aufgezeichnet und analysiert hatten.

Das nach Hannahs Großvater benannte Zentrum war vor zehn Jahren unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen eröffnet worden. Gegenwärtig war es die angesehenste französische Einrichtung dieser Art, und Hannah Weinberg galt als bedeutendste Chronistin der neuen antisemitischen Welle in Frankreich. Für ihre Unterstützer war sie eine „militante Mahnerin“, eine Frau, die vor nichts haltmachte, wenn es darum ging, Frankreich anzutreiben, seine belagerte jüdische Minderheit zu schützen. Ihre Kritiker drückten sich weit weniger wohlwollend aus. Deshalb hatte Hannah längst aufgehört, alles zu lesen, was in der Presse oder den Kloaken des Internets über sie geschrieben wurde.

Das Weinberg-Zentrum stand in der Rue des Rosiers, der prominentesten Straße im bekanntesten jüdischen Viertel von Paris. Hannahs Wohnung lag gleich um die Ecke in der Rue Pavée. Auf dem Namensschild neben ihrem Klingelknopf stand MME. BERTRAND, eine der wenigen Sicherheitsvorkehrungen, die sie zu ihrem Schutz ergriff. Von den Besitztümern dreier Generationen ihrer Familie umgeben, zu denen eine bescheidene Gemäldesammlung und mehrere Hundert antiker Brillen – ihre geheime Leidenschaft – gehörten, lebte sie dort allein. Mit fünfundfünfzig Jahren war sie ledig und kinderlos. Wenn die Arbeit es zuließ, gestattete sie sich manchmal einen Liebhaber. Alain Lambert, ihr Verbindungsmann im Innenministerium, war einmal eine angenehme Ablenkung in einer schlimmen Zeit gewesen, in der sich antisemitische Vorfälle gehäuft hatten. Nach dem Besuch seines Ministers in Toulouse rief er Hannah spätabends zu Hause an.

„So viel zu seiner Entschlossenheit“, sagte sie sarkastisch. „Er sollte sich schämen!“

„Wir haben unser Bestes getan.“

„Euer Bestes ist nicht gut genug.“

„Es ist besser, in solchen Zeiten kein Öl ins Feuer zu gießen.“

„Das haben die Leute im Sommer neunzehnhundertzweiundvierzig auch gesagt.“

„Wir wollen nicht allzu emotional werden.“

„Du lässt mir keine andere Wahl, als eine Stellungnahme zu veröffentlichen, Alain.“

„Wähle deine Worte sorgfältig. Wir sind die Einzigen, die zwischen ihnen und euch stehen.“

Hannah legte auf. Dann zog sie die oberste Schublade ihres Schreibtischs auf und nahm einen einzelnen Schlüssel heraus. Damit ließ sich eine Tür am Ende des Flurs aufsperren. Dahinter lag ein Kinderzimmer, Hannahs Zimmer, wie in der Zeit erstarrt. Ein Himmelbett mit einem Himmel aus weißer Spitze. Regale voller Plüschtiere und Spielsachen. Ein verblasstes Foto eines US-Filmstars und Mädchenschwarms. Und über der provenzalischen Kommode hing – im Halbdunkel fast unsichtbar – ein Gemälde von Vincent van Gogh. Marguerite Gachet an ihrem Toilettentisch … Hannah ließ ihre Fingerspitze über die Pinselstriche gleiten und dachte an den Mann, der das Bild zum ersten und einzigen Mal restauriert hatte. Wie hätte er auf ihre Herausforderungen reagiert? Nein, sagte sie sich lächelnd. Das wäre keine Option.

Sie streckte sich auf ihrem Kinderbett aus und verfiel zu ihrer großen Überraschung in traumlosen Schlaf. Und als sie aufwachte, war ihr Plan fertig.

Den größten Teil der folgenden Woche verbrachten Hannah und ihr Team damit, unter strengster operativer Geheimhaltung zu arbeiten. Potenzielle Teilnehmer wurden dezent angesprochen, Zögernde unter Druck gesetzt, Geldgeber angezapft. Zwei von Hannahs verlässlichsten Großspendern verweigerten sich, weil sie wie der Innenminister glaubten, man solle jetzt lieber kein Öl ins Feuer gießen. Um ihren Ausfall zu kompensieren, musste Hannah aus ihrem beträchtlichen Privatvermögen Geld zuschießen. Auch das war wieder Wasser auf die Mühlen ihrer Gegner.

Zuletzt stellte sich die weniger bedeutende Frage, wie Hannahs Unternehmen heißen sollte. Rachel Lévy, die PR-Chefin des Zentrums, plädierte für Farblosigkeit mit einem Schuss Verschleierung, aber Hannah überstimmte sie. Wenn Synagogen brannten, sagte sie, sei Vorsicht ein Luxus, den sie sich nicht leisten könnten. Hannah wollte Alarm schlagen, mit einem Hornsignal zum Kampf aufrufen. Sie kritzelte ein paar Wörter auf einen Notizzettel, den sie auf Rachels übervollen Schreibtisch legte.

„Das müsste medienwirksam genug sein.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte noch kein wichtiger Gast sein Kommen angekündigt – bis auf einen nervenden amerikanischen Blogger und Kommentator im Kabelfernsehen, der eine Einladung zu seiner eigenen Beerdigung angenommen hätte. Aber dann erklärte Arthur Goldman, der berühmte Antisemitismusforscher aus Cambridge, sich bereit, nach Paris zu kommen – natürlich unter der Voraussetzung, dass Hannah ihn für zwei Nächte in seiner Lieblingssuite im Crillon unterbrachte. Mit Goldmans Zusage angelte Hannah sich Maxwell Strauss aus Yale, der keine Gelegenheit ausließ, mit seinem Konkurrenten auf demselben Podium zu sitzen. Die restlichen Teilnehmer fanden sich rasch. Der Direktor des amerikanischen Holocaust-Memorial-Museums sagte ebenso zu wie zwei wichtige Überlebende und ein Experte für den französischen Holocaust aus der Gedenkstätte Jad Waschem. Dazu kamen eine Autorin – mehr wegen ihrer ungeheuren Beliebtheit als ihres Geschichtswissens – und ein weit rechts stehender Politiker, der selten ein freundliches Wort für irgendjemanden hatte. Mehrere muslimische geistliche und politische Würdenträger wurden eingeladen. Alle sagten jedoch ab. Das tat auch der Innenminister. Darüber wurde Hannah von Alain Lambert persönlich informiert.

„Hast du wirklich geglaubt, er würde an einer Konferenz mit einem so provokanten Namen teilnehmen?“

„Gott bewahre, dass dein Minister jemals etwas Provokantes täte, Alain.“

„Was ist mit Sicherheitsmaßnahmen?“

„Wir haben immer auf uns selbst aufgepasst.“

„Keine Israelis, Hannah. Das würde die Sache in ein schiefes Licht rücken.“

Am folgenden Tag gab Rachel Lévy die Pressemitteilung heraus. Die Medien wurden zur Berichterstattung über die Konferenz eingeladen; eine begrenzte Anzahl von Plätzen würde der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Einige Stunden später wurde auf einer belebten Straße im 12. Arrondissement ein religiöser Jude von einem Mann mit einem Beil angefallen und schwer verwundet. Der flüchtende Attentäter schwenkte die blutige Waffe und rief: „Chaibar, Chaibar, ja-Jahud!“ Die Polizei ermittelte.

Aus Zeitdruck und Sicherheitsgründen lagen nur fünf hektische Tage zwischen der Pressemitteilung und der Eröffnung der Konferenz. Deshalb wartete Hannah bis zur letzten Minute, bevor sie ihre Eröffnungsrede zu Papier brachte. Am Vorabend der Konferenz saß sie allein in ihrer Bibliothek, in der das einzige Geräusch das Kratzen ihres Füllers auf ihrem Schreibblock war.

Sie fand, dies sei der rechte Platz, ein Dokument dieser Art zu verfassen, denn die Bibliothek hatte einst ihrem Großvater gehört. Als polnischer Jude aus Lublin war er 1936 nach Paris geflüchtet – vier Jahre vor der Besetzung der Stadt durch Hitlers Wehrmacht. Am Morgen des 16. Juli 1942 – dem Jeudi noir oder Schwarzen Donnerstag – hatten mit Stapeln von blauen Deportationskarten ausgestattete französische Polizisten Isaac Weinberg, seine Frau und fast dreizehntausend weitere ausländische Juden festgenommen. Bevor die Schergen an seine Tür klopften, gelang es Weinberg noch, zwei Objekte zu verstecken: sein einziges Kind, den kleinen Marc, und den van Gogh. Marc Weinberg überlebte den Krieg auf dem Land versteckt und schaffte es 1952, die Wohnung in der Rue Pavée von der Familie zurückzubekommen, die sich dort nach dem Jeudi noir eingenistet hatte. Wie durch ein Wunder lag das Gemälde noch genau dort, wo Isaac Weinberg es zurückgelassen hatte: unter dem Parkett der Bibliothek, in der Hannah jetzt saß.

Drei Wochen nach ihrer Verhaftung wurden Isaac Weinberg und seine Frau nach Auschwitz deportiert und gleich nach der Ankunft vergast. Sie waren nur zwei der über fünfundsiebzigtausend Juden aus Frankreich, die in den Todeslagern Hitlerdeutschlands umkamen – ein bleibender Makel der französischen Geschichte. Aber konnte so etwas wieder passieren? Und wurde es Zeit, dass die vierhundertfünfundsiebzigtausend Juden Frankreichs, die drittgrößte jüdische Gemeinde der Welt, ihre Koffer packten und das Land verließen? Das war die Frage, die Hannah zum Thema ihrer Konferenz gemacht hatte. Viele Juden hatten Frankreich bereits verlassen. Allein im vergangenen Jahr waren fünfzehntausend nach Israel ausgewandert, und ihre Zahl stieg von Tag zu Tag weiter. Hannah dachte jedoch nicht daran, sich ihnen anzuschließen. Die Idee, woanders als im 4. Pariser Arrondissement zu leben, war für sie unvorstellbar. Trotzdem fühlte sie sich dazu verpflichtet, ihre jüdischen Mitbürger vor dem heraufziehenden Sturm zu warnen. Noch war diese Bedrohung nicht existenzgefährdend. Aber wenn ein Haus brennt, schrieb Hannah jetzt, sollte man sich klugerweise nach dem nächsten Ausgang umsehen.

Ihre erste Version war kurz vor Mitternacht fertig. Sie sei zu stringent, fand Hannah, und vielleicht etwas zu polemisch. Sie glättete die gröbsten Kanten und fügte einige deprimierende Statistiken ein, die ihre Argumentation unterstützten. Dann tippte sie das Redemanuskript auf ihrem Laptop, druckte ein Exemplar aus und schaffte es, kurz vor zwei Uhr ins Bett zu kommen. Ihr Wecker klingelte um sieben Uhr; auf dem Weg unter die Dusche trank sie eine Schale Café au Lait. Danach saß sie im Bademantel am Toilettentisch und betrachtete nachdenklich ihr Gesicht im Spiegel. Ihr Vater hatte von seiner einzigen Tochter einmal brutal ehrlich gesagt, Gott habe sie großzügig mit Verstand, aber sparsam mit Schönheit bedacht. In ihr lockiges dunkles Haar mischten sich graue Strähnen, gegen die sie nichts unternahm. Sie hatte eine prominente Adlernase und braune Augen. Sie war nie wirklich hübsch gewesen, aber andererseits war sie auch nie für dumm gehalten worden. In Zeiten wie diesen war ihr Aussehen vorteilhaft, fand sie.

