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Schneezauber im kleinen Strickladen in den Highlands

Als Buch hier erhältlich:

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Ein Pub, ein Blizzard und eine Strickladen-Geschichte die nicht zauberhafter sein könnte

Maighread feiert mit ihren Freunden eine Babyparty für Chloe. Wochenlang haben sie geplant und Geigerin Vivian eingeladen. Maighread möchte nicht nur Chloe eine Freude machen, sondern auch Jason aus dem Einsiedlerleben holen. Nach einem Schicksalsschlag hat er sein Hab und Gut verkauft und einen Pub abseits des Ortes eröffnet. Kurz vor Weihnachten steigt die Party. Die verschneite Welt hoch über dem Loch Lomond wirkt wie verzaubert. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich, als ein Sturm losbricht. Er tost um das Haus, in kürzester Zeit türmt sich der Schnee meterhoch. Der Pub ist von der Welt abgeschnitten. Die Freunde müssen ausharren, bis das Wetter sich beruhigt. Anfangs nehmen sie es mit Humor und genießen das warme Plätzchen am Kamin. Geigerin Vivian sorgt für Musik. Doch als auch der Strom ausfällt, wird es ungemütlich. Verzaubert wird langsam aber sicher zu verhext ...

Für wunderbare Lesestunden inklusive Strickanleitungen


  • Erscheinungstag: 22.08.2023
  • Aus der Serie: Der Kleine Strickladen
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906062
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für alle Heldinnen,

die den Zauber von Wolle

kennen und lieben.

Und für all jene,

die dieses Geschenk

noch entdecken dürfen.

Und für meine wunderbare Freundin Emma (Kerstin),

die nicht nur die Liebe zu Wolle mit mir teilt.

Du bist die Beste!

Kapitel 1

Maighread

Maighread und Vivian saßen in der Strickecke des Wolle & Zeit, gingen konzentriert die Notizen für den Auftritt der großartigen Musikerin in Jasons Pub am Nachmittag durch und besprachen Maighreads musikalische Wunschliste. Für heute hatte sie die Überraschungs-Baby-Shower-Party für ihre hochschwangere Freundin Chloe geplant. Und für den kleinen Bewohner in ihrem Bauch, der das Leben der Menschen in Callwell jetzt schon durcheinanderwirbelte, dabei war er – oder sie – noch gar nicht auf der Welt. Maighread hatte sich sehr viel Mühe gegeben, um die Party zu einem besonderen Event für Chloe und Scott zu machen, und sie hatte ein gutes Gefühl, dass es genau das werden würde.

Während Maighread hin und wieder eine Kundin bedienen musste, hatte Vivian die Zeit genutzt und die Songs, von denen Maighread vorgeschlagen hatte, dass sie sie heute Abend spielen sollte, direkt in eine stimmige Reihenfolge gebracht. Schließlich hatte sie die Liste um zwei eigene Vorschläge ergänzt.

Molly lag währenddessen neben dem kleinen Sofa in ihrem Körbchen und schnarchte leise. Manchmal wackelte die Hündin mit den Ohren oder zuckte mit den Pfoten. Sie schien aufregende Träume zu haben. Vielleicht war sie wieder auf der Jagd, denn bei ihrem Morgenspaziergang hatte Molly mit großen Sprüngen einem Hasen nachgesetzt. Vom Jagdfieber gepackt, hatte sie Maighreads Rufen ignoriert und erst auf einen schrillen Pfiff hin von ihrer Beute abgelassen. Wie gut, dass Maighread das Pfeifen auf zwei Fingern speziell für solche Momente geübt hatte.

Mit gesenktem Kopf und einem sichtbar schlechten Gewissen hatte Molly kehrtgemacht und war zu ihrem Frauchen gelaufen. »Was soll das denn, Molly?«, hatte Maighread ein bisschen mit ihr geschimpft. »Du tust gerade so, als seist du ein gefährliches Raubtier und würdest Hasen zum Frühstück verspeisen. Dabei würdest du es wahrscheinlich mit der Angst zu tun bekommen, wenn der Hase, statt wegzuhoppeln, den Spieß umdrehen und auf dich zuspringen würde.« Maighread schüttelte den Kopf. Normalerweise war Molly brav und gehorchte aufs Wort, nur ausgerechnet heute, wo sie es eilig gehabt hatte, musste sie die Wilde spielen. Aber wie immer hatte sie ihrem Liebling auch dieses Mal nicht lange böse sein können.

