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Shadowscent - Die Krone des Lichts

hier erhältlich:

»Eine opulente, detailreiche Fantasywelt und ein außergewöhnliches Debut. PM Freestone ist eine Autorin, die man im Auge behalten sollte.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Amie Kaufman

Rakel verlässt die Grenzen des Kaiserreichs, um mehr über die Vergangenheit zu erfahren und endlich Antworten zu bekommen. Sie sucht mithilfe ihres feinen Geruchssinns nach einem Heilmittel für die Seuche, die ihren Vater befallen hat, und bemüht sich, nicht an Ash zu denken. Währenddessen versucht Ash, die anderen vor der drohenden Gefahr zu warnen, von der bislang nur er weiß. Doch das Kaiserreich steuert auf einen Krieg zu, dessen Keim in einer Zeit gesät wurde, in der die Götter noch auf Erden wandelten. Ob Prinz oder Diener, jetzt muss jeder Stellung beziehen.


  • Erscheinungstag: 28.12.2020
  • Aus der Serie: Shadowscent
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 448
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850335

Leseprobe

Für Dida, meine erste Heldin.
Und für Serena, die mir geholfen hat,
im Rauch meinen Weg zu finden.

1. Kapitel

Luz

Hüte die beiden Kostbarkeiten,
alle anderen sind entbehrlich.

Diese Nachricht erreichte Aphorai-Stadt im Innenfutter einer Versandkiste, die ursprünglich Wüstenrosenöl enthalten hatte. Wie außerordentlich passend. Sogar fast nasengenau. Ich wusste schon lange, dass die Magistra raffiniert ist, aber selbst ich hob eine Augenbraue.

Leider bringt mich das Nachdenken über die Vergangenheit hier draußen nicht weiter.

An den Grenzen des Kaiserreichs braucht es Macher, keine Denker. Leute, die anpacken, statt zu spekulieren. Hier treten örtliche Traumrauchfabrikanten gegen die Kaiserliche Garde an, Söldnerbanden kämpfen um das, was übrig bleibt, und alle anderen fristen in den Lücken ein jämmerliches Dasein. Auf dem Weg zum Heiligtum versuche ich einen geschwächten Prinzen, ein aufstrebendes Mädchen und ihre beiden kräftigen Begleiter zwischen diesen Gefechten hindurchzuschmuggeln.

Ach ja, die Launen des aufopferungsvollen Dienstes für den Orden.

An der Grenze ist eine Zeltstadt entstanden, gewoben aus den übelsten Fäden des kontrollbesessenen Kaiserreichs und der Gesetzlosigkeit der Länder jenseits davon. Die Brutalsten der angeblich friedensstiftenden Garde und die Ruchlosesten der vermeintlich gewissenhaften Handelskontrolleure hat es im Laufe der vergangenen Umläufe hergetrieben wie Staub, der sich an der Hintertür eines ansonsten eleganten Etablissements sammelt.

»Wo ist denn die aphorainische Armee?«, fragt das Mädchen entrüstet, als wäre die fehlende Vertretung ihrer Provinz eine persönliche Beleidigung.

Sie hat ihr Pferd auf eine Höhe mit meinem Kamel gebracht. Es ist ein edles Tier, das muss ich ihr lassen. Dunkel, schlank und der Art nach zu urteilen, auf die es die Nase über die minderwertige Spreu in der letzten Karawanserei, an der wir Halt gemacht haben, gerümpft hat, auch anspruchsvoll. Ein Reittier nach meinem Geschmack. Bis jetzt. Nur der Ursprüngliche weiß, wie es sich schlagen wird, wenn wir unserem Ziel näher kommen.

Aber das Mädchen hatte eine Frage, nicht wahr?

»Ich vermute, sie sind verlegt worden«, erkläre ich.

Asmudtag sei Dank, dass der liebe Papa nicht darauf bestanden hat, mit uns zu reiten. Er gehört zu den wenigen Männern, die ihre Grenzen kennen. Wahrscheinlich hat sich die Magistra vor all diesen Umläufen deshalb zu ihm hingezogen gefühlt. Er kennt seinen Platz. Er hätte nie ihre Flamme ausgepustet. Oder heller geleuchtet. Und er sieht wirklich gut aus. Wenn man auf angegraute Veteranen steht.

Oh, die Reise wird lang werden, wenn es mir nicht gelingt, meinen Verstand zur Ruhe zu bringen.

Oder das Mädchen mit ihrem unaufhörlichen Geplapper zum Schweigen.

»Was wird da gebaut?«

Unter der Aufsicht unerbittlicher Kolonnenführer schuften Dutzende Arbeiter schwitzend in der morgendlichen Hitze, ihre tief gebräunten Rücken gebeugt. Fast die Hälfte trägt das Mal der Schwerverbrecher – Metallpfropfen statt der Nase. Die anderen sind wohl wegen leichterer Vergehen verurteilt worden. Oder arbeiten ihre Schulden ab.

Ich beobachte ihre Anstrengungen und bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. »Eine Mauer.«

Nisai, der Erste Prinz von Aramtesch, der auf dem Kamel sitzt, das ich im Schlachthof von Aphorai für ihn gekauft habe, schiebt den transparenten Schleier des ultramarinblauen Gewands, mit dem ich ihn verkleidet habe, zur Seite. Er wischt sich mit dem Seidenärmel über die Stirn, die Augen zum Schutz vor der Sonne und dem Sand zusammengekniffen. »Für welche Stadt denn? Diese Siedlung habe ich auf den neuesten kaiserlichen Karten noch gar nicht bemerkt.«

Ich grinse innerlich. Siedlung. Die reflexhafte diplomatische Ausdrucksweise lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass dieser Junge in einem Palast aufgewachsen ist. Was für ein höflicher Begriff für einen abgerissenen Haufen Zelte und nur geringfügig stabilerer Unterkünfte aus schwerem Filz.

»Meinen Quellen zufolge hat der Regent den Befehl erteilt, während Ihr indisponiert wart, mein Prinz. Ich glaube, das Dekret erwähnte explizit die Notwendigkeit … Wie hieß es doch gleich? Ach ja. Die ›Notwendigkeit, kaiserliche Ressourcen und Leben vor einem Eindringen von außen zu schützen‹ und irgendwas darüber, ›Aramtesch wieder groß zu machen‹. Oder war es … Führung durch ›Stärke und Stabilität‹? Die kaiserlichen Herolde verkünden dauernd irgendwas Neues.«

Er runzelt die Stirn. »Aber auf der anderen Seite liegen doch die Sesongebiete. In meiner Funktion als Thronfolger bin ich verantwortlich für diese Gegend.«

Verantwortlich? Ein leeres Wort. Seit Monden hat die Kaiserliche Garde nichts unternommen, um den Flüchtlingen zu helfen, die vor den unendlichen Konflikten jenseits der Grenze fliehen, weit draußen in den Gebieten, wo die Grenzländer dauernd Krieg zu führen scheinen, ausgelöst durch eine Sache: Mangel.

Mangel an Ressourcen. Mangel an Recht. Mangel an Hoffnung.

Viele der Flüchtenden waren gut ausgebildet und hätten in Aphorai-Stadt etwas zu bieten gehabt, und zwar mehr als nur das Räumen von Steinen von einer Seite zur anderen. Unglücklicherweise scheint die ansonsten gängige Praxis in der Provinz Aphorai durch kaiserliche Befehle aufgehoben worden zu sein.

Nach einem Zungenschnalzen trottet mein Kamel weiter. »Ich werde dafür sorgen, nicht anwesend zu sein, wenn Ihr diese Diskussion mit Eurem werten Bruder führt. Und nun, mein Prinz, bedeckt bitte Euer Gesicht wieder.«

Die losianische Ex-Gardistin, inzwischen Harnisch des Prinzen, rückt näher und bringt den Geruch nach Leder und dem Kokosöl mit sich, das ihre Kampfzöpfe geschmeidig hält. Sie streckt einen muskulösen Arm aus, um seiner kaiserlichen Majestät mit seinem Schleier zu helfen.

Er schlägt ihre Hand weg. »Das kann ich allein.«

»Er sitzt schief, mein Pr…«

»Möglicherweise trage ich zum ersten Mal ein Kleid, aber ich bin nicht unfähig«, schnaubt er.

»Und darf ich Euch versichern, wie gut Ihr darin ausseht.« Das ist der aphorainische Wachmann – der, der geradezu in Bernsteinöl badet. »Die Farbe steht Euch.«

Vielleicht bilde ich es mir ein, aber die dunkelbraunen Augen des Prinzen lassen darauf schließen, dass er hinter seiner korrekt zurechtgezupften Verkleidung lächelt.

Unter dem Gesindel aus Händlern, die die provisorische Siedlung umschwirren wie Fliegen einen Kadaver – und ähnlich gut riechen –, finde ich einen, der mir im Tausch gegen unsere Kamele und eine schwere Börse mit Silbermünzen eine Truppe stämmiger hagmirischer Bergponys verkauft. Das ist unverfrorener Wucher, aber leider nötig für meinen aktuellen Auftrag.

Wir überqueren die Stelle, die bald ein Tor in den Fundamenten von Regent Iddo Kaidons Mauer sein wird. Die Sonne brennt auf uns herab, als wollte sie uns aus dem Kaiserreich vertreiben. Ich besteche den Gardisten am Tor großzügiger als üblich in dem Versuch, eine andere Art der Verfolgung zu verhindern. »Ich vertraue darauf, dass Sie das angemessen für Ihre Diskretion entschädigt?«

Er blickt ausdruckslos geradeaus. »Wofür? Ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas Berichtenswertes bemerkt zu haben.«

Hervorragend.

»Ponys?«, fragt das Mädchen, als wir mit den Tieren eben außer Hörweite sind.

Ich werfe einen Blick auf ihr Pferd. »Ich dachte, das würde dir gefallen, Herzblatt.«

Sie sieht zu den ersten Berggipfeln hinüber, die am dunstverhangenen Horizont sichtbar werden. »Du willst uns doch nicht etwa in die Berge führen?«

Ich tippe mir nur an die Nase.

Wir reiten weiter, hinaus in eine Landschaft, die eher staubig ist als sandig wie die Wüste. Diesen Abschnitt des Weges mochte ich noch nie. Der Dreck dringt einem in jede Pore.

Wenigstens herrscht herrliches Schweigen.

»Schon länger her, dass du nicht mehr hier warst?«, meldet sich das Mädchen erneut zu Wort, als hätte ich es mit meinen Gedanken herausgefordert.

Ich erwidere nichts, woraufhin sie die Stirn runzelt. Wie anstrengend es sein muss, alles als persönliche Beleidigung aufzufassen.