Sie legte etwas Make-up auf, um die Schatten unter ihren Augen zu verdecken, und frisierte sich sorgfältiger als gewöhnlich. Dann zog sie sich rasch an – Rock und Pullover in dunklen Tönen, blickdichte Strümpfe, Pumps mit niedrigen Absätzen – und ging die Treppe hinunter. Nachdem sie den Innenhof durchquert hatte, zog sie die schwere Haustür eine Handbreit auf und spähte auf die Straße hinaus. Es war kurz nach acht Uhr; unter einem bleigrauen Vorfrühlingshimmel strömten Pariser und Touristen auf den Gehsteigen vorbei. Niemand schien darauf zu lauern, dass eine intelligent aussehende Mittfünfzigerin das Apartmenthaus mit der Nummer vierundzwanzig verließ.

Das tat sie jetzt und ging an einigen schicken Boutiquen vorbei die Rue des Rosiers entlang. Einige Schritte weit schien dies eine gewöhnliche Pariser Straße in einem der besseren Arrondissements zu sein. Dann kam Hannah an einer koscheren Pizzeria und mehreren Falafel-Ständen mit Werbetafeln in hebräischer Schrift vorbei, die das wahre Wesen dieser Straße enthüllten. Sie stellte sich vor, wie es hier am Morgen des Jeudi noir ausgesehen haben musste. Wie die hilflosen Zusammengetriebenen den einen Koffer umklammernd, den jeder mitnehmen durfte, auf offene Lastwagen kletterten. Wie die Nachbarn in den Fenstern liegend auf die Straße hinabstarrten: manche stumm und beschämt, andere kaum imstande, ihre Freude über das Unglück einer verachteten Minderheit zu verbergen. Hannah stand dieses Bild vor Augen – Pariser, die den todgeweihten Juden zum Abschied nachwinkten –, als sie mit rhythmisch übers Pflaster klappernden Absätzen durch den grauen Tag weiterhastete.

Das Weinberg-Zentrum lag am ruhigen Ende der Straße in einem dreistöckigen Gebäude, das vor dem Krieg eine auf Jiddisch erscheinende Zeitung und eine Mantelfabrik beherbergt hatte. Eine Schlange aus mehreren Dutzend Menschen wartete vor dem Eingang, an dem zwei Sicherheitsleute in dunklen Anzügen, beide junge Männer Anfang zwanzig, jeden Besucher gründlich durchsuchten. Hannah schlüpfte an ihnen vorbei und fuhr zum VIP-Empfang hinauf. Arthur Goldman und Max Strauss beobachteten einander misstrauisch über Tassen mit schwachem Café américain hinweg. Die berühmte Autorin sprach mit einem der Überlebenden; der Direktor des Holocaust-Museums unterhielt sich mit dem Spezialisten vom Yaad Vashem, einem alten Freund. Nur der nervende amerikanische Kommentator schien keinen Gesprächspartner zu haben. Er lud sich Croissants und Brioches auf seinen Teller, als habe er seit Tagen gefastet. „Keine Sorge“, sagte Hannah lächelnd. „Wir haben ein gemeinsames Mittagessen vorbereitet.“

Sie wechselte mit jedem der Podiumsgäste ein paar Worte, bevor sie den Korridor entlang zu ihrem Büro weiterging. Dort las sie ihre Begrüßungsworte nochmals durch, bis Rachel Lévy den Kopf durch die Tür steckte und stumm auf ihre Armbanduhr deutete.

„Wie voll ist der Saal?“, fragte Hannah.

„Überfüllt.“

„Und die Medien?“

„Alle sind da, auch die New York Times und die BBC.“

In diesem Augenblick piepste Hannahs Smartphone. Eine SMS von Alain Lambert aus dem Innenministerium. Sie las die Nachricht stirnrunzelnd.

„Was gibt’s?“, fragte Rachel.

„Alain ist wieder mal Alain.“

Hannah ließ ihr Smartphone auf dem Schreibtisch liegen, nahm ihr Manuskript mit und ging hinaus. Rachel Lévy wartete einige Sekunden lang, dann gab sie Hannahs nicht so sicheren Sicherheitscode ein. Alain Lamberts SMS war nur vier Wörter lang.

SEI VORSICHTIG, MEINE LIEBE.

Im Weinberg-Zentrum war kein Platz für einen großen Saal, aber der Vortragssaal im obersten Stock gehörte zu den besten im Marais. Eine lange Fensterfront aus wandhohen Elementen bot einen prachtvollen Ausblick über die Dächer in Richtung Seine, und an den Wänden hingen große Schwarz-Weiß-Fotos, die jüdisches Leben in Paris vor dem Jeudi noir zeigten. Alle Abgebildeten waren dem Holocaust zum Opfer gefallen, auch Isaac Weinberg, der kein Vierteljahr vor der Katastrophe in seiner Bibliothek fotografiert worden war. Hannah fuhr im Vorbeigehen mit dem Zeigefinger über das Foto, wie sie van Goghs Pinselstriche berührt hatte. Nur sie kannte den geheimen Zusammenhang zwischen dem Gemälde, ihrem Großvater und dem Zentrum, das seinen Namen trug. Nein, dachte sie plötzlich, das stimmt nicht ganz. Der Restaurator kennt ihn auch.

Auf dem Podium vor der Fensterfront stand ein rechteckiger langer Tisch, und auf dem Parkett waren zweihundert Stühle in zehn Reihen angeordnet. Alle Stühle waren besetzt, und auf den Stehplätzen an der Rückwand drängten sich noch mal etwa hundert Zuhörer. Hannah nahm ihren Platz ein – sie hatte sich bereit erklärt, als Puffer zwischen Goldman und Strauss zu fungieren – und hörte zu, wie Rachel Lévy das Publikum bat, seine Handys auszuschalten. Dann war sie an der Reihe. Sie schaltete das Mikrofon ein und sah auf die erste Zeile ihres Manuskripts hinunter. „Es ist eine nationale Tragödie, dass eine Konferenz dieser Art überhaupt stattfindet …“ Und dann hörte sie ein Geräusch von der Straße herauf, ein Knallen, als würden Feuerwerkskörper gezündet, bevor ein arabischer Ruf erklang.

„Chaibar, Chaibar, ja-Jahud!“

Hannah verließ das Podium und trat rasch an eines der wandhohen Fenster.

„O Gott“, flüsterte sie.

Sie warf sich herum und wollte den Podiumsgästen eine Warnung zurufen, aber die Detonation übertönte ihre Worte. Im nächsten Augenblick tobte ein Wirbelsturm aus Glassplittern, Stühlen, Ziegelsteinen, Kleidungsstücken und menschlichen Gliedmaßen durch den Saal. Hannah fühlte, dass sie nach vorn kippte, wusste aber nicht, ob sie stürzte oder flog. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie Rachel Lévy wie eine Ballerina vorbeikreiseln. Dann verschwand Rachel wie alles andere hinter grauen Schleiern.

Zuletzt kam sie zur Ruhe, vielleicht auf dem Rücken, vielleicht auf der Seite, vielleicht auf der Straße, vielleicht unter Beton und Ziegeln begraben. Die Stille war bedrückend. Sie wollte sich Gesteinsstaub aus den Augen wischen, aber ihr rechter Arm gehorchte ihr nicht. Dann merkte Hannah, dass sie keinen rechten Arm mehr hatte. Anscheinend auch kein rechtes Bein mehr. Sie drehte den Kopf etwas zur Seite und sah einen Mann neben sich liegen. „Professor Strauss, sind Sie das?“ Aber der Mann sagte nichts. Er war tot. Bald bin ich auch tot, dachte Hannah.

Plötzlich fror sie schrecklich. Das musste von dem Blutverlust kommen. Oder vielleicht von dem Windstoß, der für kurze Zeit den schwarzen Rauch vertrieb. Nun erkannte sie, dass sie und der Mann, der Professor Strauss sein konnte, inmitten von Trümmern auf der Rue des Rosiers lagen. Und über ihr stand eine Gestalt ganz in Schwarz, die mit einem Sturmgewehr auf sie zielte. Eine schwarze Sturmhaube verbarg das Gesicht, aber die Augen waren sichtbar. Sie waren schockierend schön, zwei Kaleidoskope aus Haselnuss und Kupfer. „Bitte“, flüsterte Hannah, aber in den Augen hinter der Maske brannte nur religiöser Eifer. Dann kam ein weißer Lichtblitz, und Hannah ging auf einmal heil und gesund einen Flur entlang. Sie öffnete die Tür ihres früheren Kinderzimmers und tastete im Dunkel nach dem van Gogh. Aber das Gemälde war anscheinend schon fort. Und im nächsten Augenblick war Hannah tot.

2

RUE DE GRENELLE, PARIS

Später würden die französischen Behörden feststellen, dass die Sprengladung über fünfhundert Kilo gewogen haben musste. Sie war in einem Lieferwagen, einem weißen Renault Trafic, versteckt gewesen und nach Aufzeichnungen der vielen Überwachungskameras in dieser Straße um Punkt zehn Uhr detoniert – genau zur Eröffnung der Konferenz im Weinberg-Center. Die Terroristen waren auf die Minute pünktlich gewesen.

Nachträglich betrachtet war die Autobombe für solch ein bescheidenes Ziel unnötig groß gewesen. Französische Fachleute berechneten, dass zweihundert Kilo Sprengstoff vermutlich ausgereicht hätten, um das Gebäude einstürzen zu lassen und alle darin zu verwunden oder zu töten. Mit fünfhundert Kilo ließ die Bombe jedoch entlang der gesamten Rue des Rosiers Gebäude einstürzen und Fenster zersplittern. Die Druckwelle war so stark, dass die Pariser Erdbebenwarte ein leichtes Beben registrierte, und richtete auch unterirdische Schäden an. Im ganzen Arrondissement rissen Gas- und Wasserleitungen, und ein Métro-Zug entgleiste bei der Einfahrt in die Station Hôtel de Ville. Weil die Polizei von einem Anschlag auf die U-Bahn ausging, ließ sie die gesamte Métro räumen. Das führte zu einem Verkehrschaos in der Innenstadt, das den Attentätern unerwartet zu Hilfe kam.

Auf der Rue des Rosiers riss die Urgewalt der Detonation einen sechs Meter tiefen Krater. Von dem Renault Trafic blieb nichts übrig außer der linken Hecktür, die – seltsamerweise intakt – fast einen Kilometer weit entfernt in der Seine treibend entdeckt wurde. Später stellten die Ermittler fest, dass das Fahrzeug in Vaulx-en-Velin, einem düsteren Vorort von Lyon mit mehrheitlich muslimischer Einwohnerschaft, gestohlen worden war. Am Vorabend des Anschlags war es von Unbekannten nach Paris gefahren und vor einem Bad- und Küchenstudio am Boulevard Saint-Germain abgestellt worden. Dort hatte es gestanden, bis es um 8.10 Uhr am folgenden Tag von einem Mann abgeholt wurde. Er war bartlos, ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß, trug Baseballmütze und Sonnenbrille. Er fuhr scheinbar ziellos kreuz und quer durch Paris, bis er dann um 9.20 Uhr vor dem Gare du Nord einen Komplizen einsteigen ließ. Die französischen Sicherheits- und Geheimdienste gingen anfangs davon aus, dort sei ein zweiter Mann zugestiegen. Die Auswertung der Überwachungsvideos zeigte jedoch, dass der Komplize eine Frau gewesen war.

Als der Renault den Marais erreichte, hatten beide Insassen sich mit schwarzen Sturmhauben getarnt. Und als sie vor dem Weinberg-Zentrum aus dem Wagen sprangen, waren sie mit Kalaschnikows, Pistolen und Handgranaten schwer bewaffnet. Die beiden Sicherheitsleute des Zentrums und vier noch wartende Besucher wurden sofort erschossen. Ein Passant, der beherzt dazwischengehen wollte, wurde kaltblütig erledigt. Andere Fußgänger auf der schmalen Straße ergriffen klugerweise die Flucht.

