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Starling Nights 2

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Nach den sich überschlagenden Ereignissen stehen die Stare vor der Frage, wie es weitergehen soll. Im Gegensatz zu Cliff möchte Ashton sich nicht damit abfinden, sein Dasein voll uneingeschränkter Möglichkeiten einfach aufzugeben. Umso erleichterter ist er, als er herausfindet, dass es einen Weg gibt, die alte Ordnung wiederherzustellen. Als sich jedoch herausstellt, dass er dafür ausgerechnet Zoes Hilfe benötigt, steht er vor einem Problem. Denn seit Zoe die Wahrheit über Ashton und die Stare erfahren hat, möchte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Doch Ashton gibt nicht auf: Um sich und seine Freunde zu retten, muss er dafür sorgen, dass sich Zoe in ihn verliebt. Auch wenn das bedeutet, sich Gefühlen zu stellen, die er sich bereits vor langer Zeit verboten hat …


  • Erscheinungstag: 23.01.2024
  • Aus der Serie: Starling Nights
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704112
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Freundinnen.
Für die Geschichten, die Geheimnisse, das Gesehenwerden.

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser Geschichte.

Eure Merit und euer Team von reverie

PROLOG

Damals

Wir sahen das Licht fallen, und ich liebte es.

Auch nachdem der Meteorschauer vorüber war, glaubte ich noch, die silbrigen Schlieren am Nachthimmel zu erkennen. Ich hob die Hand und zeichnete sie mit meinen Fingerkuppen nach. Im Grunde hinterließen wir unsere Spuren ganz ähnlich auf der Welt: durch dünne Lichtlinien, die nicht immer sichtbar waren – und schon gar nicht für alle. Genau deswegen waren sie, waren wir, so besonders.

Langsam drehte ich den Kopf zur Seite. Mein Nacken schmerzte, weil ich seit Stunden auf dem Flachdach lag und hinauf starrte. Mittlerweile allein, die anderen hatten sich schon verabschiedet. Nur Heaven stand noch am Rand des Dachs, seit sie ihnen nachgesehen hatte, wie sie sich über den Campus von uns entfernt hatten. Fast so, als hätte sie Sorge, die Dunkelheit könnte sie verschlucken. Dabei war das nichts, was wir zu befürchten hatten: Wir waren in ihr zu Hause, wir fühlten uns von ihr behütet, nicht bedroht. Sobald das Helle verblasste, konnten wir aufatmen. Erst dann war es uns möglich, die aus Mimik, Gestik und Angewohnheiten gebundenen Masken sinken zu lassen. Masken, die wir über unsere Gesichter gezogen hatten, um zu verbergen, dass wir sie ihren eigentlichen Besitzern gestohlen hatten.

Glühwürmchen, so nannte uns Heaven, wenn wir nachts unterwegs waren. Weil unsere eigenen Seelen erst im Schutz der Dunkelheit leuchten dürfen.

Die besten Momente in diesem Schwarzblau waren die, in denen sie bei mir war. Wenn Heavens Umrisse hinter dichtem Nachtstoff verschwammen, konnte ich darin für kurze Zeit alle Körper erkennen, in denen sie je gelebt hatte. Ein Mosaikbild unserer Ewigkeit.

Normalerweise beruhigte mich dieser Anblick, normalerweise war dieser aber auch nicht so ruhig. Heavens Seele war laut und schillernd und immer in Bewegung, auch dann, wenn das Äußere, das sie umgab, stillstand. Heute hingegen wirkte alles an ihr vollkommen reglos. Und das wiederum machte mich nervös.

Ich stand auf und ging zu ihr. »Was ist los?«

Sie löste den Blick vom Abgrund unter sich. Ihre Fußspitzen waren nur wenige Zentimeter von der Kante des Dachs entfernt. Das Institut, auf das wir geklettert waren, befand sich am Rande des Trinity Colleges. Direkt gegenüber von dem Wohnheim, in dem Heaven lebte, seit sie in Amelias Leben geschlüpft war. Ihre Augen wirkten blasser als sonst, ihr Lächeln auch. »Nichts, ich denke nur an … sterbende Sterne.«

Ich legte einen Arm um ihre Schultern und deutete nach oben. »Meteorschauer haben nichts mit Sternen zu tun, das weißt du, oder?«

Sie verdrehte die Augen, lehnte sich aber enger an mich. »Ich hab in letzter Zeit einfach viel darüber nachgedacht. Darüber, dass nicht einmal die angebliche Ewigkeit der Sterne von Dauer ist. Sie sterben auch, sobald ihre kleine Unendlichkeit vergangen ist.«

»Hm, ich weiß. Und die hellsten von ihnen gehen mit einer Supernova.«

Heaven nickte sacht. »Sie leuchten Milliarden Mal heller als die Sonne. Das mächtigste Ende der Welt.«

»Ein Grund mehr, warum die Nacht schöner ist als der Tag.« Ich küsste sie auf die Schläfe, wie immer, wenn ich eigentlich gern dahintergeblickt hätte. Auch nach all den Jahren war sie mir noch ab und zu ein Rätsel. Vielleicht war es das, was ich am meisten an ihr liebte.

Heaven drehte sich zu mir, ihr Fuß stand nun genau auf der Kante. »Ich liebe dich«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gehört. Aber im Grunde musste sie das nicht, um zu wissen, was in mir vorging. Wir kannten einander auf tiefste, innigste Weise. Ihre Seele war das Spiegelbild der meinen – und umgekehrt. Und genau deswegen brauchte sie auch keine Antwort auf ihre nächste Frage: »Das weißt du, oder?«

Beiläufig zog ich sie ein Stück an mich heran, vom Abgrund fort. Unsterblich zu sein, bedeutete nicht, nicht sterben zu können, auch wenn Heaven gern so tat. »Ich weiß vor allem, dass du dicht bist, wenn du sentimental wirst«, spottete ich und fuhr über ihre glühende Haut, die unter dem verrutschten Pullover hervorblitzte. Dahinter pochte kein Alkohol, sondern pure Energie.

»Arthur.« Sie umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und sah mir mit feierlichem Ernst in die Augen. »Ob dicht oder nicht, ich liebe dich.«

Ich musste lachen, und der aufgesetzte Ausdruck in ihren Zügen verwandelte sich in etwas Zärtlicheres, Echteres.

»Das ist mein Lieblingsgeräusch«, murmelte sie und strich mit den Fingerspitzen über meine Wangen. »Ganz gleich, mit welcher Stimme oder in welchem Körper, es gibt nie etwas vergleichbar Schönes wie dein Lachen. Wie dich.«

Ich lehnte meine Stirn gegen ihre, sodass ihre Hitze auf mich überspringen konnte. Es war seltsam: Ein Körper fühlte sich immer erst dann wie meiner an, wenn sie mich berührte. Heaven fühlen hieß, mich fühlen – egal, wie fremd mir die Haut war, in der ich steckte. »Ich liebe dich auch, Amelia.«

»Nenn mich nicht so«, flüsterte sie. »Nicht heute.«

»Ich dachte, wir haben die Regeln in letzter Zeit genug gebeugt.« Immerhin hatten wir in den vergangenen Monaten so viel Energie in uns aufgenommen, dass ich das Gefühl hatte, permanent unter Strom zu stehen. Es kümmerte mich nicht, was die anderen dazu sagten. Was niemand zu verstehen schien, war: Heaven war die große Ausnahme meines Daseins. Wie hätte ich mich mit ihr um so etwas wie Regeln scheren sollen?

Sie ließ mich los und senkte den Blick auf den schwarzen Fleck unterhalb meines Schlüsselbeins. Seine Kanten spiegelten genau die von ihrem. Unsere Tattoos waren Puzzleteile, die perfekt zueinanderpassten – so wie unsere Seelen. »Ja, haben wir.« Da war ein ungewohnter Funken Traurigkeit in ihrem Gesicht, der mir nicht behagte.

Wir alle hatten unsere stillen Momente, die, in denen uns dieses Dasein zu entgleiten drohte, weil es zu bizarr, zu seltsam, zu absurd erschien. Aber auch die vergingen jedes Mal nach einigen Wimpernschlägen wieder. So, wie alles verging. Alles, bis auf uns.

»Du bist die Liebe meines Lebens, Heaven. All meiner Leben, um genau zu sein.« Ich lächelte und küsste sie kurz und sanft auf den Mund. Sie schmeckte in jedem Körper anders und doch immer nach sich selbst. »Genug Kitsch für eine Nacht?«, raunte ich uns beiden zu.

»Genug Kitsch für eine Ewigkeit«, bestätigte sie leise und zog mich zu sich heran, küsste mich aufs Kinn, auf die Mundwinkel, wieder auf die Lippen.

Mein Kinn, meine Mundwinkel, meine Lippen. Mein Körper gehörte wirklich nur mir, wenn sie mich berührte. Die ganze Welt gehörte mir.