»Oder vielleicht …« Sie zieht das Wort in die Länge, ganz offensichtlich überzeugt, dass jetzt etwas Schlaues folgt. »… warst du selbst noch nie dort, wo wir hinreisen. So ist es doch, oder? Du hast keine Ahnung, ob das der richtige Weg ist. Falls es überhaupt einen richtigen Weg gibt.«

Wenn sie glaubt, mich damit provozieren zu können, ist sie nicht so helle, wie ich dachte. Ich schenke ihr ein seliges Lächeln. »Warte einfach ab, dann wirst du schon sehen, ja?«

Sie mustert mich nur noch eindringlicher mit wildem Blick. »Das macht dir Spaß, nicht wahr? Du genießt es, dich an deinen eigenen Geheimnissen zu ergötzen, oder? Du bist genauso schlimm wie Sephine.«

Ich zwinge mich dazu, nicht zusammenzuzucken, als sie den Namen der Frau erwähnt, der ich viele Umläufe lang gedient habe, und blinzele sie stattdessen nur sanft an, lasse mein Schweigen sprechen. Wenn man es richtig einsetzt, besiegt Schweigen die meisten Leute. Ich habe bereits gelernt, dass dieses Mädchen hier sich deshalb innerlich windet.

»Ich meine, genauso geheimnisvoll wie Sephine … oder zumindest genauso geheimnisvoll wie …«

Offenbar wird ihr klar, dass sie auf gefährliches Terrain geraten ist. Sie wendet den Blick ab und ich glaube schon, dass sie es dabei bewenden lässt. Aber dann weht der Wind ihr Wispern an mein Ohr: »Wer bist du überhaupt?«

»Wenn du nicht darauf aus bist, die ontologischen Feinheiten der existenzialistischen Philosophie aus der Großen Blütezeit zu erörtern, Herzblatt, solltest du deine Frage etwas präziser formulieren.«

»Zunächst mal, bist du jetzt eigentlich Luz oder Zakkurus?«

Ich mustere sie, aber ausnahmsweise liegt keine Bosheit in ihrem Blick und ihr Tonfall ist sachlich. Es ist eine echte Frage, keine Stichelei. »Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass ich beide sein könnte? Wenn ich Luz bin, bin ich Luz. Als Meisterparfümeur von Aphorai war es jedoch hilfreich für mich, mich durch die Benutzung meines Nachnamens abzugrenzen.«

»Aber Zakkurus ist … er ist ein …«

Immerhin hat sie den Anstand zu erröten.

Ich zucke langsam mit den Schultern. »Du willst wissen, mit welchem Begriff du mich benennen kannst. Während viele Zakkurus als ›er‹ sehen, fände ich ›sie‹ im Plural eigentlich am passendsten. Aber ob nun ›sie‹ oder ›er‹ – Hauptsache, es bleibt unbestimmt. Und in den Augen des oder der göttlichen Asmudtag sind beide einfach Teil des Ganzen.«

Sie denkt über meine Worte nach, dann nickt sie. Als wäre es damit geklärt.

Und das ist gut, angesichts des Weges, der noch vor uns liegt.

*

Nach Norden reisen wir.

Immer weiter nach Norden.

Am zweiten Tag, nachdem wir die Grenze überquert haben, beginnt das Gelände anzusteigen. Normalerweise würde ich mich nicht so früh in die Berge schlagen; einfacher ist die Reise, wenn man der staubigen Ebene folgt, bis sich das Gebirge weiter nach Westen erstreckt und einen zwingt, es entweder zu erklimmen oder sich zurückzuziehen. Wenn ich alleine unterwegs bin oder mit nur einem Schützling, ist diese direkte Route nicht übermäßig riskant – Spuren lassen sich leicht verwischen, Deckung zu finden fällt nicht schwer. Aber mit einer Gruppe dieser Größe ist das etwas vollkommen anderes.

In meinen Anweisungen war nicht von Schnelligkeit die Rede, also ist es besser, den schwierigeren Weg einzuschlagen, auf dem man keiner Menschenseele begegnet.

Der Orden wird sich einfach noch etwas gedulden müssen.

Es überrascht mich nicht, dass wir niemanden getroffen haben. Kein Mensch, der unser Ziel nicht kennt, hätte einen Grund, sich hier entlangzuwagen. Aus dem Grenzland kommt auch niemand her, es gibt nur wenige bis gar keine Ressourcen. Und ohne Grenzländer und so weit vom Rand des Kaiserreichs entfernt, hat auch die Kaiserliche Garde hier nichts verloren.

Theoretisch gibt es in dieser Gegend wertvolle Metalle im Boden – er ist mit blassgrünen und fahlgrauen Streifen durchzogen. Sie zu fördern wäre allerdings eine schwierige Angelegenheit. Kein Karawanenführer bei klarem Verstand würde sich darauf einlassen, außer wenn er das Dreifache des Lohns bekäme, den er innerhalb des Kaiserreichs erzielen könnte. Es lohnt sich einfach nicht, eine Lieferkette bis hierher einzurichten, dem Ursprünglichen sei Dank.

Wir erklimmen Hänge ohne jede Vegetation. Selbst der widerstandsfähige Alhagistrauch, der in Aphorai ohne Feuchtigkeit und Pflege gedeiht, weigert sich, hier Wurzeln zu schlagen. Der Mangel an Pflanzen bedeutet, dass die Ponys bei jedem Schritt Staub aufwirbeln. Und immer, wenn der Wind sich bemerkbar macht, wabern Wolken um uns herum, die uns den Atem rauben. Als wir ein Lager aufschlagen, sind die Gesichter meiner Schützlinge von einer grüngrauen Schicht aus Dreck und Schweiß bedeckt, und es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass wir etwas streng riechen.

Als die Sonne am nächsten Tag am höchsten steht, erreichen wir einen Bergkamm. Meine Nase zuckt. Ein weiterer Geruch neben unseren eigenen stechenden Ausdünstungen durchdringt die ansonsten gleichförmige Landschaft.

Es ist so weit.

Ich hebe eine Hand, damit die Gruppe stehen bleibt.

Wie aus Reflex hält der große aphorainische Wachmann dem Mädchen einen Wassersack hin. Sie winkt ab.

»Trink«, sagt er.

Sie seufzt und setzt die Öffnung an die Lippen.

Ich hole mehrere Stoffstücke aus meiner Satteltasche. »Faltet diese dreimal und bindet sie euch vor Mund und Nase. Vergewissert euch, dass die Knoten halten und sie eng anliegen.«

Ziemlich vorhersehbar stemmt das Mädchen die Hände in die Hüften. »Und wenn nicht?«

»Dann kannst du am eigenen Leib erfahren, wovor ich versuche, dich zu schützen. Das bleibt dir überlassen, Herzblatt.«

Ich verteile die Stoffstücke. Die losianische Leibwächterin betrachtet ihrs finster, tut jedoch, was ich sage. Sehr gut. Sie mag störrisch sein, doch sie ist nicht dumm.

Als alle ihre Maske aufgesetzt haben, binde ich mir meine um und reite voraus über den Bergkamm.

Normalerweise würde ich alles, was ich hier entlangbringe, festschnüren, aber die Magistra wird sich nicht mit der sicheren Ablieferung meiner Schützlinge im Heiligtum zufriedengeben. Sie wird auf die Ware aus sein, die noch kostbarer ist als Dahkai: Informationen. Also heißt es Gewandtheit statt Gewalt.

Ich reiche dem Prinzen ein Paar stabile, mit einer Kette verbundene Lederhandschellen. »Mein Prinz, bitte legt die an.«

Die Losianerin tritt zwischen uns. »Das kommt nicht infrage.«

Ich erlaube mir einen theatralischen Seufzer. »Entschuldige, Pik, nicht wahr?« Ich weiß ganz genau, dass sie so nicht heißt.

»Kip«, stößt sie hervor.

»Mir, Kip. Ich möchte, dass er sie mir anlegt. Außer du möchtest mich lieber fesseln?« Ich zwinkere ihr aufreizend langsam zu.

Sie starrt mich nur ausdruckslos an. »Frag freundlich.«

Ich erwidere ihren Blick. Ihre fast schwarzen Augen sind wirklich hübsch.

Der Prinz hinter ihr hüstelt höflich.

Ich lächele die Losianerin an, linse um ihre breiten Schultern herum und strecke eine kleine Schriftrolle aus. »Wenn ich anfange, mich Euch gegenüber eigenartig zu benehmen, mein Prinz, müsst Ihr mir das hier zeigen. Ich muss es vollständig lesen und angemessen auf jegliche Frage antworten, die Ihr mir stellt, bevor Ihr mir die Handschellen wieder abnehmen dürft. Wenn Ihr dann noch immer nicht sicher seid, ob ich bei klarem Verstand bin, müsst Ihr mich bewusstlos schlagen. Sonst stelle ich eine Gefahr für Euch dar.«

Er blinzelt mit seinen großen braunen Augen. »Wie bitte?«

»Das nächste Tal ist auf einer Strecke von Hunderten Kilometern der einzig zugängliche Weg zu unserem Ziel. Hier wachsen Sultisranken. Ihr werdet wissen, dass man Sultisblätter kaut, um zu vergessen, nicht wahr? Wenn man den Duft ihrer Blüten oder die Dämpfe ihres Pflanzensafts einatmet, ist die Wirkung ungleich stärker. Bei zu hoher Konzentration können die geistigen Kräfte angegriffen werden. Da ich, sagen wir mal, anderen gegenüber im besten Fall misstrauisch bin, möchte ich vermeiden, etwas zu tun, das ich später bereue, sollte etwas Unschönes passieren und das Tal mich dermaßen überwältigen, dass ich nicht mehr ich selbst bin. Wenn wir wieder über der Wolkenlinie sind, könnt Ihr mir die Handschellen abnehmen.«

Der Prinz streckt eine Hand aus. Bemerke ich da etwa ein Zittern? Nur ganz leicht? Hervorragend. Er muss seinen Verstand zusammenhalten. Ein Hauch Zweifel hilft gegen Selbstgefälligkeit.

Ich schenke ihm ein weiteres Lächeln, diesmal ein aufmunterndes. »Euch würde ich niemals etwas antun, mein Prinz – als Erstes fällt dem Sultis das Kurzzeitgedächtnis zum Opfer und Euch kenne ich jetzt schon einen Großteil der Monde meines Lebens. Leider kann ich das nicht für die anderen bestätigen. Auch wenn mein Motto immer war, jeder Menschenseele eine Chance zu geben.«

Die Losianerin schnaubt und spuckt auf den Boden.

»Eine widerliche Gewohnheit«, fahre ich sie an.

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Damit habe ich meine Chance dann wohl vertan?«

Sie rührt sich nicht, aber etwas in ihrem Blick ist mir eine Warnung. Verhinderte Gardistin hin oder her, die Losianerin kann sich verteidigen und ist bereit, es zu tun. Vermutlich habe ich genug auf Lager, um mit ihr fertig zu werden, falls das nötig sein sollte, aber sicher nicht, ohne ins Schwitzen zu geraten. Und ich hasse es zu schwitzen.

Wir sind noch keinen Kilometer ins Tal hineingeritten, in dem die Schlingpflanzen von den Felswänden hängen und ihre gewundenen Ranken sich spinnenartig auf dem Boden ausbreiten, als das Mädchen hinter dem Stoffstück vor ihrem Gesicht zu husten anfängt. Sie fasst sich an die Maske.