Die Schießerei vor dem Weinberg-Zentrum endete um 9.59.30, und die beiden maskierten Attentäter gingen ohne sonderliche Eile zur Rue Vieille-du-Temple weiter, wo sie einen beliebten Fleischerladen betraten. Dort warteten acht Kunden in einer ordentlichen Schlange. Alle wurden erschossen, auch die einzelne Verkäuferin, die um ihr Leben flehte, bevor sie von mehreren Schüssen getroffen zusammenbrach.

Im selben Augenblick ging auf der Rue des Rosiers die Autobombe hoch. Die Druckwelle ließ die Schaufenster des Fleischerladens zersplittern, aber ansonsten blieb das Gebäude heil. Die beiden Attentäter flüchteten nicht sofort vom Tatort. Stattdessen kehrten sie in die Rue des Rosiers zurück, wo eine letzte Überwachungskamera aufzeichnete, wie sie methodisch das Trümmerfeld absuchten und Verletzte und Sterbende erschossen. Zu ihren Opfern gehörte Hannah Weinberg, die von zwei Schüssen getroffen wurde, obwohl sie ohnehin praktisch keine Überlebenschance hatte. Die Terroristen waren ebenso grausam wie kompetent. Von der Frau gab es Aufnahmen, die zeigten, wie sie gelassen eine Ladehemmung ihrer Kalaschnikow beseitigte, bevor sie einen Verletzten erschoss, der kurz zuvor noch im dritten Stock des Zentrums gesessen hatte.

Nach dem Bombenanschlag blieb der Marais mehrere Stunden lang völlig abgeriegelt, nur für Rettungsmannschaften und Ermittler zugänglich. Als am Spätnachmittag alle Brände gelöscht und keine weiteren Detonationen zu befürchten waren, traf schließlich der französische Präsident ein. Nachdem er den Tatort besichtigt hatte, sprach er von einem „Holocaust im Herzen von Paris“. Das kam in den unruhigeren Banlieues nicht gut an. In einer fand eine spontane Feier statt, die aber rasch von Bereitschaftspolizei aufgelöst wurde. Die meisten Medien ignorierten diesen Vorfall. Ein Polizeisprecher nannte ihn „eine unangenehme Ablenkung“ von der wichtigeren Aufgabe, die Täter aufzuspüren.

Ihre Flucht aus dem Marais war wie das gesamte Unternehmen penibel geplant und wurde exakt ausgeführt. Ein Motorroller Peugeot Satelis mit zwei schwarzen Helmen stand in einer Nebenstraße für sie bereit. Sie fuhren nach Norden davon – der Mann am Lenker, die Frau mit um seine Taille geschlungenen Armen als Sozia –, ohne von den heranrasenden Polizei- und Rettungsfahrzeugen bemerkt zu werden. Letztmals fotografiert wurden sie von einer Überwachungskamera in dem Weiler Villeron im Department Val-d’Oise. Ab Mittag waren sie die Zielpersonen der größten Fahndung, die Frankreich je erlebt hatte.

Police Nationale und Gendarmerie errichteten Straßensperren, kontrollierten Bus- und Bahnreisende, durchsuchten Lagerhäuser und kontrollierten mögliche Schlupfwinkel. Aber in einem eleganten alten Gebäude in der Rue de Grenelle waren vierundachtzig Männer und Frauen mit einer ganz anderen Art Fahndung beschäftigt. Unter dem Decknamen „Alphagruppe“ bildeten sie ein geheimes Team des französischen Inlandsgeheimdiensts DGSI. Die Gruppe, wie sie informell genannt wurde, war vor sechs Jahren nach einem dschihadistischen Selbstmordanschlag auf ein bekanntes Restaurant an der Avenue des Champs-Élysées aufgestellt worden. Sie war auf die Unterwanderung des dschihadistischen Untergrunds in Frankreich spezialisiert und berechtigt, „aktive Maßnahmen“ zu ergreifen, um potenzielle islamische Terroristen aus dem Verkehr zu ziehen, bevor diese gegen die Republik oder ihre Bürger aktiv werden konnten. Paul Rousseau, dem Chef der Alphagruppe, wurde nachgesagt, er habe mehr Bombenanschläge geplant als Osama bin Laden, was er keineswegs leugnete, auch wenn er rasch hinzufügte, er habe noch keine seiner Bomben zünden müssen. Die Agenten der Alphagruppe waren Meister der Täuschung, und Paul Rousseau war ihr unbestrittener Meister und Leitstern.

Mit seinen Tweedsakkos, seinen grauen Locken und seiner unvermeidlichen Pfeife wirkte Rousseau eher wie ein zerstreuter Professor als ein skrupelloser Geheimpolizist – und das aus gutem Grund. Seine Karriere hatte an der Universität begonnen, und dorthin wünschte er sich in dunkleren Augenblicken manchmal zurück. Rousseau hatte an der Sorbonne französische Literatur des 19. Jahrhunderts gelehrt, als ein Freund beim Geheimdienst ihn gebeten hatte, einen Auftrag für den Inlandsnachrichtendienst DST zu übernehmen. Das war 1983 gewesen, als eine Welle von Bombenanschlägen und Morden einer linken Terrororganisation, die sich Action Directe nannte, das Land erschütterte. Rousseau hatte sich einer Einheit angeschlossen, die den Auftrag hatte, die Action Directe zu zerschlagen, und die Gruppierung durch eine Serie brillanter Unternehmen in die Knie gezwungen.

Rousseau war beim DST geblieben und hatte verschiedene Wellen linker und nahöstlicher Terroristen abgewehrt, bis seine geliebte Frau Colette im Jahr 2004 ihren langen Kampf gegen Leukämie verloren hatte. Der untröstliche Witwer hatte sich in seine bescheidene Villa im Luberon zurückgezogen und seine geplante mehrbändige Proust-Biografie begonnen. Dann war der Anschlag auf den Champs-Élysées verübt worden. Rousseau war bereit gewesen, sich reaktivieren zu lassen – aber nur unter einer Bedingung. Er hatte keine Lust, mutmaßliche Terroristen zu beschatten, ihre Telefone abzuhören oder ihre Hasstiraden im Internet zu lesen. Er wollte zum Angriff übergehen. Der Direktor war ebenso einverstanden wie der Innenminister, und so wurde die Alphagruppe geboren. In den sechs Jahren ihrer Existenz hatte sie über ein Dutzend großer Attentate auf französischem Boden vereitelt. Rousseau sah den Anschlag aufs Weinberg-Zentrum nicht nur als Versagen seiner Gruppe, sondern als persönlichen Affront. Noch am selben Nachmittag rief er den DGSI-Direktor an, um seinen Rücktritt anzubieten, der natürlich nicht angenommen wurde. „Aber als Buße“, sagte der Direktor, „sollen Sie das Monster aufspüren, das für diese Untat verantwortlich ist, und mir seinen Kopf auf einem Silbertablett bringen.“

Rousseau fand diese Anspielung deplatziert, denn er hatte nicht die Absicht, die Kreaturen, die er bekämpfte, nachzuahmen. Trotzdem stürzten seine Leute und er sich mit einem Eifer auf diese Aufgabe, der mit dem religiösen Eifer ihrer Gegenspieler mithalten konnte. Die Spezialität der Alphagruppe war der menschliche Faktor, deshalb griff sie auf Menschen zurück. In Cafés, auf Bahnhöfen und in dunklen Ecken der Städte trafen Rousseaus Agenten sich heimlich mit ihren V-Leuten: Geistlichen, Anwerbern, abgebrühten Huren, wohlmeinenden Moderaten und starr dreinblickenden verlorenen Seelen, die in der globalen Umma des Todes, die der radikale Islam verkündete, eine Heimat gefunden hatten. Manche spionierten aus Gewissensgründen. Andere spionierten für Geld. Wieder andere spionierten, weil Rousseau und seine Agenten ihnen keine andere Wahl ließen. Keiner behauptete, von dem bevorstehenden Anschlag gewusst zu haben – nicht einmal die Huren, die sonst alles zu wissen behaupteten, vor allem, wenn Geld dabei eine Rolle spielte. Auch konnte keiner die beiden Täter identifizieren. Vielleicht waren sie Eigenbrötler, Einzelgänger, die als führerlose Dschihadisten vor der Nase der französischen Geheimdienste eine Fünfhundertkilobombe gebaut und geschickt ans Ziel gebracht hatten. Möglich, dachte Rousseau, aber höchst unwahrscheinlich. Irgendwo musste es einen Drahtzieher geben, der den Anschlag geplant, die Täter angeworben und sie geschickt ferngesteuert hatte. Und den Kopf dieses Mannes würde Paul Rousseau seinem Direktor bringen.

Während alle französischen Sicherheitsdienste mit Hochdruck nach den Attentätern aufs Weinberg-Zentrum fahndeten, war Rousseaus Blick bereits fest auf eine ferne Küste gerichtet. Wie alle guten Kapitäne blieb er bei Sturm auf der Kommandobrücke, die in diesem Fall sein Dienstzimmer im vierten Stock war. Dort schien eine Art gelehrter Unordnung zu herrschen, die durch das fruchtige Aroma seines Pfeifentabaks verstärkt wurde, denn Rousseau qualmte trotz aller amtlichen Verbote auch im Dienst ungerührt weiter. Unter seinen Fenstern mit Panzerglasscheiben, die der Direktor ihm aufgedrängt hatte, schnitten sich die Rue de Grenelle und die ruhige kleine Rue Amélie. Das Gebäude hatte keinen Eingang von der Straße aus und war nur über einen kleinen Hof zu erreichen. Ein diskretes Messingschild verkündete, hier residiere die Internationale Gesellschaft für Französische Literatur – ein Touch, auf den Rousseau besonders stolz war. Zur Tarnung gab sie eine dünne Vierteljahreszeitschrift heraus, die er immer selbst redigierte. Nach letztem Stand hatte sie zwölf Leser, die alle gründlich überprüft worden waren.

Im Inneren des Gebäudes hörte jedoch alle Heimlichtuerei auf. Der Technik-Stab war im Keller untergebracht, und den Beschattern gehörte das Erdgeschoss. Den ersten Stock nahm das überquellende Archiv der Alphagruppe ein – Rousseau zog Papier digitalen Akten vor –, und die beiden Obergeschosse waren das Reich der Agentenführer. Die meisten Männer und Frauen kamen und gingen zu Fuß oder mit ihrem Dienstwagen durchs Tor an der Rue de Grenelle. Andere benutzten den Geheimgang, der es mit dem kleinen Antiquitätengeschäft nebenan verband, das einem ältlichen Franzosen gehörte, der im Algerienkrieg für den Geheimdienst gearbeitet hatte. Paul Rousseau war das einzige Mitglied der Alphagruppe, das die schaurige Akte des Antiquitätenhändlers hatte lesen dürfen.

Ein Besucher hätte glauben können, im vierten Stock lägen Büros einer Schweizer Privatbank. Dort war alles ernst und düster und still, bis auf den Chopin, der manchmal aus Paul Rousseaus offener Tür drang. Seine langmütige Sekretärin, die unerschütterliche Mme. Treville, saß an ihrem mustergültig ordentlichen Schreibtisch im Vorzimmer, und das zweite Büro am Ende des kleinen Korridors gehörte Christian Bouchard, Rousseaus Stellvertreter. Bouchard war alles, was Rousseau nicht war: jung, topfit, modisch gekleidet und blendend aussehend. Vor allem war Bouchard ehrgeizig. Der Direktor hatte ihn Rousseau aufgedrängt, und alle Welt glaubte, er werde eines Tages die Alphagruppe leiten. Rousseau verabscheute ihn nur ein wenig, denn Bouchard arbeitete trotz seiner offenkundigen Macken ausgezeichnet. Und er war völlig skrupellos. Wenn es irgendwo bürokratische Schmutzarbeit zu erledigen gab, war Bouchard genau der richtige Mann dafür.