»Schläfst du bei mir?«, fragte ich, als wir uns wieder voneinander lösten. Es fing bereits an zu dämmern. Fliederfarbene Wolken begannen dicht über uns am Himmel aufzublühen und verfingen sich in den kupferfarbenen Gebäudespitzen Cambridges.

Heaven schüttelte den Kopf, griff in ihre Hosentasche. »Heute nicht. Aber ich hab noch was für dich.«

Stirnrunzelnd betrachtete ich den Briefumschlag, den sie mir hinhielt. »Ich dachte, das war’s mit dem Kitsch?«

Sie lächelte schwach, aber sie sah mir nicht in die Augen. »Lass mir die Freude. Und … öffne ihn erst später, ja?«

Ich fragte nicht nach. Heaven war nicht nur ein Rätsel, sie liebte es auch, in solchen zu sprechen. »Was immer du befiehlst.« Seufzend verstaute ich das Kuvert in der Tasche meines Sakkos. »Dann geh ich jetzt mal.«

Ehe ich zurücktreten konnte, umfasste sie erneut mein Gesicht und küsste mich. »An diesem Augenblick hängt die Ewigkeit. Nur an diesem. Vergiss das nicht«, flüsterte sie, ehe sie mich losließ und sich wieder abwandte.

Ich sah wiederholt über meine Schulter, ehe ich das Dach verließ, doch sie schaute nicht mehr zurück. Es wunderte mich nicht: So war Heaven eben. Sie sah nie zurück, nicht einmal für mich. Das war der Grund dafür, dass ich seit über einhundert Jahren darauf achtete, an ihrer Seite zu bleiben.

Die Nacht atmete mich tief ein, als ich den Campus des Trinity Colleges hinter mir ließ. Ihr Atem roch nach Rhododendren und blühenden Birken, nach dem frisch-herben Duft der Cam und regenfeuchtem Stein.

Kurz vor meinem Wohnheim klopfte ich meine Taschen auf der Suche nach meinen Zigaretten ab und erstarrte, als meine Finger stattdessen den Papierumschlag ertasteten. Da war diese Wölbung. Diese Wölbung, deren Kontur mir die vertrauteste von allen war, weil ich sie jeden Tag etliche Male nachfuhr. An meinem Hals, an der dünnen Goldkette, an der ein Ring hing – unser Ring.

Ohne zu zögern, zerrte ich den Umschlag hervor, riss ihn auf und schüttete den Inhalt in meine Hand. Das Gold glänzte matt, das wolkenverhangene Licht brach sich an der winzigen Gravur im inneren Rand. Nur ein einziger Buchstabe: A.

Automatisch griff ich an meinen Hals und zog die Kette hervor, presste den Daumen auf das dort eingravierte H.

Der Meteorschauer war zwar längst vorbei, doch in diesem Augenblick fühlte es sich an, als würden dennoch etliche Gesteinsbrocken auf mich niederprasseln. Sie zertrümmerten jegliches Glücksgefühl, das ich in den letzten Stunden empfunden hatte, das ich jemals empfunden hatte. Sie zertrümmerten alles. Ich wusste es, bevor ich es verstand. Meine Gedanken verschlangen sich zu einem Knäuel ohne Anfang und Ende, und obwohl sie im Gegensatz zu meinem Körper immer nur mir gehört hatten, schaltete dieser schneller. Ich zerknüllte den Umschlag mit einer Hand, drehte mich um und rannte.

Noch bevor ich es sah, hörte ich es. Das Knistern, das Knacken, das Zischen. Feuer hatte viele Stimmen, ihr Tonfall war trotzdem immer derselbe: Schmerz.

Die lilablauen Wolken am Himmel waren von purpurroten Kratzern zerfurcht. Ich spürte, wie sich ebensolche durch mein Inneres zogen, als ich ihr Wohnheim erreichte. Ein efeuüberhangener Backsteinkasten, zerfressen von Flammenzungen, die mich die Augen zusammenkneifen ließen. Meine Schritte wurden langsamer, meine Knie weich. Auch ohne nach dem Zimmerfenster zu suchen, wusste ich es.

Ich wusste es, weil ich es fühlte – diese Leere, die sich in meinem Zentrum ausdehnte, genau dort, wo bisher meine Seele gewesen war.

Und ich wusste auch, woran das lag: Wenn ein Stern starb und die Supernova verebbte, verschwand all sein Licht.

Was blieb, war ein Schwarzes Loch.

Ein Nichts.

Und das für immer.

1

ASHTON

Man konnte gleichzeitig alles und nichts fühlen.

Mein Körper summte vor Hitze, die Energie in ihm floss lavaglühend durch Adern und Venen. Träge hob ich die Hand und betrachtete meine Fingerkuppen. Die Wärme hatte sie rot gefärbt, so wie sicher auch mein pochendes Gesicht. Mein Zentrum vibrierte, so sehr versuchte es, die Balance zu halten, um nicht zu viel Energie auf einmal in den Körper freizugeben. Was verheerend gewesen wäre, sehr verheerend.

All das spürte ich, aber was mich hätte beruhigen müssen, löste ein Gefühl der Leere in mir aus. Im Prinzip war das seit ein paar Monaten mein Dauerzustand: Ich sorgte dafür, dass ich alles fühlte, damit ich nichts fühlen musste.

Mühsam drehte ich den Kopf, presste die Wange gegen den kühlen Backstein des Gebäudes. Der Bass der Musik hämmerte von innen dagegen, der Schwindel machte dasselbe an meinen Schläfen. Beides zusammen zerpflückte meine Wahrnehmung, deswegen bemerkte ich die Stimme erst, als sie dicht neben meinem Ohr ertönte. »Endlich.«

Meine Mundwinkel verzogen sich automatisch zu einem schwachen Lächeln. Wenn das hier das Ende war, gab es nur eine Seele, die jetzt vor mir stehen konnte. Die einzige, die ich überhaupt noch sehen wollte. Die ich immer hatte sehen wollen.

Ich blinzelte und betrachtete die Umrisse, die sich direkt neben mir abzeichneten. Brauchte zwei, drei Sekunden, bis ich erkannte, dass das Gesicht, das mich missbilligend betrachtete, keines von ihren war. Natürlich nicht. Das war noch nicht das Ende, das war einfach nur mein beschissenes Leben.

Norah schnalzte mit der Zunge. »Ich hab dich in der ganzen Stadt gesucht.«

Ohne ein Wort stieß ich mich von der Wand ab und wankte auf die Tür des Hinterausgangs zu, durch den ich das Gebäude vorhin verlassen hatte. Zwei fahrige Schritte und Norah versperrte mir wieder den Weg. »Du gehst zu weit.«

»Nicht weit genug, wenn du mich immer noch findest.« Ich wischte mit dem Handrücken über meine Stirn. Mir war bewusst, dass der Schweißfilm nicht von der Hitze im Club kam, sondern von der, die ich seinen Besuchern zu verdanken hatte.

Norah mit Sicherheit auch. Sie zog die fuchsroten Augenbrauen zusammen. »Ich hab dich schon zwei Straßen vorher gespürt. Deine Seele leuchtet wie ein Inferno. Du glühst, Ash.«

Sie streckte den Arm nach mir aus, ich wich nach hinten. »Dann fass mich nicht an.«

Ich fixierte den Ausgang des Hinterhofs. Es waren nur ein paar Meter, aber ich traute meinen Beinen nicht zu, sie schnell genug zu überbrücken. Ich hätte es nicht zugegeben, auch wenn ich wusste, dass Norah recht hatte. Ich war zu weit gegangen. In den letzten Wochen hatte ich so viel Energie in mich aufgenommen wie seit Jahren nicht mehr. Seit vierzig Jahren, um genau zu sein. Ich balancierte auf einer Kante und schaffte es mittlerweile nicht einmal, mich selbst davon zu überzeugen, das Gleichgewicht halten zu können. Das Ding war: Es war mir schlichtweg egal.

Was machte es für einen Unterschied, wenn ich stürzte? Wir befanden uns alle längst im freien Fall, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Aufprall uns endgültig vernichtete. Und einer der Menschen, die dafür verantwortlich waren, stand in diesem Moment vor mir und sah mich mit vorwurfsvoll geweiteten Augen an.

»Die Uni hat vor zwei Tagen wieder angefangen, und du warst seitdem nicht mal auf dem Campus, geschweige denn in einem deiner Seminare.«

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Wand des schmalen Hinterhofs und schloss die Augen. »Überwachst du mich jetzt?«

»Lieber ich als Henry, oder?«

Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem unechten Lächeln. Die anderen hatten den Namen meines Vaters schon öfter für den Versuch genutzt, mich zu kontrollieren. Nie hatte mich das weniger beeindruckt als jetzt. »Ehrlich gesagt, nein. Derzeit wäre er mir lieber als einer von euch.«

Das war nur ein Teil der Wahrheit. Der andere war: Ganz gleich, welche Strafe sich Henry oder die anderen Ratsmitglieder für diese Missachtung der Regeln überlegen würden, es konnte nicht schlimmer sein als das, was ohnehin auf uns zukam. Abgesehen davon, dass der Rat derzeit andere Probleme hatte. Seit der Zerstörung des Artefakts waren knapp zwei Monate vergangen. Monate, in denen ich jeden Tag damit gerechnet hatte, meinen Vater vor meiner Tür anzutreffen. Es spielte keine Rolle, was Norah ihnen erzählt hatte, um Cliffs Motte zu schützen, man würde dennoch eine Ermittlung einleiten. Und diese würde auf direktem Weg nach Cambridge führen – und damit zu mir.