»Lass sie auf.« Meine Stimme dröhnt, bis das Echo von den kriechenden Pflanzen verschluckt wird.

Ihr Blick huscht zum aphorainischen Palastwächter. »Bar? Wo sind wir? Wer sind diese Leute?«

Bei der Gnade der Ursprünglichen, ich wusste, dass sie empfindlich ist. Aber so früh? Und so heftig? Sie ist wirklich die Tochter ihrer Mutter. Leider erkennt sie schon niemanden mehr, abgesehen vom Aphorainer.

Sie zerrt an den Zügeln ihres Pferdes – eine ganz untypische Bewegung – und lenkt den Kopf der Stute zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind, reitet einen vorsichtigen Kreis, wobei sie nur noch mehr vom Sultis zerquetscht, dessen milchiger Saft über die Hufe des Tieres spritzt.

»Rakel.« Die Stimme des aphorainischen Wachmanns ist von der eigenen Maske gedämpft. »Warte.«

»Erst, wenn du mir sagst, was hier los ist.« Gleich darauf lässt sie sich vom Pferd gleiten und reißt sich den Mundschutz aus dem Gesicht. Sie weicht mit weit aufgerissenen Augen zurück, als könnte sie sich jeden Moment umdrehen und weglaufen.

»Junge.« Das Wort kommt trotz des Stoffstücks in meinem Gesicht scharf heraus. »Jetzt ist es Zeit, dass du dir deinen Lohn verdienst. Sei ein Held und hol bitte deine Freundin zurück, ja?«

Das Mädchen entfernt sich einen weiteren Schritt. Dann noch drei. »Du wirst doch nicht ernsthaft Befehle einer Fremden entgegennehmen, oder?«

Der Wachmann blickt zwischen mir und dem Mädchen hin und her, sein normalerweise hübsches – wenn auch welpenhaftes – Gesicht spiegelt seine Unsicherheit wider.

Er schluckt hörbar. »Ist das wirklich nötig?«

Ich könnte vor Langeweile sterben. »Es geht nicht darum, eine Sternkarte zu lesen, Junge. Schnapp sie dir einfach und binde sie an ihr Pferd.«

Jetzt hebt er die Hände. »Ich werde nicht … Ausgerechnet ich kann nicht … Sie verstehen das nicht. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit.«

»Ich verstehe mehr, als du denkst.«

Der große Trampel steht einfach nur da, genauso benommen wie ein schläfriges Kleinkind.

Schließlich tritt die Losianerin an ihm vorbei. Mit ein paar langen Schritten erreicht sie das Mädchen, hebt sie hoch und lädt sie sich grob über die Schulter wie einen Sack Gerste.

Eine Frau, die die Sache erledigt. Äußerst lobenswert.

»He!«, kreischt das Mädchen. »Nimm deine stinkenden Pfoten weg!«

»Hier.« Ich halte eine Phiole mit einer lilafarbenen Flüssigkeit hoch. »Ich werfe sie dir zu.«

Die Losianerin fängt sie mit ihrer freien Hand im Flug auf und mustert den aphorainischen Wachmann. »Bist du auch zu feige, um das Pferd zu halten?«

Die Stute ist nervös und zwingt ihn, hinter ihr herzulaufen, damit er das Zaumzeug erwischt. Das Pferd wehrt sich gegen ihn, stampft auf den Boden und setzt dabei immer mehr beißenden Sultissaft frei. »Ganz ruhig, mein Mädchen, das ist nur zu ihrem Besten.«

Ich habe den Eindruck, das Tier ist verständiger als alle anderen, denn es beruhigt sich weit genug, dass die Losianerin das Mädchen auf den Sattel legen kann.

»Öffne die Phiole und wedele ihr damit ein paar Atemzüge lang unter der Nase herum.«

Sie tut wie ihr geheißen. Schnell. Effektiv. Sie fängt an, mir zu gefallen, trotz ihrer scharfen Kanten.

»Weiter«, dränge ich sie. »Die Wirkung setzt gleich ein.«

Wie erwartet nimmt das Gesicht des Mädchens einen verträumten Ausdruck an.

Ich gestatte mir ein zufriedenes Grinsen. Musste mir noch nicht mal selbst die Handschellen abnehmen.

Als das Mädchen gebändigt ist, verkorkt die Losianerin die Phiole wieder. Sie blickt misstrauisch über die Sultisranken hinweg. »Was passiert, wenn man sich hier verläuft?«

»Man irrt umher, bis der Körper nicht mehr weiterkann. So ist es vielen ergangen.«

»Und dann?«

»Du hast gesehen, woraus der Untergrund hier besteht. Aus nicht viel mehr als Stein. Was glaubst du, woher die Pflanzen die Nährstoffe bekommen, die sie zum Überleben benötigen?«

Zum ersten Mal sehe ich ihre eindrucksvolle Gestalt erschaudern.

*

Ich erkenne Trauer, wenn ich sie sehe.

Die Rückkehr der Erinnerungen des Mädchens scheint besonders grausam zu sein. Wie üblich erinnert sie sich nach und nach an die Dinge, von alt zu neu. Zu Beginn beäugte sie uns alle außer dem Aphorainer misstrauisch. Dann entspannte sie sich hinsichtlich des Prinzen. Anschließend fing sie angeregt an, vom Harnisch des Prinzen zu sprechen, und nun will sie wissen, wo er ist, warum er nicht hier ist.

Alle wirken betroffen. Vermutlich kann ruhig ich die Aufgabe übernehmen, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie wird mich sowieso nie besonders mögen, daran ändert das auch nichts. Und es wäre noch grausamer, sie einfach fröhlich weiter über den Harnisch plaudern zu lassen, bis ihr die Wahrheit bewusst wird.

»Er ist tot«, sage ich. Es hat keinen Zweck, es anders zu verpacken. Selbst der beste Parfümeur kann aus ranzigen Zutaten keine schmerzlindernde Salbe machen. »Er ist im Palast gestorben.«

Sie sieht mich blinzelnd an, auf dieselbe Art wie immer schon, als versuchte sie herauszufinden, wer ich bin und ob man mir trauen kann. »Ich glaube dir nicht.«

Bei Sonnenuntergang sackt das Mädchen in ihrem Sattel zusammen und stößt ein durchdringendes Geheul aus.

Jetzt erinnert sie sich.

Und soweit ich sehe, ist das der Schlag, der sie schließlich zusammenbrechen lässt.

Sie reitet schweigend inmitten unserer Gruppe. Einer unausgesprochenen Abmachung zufolge haben sich die anderen um sie herum verteilt, als würde sie jeden Moment wieder versuchen abzuhauen. Ich könnte ihnen sagen, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen – es ist offensichtlich, dass ihr Feuer erloschen ist. Aber wenn ihre Fürsorge dazu führt, dass wir schneller vorankommen, umso besser.

Der bernsteinölgetränkte Aphorainer reitet neben ihr. Als die Kühle des Vorgebirges zur Kälte der Berge wurde, hat er ihr eine Decke über die Schultern gelegt. Dann und wann reitet er näher an sie heran und rückt die Decke zurecht.

Das Mädchen scheint es nicht zu bemerken.

Oder zu kümmern.

Die Monde gehen beide früh auf und beleuchten unseren Weg, also reiten wir durch den Beginn der Nacht. Das Wetter meint es nicht gut mit uns, der klare Himmel sorgt für eisige Kälte und der Wind verhindert jedes Gespräch. Das ist allerdings von Vorteil. Ich muss nachdenken. Was immer der Orden für einen Auftrag für mich hat, nachdem ich den Prinzen in Sicherheit gebracht habe – ich muss bereit sein. Einen Schritt voraus. Stets mindestens einen Schritt voraus. Das war Sephines Fehler. Sie war zu sehr auf die Gegenwart konzentriert, während andere Akteure um sie herum taktierten.

Erst kurz vor Mitternacht schlagen wir in einer Mulde zwischen den schroffen Felsen unser Lager auf. Die Losianerin macht sich daran, ein Feuer anzufachen, gut geschützt in einem Erdloch, für den Fall, dass die offensichtlich verwaisten Berge doch Augen haben. Der Aphorainer hilft mir mit den Pferden – das würde normalerweise das Mädchen tun, aber seit sie abgestiegen ist, hat sie sich noch keinen Zentimeter gerührt. Der Prinz muss ausgehungert sein – ausnahmsweise verteilt er die Wegzehrung aus getrockneten Früchten und Fleisch sowie gerösteten Nüssen selbst, anstatt darauf zu warten, bedient zu werden.

Wir essen schweigend, dann schiebt jeder ausreichend Kieselsteine zur Seite, um hoffentlich etwas Schlaf zu finden. Das Mädchen wickelt sich in die Decke und legt sich vom Feuer abgewandt hin. Die anderen versuchen mit ihr zu reden, aber sie erreichen sie nicht, nicht in einer solchen Trauer.

Meine Worte wären vermutlich die letzten, die ihr Trost spenden könnten, also sehe ich nur zu und warte darauf, dass alle auf ihrer Matte liegen. Sie haben aufgehört, mir jeden Abend Fragen darüber zu stellen, wo wir hinreiten und wie lange es noch dauern wird. Ihnen ist zu kalt und sie sind zu ausgelaugt, um neugierig zu sein.

Als das Feuer mehr Nahrung braucht, hole ich ein Trauerräucherstäbchen und die letzten Torfballen aus meiner Tasche. Morgen müssen wir unser Ziel erreichen, sonst erwartet uns eine eisige Nacht.

Nur die Losianerin rührt sich, als ich in der Glut stochere, damit das Feuer möglichst langsam runterbrennt. Sie klappt ein Auge auf, bewegt sich aber nicht.

Niemand anders sieht, wie ich das Trauerräucherstäbchen neben das Gesicht des schlafenden Mädchens lege.

2. Kapitel

Rakel

Es sind meine Rückenschmerzen, die mich endgültig wecken.

Ich muss die ganze Nacht eng zusammengerollt dagelegen haben, bin immer wieder eingeschlafen und aufgewacht, die Füße taub vor Kälte, in der Nase den Geruch von Zypressen und … etwas anderem. Ich könnte schwören, es ist Majoran, das man für das zweite Stadium der Trauer verwendet – die Zeit, in der man sich an diejenigen erinnert, die in den Himmel aufgestiegen sind.

Ich öffne die Augen. Also habe ich es mir nicht eingebildet. Nicht weit von meiner Nase entfernt liegt ein dünnes Trauerräucherstäbchen. Eins von den teuren. Mit einem hohen Anteil an Duftstoffen.

Ich bin nicht blöd, natürlich ist das ein Zeichen, dass ich weitermachen soll. Anfangen soll, nach vorne zu schauen. Erinnerungen sind Klingen, die der Verlust scharf hält, hat Ash mal zu mir gesagt. Einen geliebten Menschen zu verlieren ist hart genug, ihn zweimal zu verlieren eine besondere Art der Grausamkeit. Nach dem Sultis-Vorfall würde ein Teil von mir am liebsten hierbleiben und einfach abwarten, bis mich die Kälte für immer lähmt. Vielleicht ist das einem von den anderen aufgefallen.