Drei Tage nach dem Anschlag aufs Weinberg-Zentrum, als die Terroristen weiter flüchtig waren, fand im Innenministerium eine Besprechung der Abteilungsleiter statt. Rousseau hasste solche Treffen, bei denen es letztlich immer nur darum ging, politisch Punkte zu sammeln, deshalb schickte er Bouchard als seinen Vertreter hin. Es war fast zwanzig Uhr, als der Jüngere endlich in die Rue de Grenelle zurückkam. Er betrat Rousseaus Büro und legte ihm wortlos zwei Farbfotos auf den Schreibtisch. Sie zeigten eine Frau Mitte zwanzig mit ovalem Gesicht, dunklem Teint und Augen, die Kaleidoskopen aus Haselnuss und Kupfer glichen. Auf dem ersten Foto war ihr Haar schulterlang und aus ihrer faltenlos glatten Stirn zurückgekämmt. Auf dem anderen war es mit einem Hidschab aus ungemusterter schwarzer Seide bedeckt.

„Sie wird die Schwarze Witwe genannt“, sagte Bouchard.

„Eingängig“, sagte Rousseau stirnrunzelnd. Er griff nach dem zweiten Foto, auf dem die Frau züchtig verhüllt war, und starrte in ihre unergründlichen Augen. „Wie heißt sie wirklich?“

„Safia Bourihane.“

„Algerierin?“

„Aus Aulnay-sous-Bois.“

Das war eine Banlieue nördlich von Paris. Ihre von Verbrechen heimgesuchten Wohnsiedlungen – in Frankreich als HLM, Habitation à loyer modéré, bekannt – gehörten zu den gewalttätigsten des Landes. Die Polizei wagte sich nur selten dorthin. Selbst Rousseau empfahl seinen gewieften Agentenführern, sich mit Informanten aus Aulnay-sous-Bois an weniger gefährlichen Orten zu treffen.

„Sie ist neunundzwanzig und in Frankreich geboren“, berichtete Bouchard. „Trotzdem hat sie sich immer zuerst als Muslimin und dann erst als Französin bezeichnet.“

„Wer hat sie identifiziert?“

„Lucien.“

Lucien Jacquard leitete die Abteilung Spionageabwehr im DGSI. Auf dem Papier unterstand die Alphagruppe ihm. Tatsächlich überging Rousseau ihn jedoch, indem er seine Berichte gleich an den Direktor schickte. Um potenzielle Konflikte zu entschärfen, informierte er Jacquard über alle Aktivitäten der Alphagruppe – ohne jemals die Namen ihrer Informanten oder Details ihrer Arbeitsmethoden preiszugeben. Im Prinzip war die Alphagruppe ein Dienst innerhalb des Diensts, den Lucien Jacquard nur allzu gern unter seine Kontrolle gebracht hätte.

„Wie viel weiß er über sie?“, fragte Rousseau und starrte weiter in die Augen der Frau.

„Sie ist vor drei Jahren auf Luciens Radar erschienen.“

„Weshalb?“

„Wegen ihres Freundes.“

Bouchard legte Rousseau ein weiteres Foto hin. Es zeigte einen Mann Anfang dreißig mit kurz geschorenem Haar und dem schütteren Bart eines frommen Muslims.

„Algerier?“

„Tunesier. Ein gefährlicher Bursche. Gute Elektronik- und Computerkenntnisse. War im Irak und im Jemen, bevor er nach Syrien gegangen ist.“

„Al-Qaida?“

„Nein“, sagte Bouchard. „IS.“

Rousseau hob ruckartig den Kopf. „Wo ist er jetzt?“

„Anscheinend im Paradies.“

„Wie das?“

„Luftangriff der Koalition.“

„Und die Frau?“

„Die war vergangenes Jahr in Syrien.“

„Wie lange?“

„Mindestens ein halbes Jahr.“

„Zu welchem Zweck?“

„Sie hat offenbar eine Schießausbildung bekommen.“

„Und nach ihrer Rückkehr nach Paris?“

„Lucien hat sie zunächst unter Beobachtung gestellt. Aber dann …“ Bouchard zuckte mit den Schultern.

„Er hat die Beobachtung einstellen lassen?“

Bouchard nickte.

„Warum?“

„Aus den üblichen Gründen. Zu viele Verdächtige, nicht genug Personal.“

„Sie war eine tickende Zeitbombe.“

„Lucien war anderer Meinung. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich scheint sie ihr Verhalten geändert zu haben. Sie hat den Umgang mit bekannten Fundamentalisten gemieden und sich im Internet moderat geäußert. Sie hat sogar aufgehört, den Hidschab zu tragen.“

„Alles Dinge, die ihr der Planer des Anschlags aufgetragen haben muss. Sie muss einem höchst effektiven Netzwerk angehört haben.“

„Das glaubt Lucien auch. Tatsächlich hat er dem Minister erklärt, der nächste Anschlag sei nur eine Frage der Zeit.“

„Wie hat der Minister das aufgenommen?“

„Er hat Lucien angewiesen, seine Ermittlungsakten uns zu übergeben.“

Rousseau gestattete sich ein flüchtiges Lächeln auf Kosten seines Rivalen. „Ich will alles, Christian. Vor allem die Überwachungsberichte aus der Zeit nach ihrer Rückkehr aus Syrien.“

„Lucien hat zugesagt, uns die Akten gleich morgen früh zu schicken.“

„Wie freundlich von ihm.“ Rousseau betrachtete nochmals das Foto der Veuve noire, der Schwarzen Witwe. „Wo sie jetzt wohl steckt?“

„Mit ihrem Komplizen wieder in Syrien, wenn Sie mich fragen.“

„Verwunderlich, dass sie nicht für ihre Sache sterben wollte.“ Rousseau schob die Fotos zusammen und gab sie seinem Stellvertreter zurück. „Sonstige Neuigkeiten?“

„Eine interessante Entwicklung im Zusammenhang mit Hannah Weinberg. Wie sich herausgestellt hat, gehört zu ihrer Kunstsammlung ein verschollen geglaubtes Gemälde von Vincent van Gogh.“

„Wirklich?“

„Raten Sie mal, wem sie’s hinterlassen hat.“

Rousseaus Gesichtsausdruck zeigte deutlich, was er von solchen Spielchen hielt, deshalb beeilte Bouchard sich, den Namen zu nennen.

„Ich dachte, er sei tot.“

„Offenbar nicht.“

„Warum ist er nicht zur Beisetzung gekommen?“

„Wer sagt, dass er nicht dabei war?“

„Weiß er schon, dass er das Gemälde geerbt hat?“

„Dem Ministerium wäre es lieber, wenn es in Frankreich bliebe.“

„Er ist also nicht informiert worden?“

Bouchard schwieg.

„Irgendjemand sollte das Ministerium daran erinnern, dass vier der Opfer des Anschlags auf das Weinberg-Zentrum israelische Staatsbürger waren.“

„Und das heißt?“

„Ich nehme an, dass wir bald von ihm hören werden.“

Bouchard zog sich zurück, ließ Rousseau allein. Er dimmte seine Schreibtischlampe und schaltete seine ins Bücherregal eingebaute Stereoanlage ein. Sekunden später erklangen die ersten Takte von Frédéric Chopins erstes Klavierkonzert Opus elf in e-Moll. Auf der Rue de Grenelle herrschte noch lebhafter Verkehr, und im Osten ragte über der Seine der angestrahlte Eiffelturm auf. Rousseau nahm nichts davon wahr; in Gedanken beobachtete er einen jungen Mann, der mit einer Pistole in der ausgestreckten Hand rasch einen Innenhof durchquerte. Er war eine Legende, dieser Mann, ein begnadeter Schwindler und Auftragsmörder, der sogar schon länger als Rousseau gegen Terroristen kämpfte. Es würde eine Ehre sein, mit ihm statt gegen ihn zu arbeiten. Bald, dachte Rousseau voll innerer Überzeugung. Bald …

3

BEIRUT

Obwohl Paul Rousseau das noch nicht wissen konnte, waren die Voraussetzungen für eine operative Zusammenarbeit dieser Art bereits geschaffen worden. Denn am selben Abend, als Rousseau zu Fuß zu seiner traurigen kleinen Junggesellenwohnung in der Rue Saint-Jacques unterwegs war, fuhr in Beirut ein Wagen in raschem Tempo über die Corniche am Mittelmeer. Die schwarze Limousine aus deutscher Produktion war imponierend groß. Der Mann auf dem Rücksitz war groß und schlaksig, mit blasser, blutloser Haut und Augen von der Farbe von Gletschereis. Sein Gesichtsausdruck wirkte zutiefst gelangweilt, aber die Finger seiner rechten Hand, die leicht auf der Armlehne trommelten, verrieten seinen wahren Gemütszustand. Er trug körperbetonte Jeans, einen schwarzen Wollpullover und eine Lederjacke. Im Hosenbund unter seinem Pullover steckte eine belgische Neunmillimeter-Pistole, die er am Flughafen von seinem Verbindungsmann erhalten hatte – eine Bagatelle, weil es im Libanon reichlich Waffen gab. In seiner Jacke hatte er eine Geldbörse voller Scheine und einen leicht abgenutzten kanadischen Reisepass, der ihn als David Rostov identifizierte. Wie so vieles an diesem Mann war der Pass nicht echt. In Wirklichkeit hieß er Michail Abramow und war Agent des Geheimdiensts des Staates Israel. Diese Organisation hatte einen langen, irreführenden Namen, der sehr wenig mit ihrem wahren Zweck zu tun hatte. Für Männer wie Michail war er nur „der Dienst“, sonst nichts.

Er sah in den Innenspiegel und wartete darauf, dass der Fahrer seinen Blick erwiderte. Der Fahrer hieß Sami Haddad und war ein Maronit, ein ehemaliger Angehöriger der Christenmiliz Forces Libanaises und langjähriger Agent des Diensts. Er hatte den sanft verzeihenden Blick eines Geistlichen und die Pranken eines Preisboxers. Er war alt genug, um sich an die Zeit erinnern zu können, in der Beirut das Paris des Nahen Ostens gewesen war – und alt genug, um in dem Bürgerkrieg mitgekämpft zu haben, der das Land gespalten hatte. Es gab nichts, was Sami Haddad nicht über den Libanon und die hiesige gefährliche Politik wusste, und nichts, was er nicht im Handumdrehen herbeischaffen konnte: Waffen, Boote, Autos, Drogen, Frauen. Einmal hatte er sogar über Nacht einen Puma beschafft, weil ein alkoholkranker Prinz aus einer Dynastie am Golf, den der Dienst abwerben wollte, eine Vorliebe für Raubkatzen hatte. Seine Loyalität gegenüber dem Dienst stand außer Zweifel. Genauso legendär war sein untrüglicher Instinkt für Gefahren.

„Keine Sorge“, sagte Sami Haddad, indem er Michails Blick erwiderte. „Wir werden nicht beschattet.“

Michail sah sich nach den Scheinwerfern der Autos hinter ihnen um. In jedem dieser Wagen konnte ein Team aus Killern oder Entführern der Hisbollah oder einer der extremen dschihadistischen Gruppen aus den Palästinenserlagern im Süden sitzen – Organisationen, die al-Qaida wie langweilige gemäßigte Islamisten aussehen ließen. Dies war sein dritter Besuch in Beirut binnen eines Jahres. Immer mit demselben Reisepass, derselben Legende. Er war David Rostov, ein russisch-kanadischer Geschäftsmann, der seiner europäischen Klientel Objekte aus Raubgrabungen verkaufte. Beirut gehörte zu seinen bevorzugten Jagdgründen, denn in Beirut war alles möglich. Einmal war ihm eine bemerkenswert gut erhaltene lebensgroße Statue einer verwundeten Amazone angeboten worden – für zwanzig Millionen Dollar inklusive Versand. Bei unendlich vielen Tassen süßen türkischen Kaffees hatte er dem Verkäufer, einem prominenten Händler aus einer bekannten Familie, einen Preisnachlass von zehn Prozent abgerungen. Und dann hatte er den Deal platzen lassen, was seinen in Beirut nützlichen Ruf als geschickter Verhandler und taffer Geschäftsmann gefestigt hatte.