Auch wenn ich nichts mit alldem zu tun gehabt hatte, würde Henry mir das nie abkaufen. In seinen Augen war mein Name seit Beginn unserer Existenz an den von Cliff gebunden. Bis vor wenigen Monaten hatte ich gedacht, dass das so ziemlich das Einzige wäre, bei dem wir uns einig waren. Aber das war gewesen, bevor Cliff unsere gesamte Familie verraten und zum Tode verurteilt hatte, nur weil er sich in dieses dumme Mädchen verliebt hatte.

Die Wut kroch zähflüssig durch meinen Körper und drosselte den Energiestrom ein wenig. Mit ganzer Kraft schaffte ich es, die Kontrolle über meine Muskeln wiederzuerlangen. Ich stieß mich von der Wand ab und drehte mich in Richtung Ausgang.

Norah war wieder vor mir, kaum dass ich den ersten Schritt gemacht hatte. In den letzten Wochen hatte sie sich mit solchen Annäherungsversuchen zurückgehalten, auch wenn kein Tag vergangen war, an dem mir ihr Fokus auf dem Campus entgangen wäre. Immer mit dieser Anspannung in den Zügen, als würde sie damit rechnen, dass ich die Kontrolle verlieren könnte. Dabei war ich nicht derjenige, der sich über unsere elementarste Regel hinweggesetzt hatte: Familia ante omnia – die Familie steht über allem. Ich war mir sicher, Cliff und Norah hatten gewusst, dass das beinhaltete, sie nicht zu zerstören.

Norahs Blick wurde weicher, Reue mischte sich unter das blasse Blau. »Komm schon«, sagte sie sanft. »Es reicht langsam. Wie lang willst du noch schmollen?«

»Schmollen?« Ich lachte hart und richtete mich auf. Mir war die Größe meines Körpers nie sonderlich wichtig gewesen – es gab sowieso nichts, das einen eindrucksvoller erschienen ließ als Macht –, aber in diesem Moment war ich dankbar dafür, dass ich ihren um fast zwei Köpfe überragte. »Cliff, seine dumme Motte und du, ihr tragt die Schuld daran, dass wir bald alle in diesen Hüllen krepieren werden.«

Sie kniff die Lippen aufeinander, auch wenn ich mir wünschte, sie würde widersprechen und mir irgendeine glaubhafte alternative Wahrheit erzählen, in der sie ebenso betrogen worden war wie ich. Es wäre mir lieber gewesen, nur einen meiner angeblich besten Freunde hassen zu müssen. Doch Norah gab mir auch dieses Mal zu verstehen, wessen Seite sie gewählt hatte.

»Wir sind trotzdem deine Familie. Wir lieben …«

»Wage es nicht, von Liebe zu sprechen«, zischte ich. »Nicht nach dem, was ihr getan habt.«

»Wir haben versucht, das Richtige zu tun. Das, was wir da machen, ist falsch, Ashton. Wir zerstören Leben, und das seit über einem Jahrhundert. Wir stehlen Menschen ihr ganzes Dasein, wir ermorden sie – und das alles in dem Wissen, dass wir auch ihre Familien und Freunde in wenigen Jahren mit dem Schmerz ihres Verlusts konfrontieren werden. Wir sind die egoistischste, hinterhältigste Spezies, die es gibt. Ich hatte das einfach satt, ich bin das alles so leid, und ich bin so … müde.« Sie hob schwach die Schultern. »Ich will das nicht mehr. Ich will kein Leben mehr führen, das nicht mir gehört. Zum einen, weil ich es jemandem genommen habe, und zum anderen, weil der Rat mir vorschreibt, wie ich es zu leben habe. Cliff und ich wollten doch nur ein letztes Mal wir selbst sein dürfen, bevor es zu Ende geht – was eigentlich schon vor langer Zeit hätte passieren müssen. Kannst du das denn gar nicht verstehen?« Ihre Stimme brach in einem flehenden Ton.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, hielt mich mühsam davon ab, gegen die Wand zu schlagen. Ja, natürlich, unser Dasein war moralisch gesehen vermutlich nicht einwandfrei – aber wen kümmerte das? Moral war vom Menschen erdacht, sie existierte per se nicht. Wenn man die Regeln des Universums herunterbrach, dann ging es immer nur darum, zu überleben. Wir mussten uns alle an unserem eigenen Vorteil festkrallen und damit über Wasser – am Leben – halten, wenn wir nicht untergehen wollten. Die Welt war nun einmal nicht fair. Gut sein oder das vermeintlich Richtige tun, brachte dir nichts. Niemand schenkte dir etwas. Wenn man etwas wollte, musste man es sich nehmen. Macht bekamen nur die, die danach griffen. Und ganz gleich, wie oft meine Freunde und ich uns über den Rat und seine Anweisungen beschwert hatten: Er hatte uns immer genau gezeigt, wohin wir unsere Hände ausstrecken mussten, um sie zu erreichen. Was wir alle sehr lange bereitwillig getan hatten – ohne auch nur den Funken eines schlechten Gewissens.

Natürlich war mir aufgefallen, dass Cliff in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr damit gehadert hatte, aber das wäre wieder vorübergegangen. Normale Menschen durchlebten ständig irgendwelche existenziellen Krisen. Und da unsere Existenz deutlich dauerhafter war als ihre, war es völlig logisch, dass sie auch länger anhielten. Hätte er Zeit verstreichen lassen, wäre alles wieder in Ordnung gekommen. Tempus curat omnia – die Zeit heilt alles. Gott, wie oft hatte ich ihm das gesagt? Aber nein, statt auf mich zu hören, hatte er sich dazu entschieden, das unmöglich zu machen. Doch wenn ich ehrlich war, war es nicht mal das, was ich nicht verzeihen konnte. Dass er diese Entscheidung aus dem Affekt heraus getroffen hatte, hätte ich noch auf seine idiotische Verliebtheit oder die Auswirkungen seiner depressiven Verstimmung schieben können. Aber dass er mich gezielt hintergangen hatte … das konnte ich nicht erklären oder vergeben.

Allein bei dem Gedanken an den Moment, in dem Cliff mich darum gebeten hatte, Henry dazu zu bringen, aus Mabel einen Wirtskörper zu machen, flammte die Wut stärker auf. Ich wusste nicht, ob Norah von Anfang an eingeweiht gewesen war, aber ich war mir sicher, dass sie es geahnt hatte. Spätestens als ich von der Zerstörung des Artefakts erfahren hatte, gab es keine Zweifel mehr. Mabel allein hätte nie die Chance gehabt, unseren heiligsten Gegenstand in die Finger zu bekommen – vor allem nicht dann, wenn sie zu dem Zeitpunkt, in dem sie ihn zu Gesicht bekam, eigentlich längst völlig leer hätte sein sollen. Wenn Norah neben ihr im Zeremonie-Raum gestanden hatte, dann war ihr nicht entgangen, dass Mabel noch bei Bewusstsein gewesen war. Seit sie Henry erzählt hatte, das Artefakt wäre versehentlich durch Victor im Fall zerstört worden, woraufhin sie Panik bekommen und mit Mabel abgehauen wäre, war mir klar, dass ihr Anteil an dieser Sache nicht nur Unaufmerksamkeit gewesen war. Sondern Absicht. Sie und Cliff hatten sich dazu entschieden, unsere Unendlichkeit zu opfern. Und mich zu hintergehen.

Ich neigte mich zu Norah vor, bis meine Nasenspitze dicht vor ihrer schwebte. »Ihr habt mich ausgenutzt. Ihr habt uns alle verraten. Ihr habt uns umgebracht

Sie wich nicht zurück, aber ihr Gesicht wurde blasser. Norah hatte keine Angst vor mir, sie wusste, dass ich ihr nie etwas tun würde. Trotzdem merkte ich, wie sich ihr Fokus auf mein wummerndes Zentrum richtete, als wollte sie abwägen, wie kurz davor ich war, endgültig die Kontrolle zu verlieren. Selbst wenn für sie keine Gefahr bestand, so galt das nicht für die Menschen um mich herum. Oder für mich selbst. »Wir …«, setzte sie beschwichtigend an, doch ich fiel ihr ins Wort.