Barden und Kip bereiten die Ponys darauf vor, einen weiteren Tag lang höher und höher in dieses fäulnisverdammte Gebirge hinaufzukraxeln. Unbeeindruckt von der Aktivität sitzt Nisai am Rand des Lagers und verbrennt im Gebet Räucherwerk. Es dauert eine Weile, bis ich das Aroma wahrnehme; je kälter es wird, desto weniger kann ich mich auf meine Nase verlassen. Ah. Da ist es. Derselbe Geruch wie das Stäbchen in meiner Hand. Nett von ihm, sogar noch in seiner eigenen Trauer an mich zu denken.

Ich kann verstehen, warum Ash ihm gegenüber so loyal war. Also werde auch ich loyal sein. Wenn dieses Heiligtum, der Zufluchtsort, von dem Luz gesprochen hat, seinem Namen Ehre macht, würde Ash wollen, dass ich einen Fuß vor den anderen setze, bis wir dort angekommen sind. Bis der Prinz in Sicherheit ist.

Mittendurch, würde er sagen und meine Hand nehmen. Der beste Ausweg ist mittendurch.

Wir steigen auf die Reittiere und brechen zu einem weiteren Tag des Jammers auf. Über uns lockt der Schnee, dem ich noch nie so nah gewesen bin. Selbst als ich mit Ash in den hagmirischen Bergen war, die mit ihrer dichten Vegetation erdrückend wirken, verglichen mit dem kahlen Fels, der uns jetzt umgibt, sind wir nicht so hoch gestiegen.

Die Felsformationen hier sind völlig anders als die aphorainische Landschaft. Wir sind von senkrechten grauen Berggipfeln umgeben, die sich in den Himmel recken. Überall gibt es spitze Ecken und Splitter, nicht wie beim Sandstein im Flachland, wo das Wetter alle scharfen Kanten abträgt. Der höchste Gipfel meiner Welt war immer der Tempel in Aphorai-Stadt. Verglichen hiermit ist er ein Ameisenhaufen.

Ich sollte aufgeregt sein. Neugierig. Nicht nur auf das Heiligtum, sondern auf ein noch tiefgründigeres Geheimnis.

Meine Mutter.

Die wenigen Stunden, die wir zu Hause in meinem Dorf verbrachten, bevor wir uns auf diese Reise begeben haben, hätten eigentlich freudig sein sollen. Stattdessen fühlte es sich an, als hätte ein Erdbeben die Wüste unter meinen Füßen ins Wanken gebracht. Ich sollte froh sein, dass sie lebt. Sollte erleichtert sein. Das Gewicht, das ich immer auf meinen Schultern getragen habe, die Überzeugung, dass mein Leben zum Verlust eines anderen geführt hat, ist verschwunden. Aber es wurde durch ein gähnendes Loch ersetzt – von dem Gefühl, ungeliebt zu sein. Verlassen.

Ich habe dich im Schatten einer Lüge leben lassen, versuchte Vater zu erklären. Das wird mir immer leidtun. Ich wollte dich beschützen, wollte, dass du dein eigenes Leben führst. Als sie mir sagte, dass sie nach deiner Geburt weggehen würde und uns dorthin nicht mitnehmen könne, nicht mitnehmen dürfe …

Ich war schockiert. Sie musste gar nicht weggehen? Wurde nicht gezwungen?

Er sah hoffnungslos aus, als bemühte er sich, einen unmöglichen Ausgleich zwischen Vorwurf und Vergebung zu schaffen. Yaita hatte das Gefühl, es sei nötig zu gehen. Ich kenne nicht all ihre Gründe, aber ich weiß, dass das Allerwichtigste für sie war, sich einer höheren Sache zu widmen. Die Dufthüterin verkündete, dass deine Mutter am Kindbettfieber gestorben sei und aufgrund Sephines Gnade ihre Ehren als Priesterin behalten könne und in den Himmel gesandt werde. Ich war sicher, dass ich der Einzige außerhalb des Tempels war, der wusste, dass der Leichnam, den sie auf dem Scheiterhaufen verbrannten, nicht deine Mutter war. Ein Wissen, wie man mir sagte, das mich – und dich – in Gefahr bringen könne, sollte es je ans Licht kommen.

Im Hier und Jetzt brennt mir der Eisregen im Gesicht. Ich kann kaum zwei Pferdelängen weit sehen.

Mit der Kälte kehrt auch das Taubheitsgefühl zurück.

Wir sind ewig gelaufen, ich bin ewig gerannt, und wofür? Weitere Geheimnisse. Weitere Lügen. Auf die Antworten, die ich am Ende dieser Reise finden werde, wäre ich noch vor Monaten so erpicht gewesen, und jetzt erscheinen sie mir bedeutungslos. Alles kommt mir fade vor. Grau. Sinnlos.

Ich setze einen Fuß vor den anderen. Ich gehe weiter. Aber das heißt nicht, dass es mir gut geht.

Barden reitet in meiner Nähe. Er ist gut darin, mich wie ein Falke zu beobachten, dabei jedoch zu plump, als dass ich es übersehen könnte. Es sollte ein Trost sein, meinen Freund bei mir zu haben. Aber ich scheine überhaupt nichts zu fühlen. Genau wie diese Landschaft – Fels, Schnee und keinerlei Lebenszeichen – bin ich vollkommen leer.

Die kalten Tage und noch kälteren Nächte, die wir durchlebt haben, verschwimmen zu einer eisigen Hölle. Die einzige Veränderung heute ist, dass das Schneetreiben immer dichter wird, je höher wir kommen. Bald müssen wir absteigen, um ganze Eisfelder zu überqueren, wobei unsere Füße bei jedem Schritt unter uns wegzurutschen drohen, sodass auch die normalerweise trittsicheren Ponys scharrend Halt suchen.

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir schon laufen, wandern, höhersteigen, als Luz eine Hand hebt, damit wir anhalten.

Wir stehen nur ein paar Schritte von einer Klippe entfernt. Der Wind zerrt am Saum meines Gewands, schlängelt bitterkalte Finger durch mein kurz geschnittenes Haar. Ich versuche nicht, ihn davon abzuhalten.

Luz steht am Rand, als wäre nichts dabei, und blickt in den steinernen Abgrund hinab, der die Schluchten in der Nähe meines Dorfes wie einfache Kleiderfalten wirken lässt. Der Boden ist in blau getöntem Nebel versunken. Ich kann weder bei Stink noch bei Stunk hindurchsehen, obwohl die Unschärfe in meinem Blick nach Nisais Heilung langsam nachlässt. Oder vielleicht habe ich mich auch nur daran gewöhnt.

Vor uns verschwindet der Pfad einfach. Es gibt nur einen schmalen Felsvorsprung, kaum so breit wie eins der Reittiere, die Luz an der Grenze gekauft hat. Jetzt wird überdeutlich, wieso sie sich für Bergponys entschieden hat.

Sie lässt den Blick über uns schweifen. »Einer nach dem anderen, meine Lieben. Führt die Tiere. Und wenn ihr Höhenangst habt, lasst es euch nicht anmerken. Die Ponys reagieren stärker auf eure Angst, als dass sie selbst Angst vor der Höhe haben.«

Vielleicht die wahrsten Worte, die ich bisher von diesen Lippen vernommen habe. Ich streichele Lils Hals. »Wir schaffen das, nicht wahr, mein Mädchen?«

Meine Stute hält still. Ist bereit. Warm und lebendig. Das ist mehr, als ich von mir sagen kann.

»Lostras, gehst du voraus?«

Kip nickt. Bei der vertraulichen Anrede zuckt sie nicht mal. Sie war die Erste, die sich an den Spitznamen gewöhnt hat, mit dem Luz sie bedachte.

»Als Nächstes unser Prinz, dann Baron Bernstein.«

Barden runzelt die Stirn. Andere haben sich noch nicht an ihren Spitznamen gewöhnt.

»Dann du mit Mitternacht, Herzblatt.«

Ich mache mir nicht die Mühe, Lils Namen zu verbessern.

»Und ich bilde das Schlusslicht.«

Ich schnaube höhnisch und mein Atem bildet eine kleine Wolke, die gleich darauf vom Wind weggeweht wird. »Damit wir für dich herausfinden, wo die gefährlichsten Stellen sind?«

»Damit ich leichter zurückkehren und das Pony unseres Prinzen holen kann. Ich werde die Einzige sein, die den Weg dreimal zurücklegen muss.«

Oh.

»Aber schön zu sehen, dass du langsam etwas von deinem Biss zurückgewinnst. Ich habe die Essigdämpfe in meiner Umgebung schon vermisst.« Letzteres gibt sie mit ihrem typischen nervtötenden Zwinkern von sich.

Wir bilden eine Reihe, die anderen führen ihre Bergponys und ich Lil.

Kip geht mit langsamem, aber sicherem Schritt voraus. Ihr folgt Nisai, der mit seinen Krücken das Eis austestet, bevor er sich darauf stützt. Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, wenn ihn jemand tragen würde. Andererseits, würde es mir gefallen, wenn jemand anders so sehr über mein Schicksal bestimmt?

Ungefähr auf halbem Weg rutscht ihm eine Krücke weg.

Ich atme lautstark ein.

Dann ist Barden bei ihm, stützt Nisai mit einem starken Arm, mit dem anderen hält er sein nervöses Pony in sicherem Abstand. Der Prinz fängt sich und konzentriert sich wieder auf den Pfad.

Anschließend bin ich an der Reihe.

Aus der Ferne wirkte der Felsvorsprung eng. Aus der Nähe erscheint er sogar noch schmaler. Er ist kaum breit genug für uns, Lils Flanken streifen die näher rückende Felswand. Ich drehe mich um und sehe, dass der Steigbügel auf ihrer anderen Seite über dem Abgrund baumelt.

»Augen nach vorn, Herzblatt!«, ruft Luz.

Ausnahmsweise bin ich voll und ganz ihrer Meinung.

Ich gehe weiter, einen Schritt nach dem anderen.

In der Nähe der Stelle, an der Nisai beinahe ausgerutscht wäre, steigt mir etwas Unerwartetes in die Nase. Sicherlich hätte ich es schon früher gerochen, wenn die Kälte die Welt nicht so verzerren würde.

Da. Ein Raubtier – ein übergroßer Löwe ohne gefiederte Mähne – streift am anderen Ende der Schlucht umher. Sein Fell ist reinweiß und damit vor dem Schnee kaum zu erkennen, abgesehen von den Blutflecken an seinem Maul. Vermutlich hat er vor Kurzem gefressen. Hoffentlich bedeutet das, dass er nicht auf der Suche nach weiterer Beute ist.

»Ganz ruhig«, murmele ich Lil zu, ohne mich umzudrehen, und hoffe, sie bemerkt ihn nicht. Wir machen noch einen Schritt.