Er sah auf die Uhr seines Smartphones. Das fiel Sami Haddad auf. Sami bemerkte alles.

„Um welche Zeit erwartet er dich?“

„Zehn Uhr.“

„Spät.“

„Geld schläft nie, Sami.“

„Wie wahr!“

„Fahren wir direkt ins Hotel, oder willst du erst noch ein bisschen herumfahren?“

„Das liegt bei dir.“

„Fahren wir ein bisschen herum.“

„Kein Problem.“

Sami Haddad bog von der Corniche auf eine Straße mit stattlichen Häusern im französischen Kolonialstil ab. Michail kannte sie gut. Vor zwölf Jahren hatte er als Angehöriger der Spezialeinheit Sajeret Matkal hier einen Hisbollah-Kämpfer in seinem Bett in einem sicheren Haus erschossen. Einer solchen Eliteeinheit anzugehören war der Traum jedes israelischen Jungen, und für einen Jungen aus Moskau war das eine noch größere Leistung. Ein Junge, der jeden Tag hatte kämpfen müssen, weil er jüdischer Abstammung war. Ein Junge, dessen Vater, ein prominenter sowjetischer Wissenschaftler, in die Psychiatrie gesteckt worden war, weil er’s gewagt hatte, die Allwissenheit der Partei anzuzweifeln. Der Junge war mit sechzehn Jahren nach Israel gekommen. Er hatte binnen eines Monats Hebräisch gelernt, das er binnen eines Jahres akzentfrei sprach. Er glich den Millionen, die vor ihm ins Land gekommen waren, den zionistischen Pionieren, die vor Verfolgung und Pogromen in Osteuropa geflüchtet waren, und den menschlichen Wracks, die nach dem Krieg aus den Todeslagern nach Israel geströmt waren. Er hatte die Lasten und Schwächen seiner Vergangenheit abgeschüttelt. Er war ein neuer Mensch, ein neuer Jude. Er war ein Israeli.

„Wir sind weiter clean“, sagte Sami Haddad.

„Worauf wartest du dann noch?“, fragte Michail.

Sami fuhr durch verwinkelte Straßen zur Corniche zurück und zum Jachthafen weiter. Über der Marina ragten die verglasten Doppeltürme des Hotels Four Seasons auf. Sami hielt vor dem Haupteingang und sah auf Anweisungen wartend in den Innenspiegel.

„Ruf mich an, wenn er eintrifft“, sagte Michail. „Lass mich wissen, ob er einen Freund mitbringt.“

„Er lässt sich immer von einem Freund begleiten.“

Michail nahm Aktenkoffer und Reisetasche vom Rücksitz und stieß seine Tür auf.

„Sieh dich dort drinnen vor“, sagte Sami. „Rede mit keinem Unbekannten.“

Michail stieg aus und ging tonlos pfeifend an dem Portier vorbei in die Hotelhalle. Ein dunkel gekleideter Wachmann beobachtete ihn misstrauisch, ließ ihn aber ohne Durchsuchung passieren. Er überquerte den hochflorigen Teppich, der seine Schritte verschluckte, und machte vor der imposanten Empfangstheke halt. Hinter ihr stand im Lichtkegel einer Hängeleuchte eine attraktive Schwarzhaarige Mitte zwanzig. Michail wusste, dass ihr Vater ein Palästinenser, ein Veteran war, der 1982 – lange vor ihrer Geburt – mit Arafat aus dem Libanon geflüchtet war. Auch einige andere Angestellte des Hotels hatten beunruhigende Verbindungen. Zwei Hisbollah-Mitglieder arbeiteten in der Küche, und auch unter dem übrigen Personal befanden sich etliche Dschihadis. Michail schätzte, dass etwa zehn Prozent des Hotelpersonals ihn zu ermorden versucht hätten, wenn seine wahre Identität bekannt geworden wäre.

Er lächelte die junge Frau an, die sein Lächeln kühl erwiderte.

„Guten Abend, Mr. Rostov. Schön, Sie wiederzusehen.“ Ihre lackierten Fingernägel klapperten auf der Tastatur, während es Michail von dem starken Geruch verblühender Azaleen fast schlecht wurde. „Diesmal haben wir eine Reservierung für nur eine Nacht.“

„Ja, leider“, sagte Michail erneut lächelnd.

„Brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Gepäck?“

„Danke, ich komme allein zurecht.“

„Wir haben ein Upgrade für Sie, ein Deluxe-Zimmer mit Meeresblick. Im dreizehnten Stock.“ Sie gab ihm ein Mäppchen mit zwei Schlüsselkarten und deutete zu den Aufzügen hinüber wie eine Stewardess, die auf die Notausgänge zeigt. „Schön, dass Sie wieder da sind.“

Michail ging mit Aktenkoffer und Reisetasche zu den Aufzügen hinüber. Eine der Kabinen wartete mit offener Tür. Er betrat sie, freute sich, dass sonst niemand mitfahren wollte, und drückte auf den Knopf für die dreizehnte Etage. Aber als die Tür zuging, steckte jemand seine Hand zwischen die Hälften, und ein Mann stieg ein. Er war stämmig gebaut, hatte starke Augenwülste und ein massives Kinn, das einen Schlag vertragen konnte. Ihre Blicke begegneten sich im blanken Stahl der Tür, aber sie nickten sich nur zu, wechselten kein Wort miteinander. Der Mann drückte auf den Knopf für den zwanzigsten Stock, als falle ihm das erst nachträglich ein, und zupfte an seinem Daumennagel, während der Aufzug unterwegs war. Michail gab vor, seine Mails zu checken, und fotografierte dabei den Stämmigen heimlich mit seinem Smartphone. Auf dem Weg zu seinem Zimmer schickte er das Foto an die anonyme Zentrale des Diensts am King Saul Boulevard in Tel Aviv. Ein Blick auf die Tür zeigte, dass sich niemand daran zu schaffen gemacht hatte. Er sperrte mit seiner Schlüsselkarte auf und trat auf einen Angriff gefasst ein.

Vivaldi begrüßte ihn – der Lieblingskomponist von Waffenschmugglern, Heroindealern und Terroristen weltweit, dachte er, als er das Radio ausschaltete. Die Bettdecke war schon zurückgeschlagen, und auf dem Kopfkissen lag ein kleines Stück Schokolade. Er trat ans Fenster und entdeckte tief unter sich Sadi Haddads Wagen auf dem Hotelparkplatz. Dahinter lag die Marina, hinter der das schwarze Mittelmeer begann. Irgendwo dort draußen lag sein Notausgang. Er durfte nicht mehr nach Beirut reisen, ohne dass vor der Küste ein Schiff für ihn bereitlag. Der zukünftige Direktor hatte Großes mit ihm vor – jedenfalls hatte Michail das im Flurfunk gehört. Für eine so geheime Organisation wurde im Dienst erstaunlich viel getratscht.

Im nächsten Augenblick kam die Antwort vom King Saul Boulevard: Die Computer des Diensts hatten den Mann, der mit ihm im Aufzug gefahren war, nicht identifizieren können. Michail wurde geraten, vorsichtig zu sein, was immer das heißen sollte. Er ließ die Jalousie herunter, schloss die Vorhänge und schaltete eine Lampe nach der anderen aus, bis das Zimmer in völliger Dunkelheit lag. Dann setzte er sich ans Fußende des Betts, behielt den schmalen Lichtstreifen unter der Tür im Auge und wartete darauf, dass sein Smartphone klingeln würde.

Dass der Informant sich verspätete, war nicht ungewöhnlich. Er war, wie er Michail bei jeder Gelegenheit erklärte, ein vielbeschäftigter Mann. Deshalb war es keine Überraschung, dass es zweiundzwanzig Uhr wurde, ohne dass Sami Haddad anrief. Der erwartete Anruf kam erst zwanzig Minuten später.

„Er betritt gerade die Hotelhalle. Mit zwei Freunden, beide bewaffnet.“

Michail beendete das Gespräch und blieb weitere zehn Minuten sitzen. Dann trat er mit der Pistole in der Hand in den kleinen Vorraum und drückte ein Ohr an die Tür. Als draußen nichts zu hören war, steckte er die Waffe wieder hinten in seinen Hosenbund und trat auf den Korridor hinaus, auf dem nur einer der Raumpfleger mit seinem Staubsauger unterwegs war. Auf der Dachterrasse erwartete ihn die übliche Szene: reiche Libanesen, Emiratis in ihren wallenden weißen Kanduras, angetrunkene chinesische Geschäftsleute, Nutten, Glücksspieler, Abenteurer, Dummköpfe. Der Seewind spielte mit dem Haar der Frauen und erzeugte kleine Wellen auf dem Swimmingpool. Die wummernde Musik, die ein professioneller DJ auflegte, war ein akustisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Michail arbeitete sich bis zur entferntesten Ecke der Dachterrasse vor, wo Clovis Mansour aus der Antikenhändlerdynastie Mansour allein auf einem weißen Ledersofa mit Blick aufs Mittelmeer saß. Mit einem Glas Champagner in der Hand und einer brennenden Zigarette in der anderen hätte er für ein Werbefoto posieren können. Er trug einen dunkelgrauen italienischen Anzug und ein offenes Maßhemd aus London ohne Krawatte. Seine goldene Armbanduhr hatte die Größe einer kleinen Sonnenuhr. Sein Herrenparfüm umwaberte ihn mit einer Duftwolke.

„Sie kommen spät, Habibi“, sagte er, als Michail auf dem Sofa gegenüber Platz nahm. „Ich wollte schon gehen.“

„Nein, das wollten Sie nicht.“

Michail sah sich um. Mansours Leibwächter saßen an einem Tisch in der Nähe und knabberten Pistazien aus einer Schale. Der stämmige Mann aus dem Aufzug lehnte am Geländer und gab vor, die Aussicht zu bewundern, während er mit seinem Handy telefonierte.

„Kennen Sie ihn?“, fragte Michail.

„Nie gesehen. Drink?“

„Nein, danke.“

„Kommen Sie, ein Glas tut Ihnen gut.“

Mansour hielt einen vorbeihastenden Ober an und bestellte noch ein Glas Champagner. Michail zog einen beigen Umschlag aus seiner Jacke und legte ihn auf den niedrigen Tisch zwischen ihnen.

„Was ist das?“, fragte Mansour.

„Ein Zeichen unserer Anerkennung.“

„Geld?“

Michail nickte.

„Ich arbeite nicht für Sie, weil ich Geld brauche, Habibi. Geld habe ich selbst genug. Ich arbeite für Sie, weil ich im Geschäft bleiben will.“

„Meinen Vorgesetzten ist es lieber, wenn Geld den Besitzer wechselt.“

„Ihre Vorgesetzten sind schäbige Erpresser.“

„Bevor ich sie schäbig nenne, würde ich in den Umschlag sehen.“

Das tat Mansour. Er zog eine Augenbraue hoch und steckte den Umschlag in die Innentasche seines Jacketts.

„Was haben Sie für mich, Clovis?“

„Paris“, sagte der Antikenhändler.

„Was ist mit Paris?“

„Ich weiß, wer’s war.“

„Woher?“

„Ich kann’s nicht beschwören“, sagte Mansour, „aber vielleicht habe ich ihm bei der Finanzierung geholfen.“

4

BEIRUT – TEL AVIV

Es war halb zwei Uhr morgens, als Michail endlich in sein Hotelzimmer zurückkehrte. Er sah nichts, was auf unerwünschten Besuch schließen ließ; selbst die eingepackte kleine Schokolade lag noch genau so da, wie er sie zurückgelassen hatte. Nachdem er daran geschnüffelt hatte, ohne Arsengeruch zu entdecken, knabberte er sie nachdenklich. Dann türmte er in einem seltenen Anfall von Panik alle Möbelstücke, die sich bewegen ließen, im Vorraum vor der Zimmertür auf. Sowie seine Barrikade fertig war, zog er die Vorhänge auf, zog die Jalousie hoch und suchte das Wasser vor der Marina nach seinem Notausgang ab. Im nächsten Augenblick genierte er sich bereits dafür. Der Notausgang war nur für extreme Gefahrensituationen gedacht. Wichtige Informationen fielen nicht in diese Kategorie, selbst wenn sie das Potenzial besaßen, eine weitere Katastrophe wie in Paris zu verhindern.