»Es gibt kein Wir mehr, das mich einschließt, Norah.« Mit einem grimmigen Lächeln zog ich mich zurück. »Weißt du was? Ich verstehe jetzt, warum Nox abgehauen ist. Unser sogenanntes Wir ist bereits vor vierzig Jahren gestorben.«

Norah zuckte zusammen, wie jedes Mal, wenn man seinen Namen erwähnte, weshalb ich es in den vergangenen Jahrzehnten weitestgehend vermieden hatte. Jetzt spielte es keine Rolle mehr. Ich würde nicht länger auf jemanden Rücksicht nehmen, der mir mit voller Absicht ein Messer in den Rücken gerammt hatte.

Ich war schon fast am Ausgang des Hinterhofs, als mich ihre Stimme noch einmal zurückhielt. »Und du denkst, das hätte Heaven gewollt? Dass du dich von deinen besten Freunden abwendest? Ausgerechnet jetzt?«

Ich hielt inne. Einfach, weil dieser Name für mich das war, was der von Nox für Norah war: eine schmerzhafte, kaum aushaltbare Erinnerung daran, was ich verloren hatte. Sie und mich, das echteste, beste Ich, das ich je hatte sein können und das ich nie wieder werden würde.

Meine Finger tasteten nach meinem Portemonnaie, das in meiner Hosentasche steckte. Eine Schicht aus rauem Leder, trotzdem spürte ich die Wölbung darunter. Eigentlich brauchte ich die Berührung nicht einmal: Meine Seele hatte eine Brandmarke in exakt dieser Form. Ich zog die Hand zurück, presste sie auf mein wummerndes Zentrum, in dem sich ein leichtes Brennen ausbreitete – wie immer, wenn ich in einem Moment der Unachtsamkeit zuließ, dass sich eine Erinnerung an die Oberfläche meiner Gedanken grub.

»Sie hat sich doch auch von uns abgewandt«, erwiderte ich etwas verzögert, völlig tonlos. »Ich wähle nur den etwas weniger drastischen Weg.«

»Ash, komm schon.«

Ich hörte, wie Norah näher kam, und lief ebenfalls weiter. Das hier war vielleicht erst der Anfang vom Ende, aber das galt nicht für alles. »Lasst mich einfach in Ruhe. Egal, wie lang uns noch bleibt, für mich seid ihr bereits gestorben.«

Norah versuchte nicht mehr, mich zurückzuhalten. Dafür spürte ich ihren Blick noch auf mir, als ich mich schon längst in Cambridges Gassennetz verfangen hatte. Mit jedem Schritt, den ich sie weiter hinter mir ließ, spürte ich, wie die Wut wieder vom tröstlichen Gefühl der Leere abgelöst wurde.

Sobald sich die Gemäuer des Trinity Colleges vor mir auftaten, schaffte ich es, den Gedanken an meine sogenannten Freunde in die hinterste Ecke meines Bewusstseins zu schieben. Und ich würde alles dafür tun, damit sie dort blieben – bis zum verdammten Schluss.

Ich hatte immer gewusst, dass Liebe schwach machte. Doch jetzt, da ich jeden verloren hatte, für den ich dieses dumme Gefühl – auf unterschiedliche Weise – je empfunden hatte, gab es nichts mehr, das mich beeinträchtigte. Ich konnte den Rest meines Lebens so verbringen, wie ich es wollte.

Bisher hatten wir die Anweisung erhalten, in unseren Rollen zu bleiben, was der einzige Grund dafür war, dass ich die Stadt noch nicht verlassen hatte. Ein paar Tage lang war ich zwar nicht in den Kursen gewesen und hatte nicht im Wohnheim geschlafen – eigentlich hatte ich so gut wie gar nicht geschlafen –, aber abgehauen war ich trotzdem nicht. Ganz gleich, wie kaputt alles um mich herum längst war, eine Gewissheit in mir war nach wie vor stabil: Es stand nicht in meiner Macht, über mein Leben zu bestimmen. Nicht einmal jetzt. Ich konnte nur hoffen, dass der Rat bald einsehen würde, dass unsere Tage gezählt waren und die letzten paar unserem eigenen Willen überließ. Dann gab es für mich keinen Grund mehr, in dieser Stadt oder an dieser beschissenen Universität zu bleiben.

Ich würde verschwinden und mich jeden Tag zudröhnen, bis die Energie alle schattengeflochtenen Erinnerungen an diesen Ort und alles, was ich hier verloren hatte, zerfressen würde.

Der Gedanke daran war das Einzige, was mich dazu brachte, die Tür zum Wohnheim aufzuschließen. Der Rat wollte, dass wir uns wie normale Studierende benahmen – das schloss ein, dass wir uns an die Gepflogenheiten hielten. Die meisten in Cambridge lebten direkt in ihren Colleges, und auch wenn es mich nervte, war das eine der Regeln gewesen, die ich kommentarlos befolgt hatte. Cliff war der Einzige von uns, der sich eine eigene Wohnung in der Innenstadt gemietet hatte – etwas, das ich Idiot bereitwillig vor Henry und den anderen verheimlicht hatte, um ihm Nachfragen zu ersparen. Um ihm Zeit zu geben, zu heilen. Es war fast ironisch, wenn man bedachte, dass er sie für das Gegenteil genutzt hatte.

Mit ganzer Kraft drängte ich die wiederaufkeimende Wut zurück, während ich das Ende der Treppe erreichte und in den Flur einbog, in dem mein Zimmer lag. Ich hasste alles hieran. Ich hasste den Geruch nach Desinfektionsmitteln und trocknender Wäsche, nach abgestandenen Parfumresten und altem Papier. Ich hasste die Stimmen, das Lachen, die unterdrückten Geräusche und Musikfäden, die unter allen Türschwellen hindurchkrochen und sich in den engen Fluren miteinander verknoteten, sodass meine Gedanken ständig über die unmöglichsten Geräuschkombinationen stolperten. Ich hasste die Menschen, die einfach immer da waren. Ich hasste ihre interessierten Blicke, wenn ich morgens aus dem Duschraum kam und noch kein Hemd anhatte, ich hasste ihre neugierigen Fragen, wenn ich mir einen Kaffee in der Gemeinschaftsküche kochte, ich hasste ihre geistlosen Gespräche, die ich durch die dünnen Wände mit anhören konnte. Sie waren allesamt so naiv und … belanglos. Das einzig Gute an ihnen war, dass ich ihnen Energie abzapfen konnte, wann immer mir danach war.

Beim Aufschließen meiner Zimmertür warf ich einen Blick auf mein Handy. Es war schon nach sieben, bald würden die ersten müden Gesichter in der Küche auftauchen. Vielleicht sollte ich es ihnen gleichtun. Kaffee und ein bisschen Seele – der perfekte Start in den Tag. Mein wummerndes Zentrum sagte mir überdeutlich, dass ich eine Weile warten sollte, bis ich mich wieder an jemandem nährte. Aber allein der Gedanke an Norahs vorwurfsvoll-besorgtes Gesicht vernichtete diesen Funken Vernunft wieder.

Missmutig warf ich die Tür hinter mir zu und tastete mich an der Wand entlang. Ich nahm den Schatten auf meinem Schreibtischstuhl genau in dem Moment wahr, als meine Finger den Lichtschalter fanden. Noch bevor ich ihn betätigte, wusste ich, wer dort saß. Die Energie in mir bäumte sich spürbar auf, mein Körper spannte sich an. Es war, als würde man einen Marionettenfaden durch jeden meiner Muskeln schieben und sie gleichzeitig allesamt anziehen.

Ich atmete laut aus, starrte zu meinem Schreibtisch vor dem Fenster, hinter dem sich die Morgendämmerung als rosagelbes Tuch ausgebreitet hatte. Das Licht ließ seine Haare glänzen, seine ebenmäßigen Züge wurden vom Orange der Deckenlampe benetzt, besonders seine hellen Augen. Der Ausdruck in ihnen – Desinteresse, milde Verachtung, unverhohlene Herablassung – war sein ganz persönliches Markenzeichen. Mehr hätte ich nie sehen müssen, um ihn zu erkennen.

Er verzog die Mundwinkel zu einem winzigen Lächeln, während sein Blick mich taxierte, als würde er mich sezieren wollen. Nicht meinen Körper, nur meine Seele. Dabei wussten wir beide, dass das, was er dort sah, sowieso nie gut genug sein würde. Wenn er mir in den vergangenen hundertachtzig Jahren etwas beigebracht hatte, dann das.

»Hallo, mein Sohn.«

Von den meisten anderen Vätern hätten diese Worte sicher wie eine liebevoll gemeinte Floskel geklungen. Aus dem Mund meines Vaters – ganz gleich, welchen er derzeit auch nutzte – klang es wie eine Drohung.

Meine Marionettenlippen verzogen sich zu einem unverfänglichen Lächeln. »Hallo, Henry.«

Es spielte keine Rolle, wie er in dieses Zimmer gekommen war. Das Einzige von Bedeutung war der Grund für diesen Besuch. Und dieser war eindeutig: Der Rat war in Cambridge angekommen. Die Stare waren hier. Es fing an.