Dann schnaubt Lil, stampft auf den Felsvorsprung, sodass Eissplitter klirrend in die Schlucht fallen.

»Er kann dich nicht kriegen«, erkläre ich.

Aber er ist ein Raubtier und sie ein Beutetier, und Tod liegt in der Luft. Lil darf hier draußen nicht den Kopf verlieren. Sie würde mir zwar nie bewusst etwas tun, aber Instinkt ist mächtig.

Ich schaue zu Barden hinüber. Er hat es geschafft. Wieder auf festem Grund, atmet der Prinz erleichtert Dampfwolken aus.

Der Weg ist frei. Ich mache noch einen Schritt und presse mich in eine flache Mulde in der Felswand. »Los!«, befehle ich meinem Pferd.

Lil zögert, dann geht sie vorbei.

Ich schaue zu Luz zurück. Ihr Pony schnaubt nervös, bleibt aber ansonsten ruhig. Und als ich zu der Stelle hinübersehe, wo die Wildkatze eben war, ist dort nichts weiter als ein Schneeschauer.

Wenn Lil nicht gescheut hätte, würde ich glauben, ich hätte mich geirrt, so wenig traue ich meinen Augen zurzeit.

»Geh weiter«, befiehlt Luz. »Wahrscheinlich ist er auf dem Weg zurück in seine Höhle, aber ich bin nicht erpicht darauf, diese Annahme zu überprüfen.«

Ich atme tief ein, dann wieder aus und mache noch einen Schritt. So langsam und vorsichtig bewege ich mich, dass ich es gleichzeitig spüre und höre, als das Eis knackt. Ich versuche, mein Gewicht zu verlagern, aber ich rutsche weg. Ich knicke mit einem Fuß um und er schlittert unter mir zur Seite. Dann lande ich bäuchlings auf dem Weg und schramme mir das Kinn auf, die Luft entweicht aus meiner Lunge.

Plötzlich und erschreckend wird mir bewusst: Meine Beine baumeln über dem Rand der Klippe.

»Rakel!«

Bardens Stimme. Sie kommt vom anderen Ende des Felsvorsprungs und hallt zwischen den Gipfeln wider. Zu weit weg, um mir eine Hand zu reichen.

Ich taste herum. Da ist nichts, woran ich mich hochziehen könnte, und ich rutsche langsam über den glatten, gefrorenen Fels. Rutsche meinem Ende entgegen.

Irgendwo in meinem gelähmten Verstand frage ich mich, ob das wirklich so schlimm wäre. Wir müssen inzwischen schon in der Nähe des Heiligtums sein. Nisai ist sicher auf der anderen Seite des Pfads.

Der Abgrund hier ist so tief, dass ein Sturz fast wie Fliegen wäre. Und dann wäre es vorbei.

Keine Kälte mehr. Keine Leere.

Keine endlosen Straßen.

Keine Trauer.

Einfach nichts.

Lange Finger schlingen sich um mein Handgelenk und der Blick aus blauen Augen durchbohrt mich. »Denk noch nicht mal daran, Herzblatt.«

Mit einer Kraft, die ich ihrer geschmeidigen Gestalt gar nicht zugetraut hätte, zieht Luz mich zurück auf den Felsvorsprung.

»Meine Anweisung lautet, dich an dein Ziel zu bringen. Und es wäre mir lieber, du wärst dann nicht bloß ein Sack gefrorener Matsch, den ich vom Fuß des Abgrunds gekratzt habe. So. Irgendwas gebrochen?«

Sicher werden vom Sturz auf meinen Rippen überall Blutergüsse blühen, außerdem schmerzt meine Schulter, weil Luz mich am Arm über den Rand gezogen hat. Ich habe mir beim Aufprall auf die Zunge gebissen – in meinem Mund breitet sich der Geschmack von Kupfer aus – und mein geschundenes Kinn brennt in der eisigen Luft. »Ein paar Schrammen, mehr nicht.«

»Wunderbar. Dann wollen wir diesen gefährlichen Moment mal hinter uns bringen, nicht wahr?«

Ich sehe sie nur ausdruckslos an.

»Nach dir«, beharrt sie und zeigt nach vorn.

Als ich drüben bin, nickt Kip mir zu.

Nisai betrachtet mich mit sanftem Blick. »Geht’s dir gut?«

Barden stürzt an ihm vorbei und schließt mich in die Arme. »Bei allen Sternen, Rakel. Ich dachte schon, ich würde dich verlieren.«

Ich bringe etwas Ähnliches wie ein Lächeln zustande.

Ich auch.

*

Es ist schon spät am Tag, als wir einen Berggrat erklimmen.

Luz stößt einen selbstzufriedenen Seufzer aus. »Perfekte Planung, meine ramponierten Reisenden. Von hier aus geht es jetzt nur noch bergab.«

Ich werfe einen Blick hinab. Es stimmt, das Gelände fällt ab, aber ansonsten gibt es nichts zu sehen. Alles unter uns ist in dichte graue Wolken gehüllt.

Wir machen uns auf in Richtung Nebel und die Luft wird mit jedem Schritt feuchter, als hielten winzige Regentropfen mitten im Fallen inne. Dann löst sich der Nebel auf, oder besser gesagt, wir lösen uns von ihm.

Seit der Schlucht führen wir unsere Reittiere. Jetzt lässt Barden seins so abrupt anhalten, dass ich beinahe gegen das Hinterteil seines Ponys pralle.

Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nichts weiter sehen als zerklüftete Felsen, Eis, Schnee und rauchgrauen Himmel. »Was ist los, Bar?«

»Da.« Er beugt die Knie, bis er auf meiner Höhe ist, und zeigt fast genau geradeaus. »Da unten. Ein Tal.« Seine Stimme klingt ehrfurchtsvoll.

Und dann sehe ich es. Ganz unten, so weit entfernt, dass ich keine Einzelheiten erkennen kann.

Ein schmaler Streifen Grün.

Leben.

Zum ersten Mal seit dem Sultistal verspüre ich etwas Ähnliches wie Neugier. Es ist nicht direkt Staunen, aber vielleicht dessen entfernte Cousine.

Der Weg nach unten ist steiler als alle Wege, die ich je gegangen bin, obwohl wir uns im Zickzack über den Hang bewegen. Als Erstes verändert sich der Wind. Seit wir aus dem Vorgebirge aufgestiegen sind, war er unser ständiger heulender und peitschender Begleiter. Jetzt, auf der windgeschützten Seite des letzten Gebirgskamms, ist er verstummt.

Dann beginnt das Eis zu schmelzen. Es tropft von den Felsen wie damals in der Höhle in Trell, wo Ash und ich Azereds Knochen gefunden haben. Wo er mir zum ersten Mal seine Verletzlichkeit zeigte, die er bis dahin immer vor mir verborgen hatte. Als wir begannen, Vertrauen zueinander zu fassen.

Ich hole die beiden Räucherstäbchen aus der Tasche meines Gewands. Zypresse. Das erste Trauerstadium. Und Majoran, das zweite. Sobald die anderen mich überholt haben, lege ich das Zypressenstäbchen auf einen Felsvorsprung unter weinende Eiszapfen. Eine Art Opfergabe. Mögen die Berge Ash genauso in Erinnerung behalten wie ich.

Moos ist das erste Anzeichen für Leben. Dann kleine Heidekrautpflanzen. Wir kommen an Klippen vorbei, von denen der geschmolzene Schnee tropft. Das Schmelzwasser sammelt sich immer mehr, bis sich kleine Wasserfälle in den Spalten bilden. Es klingt fast musikalisch, ein Chor aus flüssigen Stimmen. Ich halte mir das Majoranstäbchen unter die Nase und atme ein, erinnere mich an Ashs Stimme. Daran, wie er im Lager in Edurshai gesungen hat, an die tiefen Töne – warm wie Sandelholz und düster wie Rauch –, die in die Nacht aufstiegen.

Bald tauchen Büsche auf, deren knorrige Wurzeln sich in die dünne Erdschicht in den Felsspalten drängen. Noch etwas weiter wächst stellenweise Gras auf dem Weg. Die Kälte weicht aus der Luft und ich kann wieder Dinge riechen: die Erde unter Lils Hufen, die sanfte Süße einer Ansammlung kleiner rosa Wildblumen, die ich noch nie gesehen habe.

Blumen. Ich habe bisher nur in Erzählungen von den Bergen hinter den Sesongebieten gehört. Und darin ist von einem toten Ort die Rede. Öde. Endlos. Als gäbe es ihn gar nicht wirklich, sondern nur in den Mythen. In grauer Vorzeit. Bis jetzt hatte ich keinen Grund, daran zu zweifeln.

Ich schiebe die Kapuze meines Umhangs zurück und bücke mich, um die Blütenblätter zu berühren.

Luz taucht neben mir auf. Diese lautlose Art, sich zu bewegen, macht mich ganz nervös.

»Das …« Ich zeige auf die Blume. »Wie ist das möglich?«

»Das Tal liegt viel niedriger als die umliegenden Berge, sodass hier angenehme Temperaturen herrschen. Und die Wasserquelle hast du bereits entdeckt – es gibt einen steten Zustrom aus Schmelzwasser. Warum sollte es also nicht möglich sein?«

»In den Geschichten, die ich über diese Berge gehört habe … ist davon nicht die Rede.«

»Großartig! Meine Kolleginnen und ich verstehen das als Riesenkompliment.« Ihr Blick schweift über den Bergkamm über uns.

War da eine Bewegung? Dort. Das Glitzern von Metall. Eine Waffe? Rüstung?

»Lass mich raten, du wirst mir nichts darüber sagen, oder?«

»Ich könnte ein wunderbares Lügengespinst spinnen, Herzblatt. Ich habe Bänkelsängerblut in mir. Aber das Recht, dich ins Bild zu setzen, hat sich die Magistra vorbehalten. Und die Magistra bekommt, was die Magistra will.«

Die Magistra. Der Orden. Das Heiligtum. So viele alberne Begriffe. Ich frage mich, was meine Mutter von all dem hält. Wenn Vater über sie sprach, sagte er immer, sie sei pragmatisch. Das sei die Eigenschaft gewesen, die ihn angezogen habe. Ist dieser Unsinn etwas, woran sie sich mit der Zeit gewöhnt hat? Oder hat sie sogar Gefallen an den Geheimnissen und Spielchen gefunden?

Wir gehen weiter und ich mache immer mehr Einzelheiten unseres mutmaßlichen Ziels aus. Aus dem grauen Granit der Berge ist eine riesige kreisförmige Struktur gemeißelt worden wie ein liegendes Rad. Aber bevor ich noch weitere Details im Inneren des Rings erkennen kann, sind wir zu weit abgestiegen und ich sehe nichts mehr. Ich weiß nur, dass der Komplex eine größere Fläche bedeckt als alle anderen Gebäude, die ich bisher gesehen habe, in Aphorai, Ekasya oder sonst wo. Selbst der kaiserliche Palast und die Tempelanlage wirken verglichen damit klein.