Sie nennen ihn Saladin …

Michail streckte sich halb sitzend auf dem Bett aus, behielt die Pistole in der Hand und starrte sein nur schemenhaft erkennbares Bollwerk an. Ein wahrhaft würdeloser Anblick, das musste er zugeben. Er schaltete den Fernseher ein und surfte im nahöstlichen Äther, bis er vor Langeweile fast eingeschlafen wäre. Um sich wach zu halten, trank er kalte Cola aus der Minibar und dachte an eine Frau, die er törichterweise nicht hatte halten können. Eine schöne Amerikanerin aus bester Familie, die für die CIA und manchmal für den Dienst arbeitete. Sie lebte jetzt in New York, wo sie Kuratorin einer Spezialsammlung im Museum of Modern Art war. Michail hatte gehört, dass sie einen festen Freund hatte – ausgerechnet einen Börsenmakler. Er überlegte, ob er sie anrufen sollte, nur um den Klang ihrer Stimme zu hören, aber das wäre unklug gewesen. Wie Russland war sie jetzt für ihn verloren.

Wie heißt er wirklich, Clovis?

Ich weiß nicht, ob er jemals anders geheißen hat.

Wo kommt er her?

Ursprünglich vielleicht aus dem Irak, aber jetzt ist er ein Sohn des Kalifats …

Schließlich färbte die heraufziehende Morgendämmerung den Himmel vor seinem Fenster blaugrau. Er brachte sein Zimmer in Ordnung und sank eine halbe Stunde später übernächtigt auf den Rücksitz von Sami Haddads Limousine.

„Na, wie war’s?“, fragte der Libanese.

„Totale Zeitvergeudung“, antwortete Michail demonstrativ gähnend.

„Wohin jetzt?“

„Tel Aviv.“

„Das ist kein leichtes Ziel, mein Freund.“

„Dann bring mich lieber nur zum Flughafen.“

Sein Flug ging um 8.35 Uhr. Er segelte als lächelnder, noch nicht ganz wacher Kanadier durch die Sicherheitskontrollen und ließ sich in seinen Sessel in der ersten Klasse der Morgenmaschine von Middle East Airlines nach Rom fallen. Um sich gegen seinen Nachbarn, einen wenig sympathischen türkischen Geschäftsmann, abzuschotten, gab er vor, Zeitung zu lesen. In Wirklichkeit spielte er alle Gründe durch, weshalb dieser Airbus der staatlichen libanesischen Fluggesellschaft MEA sein Ziel vielleicht nicht erreichen würde. Ausnahmsweise, sagte er sich bedrückt, würde sein Tod diesmal Konsequenzen haben, weil seine Informationen mit ihm untergehen würden.

Von wie viel Geld reden wir, Clovis?

Vier Millionen Dollar, vielleicht fünf.

Vier oder fünf?

Eher fünf …

Das Flugzeug landete ohne Zwischenfall in Rom, aber danach brauchte Michail fast eine Stunde für die organisierte Stampede, die sich auf dem Flughafen Fiumicino Passkontrolle nannte. Sein Aufenthalt in Italien war eben lang genug, dass er seine Identität wechseln und an Bord einer El-Al-Maschine nach Tel Aviv gehen konnte. Auf dem Flughafen Ben Gurion stand eine Limousine des Diensts bereit, die ihn in rascher Fahrt nach Norden zum King Saul Boulevard brachte. Wie Paul Rousseaus Außenposten in der Rue de Grenelle war das Dienstgebäude am Westende des Boulevards trist, nichtssagend und vor allem anonym. Über seinem Eingang hing kein Emblem; keine Messingbuchstaben verkündeten, welche Organisation hier arbeitete. Tatsächlich wies nichts darauf hin, dass dies die Zentrale eines der gefürchtetsten und angesehensten Geheimdienste der Welt war. Bei näherer Betrachtung hätte sich jedoch die Existenz eines Gebäudes innerhalb eines Gebäudes gezeigt – mit eigener Strom- und Wasserversorgung, eigener Kanalisation und eigenen abhörsicheren Nachrichtenverbindungen. Alle Mitarbeiter hatten zwei Schlüssel. Der erste sperrte eine nicht bezeichnete Tür im Foyer auf, mit dem zweiten ließ sich der Aufzug bedienen. Wer die unverzeihliche Sünde beging, einen oder gar beide seiner Schlüssel zu verlieren, wurde in die Wüste Judäa verbannt und blieb auf ewig verschollen.

Wie die meisten Feldagenten betrat Michail das Gebäude durch die Tiefgarage und fuhr mit dem Aufzug in die oberste Etage hinauf. Wegen der späten Stunde – die Überwachungskameras registrierten seine Ankunft um 21.27 Uhr – war es auf dem Korridor still wie in einer Schule nach Unterrichtsschluss. Durch eine halb offene Tür am Ende des Flurs fiel ein schmaler Lichtstreifen. Michail klopfte dezent an, hörte keine Antwort und trat trotzdem ein. In dem für ihn fast zu engen Ledersessel hinter dem Schreibtisch mit Rauchglasplatte saß Uzi Navot, der bald nicht mehr Direktor des Diensts sein würde. Er starrte stirnrunzelnd in ein Dossier, als sei es eine Rechnung, die er nicht zahlen könne. Daneben stand eine Schachtel Wiener Butterkekse. Nur zwei waren noch übrig, was kein gutes Zeichen war.

Navot hob schließlich den Kopf und forderte Michail mit einer wegwerfenden Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Er trug ein gestreiftes Oberhemd, das zu eng geschnitten war, und eine Schubertbrille, wie sie deutsche Intellektuelle und Schweizer Banker liebten. Sein früher rotblondes kurzes Haar war grau geworden; seine blauen Augen waren von Schlafmangel gerötet. Jetzt krempelte er die Ärmel auf, wobei muskulöse Unterarme zum Vorschein kamen, und musterte Michail einige Sekunden lang mit kaum verhohlener Feindseligkeit. Das war nicht der Empfang, den Michail sich vorgestellt hatte, aber bei Uzi Navot wusste man heutzutage nie, was einen erwartete. Es gab Gerüchte, sein Nachfolger wolle ihn in irgendeiner Funktion weiterbeschäftigen – Blasphemie in einer Organisation, für die regelmäßige Neubesetzungen der Spitzenpositionen fast ein Dogma waren –, aber offiziell lag seine Zukunft im Dunkeln.

„Irgendwelche Probleme auf dem Rückweg aus Beirut?“, fragte Navot, als sei ihm diese Frage plötzlich eingefallen.

„Keine“, antwortete Michail.

Navot nahm einen Kekskrümel mit der Spitze eines dicken Zeigefingers auf. „Überwachung?“

„Mir ist keine aufgefallen.“

„Und der Mann, der mit dir im Aufzug gefahren ist? Hast du den wiedergesehen?“

„Auf der Dachterrasse.“

„Hat er verdächtig ausgesehen?“

„In Beirut sieht jeder verdächtig aus. Sonst wär’s nicht Beirut.“

Navot schnippte den Krümel in die Packung. Dann zog er ein Foto aus dem Dossier und ließ es über die Rauchglasplatte zu Michail hinübersegeln. Es zeigte einen Mann am Steuer einer auf einem Boulevard am Meer geparkten Luxuslimousine. Frontscheibe und Fahrerfenster waren zerschossen. Der übel zugerichtete Mann war offensichtlich tot.

„Kennst du den?“, fragte Navot.

Michail kniff konzentriert die Augen zusammen.

„Sieh dir auch den Wagen an.“

Das tat Michail. Dann begriff er. Der Ermordete war Sami Haddad.

„Wann haben sie ihn erwischt?“

„Kurz nachdem er dich zum Flughafen gebracht hatte. Und das war erst der Anfang.“

Navot ließ ein weiteres Foto über die Glasplatte segeln. Es zeigte ein schwer beschädigtes Gebäude in einer eleganten Beiruter Einkaufsstraße: die Galerie Mansour in der Rue Madame Curie. Der Gehsteig davor war mit abgerissenen Köpfen und Gliedmaßen bedeckt. Diesmal waren die Opfer jedoch keine Menschen. Durch den Bombenanschlag zerstört war Clovis Mansours wundervolles Inventar an antiken Statuen.

„Ich hatte gehofft“, fuhr Navot nach kurzer Pause fort, „dass meine letzten Tage als Direktor ohne besondere Vorfälle zu Ende gehen würden. Stattdessen muss ich den Verlust unseres besten Mannes in Beirut verkraften – und den eines wertvollen Informanten, den wir mit viel Mühe und Geld gewonnen haben.“

„Besser als ein toter Feldagent.“

„Darüber habe ich zu urteilen.“ Navot ließ sich die beiden Fotos zurückgeben und legte sie in das Dossier. „Was hatte Mansour für dich?“

„Den Mann, der hinter Paris steckt.“

„Wer ist er?“

„Er nennt sich Saladin.“

„Saladin? Nun“, sagte Navot und klappte das Dossier zu, „das ist wenigstens ein Anfang.“

Navot blieb noch lange in seinem Büro, als Michail längst gegangen war. Der Schreibtisch war leer bis auf seinen in Leder gebundenen Notizblock, auf den er ein einzelnes Wort gekritzelt hatte. Saladin … Nur ein Mann mit übergroßem Selbstbewusstsein würde sich diesen Decknamen aussuchen, nur ein Mann mit großem Ehrgeiz. Der historische Saladin hatte die islamische Welt unter der Dynastie der Ayyubiden vereinigt und Jerusalem von den Kreuzrittern zurückerobert. Vielleicht hegte dieser neue Saladin ähnliche Absichten. Für seine Coming-out-Party hatte er ein jüdisches Ziel mitten in Paris vernichtet und damit zwei Staaten, zwei Kulturen gleichzeitig angegriffen. Der Erfolg des Anschlags würde seinen Durst auf Blut von Ungläubigen erst recht geweckt haben, vermutete Navot. Bestimmt war es nur eine Frage der Zeit, wann er wieder zuschlagen würde.

Vorerst war Saladin noch ein Problem der Franzosen. Aber die Tatsache, dass bei dem Anschlag auch vier Israelis umgekommen waren, verschaffte Navot ein Mitspracherecht in Paris. Dazu trug auch der Name bei, den Clovis Mansour Michail ins Ohr geflüstert hatte. Spielte Navot seine Karten richtig aus, konnte allein dieser Name dem Dienst einen Platz im Pariser Operationszentrum sichern. Navot vertraute ganz auf sein Verhandlungsgeschick. Als ehemaliger Feldagent und Anwerber von Agenten verstand er sich darauf, Stroh zu Gold zu spinnen. Er brauchte nur jemanden, der die Interessen des Diensts bei jedem franko-israelischen Unternehmen wahrte. Dafür hatte er bereits einen Kandidaten, einen legendären Feldagenten, der schon mit zweiundzwanzig Jahren auf französischem Boden operiert hatte. Außerdem hatte der besagte Agent Hannah Weinberg persönlich gekannt. Bedauerlich war nur, dass der Ministerpräsident etwas anderes mit ihm vorhatte.

Navot sah auf seine Armbanduhr: gleich 22.15 Uhr. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Reisestelle.

„Ich muss morgen früh nach Paris fliegen.“

„Um sechs Uhr oder um neun?“

„Um sechs“, sagte Navot resigniert.