2

ASHTON

In jeder Familie gab es bestimmte Strukturen. Verhaltensmuster und Umgangsweisen, die sich im Laufe der Zeit festigten, Rollen, in die man schlüpfte und verlernte, sie abzulegen, weil man miteinander in ein nie endendes Spiel rutschte und es Zusammenleben nannte.

In meiner Familie waren diese Strukturen so ausgeprägt, dass ich eher von einer Hierarchie sprechen würde. Der Bund der Stare nannte sich offiziell eine Gemeinschaft, doch für mich war sie immer mehr gewesen. Das lag vielleicht auch an meinem Vater. Er war, von Cliff abgesehen, der einzige Blutsverwandte, der mir geblieben war. Außerdem war er der Vorsitzende unserer Verbindung. Gespräche mit ihm waren immer auch Gespräche mit dem Rat. Ich hätte gern gesagt, dass es daran lag, dass ich mich in seiner Nähe nie entspannen konnte. Tatsache war aber, dass ich das schon vor dem ersten Sprung nicht getan hatte.

Im Laufe der Jahrzehnte hatten sich die Erinnerungen an damals immer mehr ausgefranst, als würde man einem Schal nach und nach seine Fäden entziehen. Doch das änderte nichts daran, dass ich den Stoff dieses Lebens nach wie vor auf meiner Haut fühlen konnte.

Kratzig, kantig, aufschürfend, als wären winzige Scherben zwischen die Fasern gebunden worden – einfach nur, weil vor allem mein Vater derjenige gewesen war, der meine Tage gestrickt hatte. Dass ich damals keine ernsthaften Verletzungen davongetragen hatte, hatte einzig und allein an meiner Mutter gelegen. Meiner Mutter, in deren Nähe alles weichgezeichnet wurde – selbst die Ecken meines Vaters. Gemeinsam mit Cliffs Eltern und einigen anderen hatte sie sich bei der Zeremonie geopfert, um mithilfe ihrer Seelenenergie das Artefakt zu erschaffen – seitdem waren Henrys Konturen spitzer als je zuvor.

Ich spürte, wie sie an meiner Seelenhaut kratzten, während wir über den Campus des Trinity Colleges liefen. Ich wagte es kaum, richtig zu atmen, dabei war mir bewusst, dass er die Energie, die in mir pulsierte, ohnehin spüren konnte. Früher oder später würde er darauf zu sprechen kommen, und mit jeder Sekunde, die er es nicht tat, schnürte sich mein Hals enger.

Er hatte mir gerade genug Zeit gegeben, um zu duschen und mich umzuziehen, ehe wir das Wohnheim verlassen hatten. Mittlerweile war es fast acht Uhr und der Campus füllte sich allmählich mit den ersten, überambitionierten Studierenden, die vor den Kursen noch in die Bibliothek gingen oder an zu frühen Lerngruppentreffen teilnahmen.

Ich konnte mich nicht mal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal versucht hatte, den Inhalt aus einem meiner Kurse wirklich zu begreifen. Wozu auch, wenn ich nur zwei Minuten allein mit dem Dozierenden brauchte, um ihn dazu zu bringen, mir jede beliebige Note einzutragen. In manchen Kursen tauchte ich nie auch nur auf und blickte am Ende des Semesters trotzdem auf die volle Prozentzahl auf meinem Schein. Ein bisschen gestohlene Energie, ein paar eindringliche Worte und sie taten, was ich wollte. Oder was ich laut meiner Rollenbeschreibung wollen sollte, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten, weil ich das Schauspielern nicht ernst genug nahm.

Das Skript, das uns mit jedem neuen Körper übergeben wurde, war nicht weniger als ein ganzes Leben. Textzeilen in verbliebenen Gedankengängen, die sich in die Innenseite des Bewusstseins der ursprünglichen Seele gebrannt hatten und die mit der Zeit mehr und mehr verblassten. Regieanweisungen in der Art, wie die Familie und die Freunde des Wirtskörpers auf uns reagierten und uns dadurch etwas über ihre Charaktere erzählten. Zugegeben, ich neigte seit ein paar Jahrzehnten dazu, sie zu ignorieren und zu improvisieren, weil ich keine Lust mehr hatte, nette, langweilige, angepasste Kerle zu spielen, die ihren Eltern hörig waren. Diese Rolle hatte ich bereits seit meinem ersten Leben, ich brauchte sie also nicht doppelt. Sie war mir auf den Leib geschneidert worden, und ich hatte es nie geschafft, sie trotz all der anderen abzuschütteln. Dennoch achtete ich darauf, dass der Rat nie erfuhr, wie sehr ich die Regeln dahin gehend beugte. Henry hatte kein Interesse daran, mit meinen Wirtseltern zu sprechen, solange sie taten, was ich ihnen sagte. Andererseits hatte er bisher auch nie das Interesse gehabt, an der Uni vorbeizukommen. Nicht, ehe im letzten Semester alles ins Chaos gestürzt war. Victors Eskapaden, das Herumschnüffeln von Mabel und ihrem Zeitungsfreund und zu guter Letzt … die Vernichtung unserer Lebensgrundlage.

»Du weißt, warum wir hier sind«, schnitt Henrys kühle Stimme in meine Gedanken, als hätte er genau gewusst, wo sie festhingen. Wir hatten mittlerweile das Zentrum von Trinity College erreicht, die Grasflächen des großen Hofs glänzten im Morgenlicht. Der Frühling knabberte mit goldenen Zähnen an den Gebäuden, die unzähligen Fensteraugen zwinkerten mir zu, feiner Kopfschmerz ließ mich blinzeln.

»Ich nehme an, ihr wollt noch einmal Gespräche darüber führen, was während der letzten Zeremonie passiert ist«, erwiderte ich nach kurzem Zögern bemüht gleichgültig.

»Gespräche.« Henry lächelte schmal und betrachtete seine Hände. Sie sahen gepflegt aus, so wie der Rest seines Körpers. Weißblondes Haar, auffallend hellblaue Augen, kaum sichtbare Fältchen daneben, weil Henry sie selten mit einem Lachen beanspruchte. Er trug schlichte Stoffhosen, Hemd und Sakko – alles in Schwarz, passend zu der kleinen Vogelbrosche am Kragen. Henrys Körper war Ende dreißig, doch der Ausdruck in seinen Augen konnte nie verbergen, wie alt er wirklich war. Oder wie mächtig. Je länger er schweigend auf seine sauber manikürten Fingernägel blickte, desto mehr spannte ich mich an. Nur um leicht zusammenzuzucken, als er schließlich die nächsten Worte sagte: »Wo ist Blake?«

Es klang sachlich, fühlte sich jedoch bedrohlich an. Mein Mund reagierte schneller als mein Verstand. »Nicht auf dem Campus.« Henry zog die Augenbrauen zusammen und blieb stehen. Widerwillig tat ich es ihm gleich und drehte mich in seine Richtung. Ich wusste nicht, was schwerer auszuhalten war: die Sonne hinter seinem Kopf oder sein Blick.

»Wie bitte?«

Diesmal gab er sich keine Mühe, die Drohung zu verbergen. Direkt nach den Geschehnissen während der Zeremonie hatte Henry mich angerufen und dazu angehalten, dafür zu sorgen, dass wir alle in Cambridge blieben. Keine Reisen, keine unautorisierten Ausflüge, kein Abtauchen. Ich hatte den anderen nicht mal etwas davon gesagt – wozu auch, sie hörten ja eh nicht auf mich –, aber nicht einer von ihnen hatte versucht, zu gehen. Nicht einmal Cliff. Ich räusperte mich, um den Namen nicht auszusprechen. Die Einzigen, die bei ihren ursprünglichen Seelennamen genannt werden durften, wenn wir unter uns waren, waren Mitglieder des Rats. Der Rest von uns ließ Mal aufs Mal mit der Identität des dazugehörigen Körpers auch einen Namen zurück. Bei den meisten von uns konnte ich nicht mal mehr sagen, welche sie einst getragen hatten. Nur bei Cliff war das von Anfang an anders gewesen. Ich hatte immer gewusst, wie viel ihm diese eine Silbe bedeutete. Als würden sie die wertvollsten Erinnerungen an sein Ich enthalten und er könnte sie nur bewahren, indem er daran festhielt. Auch wenn ich ihn selten so nannte, hatte ich nie aufgehört, mit diesem Namen an ihn zu denken. Nicht einmal jetzt, da ich das Gefühl hatte, diesen Cliff nicht mehr zu erkennen.