Nisai hat die Augen so weit aufgerissen, dass ich den Eindruck habe, einen Blick darauf zu erhaschen, wie er vor vielen Umläufen ausgesehen hat. Ein Junge, der einen großartigen Anblick bestaunt. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal etwas sehen würde, das groß genug wäre, um einen Prinzen zu beeindrucken.

Schließlich finden wir uns vor einer kahlen Mauer wieder, die drei, vier oder sogar fünf Stockwerke hoch sein muss.

»Halt«, ruft eine Stimme, vermutlich die einer Wache, aus einer kleinen Maueröffnung.

Luz seufzt. »Wir müssen doch jetzt nicht das ganze Theater aufführen, oder?«

Die Wache, eine grimmig wirkende Frau mit kantigem Kiefer, breiter Stirn und Haaren so grau wie die umliegenden Felsen, beugt sich heraus und funkelt uns an.

»Na gut«, sagt Luz. »Sei gegrüßt, Steinblatt. Ich ersuche um Einlass in das Heiligtum des Ursprünglichen Gottes auf einer von Schneedorn in Auftrag gegebenen Mission.«

Die Wache nickt, offensichtlich zufrieden. »Wartet dort. Eine Eskorte wird zusammengestellt.«

»Das kriege ich schon alleine hin. Mach einfach das Tor auf.«

»Regeln sind Regeln, Sandblüte.«

Ich schnaube unwillkürlich. Als wären »Schneedorn« und »Steinblatt« nicht schon lächerlich genug. »Sandblüte?«

»Ein unglücklicherweise rückschrittliches Zeremoniell.« Luz schneidet eine Grimasse.

»Das klingt, als hätten alle hier Luft in den Hintern geblasen bekommen.«

Luz grinst mich an. Ich stelle fest, dass ich ihr Grinsen erwidere. Das ist neu.

Irgendwo im Inneren des Felsens ertönt ein Schleifgeräusch. Dann erscheint eine senkrechte Linie im Stein. Die Linie wird zu einem Spalt und bald verschwinden zwei große Platten in der Mauer wie Schiebetore.

Als das Tor offen ist, tritt Nisai vor und streicht mit der Hand über die nun ebene Oberfläche. »Was für ein faszinierender Mechanismus.«

»Beeindruckend, nicht wahr?«, fragt Luz leichthin, als zeigte sie uns bloß einen neuen Teppich.

Die Frau namens Steinblatt erscheint und in ihrem Gefolge umringen uns mehrere weitere Wachen. Es sind alles Frauen, nicht nur einige wenige wie in der aphorainischen Armee oder wie Kip bei der Kaiserlichen Garde. Sie sehen großartig aus. Schlank. Die Haut gegerbt vom Bergwetter. Durch die grau-weißen Pelzumhänge wirken ihre Schultern besonders breit.

Man führt uns ins Innere der steinernen Anlage in einen von einer Mauer umgebenen Hof. Dort kommen noch mehr Wachen und nehmen uns unsere Pferde ab. Ich zögere. Schließlich bin ich nicht bereit, Lil irgendjemandem zu übergeben.

»Man wird sich gut um sie kümmern«, sagt Luz.

»Das will ich auch hoffen«, entgegne ich mit finsterem Blick, dann stelle ich mich auf die Zehenspitzen und ziehe gleichzeitig sacht an Lils Zaumzeug. Sie senkt den Kopf, damit ich ihr ins Ohr sprechen kann. »Wenn du irgendetwas Merkwürdiges witterst, darfst du zubeißen. Und nur treten, wenn es unbedingt sein muss.«

Sie stupst mich mit der Nase an.

»Braves Mädchen.«

Man führt uns einen langen Gang entlang, der von einer Art grünlichem Feuer schwach beleuchtet wird und mich in die Verlorene Bibliothek zurückversetzt. Wir kommen in einen großen kreisförmigen Saal, dessen Boden terrassenartig zur Mitte hin abfällt.

Die Wand gegenüber der Tür wird von einer riesigen Statue beherrscht, genau wie die in der Bibliothek. Eine menschenartige Gestalt auf einem massiven, aber schlichten Thron. Die gemeißelten Gesichtszüge lassen keine Rückschlüsse auf ihr Geschlecht zu. Glatter Schädel und glattes Gesicht, schlanke Gliedmaßen, eine Hand mit der Handfläche nach oben, die andere nach unten weisend. Barfuß.

Asmudtag.

Es ist schwer zu sagen, was das hier für ein Ort sein soll. So etwas wie ein Tempel? Ein riesiger Gebetsraum? Eine Bühne für Schauspieltruppen?

Auf einer Plattform unter der Statue warten mehrere Personen. Wieder ausschließlich Frauen. Ihre Gewänder sind alle aus demselben grünlichen Gewebe – mit winzigen Unterschieden in der Ausführung. Aber ansonsten haben sie nichts Gleiches an sich. Groß, klein, dick, spindeldürr. Einige so alt wie die Chronisten, andere anscheinend alterslos wie Sephine.

Ist eine von ihnen meine Mutter? Würde ich sie erkennen, wenn dem so wäre?

Luz nimmt immer zwei Stufen auf einmal. Als sie den Wartenden gegenübersteht, verbeugt sie sich galant.

Niemand rührt sich.

Nisai begegnet meinem Blick, seine Miene drückt Besorgnis aus. Ich zögere, dann gebe ich ihm mit einer Bewegung zu verstehen, vorzugehen, als würde ich ihn einfach dem Protokoll gemäß vorlassen.

Er folgt dem Wink und steigt neben Kip die Treppe hinauf. Barden und ich gehen hinterher.

»Euer Kaiserliche Majestät«, sagt Luz mit einer Stimme, die mich zur Parfümeursprüfung in Aphorai zurückversetzt, bei der Zakkurus das Publikum fesselte. »Erster Prinz Nisai, Thronfolger von Aramtesch, darf ich Euch die gewählten Amtsträgerinnen des Ordens des Asmudtag vorstellen? Unsere Bevollmächtigte, Leiterin und Unterweiserin.«

»Ihre was?«, murmele ich vor mich hin.

»Die offizielle Bezeichnung für die Leute, die Dinge erledigen, mit ihrer Unterschrift dafür sorgen, dass Dinge erledigt werden, oder anderen beibringen, wie man Dinge erledigt.« Nisais Lippen bewegen sich kaum, als er mir das zuflüstert.

»Und«, fährt Luz fort, »die aktuelle Magistra des Ordens.«

»Diejenige, die entscheidet, was getan werden sollte«, murmelt Nisai.

Ich bin überrascht, dass es die am jüngsten aussehende Frau ist, die vortritt und sich verbeugt. Als sie sich wieder aufrichtet, sehe ich ihre Gesichtszüge. Meine Hand huscht zu meinem Anhänger. Mein Körper erstarrt, die Füße am Boden wie festgewachsen.

»Willkommen, unser Prinz.« Sie spricht so laut, dass sie offenbar nicht nur Nisais Ohr erreichen will. Vermutlich sind Luz und sie Bestandteile desselben Parfums.

»Im Namen der gewählten Amtsträgerinnen des Ordens möchte ich Euch die außergewöhnliche Gunst einer Einladung in das Heiligtum gewähren.«

Außergewöhnlich? Ich glaube kaum, dass sie hier draußen oft Besuch bekommen. Oder vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Barden und Nisai die einzigen Männer sind, die wir seit unserer Ankunft hier gesehen haben.

»Im Namen der göttlichen Ursprünglichen«, fährt sie fort, »geloben wir, Euch vor jenen zu schützen, die den Angriff auf Eure Person ausgeführt haben, wer auch immer sie sein mögen, damit Ihr zu gegebener Zeit zurückkehren könnt, um die Thronfolge anzutreten und die Balance im Kaiserreich zu bewahren. Bitte teilt meinen Leuten mit, was immer Ihr für Euer Wohlergehen und das Eurer Begleiter benötigt.«

Nisai senkt den Kopf, eine Geste, die bei einem Prinzen vermutlich einer eleganten Verbeugung nahekommt. »Wir danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft. Dürfte ich Sie um Ihren Namen bitten?«

»Hier kennt man mich einfach als Schneedorn. Aber früher wurde ich Yaita genannt.«

Die Wache mit dem kantigen Kiefer, die uns am Eingang des Heiligtums empfangen hat, räuspert sich auffällig.

»Ich werde nicht meine eigene Familie belügen, Steinblatt«, sagt Yaita.

Die Wache – falls sie das wirklich ist – macht keinen Hehl aus ihrer Missbilligung.

Yaita sieht mich an und tritt vor, ein überwältigend warmes Lächeln im Gesicht.

Ich erwidere es nicht.

Ich hatte mir vorzustellen versucht, was mich am Ende dieses Weges erwarten würde. Aber auf das hier war ich nicht vorbereitet – darauf, einer älteren Version meines Spiegelbilds aus der Wasserstelle bei uns zu Hause gegenüberzustehen. Dunkles Haar hängt in lockeren Wellen über ihre Schultern wie bei mir, bevor es abrasiert wurde. Augen im selben Bernsteinton wie meine, zu weit auseinanderstehend, um für die meisten Menschen als schön zu gelten. Bemerkenswert. Das ist sie.

Von früher Kindheit an lag ich immer wieder nachts wach und stellte mir vor, mit meiner Mutter zu sprechen. Sie war eine unscharfe Figur in meiner Fantasie, eine Art gütig glühende Gestalt. Ich erzählte ihr alles, meine Ängste, Nöte, Hoffnungen, Träume.

Ich erzählte es ihr, als ich zum ersten Mal auf Lils Rücken über ein ausgetrocknetes Flussbett sprang, ohne aus dem Sattel zu fallen. Ich erzählte es ihr, als mir zum ersten Mal auffiel, dass Barden ein Bart wuchs, und obwohl er sofort anfing, sich zu rasieren, stellte ich fest, dass er mich anders ansah – mit einem Blick, der, wie mir damals noch nicht bewusst war, bedeutete, dass er sich eines Tages mehr von mir erhoffte, als ich ihm geben konnte. Ich erzählte es ihr, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass Vater an der Fäulnis erkrankt war, und welch große Angst ich davor hatte, was das für ihn bedeuten würde, genau wie, ganz egoistisch, auch für mich.

Die Frau, die hier vor mir steht, hat nichts von all diesen Dingen gehört, die in die Nacht geflüstert wurden. Möglicherweise ist sie mir verstörend vertraut wegen des Porträts, das ich um den Hals trage, seit ich ein Kind war, das der Dunkelheit Geheimnisse anvertraute. Möglicherweise hat sie sich einmal eine Familie gewünscht. Möglicherweise hat sie mich geboren, mir das Leben geschenkt.

Möglicherweise trifft das alles zu. Aber sie ist auch noch etwas anderes.

Eine Fremde.

»Meine Tochter«, sagt sie mit belegter Stimme.

Ich hatte nie wirklich daran geglaubt, irgendwann einmal hier zu sein. Und jetzt, da es so ist, fehlen mir die Worte.

Sie tritt vor und bringt den Duft von Wüstenrose und würzigem Räucherwerk mit sich. Sanft nimmt sie meine Hände.