„Wann fliegen Sie zurück?“

„Morgen Abend.“

„Gebongt.“

Navot legte auf, dann wählte er eine andere Nummer. Auch diesmal stellte er wieder die Frage, die er schon oft gestellt hatte.

„Wie lange dauert’s noch, bis er fertig ist?“

„Er ist kurz davor.“

„Wie kurz davor?“

„Vielleicht heute Abend, spätestens morgen.“

Navot ließ den Hörer sinken und sah sich langsam in der luxuriösen Bürosuite um, die ihm bald nicht mehr gehören würde.

Spätestens morgen …

Vielleicht, dachte er, oder vielleicht auch nicht.

5

ISRAEL-MUSEUM, JERUSALEM

In der hintersten Ecke des Konservierungslabors trennte ein schwarzer Vorhang einen Bereich von der weißen Decke bis zum weißen Fußboden ab. Dahinter standen zwei identische italienische Staffeleien aus Eiche, zwei Halogenlampen auf Ständern, eine Nikon-Kamera auf einem Stativ, ein kleiner Tisch mit einer Palette, einem großen Wattebausch und einem alten CD-Player mit allen möglichen Farbklecksen sowie ein Wägelchen mit Pigmenten, Mal- und Lösungsmitteln, Holzkeilen und Zobelhaarpinseln der Serie 7 von Winsor & Newton. Hier arbeitete der Restaurator seit fast vier Monaten, manchmal spät nachts, manchmal lange vor Tagesanbruch. Er besaß keinen Dienstausweis des Museums, weil er anderswo beschäftigt war. Das Laborpersonal hatte Anweisung, nicht über ihn zu reden, nicht einmal seinen Namen zu erwähnen. Auch über das große Gemälde auf seinen Staffeleien, ein Altarbild eines italienischen Altmeisters, durfte nicht gesprochen werden. Wie der Restaurator hatte es eine gefährliche und tragische Vergangenheit.

Er war unterdurchschnittlich groß – wenig über einen Meter siebzig – und sportlich schlank. An seinem Gesicht mit der hohen Stirn und dem schmalen Kinn fielen die hohen Wangenknochen und eine lange knochige Nase auf, die wie aus Holz geschnitzt zu sein schien. Sein kurz geschnittenes dunkles Haar war an den Schläfen grau meliert; seine Augen waren fast unnatürlich smaragdgrün. Sein Alter gehörte zu den am besten gehüteten Geheimnissen Israels. Als die Weltpresse vor wenigen Monaten Nachrufe auf ihn veröffentlicht hatte, war nirgends ein bestätigtes Geburtsdatum zu lesen gewesen. Die Meldung von seinem Tod war Teil eines komplizierten Unternehmens gewesen, das seine Feinde in Moskau und Teheran täuschen sollte. Sie hatten diese Meldung geglaubt, was dem Restaurator Gelegenheit gegeben hatte, sich an ihnen zu rächen. Nicht lange nach seiner Rückkehr nach Jerusalem hatte seine Frau ihm Zwillinge geschenkt: ein Mädchen, das nach seiner Mutter Irene hieß, und einen Sohn namens Raphael. Die drei – Mutter, Tochter, Sohn – gehörten jetzt zu den am besten bewachten Israelis. Auch der Restaurator gehörte zu diesem Personenkreis. Er fuhr ein gepanzertes amerikanisches SUV und wurde von einem Personenschützer, einem rehäugigen Killer, begleitet, der am Eingang des Konservierungslabors Wache hielt, wenn er dort arbeitete.

Auf sein Auftauchen im Museum an einem regnerischen, düsteren Mittwoch im Dezember, wenige Tage nach der Geburt seiner Kinder, hatten die anderen Restauratoren mit Schock und Erleichterung reagiert. Sie waren gewarnt worden, dass er es nicht leiden konnte, bei der Arbeit beobachtet zu werden. Trotzdem steckten sie immer wieder die Köpfe in seine kleine Grotte, um das Altarbild mit eigenen Augen zu sehen. Ehrlich gesagt konnte er ihnen das nicht verübeln. Das Gemälde, Caravaggios Christi Geburt mit den Heiligen Franziskus und Laurentius, war vermutlich das berühmteste verschollene Gemälde der Welt. Nachdem es im Oktober 1969 aus Oratorio di San Lorenzo des Franziskanerordens in Palermo gestohlen worden war, gehörte es jetzt offiziell dem Vatikan. Der Heilige Stuhl hatte klugerweise entschieden, die Wiederbeibringung des Gemäldes erst publik zu machen, wenn die Restaurierung abgeschlossen war. Wie so viele Verlautbarungen des Vatikans würde die offizielle Version der Ereignisse wenig mit der Wahrheit zu tun haben. Beispielsweise würde sie nicht erwähnen, dass der legendäre israelische Geheimagent Gabriel Allon das verschollene Gemälde in einer Kirche der oberitalienischen Stadt Brienno aufgespürt hatte. Und sie würde auch unerwähnt lassen, dass die Restaurierung des Altarbilds eben diesem legendären Geheimagenten anvertraut worden war.

In seiner langen Karriere hatte er mehrmals ungewöhnliche Restaurierungen durchgeführt – einmal hatte er ein Porträt von Rembrandt nach einem Durchschuss restauriert –, aber der Caravaggio, der jetzt auf Gabriels Staffeleien stand, war zweifellos das am stärksten beschädigte Gemälde, an dem er je gearbeitet hatte. Über seine lange Reise vom Oratorio di San Lorenzo bis zu der Kirche in Brienno war nur wenig bekannt. Die Geschichten, die sich um das Gemälde rankten, waren jedoch zahllos. Es hatte einem Mafia-Paten gehört, der damit bei wichtigen Besprechungen mit seinen Schergen geprunkt hatte. Es war von Ratten angefressen, bei einer Überschwemmung beschädigt und durch Feuer angesengt worden. Gabriel wusste nur eines: Seine Wunden waren schwer, aber nicht tödlich. In diesem Punkt war Ephraim Cohen, der Chefkonservator des Israel-Museums, anderer Meinung. Er hatte Gabriel geraten, den Auftrag abzulehnen und das Gemälde in dem Holzsarg, in dem es angekommen war, dem Vatikan zurückzuschicken.

„So spricht ein Kleingläubiger“, hatte Gabriel gesagt.

„Nein“, hatte Cohen geantwortet. „Ein Mann mit beschränkten Gaben.“

Wie viele seine Mitarbeiter kannte Cohen die Storys von geplatzten Terminen, abgebrochenen Aufträgen, verschobenen Wiedereröffnungen von Kirchen. Gabriels Zeitlupentempo bei Restaurierungen war legendär, fast so legendär wie seine Erfolge auf den geheimen Schlachtfeldern Europas und des Nahen Ostens. Aber Cohen merkte bald, dass Gabriels Langsamkeit kein instinktives, sondern ein ganz bewusstes Verhalten war. Die Kunst der Restaurierung, erklärte er Cohen eines Abends, während er rasch das zerstörte Gesicht des Franziskus reparierte, habe Ähnlichkeit mit gutem Sex. Am besten ging man langsam und mit viel Aufmerksamkeit für Details heran, ohne gelegentliche Ruhepausen mit Erfrischungen zu vergessen. Aber notfalls, wenn der Restaurator mit dem Objekt vertraut war, konnte die Arbeit außergewöhnlich rasch vonstattengehen – bei mehr oder weniger gleichem Ergebnis.

„Caravaggio und du sind wohl alte Freunde?“, fragte Cohen.

„Wir haben schon früher zusammengearbeitet.“

„Dann treffen die Gerüchte also zu?“

Gabriel hatte mit rechts gemalt. Jetzt nahm er den Pinsel in die linke Hand und arbeitete ebenso geschickt weiter.

„Welche Gerüchte?“, fragte er nach kurzer Pause.

„Dass du es warst, der vor ein paar Jahren die Grablegung für die Vatikanmuseen restauriert hat.“

„Du solltest nichts auf Gerüchte geben, Ephraim, vor allem nicht, wenn sie mich betreffen.“

„Oder auf Nachrichten“, fügte Cohen finster hinzu.

Gabriels Arbeitszeiten waren erratisch und nicht vorhersehbar. Manchmal verging ein ganzer Tag, ohne dass er sich sehen ließ. Dann wieder kam Cohen ins Museum und fand wie durch ein Wunder große Gemäldepartien perfekt restauriert vor. Vielleicht hatte Gabriel einen Helfer, von dem niemand etwas wusste. Oder Caravaggio schlich sich nachts ins Museum – Pinsel in einer Hand, Degen in der anderen –, um bei der Arbeit zu helfen. Nach einer besonders produktiven Nachtsitzung, in der die Muttergottes zu voriger Pracht restauriert worden war, machte Cohen sich die Mühe, sich die Aufnahmen der Überwachungskameras anzusehen. Er stellte fest, dass Gabriel um 22.30 Uhr ins Labor gekommen war und es am folgenden Morgen gegen 7.20 Uhr verlassen hatte. Nicht einmal sein rehäugiger Leibwächter hatte ihn begleitet. Vielleicht stimmt es doch, dachte Cohen, während er beobachtete, wie die mit einem Bild pro Sekunde aufgenommene geisterhafte Gestalt über menschenleere Korridore huschte. Vielleicht ist er wirklich ein Erzengel.

Arbeitete er tagsüber an dem Caravaggio, hörte er immer Musik. Puccinis La Bohème war sein absoluter Favorit. Tatsächlich spielte er die Aufnahme so oft, dass Cohen – der kein Wort Italienisch sprach – die Arie „Che gelida manina“ schon bald auswendig singen konnte. Wenn Gabriel seine durch Vorhänge abgetrennte Grotte betrat, kam er nie mehr zum Vorschein, bevor die Sitzung beendet war. Er ging nicht im Garten des Museums spazieren, um einen klaren Kopf zu bekommen, und verzichtete auf Ausflüge in die Personalkantine, um Kaffee zu trinken. Zu hören war nur seine Musik und ein gelegentliches Klicken der Nikon, mit der er seine Fortschritte dokumentierte. Bevor er das Labor verließ, wusch er seine Pinsel aus und ordnete alles auf dem Wägelchen nach einem bestimmten Schema, um auf einen Blick feststellen zu können, ob jemand sich daran zu schaffen gemacht hatte. Dann verstummte die Musik, die Halogenlampen erloschen, und Gabriel verschwand mit wenig mehr als einem freundlichen Nicken für seine Kollegen im Labor.

Anfang April, als die winterliche Regenzeit vorüber und das Wetter wieder warm und heiter war, befand Gabriel sich im Endspurt zu einer Ziellinie, die nur er sehen konnte. Zu restaurieren blieb nur noch ein geflügelter Engel des Herrn, ein elfenbeinweißer Knabe, der in den oberen Regionen des Gemäldes schwebte. Merkwürdig, dass er sich den für zuletzt aufgespart hatte, fand Cohen, denn dieser Engel war schwer beschädigt. Seine Gliedmaßen waren durch Farbverluste entstellt, sein weißes Gewand war zerfetzt. Nur seine gen Himmel weisende Rechte war unbeschädigt. Gabriel restaurierte den Engel in einer Serie von Marathonsitzungen. Auffällig an ihnen war, dass sie ohne Musik stattfanden – und dass der Pariser Bombenanschlag sich ereignete, als er an dem braunen Haar des Engels arbeitete. Er stand lange vor dem kleinen Fernseher des Labors, ohne darauf zu achten, dass die Farben auf seiner Palette antrockneten, und beobachtete die Bergung der Leichen aus den Trümmern. Und als das Foto einer Frau namens Hannah Weinberg gezeigt wurde, zuckte er wie unter einem unsichtbaren Schlag zusammen. Seine Miene verfinsterte sich, und seine grünen Augen schienen zornig zu funkeln. Cohen war versucht, ihn zu fragen, ob er die Frau gekannt habe, aber er ließ es doch lieber. Man konnte mit ihm über Malerei und das Wetter reden, aber wenn Bomben detonierten, hielt man besser Abstand.