»Blake hat die Stadt verlassen, um die Familie seines Wirts zu besuchen.«

»Hm.« Henry neigte den Kopf zur Seite, das Licht dahinter stach stärker in meine Augen, ich traute mich nicht zu blinzeln. »Wie lange?«

Ein paar Studierende liefen an uns vorbei, der Blick einer Frau kitzelte an meiner Schläfe. Wortlos, aber vieldeutig; ich hätte sie am liebsten angeschrien. »Keine Ahnung, ich bin nicht sein Kindermädchen«, erwiderte ich scharf in Richtung meines Vaters. Eine hochgezogene Augenbraue seinerseits, ein Kloß in meinem Hals. Ich senkte den Kopf und die Stimme mit dazu. »Entschuldige bitte. Er ist morgen wieder hier. Ich kann ihm ausrichten, dass ihr mit ihm sprechen wollt.«

Henry schnalzte mit der Zunge, machte jedoch keine Anstalten weiterzugehen. »Wir kündigen uns schon selbst an. Was ist mit seiner Motte, ist sie hier?«

»Gut möglich, aber ich kann dir nicht sagen, wo. Tut mir leid.« Erneut antwortete ich, ehe ich darüber nachdenken konnte. Ganz gleich, warum ich angefangen hatte, diese Lüge zu erzählen – jetzt musste ich es zu Ende bringen. Natürlich war mir bewusst, wo Mabel gerade war. Nämlich dort, wo sie seit zwei Monaten so gut wie immer war, wenn ich ihr begegnete. An Cliffs Seite.

»Hat sie noch einmal Probleme gemacht?«

Ein bitteres Lachen baute sich auf meiner Zunge auf. Dieses Mädchen machte keine Probleme, sie war eines. Hätte ich das früher erkannt, wären wir alle nicht in dieser Situation. Ich täuschte ein Husten vor, um den Ton herunterzuschlucken und mein Zögern zu kaschieren – von dem ich nicht einmal selbst verstand, woher es kam. Die Vorstellung, ihm die Wahrheit zu sagen, reizte mich: dass Mabel nach wie vor eine Bedrohung für uns war, weil sie alles über uns wusste, dass sie der Grund dafür war, dass wir allesamt zu Tode verurteilt waren, dass ich ihr am liebsten eigenhändig dieselbe Ehre zuteilkommen lassen würde. Ich wollte es ihm sagen, und, was bei Gesprächen mit Henry immer entscheidender war, ich sollte es tun. Doch aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht. Denn Mabel verraten würde auch bedeuten, Cliff zu verraten. Und auch wenn ich wusste, dass er es verdient hatte, brachte ich es einfach nicht über mich. Ich hasste es, wie schwach mich die Jahrzehnte an seiner Seite gemacht hatten. Ich hasste es, ich hasste ihn, ich hasste mich – trotzdem hob ich die Schultern und sah gelassen in Henrys wachsames Gesicht.

»Nein, überhaupt nicht. Die Energie, die Norah ihr vor der Zeremonie genommen hat, hat ihr Gedächtnis offenbar nachhaltig beschädigt. Sie erinnert sich an nichts. Und Blake hält sich fern von ihr.« Das war die größte Lüge von allen. Es war lächerlich und peinlich, aber Cliff haftete an ihr, als wäre er die Motte, klebend am Laternenglas, und als wäre ihr Licht alles, was ihn am Leben hielt und nicht zufällig das, was es ihn gekostet hatte.

Henry sah mich kurz prüfend an, ehe er nickte. »Gut. Ein Problem weniger. In unserer jetzigen Situation müssen wir vorsichtiger sein denn je. Wir können es uns nicht leisten, Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.«

»Ich weiß.« Erleichtert entspannte ich mich etwas und ließ die Schultern sinken – ein Fehler. Henry hatte ein Gespür dafür, wann ich die Deckung fallen ließ. Und schlug jedes Mal genau dann zu.

»Sicher?« Mit einem unechten Lächeln trat er auf mich zu. »Wieso vibriert dein Zentrum dann so heftig vor Energie, dass man es in deiner Nähe kaum aushalten kann?«

Mein Körper erstarrte, Kälte schwappte bis in meinen Nacken hinauf. »Ich …«

»Ganz genau«, unterbrach er mich schneidend und kam noch näher. Sein Atem auf meinem Gesicht, sein Blick, der es aufschnitt, darunter kroch und nichts als Eis hinterließ. »Ich, ich, ich – etwas anderes existiert in deinem Kopf nicht. Du denkst wie immer nur an dich, an dein eigenes Vergnügen. Du verhältst dich verantwortungslos, kindisch und erbärmlich. Ich bin keinen halben Tag in der Stadt und muss mich schon wieder für dich schämen. Weißt du, was das für ein Gefühl ist?«

Ja. Ja, ich wusste es, weil ich es selbst spürte. Die Scham, die sich in mir ausbreitete, sich bei mir allerdings sicher aus ganz anderen Bestandteilen zusammensetzte als bei ihm. Ein kalt brennendes Gemisch aus Selbsthass und Reue und dem kindlichen Wunsch, zu weinen und ihn um Vergebung zu bitten. Für alles, was ich je getan hatte, für alles, was ich je gewesen war. Und vor allem für das, was ich nie sein würde: genug.

Ich schluckte. »Es tut mir leid. Ich habe nicht …«

»Was? Nachgedacht? Daran gedacht, dass du mein Sohn bist? Dass alles, was du tust, auf mich zurückfällt? Die Schande, die du mir bringst, haftet immerzu an mir. Du bist der Schatten, den ich mir niemals von den Fersen scheiden kann, Arthur

Ich zuckte zusammen, wie jedes Mal, wenn er sich über die Regeln hinwegsetzte und diesen Namen benutzte. Den, den er und meine Mutter mir damals gegeben hatten. Der, der mir immer verhasst gewesen war, bis Heaven angefangen hatte, ihn auf ihre Weise auszusprechen. Seit sie das nicht mehr tat, klebte an diesem Namen nur noch der Tonfall meines Vaters, durchtränkt von Abscheu, Wut und, besonders schwer auszuhalten: Enttäuschung. Getunkt in genau dieses Gefühl war Henry mein Schatten, den ich mir nicht von den Fersen schneiden konnte.

Ich sagte es nicht, stattdessen wiederholte ich nur: »Es tut mir leid.«

Ein paar Sekunden lang standen wir nur so da, ehe Henry einen Schritt zurücktrat und den Kragen seines Sakkos richtete. Der Star daran blitzte auf, als wollte auch er mir zu verstehen geben, dass ich unwürdig war, mich so zu nennen. »Reiß dich ab jetzt zusammen. Verstanden?« Henry wartete mein Nicken ab, dann ging er an mir vorbei. »Gibt es hier irgendwo genießbaren Kaffee?«

Ich verkniff mir ein erleichtertes Aufatmen und führte ihn durch einen efeuumrankten Torbogen in den nächsten Hof des Colleges. Der Kaffeewagen stand am Rande eines Weges, von dem die Eingangsstufen zum Institut der Geisteswissenschaften abgingen. Offenbar richtete es heute irgendeinen Informationstag aus: Girlanden mit silbernen und blauen Wimpeln hingen über der wuchtigen Doppeltür, ein Aufsteller mit aufwendig gestaltetem Plakat stand davor.

Henry ging zum Kaffeewagen, ohne mich zu fragen, ob ich auch etwas wollte. Wir wussten beide, dass Koffein meinen Zustand nur zugespitzt hätte. Ich fühlte mich sowieso schon überreizt und unangenehm zittrig. Meine Sinne waren so aufgeschürft, dass ich bei jedem Gesprächsfetzen, jeder Geruchsspur, jedem Farbklecks in Form von vorbeilaufenden Studierenden dagegen ankämpfen musste, zusammenzuzucken. So war das immer, wenn der Rausch seinen obersten Lack aus Endorphinen verlor: Sobald diese Schicht abblätterte, splitterten winzige Fetzen der eigenen Seele mit ab. Normalerweise heilten diese Risse schneller, normalerweise musste ich diesen Zustand aber auch nicht in der Nähe meines Vaters aushalten. Henry hatte eine einzigartige Art, Wunden durch bloße Blicke tiefer werden zu lassen.

Ich stellte mich neben die Treppe in den Schatten des Gebäudes und strich gedanklich über mein aufgerautes Inneres. Genau in diesem Moment spürte ich, wie sich etwas darüberlegte – eine Decke aus Samt, die das wunde Pochen abschwächte. Irritiert tastete ich danach und musste ein Seufzen unterdrücken, als sich in mir ein angenehmes Prickeln ausbreitete. Es war so verwirrend und so … gut, dass ich gedankenlos einen Schritt zur Seite wich – und prompt gegen jemanden prallte.

Noch beim Umdrehen begriff ich, wer es war. Es lag weder an ihrem Duft – Jasmin, Veilchen, Gardenien – noch an dem weißblonden Haar, das mir zuerst in die Augen fiel, nicht mal an dem überraschten Ton, der ihr über die Lippen rutschte, als wir gegeneinanderstießen, und der überdeutlich die Klangfarbe ihrer Stimme hatte. Vielmehr lag es an der Art, wie sich das weiche Gefühl innerhalb von Sekunden auf all die Risse in meinem Inneren legte und sie verschloss. Und das nur, weil mein Zentrum sie wahrnahm: Zoe, mein letztes Mottenmädchen. Die Seele, an der ich mich am längsten in meinem ganzen Dasein genährt hatte, und die, die das am besten von allen verkraftet hatte, weil sie … anders war. Stärker, heller, intensiver. Besser.