Ich ziehe sie zurück.

Sie runzelt die Stirn, die gleich darauf wieder glatt wird. »Das hier muss eine verwirrende, schwierige Erfahrung für dich sein, und wahrscheinlich bist du erschöpft. Eure Tiere werden in den Stall gebracht und man kümmert sich um sie. Es gibt für jeden von euch ein Zimmer; der Ursprüngliche weiß, dass wir im Moment genug Platz haben, auch wenn das nicht immer so gewesen ist.«

Bei den letzten Worten beginnen die übrigen Ordensmitglieder zu murmeln. Ich schnappe unter anderem ein »bei ihrer Gnade« auf.

»Unser Speiseplan ist beschränkt verglichen mit dem, woran Ihr gewöhnt seid, mein Prinz, aber Ihr werdet feststellen, dass unsere Köchin es hervorragend versteht, die richtige Balance aus Geschmack und Nahrhaftigkeit zu treffen.«

Zwischen den grün gewandeten Anwesenden reckt sich eine rotwangige Frau, dünn wie eine Bohnenstange, und hebt das Kinn.

»Bitte ruht Euch aus. Wir treffen uns morgen. Sandblüte wird Euch alles zeigen, was Ihr bis dahin benötigt.«

Luz verbeugt sich erneut elegant und steigt die Treppe hinab. Nach kurzem Zögern folgt Nisai ihr mit Kip auf den Fersen. Barden wirft mir einen teils fragenden, teils mitfühlenden Blick zu.

»Moment!« Ich glaube es einfach nicht. »Das war’s? Wir werden begrüßt und dann ungerührt weggeschickt?«

Die Magistra nickt einmal langsam. »Bis morgen.« Sie lächelt erneut, bevor sie die Plattform auf der anderen Seite verlässt und auf eine Tür zugeht, die der gegenüberliegt, durch die wir eingetreten sind.

Luz kommt die Treppe wieder hoch, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Ihre Finger umschlingen meinen Arm.

Ich rühre mich nicht.

Sie beugt sich vor, bis ihre Lippen dicht an meinem Ohr sind. »Deinen Beinen fällt jetzt besser schnell wieder ein, wie man läuft, außer du willst, dass ich dich betäube und dich von deinem Wachmannfreund hier raustragen lasse.«

»Das würdest du nicht wagen.«

Aber wenn ich etwas über Luz gelernt habe, dann, dass sie das sehr wohl tun würde.

Ich lasse mich von ihr aus dem Raum führen.

Draußen im Flur lässt sie meinen Arm los. »Das ist ja überraschend gut gelaufen.«

»Das sehe ich anders.«

»Verzeih mir, wenn ich dir widerspreche, Herzblatt. Deine Mutter ist ein Risiko eingegangen. Ein kalkuliertes, aber dennoch ein Risiko. Es hätte genauso gut passieren können, dass sie sofort ein Konklave einberufen. Tagelange Debatten, nur um zu entscheiden, ob ihr überhaupt bleiben dürft. Nach dem zu urteilen, was wir gerade gesehen haben, gehe ich allerdings davon aus, dass euch die Amtsinhaberinnen nach ihrer Sitzung erlauben werden, euch auf dem Gelände frei zu bewegen.« Sie fährt im Plauderton fort, als wäre alles in Ordnung: »Abgesehen von ein paar ausgewählten Bereichen natürlich.«

Ich schnüffele. »Riechst du das?«

Sie hebt eine Augenbraue.

»Es duftet ganz deutlich nach ›Was für eine Überraschung!‹«

Ihre Augenbraue senkt sich wieder. »Es freut mich, dass du deinen liebenswerten Charakter wiedergefunden hast. Aber ja, nachdem ihr hier nur Gäste seid, könnt ihr euch natürlich nicht vollkommen frei bewegen. Zumindest noch nicht. In der Zwischenzeit«, sagt sie und hebt die Stimme, damit sie auch die anderen hören können, »gibt es einen Kampfplatz für diejenigen unter euch, die ihre körperliche Geschicklichkeit verfeinern möchten.« Barden und Kip hinter mir verständigen sich murmelnd.

»Um den Verstand scharf zu halten«, fährt Luz fort, »gibt es ein Archiv. Nicht ganz so beeindruckend wie die Kaiserliche Bibliothek, aber ich bin sicher, dass ihr dort auf einige interessante Texte stoßen werdet, die in keiner anderen Sammlung zu finden sind.«

Nisais Miene ist unverändert sanft, doch bei der Erwähnung des Archivs leuchten seine Augen auf. Ich weiß noch, wie Ash wünschte, der Prinz hätte die Verlorene Bibliothek sehen können, so sehr, wie Nisai Bücher und Schriftrollen liebt.

Wir bekommen alle ein Zimmer entlang eines Flurs, der gerade so weit gekrümmt ist, dass es scheint, als wäre er unendlich. Als eine dicke Steintür vor mir leise an einer Art Scharniergelenk aufschwingt, rechne ich mit Dunkelheit und kühler oder sogar kalter Luft. Stattdessen erblicke ich ein Fenster mit Facettenglas, das die letzten Sonnenstrahlen auf Wänden und Boden in regenbogenfarbige Flecken verwandelt. Das Zimmer ist fast so groß wie das gesamte Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Die Luft ist angenehm, erfüllt vom Duft nach Muskatellersalbeikerzen, und als ich eine Hand ausstrecke, fühlt sich der glatte Stein warm an.

»Schön, nicht wahr?« Luz zeigt auf das Licht. »Die Orientierung des Gebäudes richtet sich nach dem Verlauf der Sonne und den Schatten, die die umliegenden Berge im Lauf des Sternenrads werfen. Jetzt, da wir so wenige sind, ziehen wir je nach Saison um. Die Kälte hat keine Zeit, während der Nacht einzudringen, gleichzeitig sorgt die Abkühlung während der dunklen Stunden dafür, dass die Hitze tagsüber nicht zu drückend wird. Wir losen jedes Mal – ein Vierteljahr lang eine Einzelzelle, im nächsten eine Suite. Das verhindert … unschöne Streitereien.«

»Alles in Balance«, murmele ich.

»Im Moment ja«, pflichtet Luz mir bei. »Ich lasse dich allein, damit du dich mit deiner neuen Umgebung vertraut machen kannst. Du findest mein Zimmer weiter unten auf dem Flur.«

»Das heißt, du lässt uns nicht aus den Augen, hm?«

»Wie die Magistra gesagt hat, ihr könnt bleiben, so lange ihr wollt. Und ich rate euch, diese Einladung anzunehmen, bis wir sicher sein können, dass ihr gefahrlos zurückkehren könnt.«

»Wir sind also Gefangene.«

»Natürlich nicht. Aber ich nehme an, Yaita wäre überaus enttäuscht, solltest du beschließen, schon vor einem Treffen mit ihr wieder zu verschwinden.«

»Es interessiert mich einen Sack Kamelkacke, was sie …«

»Und wenn du vorhast zu gehen, wirst du so viel Sultis kauen müssen, dass du dich nie mehr daran erinnerst, hier gewesen zu sein, sogar noch bevor du durch das Tal reitest. Ich habe nicht vor, ein Risiko einzugehen.«

Selbst wenn ich hier rauswollte, ich will ganz bestimmt nicht noch mal diese Erinnerungen durchleben.

Luz zuckt mit den Schultern und drückt auf ein Stück Stein, das in der Wand versinkt. Die Tür gleitet hinter ihr zu und schließt sich mit einem sanften Klicken.

Ich gehe zu dem polierten Granitbecken in der Ecke neben einer tiefen Wanne. In einem Flechtkorb liegen dicke Seifenstücke. Eins davon halte ich mir an die Nase. Limette und Basilikum. Ungewöhnliche Kombination.

Auf dem Bett liegt eine Decke mit einer aufgestickten sechsblättrigen Blüte. Dahkai. Genau wie die Schnitzereien in Türen und Steinen in Aphorai-Stadt – allerdings befindet sich diese hier in einem Kreis. Als ich mich setze, gibt die Matratze sanft unter meinem Gewicht nach. Ich klopfe probehalber auf das Kissen. Federn. Mit Kamille und Lavendel benetzt, um den Schlaf zu fördern. Offenbar genießt der Orden des Asmudtag sein leibliches Wohl.

Es bleibt noch genug Zeit zum Waschen und Ausruhen, erst will ich sehen, was die anderen von all dem halten. Ich drücke vorsichtig auf den Mechanismus, mit dem Luz die Steintür bewegt hat. Sie gleitet auf.

Draußen im Flur steht Kip vor der nächsten Tür Wache.

»Wie geht es ihm?«, erkundige ich mich nach Nisai.

Sie verschränkt die Arme. »Bist du müde nach der langen Reise?«

»Todmüde.«

»Was meinst du, wie’s ihm dann erst geht?«

Sie hat recht. Ich war so beschäftigt mit meiner eigenen Trauer, dass ich mich nicht so intensiv um Nisai gekümmert habe wie nötig. Es ist offensichtlich, dass das Gift weiter nachwirkt, auch wenn er von Tag zu Tag kräftiger zu werden scheint.

»Weißt du, wo Barden ist?«

Sie zeigt den Flur entlang.

Ich gehe in die angewiesene Richtung.

Aus einer Tür dringt Licht. Aber es ist nicht Bardens Zimmer. Es ist Luz’. Sie steht über einen großen Schreibtisch voller Schriftrollen gebeugt. Mit einer Handbewegung winkt sie mich zu sich, lässt sich auf dem Stuhl hinter dem Tisch nieder, nimmt eine Schriftrolle vom Stapel und wedelt damit unter ihrer Nase herum.

»Bist du so lieb und reichst mir mal die Molschiressenz, Herzblatt? Oberes Regalbrett, drittes Gefäß von links.«

Ich nehme das Glas, erkenne das richtige am purpurroten Farbton aus den Blättern der Pflanze.

Luz taucht einen Pinsel ein und streicht eine dünne Schicht über die Schriftrolle. Wie von Zauberhand tauchen andere Wörter hinter den ursprünglichen auf, blass und leuchtend statt aus dunkler Tinte.

»Wie hast du das gemacht?«

»Meine Informanten sind dünn gesät, doch sie nutzen alle unser System. Auf der Oberfläche schreiben wir nur Nachrichten, die vollkommen harmlos sind, falls sie abgefangen werden. Die eigentliche Nachricht ist dahinter verborgen. Aber wenn man das falsche Reagens benutzt, wird sie zerstört.«

»Woher wusstest du, dass für diese hier Molschir nötig war?«

Sie tippt sich an die Nase. »Der Code liegt im Geruch. Jedes Parfum auf der Schriftrolle hat ein passendes Reagens. Und die Codes werden regelmäßig geändert.«

Sie liest die Schriftrolle, lässt sich aber nichts darüber anmerken, was sie enthält.

Ich recke den Hals und erröte, als sie es merkt.

»Willst du mal sehen, Herzblatt?« Sie steht vom Schreibtisch auf und reicht mir die Nachricht.