Am letzten Tag, dem Tag von Uzi Navots Parisreise, kam Gabriel vor Tagesanbruch ins Labor und blieb bis zum späten Abend in seiner kleinen Grotte. Ephraim Cohen blieb ebenfalls länger, weil er spürte, dass die Restaurierung sich dem Ende näherte. Tatsächlich brach kurz nach zwanzig Uhr die Musik ab. Ein Blick durch einen Vorhangspalt zeigte Cohen, dass Gabriel vor dem Caravaggio stand: den Kopf leicht zur Seite geneigt, mit einer Hand sein Kinn umfassend. In dieser Haltung verharrte er wie die Gestalten des Altarbilds, bis der rehäugige Leibwächter hastig ins Labor kam und ihm ein Smartphone in die Hand drückte. Er hob es widerstrebend ans Ohr, hörte schweigend zu und murmelte dann etwas, das Cohen nicht verstand. Im nächsten Augenblick war er mit dem Personenschützer verschwunden.

Allein schlüpfte Ephraim Cohen durch den Vorhang und blieb vor dem restaurierten Gemälde stehen, das ihm fast den Atem verschlug. Zuletzt nahm er einen Pinsel von Winsor & Newton von dem Wägelchen und steckte ihn als Andenken in eine Tasche seines Laborkittels. Das ist einfach nicht fair, dachte er, als er die Halogenlampen ausschaltete. Vielleicht ist er doch ein Erzengel.

6

MA’ALE HAHAMISHA, ISRAEL

Der alte Kibbuz Ma’ale Hahamisha liegt auf einem strategisch wichtigen Hügel in dem zerklüfteten Bergland westlich von Jerusalem unweit der arabischen Siedlung Abu Ghosh. Bei seiner Gründung während des Arabischen Aufstands 1936 bis 1939 gehörte er zu den siebenundfünfzig sogenannten Turm-und-Palisaden-Siedlungen, die in dem verzweifelten Versuch, die zionistische Siedlungspolitik zu retten und letztlich das alte Königreich Israel wiederauferstehen zu lassen, hastig im britischen Mandatsgebiet Palästina errichtet wurden. Ihren Namen und sogar ihre Identität verdankt sie einem Racheakt. Übersetzt heißt Ma’ale Hahamisha „die Himmelfahrt der fünf“.

Trotz der gewaltsamen Umstände seiner Geburt brachten der Blumenkohl- und Pfirsichanbau sowie sein reizendes Berghotel dem Kibbuz Wohlstand. Ari Schamron, der zweimalige frühere Direktor des Diensts, benutzte das Hotel oft als Treffpunkt, wenn der King Saul Boulevard oder ein sicheres Haus nicht opportun waren. Eines dieser Treffen hatte an einem sonnigen Septembertag des Jahres 1972 stattgefunden. Schamrons widerstrebender Gast war ein begabter junger Maler namens Gabriel Allon gewesen, den er aus der Kunst- und Designakademie Bezalel geholt hatte. Bei den Olympischen Spielen in München hatte die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September soeben elf israelische Sportler und Trainer ermordet, und Gabriel, der fließend Deutsch sprach und einige Zeit in Europa gelebt hatte, sollte Schamrons Werkzeug der Rache sein. Gabriel hatte ihn in jugendlichem Trotz aufgefordert, sich einen anderen zu suchen, aber Schamron hatte ihm – nicht zum letzten Mal – seinen Willen aufgezwungen.

Das Unternehmen erhielt den Decknamen „Zorn Gottes“, den Schamron bewusst wählte, um seinem Rachefeldzug den Anschein einer von Gott sanktionierten Operation zu geben. Drei Jahre lang jagten Gabriel und ein kleines Team von Helfern ihre Opfer in ganz Europa und dem Nahen Osten, mordeten Tag und Nacht und lebten in ständiger Angst, sie könnten verhaftet und als Mörder angeklagt werden. Insgesamt starben zwölf Mitglieder des Schwarzen Septembers unter ihren Händen. Gabriel erschoss sechs Terroristen mit einer Beretta Kaliber .22 – möglichst mit elf Schüssen, einen für jeden ermordeten Juden. Als er endlich nach Israel zurückkehrte, waren seine Schläfen vor Stress und Anstrengung grau geworden. Aschespuren am Fürsten des Feuers, hatte Schamron gesagt.

Gabriel hatte seine Künstlerlaufbahn fortsetzen wollen, aber wenn er vor einer Leinwand stand, sah er immer nur die Gesichter der Männer, die er ermordet hatte. Deshalb war er mit Schamrons Einverständnis als der im Ausland lebende Italiener Mario Delvecchio nach Venedig gegangen, um eine Ausbildung als Restaurator zu machen. Als er ausgelernt hatte, war er in den Dienst und unter Schamrons Obhut zurückgekehrt. In seiner Rolle als in Europa lebender, talentierter, aber schweigsamer Restaurator hatte er einige der gefährlichsten Feinde Israels beseitigt – darunter Abu Dschihad, Jassir Arafats begabten Stellvertreter, den er in Tunis vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder erschossen hatte. Arafat hatte sich dafür gerächt, indem er in Wien einen Sprengsatz unter Gabriels Auto hatte anbringen lassen. Die Detonation hatte seinen kleinen Sohn Daniel getötet und seine erste Frau Leah schwer verletzt. In einem Gefängnis aus Erinnerungen und einem von Brandwunden entstellten Körper gefangen, lebte sie jetzt in der psychiatrischen Klinik auf der anderen Seite des Hügels von Ma’ale Hahamisha. Die Klinik lag in dem alten arabischen Dorf Deir Jassin, in dem jüdische Kämpfer der Untergrundorganisationen Irgun und Lehi am Abend des 9. April 1949 über hundert Palästinenser massakrierten. Dass die gebrochene Frau von Israels Racheengel unter den Gespenstern von Deir Jassin lebte, war eine grausame Ironie des Schicksals, aber so war das Leben im gelobten Land nun einmal. Die Vergangenheit war unentrinnbar. Hass, Blut und ihre Opferrolle schweißte Araber und Juden zusammen. Und zur Buße würden sie gezwungen sein, auf ewig als sich befehdende Nachbarn zusammenzuleben.

Für Gabriel waren die Jahre nach dem Bombenanschlag in Wien verlorene Jahre. Er lebte als Einsiedler in Cornwall, zog als Restaurator durch Europa und versuchte zu vergessen. Irgendwann meldete Schamron sich wieder, und die Verbindung zwischen Gabriel und dem Dienst wurde erneuert. Auf Anweisung seines Mentors führte er einige der berühmtesten Unternehmen in der Geschichte der israelischen Geheimdienste durch. An seinen Erfolgen wurden wieder andere gemessen – vor allem Uzi Navot. Wie die Araber und Juden Palästinas waren Gabriel und Navot untrennbar miteinander verbunden. Sie waren die Söhne Schamrons, die vertrauenswürdigen Erben des Diensts, den er aufgebaut hatte. Gabriel, der ältere Sohn, war sich der Liebe ihres Vaters sicher gewesen, aber Navot hatte ständig darum gekämpft, seine Anerkennung zu gewinnen. Direktor des Diensts war er nur geworden, weil Gabriel diesen Posten abgelehnt hatte. Jetzt war Gabriel – in zweiter Ehe verheiratet und wieder Vater – endlich bereit, seinen rechtmäßigen Platz in der Suite des Direktors am King Saul Boulevard einzunehmen. Für Uzi Navot war das eine Nakba, eine Katastrophe oder Unglück, wie die Flucht und Vertreibung der Palästinenser im arabischen Sprachgebrauch genannt wurde.

Das alte Hotel in Ma’ale Hahamisha war keine eineinhalb Kilometer von der bis 1967 bestehenden Grenze entfernt, und von seiner Terrasse aus waren die gelben Straßenlaternen jüdischer Siedlungen zu sehen, die sich in ordentlichen Reihen über die Hügel ins Westjordanland hinunterzogen. Die Terrasse lag im Dunkel, wurde nur von einigen flackernden Windlichtern auf leeren Tischen erhellt. Navot saß allein in der hintersten Ecke wie damals Schamron an jenem schicksalhaften Septembertag des Jahres 1972. Gabriel setzte sich zu ihm und schlug den Kragen seiner Lederjacke als Windschutz hoch. Navot schwieg zunächst. Er starrte auf die Lichter von Har Adar hinunter, das die erste jüdische Siedlung jenseits der Grünen Linie gewesen war.

„Masel tov“, sagte er schließlich.

„Wozu?“

„Zu dem Gemälde“, sagte Navot. „Wie ich höre, ist es so gut wie fertig.“

„Wo hörst du so was?“

„Ich habe mich für deine Fortschritte interessiert. Der Ministerpräsident übrigens auch.“ Navot betrachtete Gabriel durch seine Schubertbrille. „Ist sie wirklich fertig?“

„Ich denke schon.“

„Was soll das heißen?“

„Das heißt, dass ich’s mir morgen früh noch mal ansehen werde. Gefällt mir, was ich sehe, trage ich Firnis auf und schicke es nach Rom zurück.“

„Und das nur zehn Tage verspätet.“

„Tatsächlich elf. Aber wer zählt die schon nach?“

„Zum Beispiel ich.“ Navot lächelte bedauernd. „Ich habe den Aufschub genossen, auch wenn er nur kurz war.“

Sekundenlang herrschte Schweigen zwischen ihnen. Aber es war keineswegs gesellig.

„Falls du’s vergessen haben solltest“, sagte Navot schließlich, „wird es Zeit, dass du deinen neuen Vertrag unterschreibst und in mein Büro einziehst. Ich wollte heute meine Sachen zusammenpacken, aber ich musste noch eine Reise als Direktor machen.“

„Wohin?“

„Ich hatte Informationen über den Bombenanschlag auf das Weinberg-Zentrum, die ich unseren französischen Kollegen übermitteln musste. Außerdem wollte ich sicherstellen, dass sie wirklich energisch ermitteln. Schließlich sind unter den Opfern vier Israelis – ganz zu schweigen von einer Frau, die uns mal einen großen Dienst erwiesen hat.“

„Wissen sie von unseren Verbindungen zu ihr?“

„Die Franzosen?“

„Ja, Uzi, die Franzosen.“

„Nach dem Anschlag habe ich ein Team in ihr Apartment geschickt.“

„Und?“

„Es hat keinen Hinweis auf einen gewissen israelischen Geheimagenten gegeben, dem sie einmal ihren van Gogh geliehen hat, damit er einen Terroristen zur Strecke bringen konnte. Auch keinen Hinweis auf Zizi al-Bakari, Finanzberater des Hauses Saud und Finanzier des Dschihads.“ Navot machte eine Pause, dann fügte er hinzu: „Er ruhe in Frieden.“

„Was war mit dem Gemälde?“

„Wie immer an seinem Platz. Nachträglich gesehen hätte das Team es mitnehmen sollen.“

„Wieso das?“

„Du wirst dich erinnern, dass unsere Hannah nie verheiratet war. Geschwister hatte sie auch keine. Über den van Gogh hat sie testamentarisch verfügt. Leider waren die französischen Kollegen bei ihrem Anwalt, bevor er mit uns Verbindung aufnehmen konnte.“

„Was soll das heißen, Uzi?“

„Hannah scheint nur einem Menschen auf der Welt zugetraut zu haben, gut auf ihren van Gogh aufzupassen.“

„Wem?“

„Natürlich dir. Aber da gibt’s ein kleines Problem“, fügte Navot hinzu. „Die Franzosen haben das Gemälde in Geiselhaft genommen. Und sie fordern einen ziemlich hohen Preis.“

„Wie viel?“

Autor

Video

Entdecken Sie weitere Romane aus unseren Miniserien

Gabriel Allon