Trotz all der Energie, die noch in mir vibrierte, sehnte sich mein Inneres danach, ein bisschen von ihrer zu kosten. Ich hatte bisher noch nie jemanden getroffen, der sich so anfühlte wie sie. Das war mein erster Gedanke gewesen, als ich sie letzten Herbst bei einer dieser langweiligen Studierendenpartys in einem der Pubs gespürt hatte. Ich war nur dort gewesen, um mich in der Menschenmenge unbeobachtet zuzudröhnen, doch als ich Zoe beim Vorbeigehen beiläufig gestreift hatte, hatte ich stehen bleiben müssen. Es war kein einfaches Kribbeln, wie bei den anderen, sondern ein intensives und doch unsagbar weiches Glühen. Samt, der in Flammen stand – so fühlte sich Zoes Seele an.

Selbst jetzt, da ich nicht bewusst nach ihr tastete, konnte ich es spüren. Es kostete mich alles an Selbstbeherrschung, die Finger lediglich um ihre Schultern zu schließen, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor. Die Pailletten ihrer Jacke leuchteten silbrig, der Glanz in ihren blauen Augen auch, als sie fahrig den Blick hob.

»Gott, tut mir leid, ich hab nicht …« Sie verstummte, sobald sie mein Gesicht erreichte. Innerhalb von Sekunden verschwand ihr einnehmendes Lächeln, sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sich winzige Schluchten neben ihre Mundwinkel gruben. Beinahe instinktiv hob Zoe eine Hand und drückte sie auf ihren Hals – genau auf die Stelle, unter der ich ihre Schlagader erahnen konnte. Ich musste daran denken, wie weich sich die Haut darüber angefühlt hatte, vor allem aber, wie unglaublich wohltuend die Energie gewesen war, die darunter floss. Mein Zentrum pochte auf, ich musste mich erneut gegen den Drang stemmen, die Hände nach ihr auszustrecken – in jeder Hinsicht.

Stattdessen setzte ich ein betont charmantes Lächeln auf. »Hallo, Anima.«

Röte stieg in Zoes Wangen. So wie früher, aber anders. Diesmal sorgte nicht Verlegenheit dafür, sondern Wut. Ich musste nicht fragen, um zu wissen, woran das lag. Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass sie der typischen Anziehungskraft, die mein Nähren bei ihr ausgelöst haben musste, trotzte. Normalerweise klebten unsere Motten auch dann noch an uns, wenn ihre Flügel längst angekohlt waren und wir sie deshalb von uns gestoßen hatten. Zoe hingegen ging mir seit über zwei Monaten aus dem Weg. Und das bedeutete: Sie wusste es. Alles. Das, was ich getan hatte, und das, was ich war.

Mir war klar, dass ich mich eigentlich darum hätte kümmern müssen, aber nach allem, was mit Mabel und meinem angeblich besten Freund passiert war, war Zoe mir noch gleichgültiger geworden als ohnehin schon. Ein Blick in ihr zugegeben ziemlich hübsches Gesicht, und ich wusste, dass für sie nicht dasselbe galt. Ganz egal, wie unbeeindruckt sie zu wirken versuchte – sie rang sichtlich um Fassung.

Ohne ein Wort zu erwidern, löste sie sich von mir, machte ein paar Schritte rückwärts und ging langsam in einem weiten Bogen an mir vorbei. Ich sah trotzdem, dass ihre Schultern vor Anspannung bebten, und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es fiel mir von den Lippen, sobald sie auf Henrys Höhe war – offensichtlich zu fokussiert auf meine Anwesenheit, um seine zu bemerken. Sie stieß gegen seine Schulter, der Kaffeebecher in seiner Hand wackelte, ein paar Tropfen schwappten über den Rand.

Henry erstarrte, ehe er sich umdrehte und ihr nachsah. Er wandte den Blick nicht einmal ab, als ich neben ihn trat. »Wer war das?« In seiner Stimme lag eine unterschwellige Nervosität, die mir fremd war.

»Niemand. Nur eine Studentin, die eine Weile meine Motte war. Seit ich sie abgeschüttelt habe, ist sie nicht gut auf mich zu sprechen. Sie war ein bisschen zu vernarrt in mich.«

Ich rechnete auch hierfür mit den nächsten Vorwürfen, immerhin war diese Vernarrtheit etwas, das wir zumindest bedingt steuern konnten. Hätte ich Zoe gehen lassen, sobald ich die ersten Anzeichen ihrer Abhängigkeit bemerkt hatte, wäre sie innerhalb weniger Tage darüber hinweggekommen. Ich konnte Henry schlecht sagen, dass Zoes Abneigung mir gegenüber nicht auf meiner Abweisung beruhte – sondern darauf, dass sie über uns Bescheid wusste.

Doch statt darauf einzugehen, drückte er mir lediglich seinen Becher in die Hand und sagte: »Ich kontaktiere dich später«, ehe er sich umdrehte und ebenfalls den Weg hinablief.

Ich machte mir keine Mühe, ihn darum zu bitten, das zu konkretisieren. Henry kam und ging, wie er wollte. Er hatte mich dazu erzogen, immer damit zu rechnen, dass er in der nächsten Sekunde vor mir stehen könnte. Auch wenn ich in den vergangenen Jahrzehnten alles getan hatte, um das ab und zu auszublenden, so war ein Teil von mir trotzdem permanent angespannt.

Was er vorhin gesagt hatte, stimmte. Henry und ich waren Schatten füreinander. Letztlich ergab das nur Sinn. Meine Mutter war das Licht unserer Familie gewesen, und seit sie fort war, war zwischen uns eben nur noch Dunkelheit. Ich hatte mich bereits vor langer Zeit damit arrangiert, aber ein Teil von mir – ein wirklich kindischer, erbärmlicher Teil – wünschte sich nach wie vor, ich könnte hell genug werden, um etwas daran zu ändern. Also versuchte ich es. Ich versuchte so sehr, ihn stolz zu machen. Doch mit jedem neuen Leben, in das ich schlüpfte, fühlte es sich an, als würde ich mich mehr von ihm entfernen. Und, auch wenn ich mich kaum traute, es zu denken, galt für mich dasselbe: Meine Seele wurde mir mit jedem neuen Körper fremder. Das lag allerdings nicht so sehr an Henry. Sondern vielmehr an ihr, an Heaven. An dem, was sie gewesen war, und an dem, was sie jetzt nicht mehr war. An dem, was ich mit ihr gewesen war, und an dem, was ich mit ihr verloren hatte. Es war zehn Sprünge her, dass meine Finger Heavens berührt hatten. Vierzig Jahre, in denen meine Seele manchmal immer noch nach ihrer tastete und ins Leere griff. Es fühlte sich an, als würde sie jedes Mal ein bisschen von diesem Nichts an sich ziehen und zwischen ihre eigenen Fäden weben. Mein Inneres war durchlöchert, und auch wenn ich an Tagen wie heute bis oben hin voll mit fremder Energie war, war das Nichts dazwischen dennoch so viel lauter, wenn ich es mir gestattete, hinzuhören.

Also tat ich das auch diesmal nicht. Ich verdrängte all die Gedanken und warf den vollen Kaffeebecher in einen Mülleimer. Ein paar Tropfen perlten über meine Finger, schwarzbraun, für mich trotzdem rot. Henrys Worte hatten eine Blutspur auf meiner Netzhaut hinterlassen, und ich wusste, auf wessen Haut sie sich als Nächstes abzeichnen würde. Es gab nichts, was ich tun konnte, um Cliff vor einem Gespräch mit dem Rat zu schützen – selbst wenn er es nicht verdient gehabt hätte. Und doch zog sich mein Magen bei der Erinnerung an Henrys Lächeln bei dem Wort Gespräch derart zusammen, dass ich es nicht einfach passieren lassen konnte.

Gott, wirklich, ich hasste Cliff dafür, dass es mir so verdammt schwerfiel, ihn sich selbst zu überlassen.

Cliffs Wohnung lag etwas außerhalb des Stadtkerns von Cambridge: ein backsteinrotes Haus, dessen Fassade von Blauregenranken bedeckt war. Im Erdgeschoss befand sich ein Café, das mit dem beginnenden Frühling wieder ein paar Tische auf den Gehweg gestellt hatte. Ich schob mich ungeduldig zwischen umherstehenden Gästen hindurch, die ihre blassen Nasen der ausgewaschenen Aprilsonne entgegenstreckten. Die Haustür stand offen, im Flur roch es nach Reinigungsmitteln und Curry.