Ich nehme sie und gebe vor zu lesen. Luz lehnt sich mit überkreuzten Beinen an den Schreibtisch, während sie mich beobachtet.

Die Buchstaben auf dem Pergament sind ein Durcheinander. Lesen ist schon im besten Fall eine enorme Herausforderung für mich, erst recht mit zwei ineinander verwobenen Nachrichten. Aber das werde ich Luz nicht unter die Nase reiben. Alle hier tun so hochheilig, als würde ihre Scheiße nicht stinken. Und Luz ist genauso lästig wie immer. Wie Sand in der Kleidung – wenn er einmal drin ist, ist es fast unmöglich, ihn bis zum letzten unliebsamen Sandkorn wieder loszuwerden.

Obwohl ich liebend gerne wüsste, was in dieser Schriftrolle steht, werde ich ihr also nicht die Befriedigung gönnen.

Schließlich gelingt es mir, ein paar Wörter zu entziffern.

Ekasya.

Harnisch.

Kerker.

Tot.

Jedes Wort ist ein Schlag. Nur weil man weiß, dass etwas die Wahrheit ist, heißt das nicht, dass es nicht schmerzt, daran erinnert zu werden.

»Zufrieden, Herzblatt?«

Ich gebe Luz die Schriftrolle zurück und schlucke. Sie steht auf, geht zum Kamin hinüber, zündet das Pergament mit einer Kerze an und wirft es ins Feuer. An den Kamin gelehnt sieht sie mit unergründlicher Miene zu, wie die Nachricht in beißenden Rauch aufgeht.

Als nichts weiter als Asche übrig ist, lehnt sie sich wieder an den Schreibtisch und steckt sich etwas in den Mund, das sie genüsslich über ihre Zunge rollen lässt. Dann atmet sie geübt und elegant aus und der Geruch kringelt auf mich zu wie auf einem Botengang. Nelke.

»Du kannst nicht lesen, stimmt’s? Das habe ich mir damals schon gedacht, als du vor der Aufnahmeprüfung deinen Vertrag unterschrieben hast.«

»Und ob ich das kann«, stoße ich hervor.

»Komm bloß nicht auf die Idee, das Gewerbe zu wechseln – du bist eine miserable Lügnerin. Lesen zu können ist andererseits unabhängig von der eigenen Berufung nützlich. Lesen kann dich überall hinbringen. Das ist eine deiner vielen Unzulänglichkeiten, an denen wir langfristig arbeiten müssen.« Sie blickt wieder ins Feuer, die Flammen spiegeln sich in ihren dunkelblauen Augen. »Obwohl es in diesem Fall wahrscheinlich das Beste ist.«

»Was soll das heißen?«

Sie steht auf und klopft sich unsichtbaren Staub vom Gewand. Die Bewegung lässt erkennen, dass sie noch immer ihre Reisekleidung darunterträgt. Dabei hätte ich angenommen, sie wäre die Erste, die sich den Gestank von unterwegs abwaschen würde.

Sie streicht mit der Hand am Regal entlang, nimmt ein Glas und eine Reihe Phiolen, die sie in ein Lederetui steckt, rollt es ein und verschnürt es fest. Beides wird in der Tasche neben der Tür verstaut. »Sieh dich gern um. Du kannst alles benutzen, was du brauchst, solange ich weg bin.«

Reflexartig huscht mein Blick zum Regal. Hier muss es Hunderte von Zutaten geben. Viele, von denen ich noch nie gehört habe. »Weg? Wo gehst du denn hin?«

Ich wende mich wieder dem Schreibtisch zu.

Aber Luz ist bereits fort.

3. Kapitel

Ash

»Ich muss überleben«, murmele ich dem schwülen, stickigen Stein der Zellenwand zu. »Ich muss überleben.«

Es ist eine Leier, die ich in unzähligen Stunden unzählige Male wiederholt habe, bis die Worte selbst vollkommen bedeutungslos geworden sind. Vielleicht ist es jetzt nur mehr ihr Klang, das Gefühl, wie mein Mund sie in die heiße, stinkende Luft des Kerkers flüstert, was mich an dieses Leben kettet. Ohne sie hätte ich womöglich den Verstand verloren.

Ich dachte, ich wüsste, was Schmerz ist. Die Trauer und die Angst vor meinem Vater, der mich für einen Fluch hielt. Die Qual, meine Mutter vor meinen jungen Augen verkümmern und dahinsiechen zu sehen. Der unstillbare, nagende Hunger, den nur ein Kind verspürt, das mondelang allein auf der Straße lebt, mit kaum einem Happen zwischen den Zähnen. Alter Schmerz. Begrabener Schmerz. Die Klingen der Erinnerung, die mit verstreichender Zeit immer stumpfer werden.

Es gab auch neueren Schmerz. Die Verzweiflung, Nisai an der Schwelle des Todes zu erleben – ein Leid, wovor ich ihn hätte bewahren müssen. Die Tortur zu wissen, dass ich Rakel zu etwas verleitet habe, das ihr Ende hätte sein können. Ich sehe immer noch den Wachmann vor mir, der sie im Thronsaal gepackt hielt, und das rote, rote Blut, das aus der Stelle sickerte, wo er das Messer an ihre Kehle presste.

Anschließend nichts als Agonie. Der Schmerz, als ich nicht länger ich selbst war.

Inzwischen weiß ich, dass ich keinerlei Vorstellung von wahrem Schmerz hatte.

Nicht die geringste.

Seit wie vielen Monden bin ich jetzt hier? Zwei? Drei? Vier? Lange genug, dass mir ein Vollbart gewachsen ist, lange genug, dass er vollkommen verfilzen konnte.

In dieser Zeit wurde ich zerkratzt, aufgeschlitzt, meinen Adern wurde Phiole um Phiole Blut entnommen. Erhitzte metallische Instrumente hinterließen glühende rote Striemen. Meine Arme wurden auf einem Streckbett auseinandergezogen, bis meine Schultern auskugelten, nur damit einer von Zostars schwarz gewandeten Assistenten aus der Ärztezunft die Herzschläge zählen konnte, die es dauerte, bis meine Gelenke mit ekelhaftem Knacken wieder einrasteten.

Und Zostar selbst? Er beschränkte sich darauf, Teile meiner Tätowierung mit einem kleinen und scharfen Skalpell zu entfernen und die in Probenbehältern zitternden ordentlichen Abschnitte aus gefärbter Haut und Fleisch lächelnd wegzutragen, dahin, wo er den Rest seiner makabren Forschung betrieb.

Immer wieder verheilte mein Körper. Auch wenn der mittlere Zeh, den sie mir komplett entfernten, nicht nachwuchs, wie sie vermutet hatten, war die Wunde doch schon nach wenigen Tagen verheilt und der Knochen unter Fleisch und glatter Haut verschwunden.

Mehr als einmal wünschte ich, es wäre nicht so, sondern ich würde statt zu genesen der Vereiterung oder dem Blutverlust erliegen und dem Reich der Sterblichen entgleiten.

Zu all dem kamen die langen Nächte, in denen mir durch glühenden Nebel bewusst wurde, dass Zostar angeordnet haben musste, kein Linods Elixier mehr in mein Wasser zu geben. Nächte, in denen ich schwitzte und zitterte, mich auf den Boden übergab, weil ich es nicht bis zum Eimer schaffte, würgte und mich in Krämpfen wand, nachdem schon lange nichts mehr da war, das ich hätte erbrechen können. Dann schämte ich mich, weil ich mir so oft wünschte zu sterben, mir wünschte, dass der Fluch, der durch meine Adern floss und mich immer wieder heilte, diesmal versagen würde.

Aber selbst in den schlimmsten Stunden gab es einen fernen Schimmer.

Bernsteinfarbene Augen, die mich mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit herausfordern oder mit sanfter Zerbrechlichkeit fragen. Ein Lächeln, das meine Brust wärmt. Der Duft von Wüstenrose.

Dann erinnerte ich mich daran, warum ich durchhalten musste.

Rakel ist irgendwo da draußen, weit oberhalb dieses labyrinthischen Kerkers. Sie ist im Licht. Aber wie lange noch? Sie hat keine Ahnung, wer wirklich hinter Nisais Vergiftung steckt. Wer uns durch das ganze Kaiserreich verfolgt hat. Wer sie nach wie vor verfolgt.

In den schlimmsten Momenten der Sitzungen, wenn meine Peiniger einen versiegelten Raum mit übel stinkendem Rauch füllen, bis ich beinahe ersticke, die Hände zu Klauen balle, die meine eigene Kehle aufreißen wollen, um nur etwas Luft zu bekommen, gibt es nur eins, das mich davon abhält aufzugeben: der Gedanke an die beiden Menschen, die mir auf dieser Welt am meisten bedeuten.

Wo sind sie? Sind sie zusammen? Ich stelle mir vor, dass sie sich irgendwo in Sicherheit gebracht haben; Rakels Entschlossenheit, eine Lösung zu finden, wird brennen wie Fieber. Nisai wird bei ihr bleiben, bis er zuversichtlich ist, einen Plan zu haben. Er wird das große Ganze im Blick behalten, das, was auf dem Spiel steht, wird bedenken, dass die Bedrohung aus so vielen Richtungen innerhalb der Hauptstadt oder darüber hinaus kommen könnte. Dass er sicher sein muss, bevor er den nächsten Schritt unternimmt.

Könnte ihm bereits der Gedanke gekommen sein, dass sein größter Feind ausgerechnet der Mann ist, der von seinem Vater zu dessen persönlichem Arzt berufen wurde? Der Mann, der dem kränkelnden Kaiser schon so lange so nahesteht, falls Kaddasch nicht inzwischen der Heimsuchung zum Opfer gefallen ist. Der Mann, der Iddo den Weg zur Regentschaft geebnet hat und der zweifellos längst erneut plant, Nisai zu töten.

»Ich muss überleben«, wiederhole ich an die Mauer gerichtet. »Ich muss einen Weg hier raus finden.«

»Ash?« Die schüchterne Frage kommt aus der nächsten Zelle.

Ich bin zu erschöpft, um mehr zustande zu bringen als ein kleines trauriges Lächeln. Bis ich hier im Kerker unter Ekasya gelandet bin, hätte ich nie gedacht, dass ich mal erleichtert sein könnte zu wissen, dass die Wände Ohren haben.

»Ash, ich muss dir was sagen. Es ist wichtig.« Dels jugendliche Stimme kiekst und bricht am Schluss.

Ich rappele mich auf, kreise den Kopf, um meinen steifen Nacken zu lockern, dann gehe ich zur gegenüberliegenden Wand hinüber. Dort, in der hinteren Zellenecke, ist ein Riss im Mörtel, etwa in Schulterhöhe, wenn ich mich mit dem Rücken an die heiße, feuchte Wand setze, deren schwarze ekasyanische Steine sich genauso aufheizen wie in der Sonne oben an der Oberfläche. Der Riss ist gerade breit genug, um sich dadurch verständigen zu können.

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