Eine Weile hatte ich öfter hier geschlafen als auf dem Campus. Cliff gegenüber hatte ich meine häufigen Besuche damit begründet, dass mir die anderen im Wohnheim auf die Nerven gingen, was zwar nicht gelogen, aber auch nicht der Kern der Wahrheit gewesen war. Denn die Nähe der anderen Studierenden machte mich zwar unruhig, doch wenn ich nicht in Cliffs war, spürte ich ein deutlich drängenderes Gefühl: Angst. Ich hatte Angst davor, dass er ging – auf die einzige Weise, die ihm möglich war, wenn er nicht wollte, dass ich ihn zurückholte. Also hatte ich alles getan, um ihn an meiner Seite zu halten, ohne aussprechen zu müssen, warum. Ich war mir sicher, dass er es im Grunde trotzdem gewusst hatte. Weil wir diese Situation auch einmal andersherum gehabt hatten und weil er genau wusste, wie es sich anfühlte, wenn dir jemand durch die Finger glitt, ganz gleich, wie sehr du auch versuchtest, dich an ihm festzuhalten. Wie es aussah, hatte er den festeren Griff von uns beiden. Er hatte mich gehalten, damals. Und diesmal hatte er mich mit sich in den Abgrund gezogen.

Oben angekommen, atmete ich tief durch, versuchte, die Gefühlsfäden zu ignorieren, die unter der Türschwelle hindurchkrochen und sich meine Fußknöchel hinaufschlängelten. Weder mein Körper noch meine Seele hatten vergessen, was bei meinem letzten Besuch passiert war. Meine Finger ballten sich automatisch zu Fäusten, ein Gemisch aus Wut und Verrat brannte in meinem Nacken – hitzig, drückend.

Bevor ich mich entscheiden konnte, ob ich wieder gehen oder anklopfen sollte, wurde die Tür geöffnet. Statt in Cliffs Gesicht blickte ich in ein anderes – eines, das meine Stimmung sogar noch weiter verfinsterte. So, wie sich Mabels dunkle Brauen zusammenzogen, beruhte das immerhin auf Gegenseitigkeit. Ich dachte daran, dass Victor sie Anna Karenina genannt hatte, weil sie immer so ernst und verbissen aussah, und meine Mundwinkel zuckten. Dann dachte ich daran, dass Victor tot war, einzig und allein wegen dieses dummen Mädchens, und musste dagegen ankämpfen, ihr hier und jetzt das Genick zu brechen.

Mabel kniff die Augen kaum merklich zusammen und machte eine Bewegung auf mich zu. »Geh mir aus dem Weg, oder ich zerkratze dir das falsche Gesicht.«

Mein Kiefer knackte, ich zwang mich zu einem gelangweilten Lächeln, auch wenn meine Fäuste noch bebten. »Wie immer bist du die Liebenswürdigkeit in Person, Mabel.«

Sie verzog keine Miene, als ich einen Schritt zur Seite machte, um sie an mir vorbeizulassen. Unsere Schultern berührten sich, ich musste mich davon abhalten, auch gegen ihr Inneres zu stoßen. Nur so fest, dass sie daran erinnert wurde, mit wem sie es zu tun hatte. Einfach, um ihr ein bisschen mehr Respekt beizubringen. Gern auch Angst. Irgendeine andere Reaktion als diesen unerschütterlichen Trotz, den sie seit unserer ersten Begegnung aufrechterhielt.

Stattdessen sah ich ihr nach, bis sie auf der Treppe und damit aus meinem Sichtfeld verschwunden war, ehe ich die Wohnung betrat und die Tür hinter mir zuwarf. »Deine Freundin ist echt entzückend«, meinte ich spöttisch. »Ich will mir gar nicht ausmalen, wie euer Liebesleben so aussieht.«

Cliff stand in der Mitte des großen Raums am Küchentresen und rührte in einem Kaffeebecher. Sein Blick streifte mich nur kurz, doch ich wusste, dass er auch mein wummerndes Zentrum wahrnahm. Zu seinem Glück verkniff er es sich, etwas dazu zu sagen. Mit Sicherheit hatte Norah ihm eh schon längst von unserem Aufeinandertreffen heute Nacht erzählt. »Seit wann redest du wieder mit mir?«

Ich schlenderte an der Wand entlang, betrachtete die SchwarzWeiß-Bilder, die dort hingen. Mir war nie klar geworden, warum Cliff sie so mochte. Dem Leben absichtlich alle Farben zu entziehen, war, als würde man sich selbst sabotieren. Als würde man nur das Schlechte sehen wollen. Vielleicht war das ja der Grund dafür, dass Cliff irgendwann angefangen hatte, unser Leben zu hassen. Mit ausdruckslosem Gesicht drehte ich mich zu ihm um. »Sieh es als letztes Überbleibsel einer Freundschaft, die du mit bloßen Händen vernichtet hast.«

Er schmunzelte und nippte an seinem Kaffee, der mit Sicherheit viel zu süß war. »Du wurdest schon immer pathetisch, wenn du wütend bist.«

Mein Kiefer knackte, so fest spannte ich ihn an. »Ist dir handgreiflich lieber? Ich bin einen deiner dummen Kommentare davon entfernt.«

Cliff seufzte leise, machte eine auffordernde Handbewegung.

»Gut.« Ich setzte mich auf die Lehne des Sofas, verschränkte die Arme. »Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass sie hier sind. In Cambridge. Henry war gerade bei mir. Ich hab dir ein bisschen Zeit verschafft und ihnen erzählt, dass du auf einem Wirtshausbesuch bist, aber spätestens morgen werden sie dich holen.«

Aufmerksam betrachtete ich sein Gesicht, doch Cliffs Züge regten sich kaum. Keine Sorgenfältchen, kein verzogener Mund, keine geweiteten Augen. Da war nur ein Blinzeln, mehr nicht. Es wirkte nicht nervös, eher … erleichtert. Als hätte er seit Wochen auf diesen Tag gewartet, um ihn endlich hinter sich bringen zu können. Ich verstand das sogar. Man sagte, Vorfreude war die schönste Freude. Was nie jemand aussprach, aber alle fühlten, war: Angst vor der Angst war die schlimmste Angst.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte er ruhig und stellte den Becher in die Spüle. »Ich gehe zu ihnen.«

Ich runzelte die Stirn. »Hätte nicht gedacht, dass du dieses Treffen herbeisehnst.«

»Darum geht es nicht.« Er war wieder beim Tresen, nahm eine Haarspange in die Hand, die dort neben einem Stapel Bücher lag. Die Perlen darauf reflektierten das Deckenlicht, winzige Tupfer besprenkelten Cliffs Züge. Da war dieses sanfte, traurige Lächeln, das mir verriet, an wen er dachte. Zwei, drei Sekunden lang, dann legte er die Klammer beiseite und konzentrierte sich wieder auf mich. »Wenn sie mich suchen müssen, liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, dass sie auch Mabel finden.«

Ich lachte hart auf. Wenn er ernsthaft glaubte, das wäre vermeidbar, war er verblendeter, als ich geahnt hatte. Wir wussten beide, dass unser Rat Mittel und Wege kannte, um jemanden zum Reden zu bringen – sogar jemanden, der so stur war wie Cliff. Früher oder später würden sie erfahren, was während der Zeremonie wirklich vorgefallen war. Und auch, dass Mabel trotz allem noch immer zu seinem Leben gehörte. Seit er dieses Mädchen kannte, hatte Cliff gegen jede einzelne unserer Regeln verstoßen. Selbst wenn ich den Gedanken akzeptierte, dass er in sie verliebt war, konnte ich nicht begreifen, was er deswegen alles getan hatte. Es hätte ihm vielleicht das Herz gebrochen, sie von sich zu stoßen, gut. Aber dass er es nicht getan hatte, würde ihnen beiden ganz sicher das Genick brechen. Und das musste er von Anfang an gewusst haben. Ich war der beste Beweis dafür, dass Liebe schwach machte. Cliff hingegen … er war der beste Beweis dafür, dass sie manchmal sogar tödlich sein konnte.

»Du denkst nicht ernsthaft, dass du ihren Namen da raushalten kannst«, zischte ich. »Sie war diejenige, die das Artefakt zerstört hat. Sie wird sich früher oder später dafür verantworten müssen – und das ist auch gut so.«

Cliff umrundete den Tresen, sodass er nur noch ein paar Meter von mir entfernt war. »Warum hast du Henry dann nicht längst gesagt, was wirklich passiert ist?«

Es war offensichtlich, dass ich geschwiegen hatte. Andernfalls hätte der Rat zwei Tage und nicht zwei Monate gebraucht, um ihn zu verdächtigen. Ich erhob mich, funkelte ihn an. »Denk nicht, dass ich das nicht noch tun würde. Ich schulde dir nichts. Und deiner kleinen Motte erst recht nicht. Welches Recht hat sie, weiterzuleben, wenn wir ihretwegen sterben?«

»Jedes Recht«, sagte er leise, aber bestimmt. »Aus dem einfachen Grund, dass wir keines haben, überhaupt noch zu leben.«

Ich machte einen unkontrollierten Satz auf ihn zu, bis wir so dicht voreinanderstanden, dass ich sicher war, sein g...

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