Direkt neben den Vorderpfoten der jetzt schlafenden Molly lag Schnuffi, ihr Schnuffeltuch und liebstes Spielzeug. Eigentlich hatte Maighread es für Chloes Menschlein gestrickt. Doch Molly hatte es in einem unbeobachteten Moment stibitzt und in ihr Körbchen getragen. Als Maighread es ihr wieder wegnehmen wollte, hatte die Hündin mit Winseln und einem zu Herzen gehenden Hundeblick gebettelt. Wie hätte Maighread sich gegen diese Liebe stellen sollen? Molly hatte gewonnen, und seither war das Schnuffeltuch immer dabei. Selbst beim Fressen lag es neben dem Futternapf.

Natürlich war längst ein neues Schnuffi für das Menschenkind fertig, das bald auf die Welt kommen würde. Und so hatte Maighread ihre Anleitung direkt auch selbst teststricken können. Es war eben doch immer alles für etwas gut.

Gedankenverloren fasste Maighread über die Sofalehne zu Molly hinunter und kraulte sie hinter dem rechten Ohr, während sie den Liedfetzen lauschte, die Vivian in der Reihenfolge abspielte, für die sie sich entschieden hatte. Maighread liebte Mollys seidiges Fell. Äußerlich sah die Hündin aus wie ein reinrassiger Border Collie, aber in Wirklichkeit war sie ein Mischling. Vor allem aber war sie Maighreads Seelentier und seit Jahren so gut wie immer an ihrer Seite.

Am Ende der Demo-Playlist angekommen, erklärte Vivian noch einmal kurz, was sie sich bei diesem musikalischen Ablauf gedacht hatte, bevor sie verkündete: »Ich denke, das war’s.« Zufrieden lehnte sie sich in das Sofapolster zurück. »Oder hast du noch was?«

Maighread streckte sich und strahlte ihr Gegenüber zufrieden an.

»Nichts mehr, ich glaube, wir haben an alles gedacht. Ach Vivian, das wird fantastisch! Ich kann es kaum erwarten.« Ganz besonders freute Maighread sich auf Chloes Gesicht. Das würde ein Riesenspaß werden, und das war auch gut so.

Vor lauter Freude, weil alles so gut klappte, wollte Maighread Vivian etwas schenken.

»Moment. Ich habe noch was für dich«, sagte sie deshalb, stand auf und ging zu den Wollregalen hinüber. Während sie den Laden durchquerte, warf sie einen besorgten Blick aus dem Schaufenster.

Im matten Licht des Vormittags sah sie die dicken Flocken in hohem Tempo fallen. Es hatte vor etwa einer Stunde angefangen und schneite noch immer.

Normalerweise mochte Maighread Winterwetter. Das Weiß, das sich wie eine Decke über alles legte, veränderte nicht nur die Farben, sondern auch die Klänge der Welt. Als hätte jemand am Regler gedreht und das Leben leise gestellt. Alles wirkte dann wie verzaubert. Schnee war die perfekte Einstimmung auf die Weihnachtszeit und weckte bei ihren Kundinnen und Kunden die Stricklust. Wenn es draußen frostig und weiß war, hatte sie in ihrem kleinen Strickladen immer besonders viel zu tun.

Heute allerdings freute Maighread sich nur bedingt über die dicker werdende Schicht, die eher weißem Matsch als einem Puderzuckerüberzug glich. Hatte der Wetterbericht nicht vorhergesagt, dass es etwas wärmer werden würde? Vielleicht kam das noch. Maighread hoffte es sehr. Dann wäre der Spuk sicher schnell weggeschmolzen und würde ihr kein Kopfzerbrechen mehr bereiten. Aber die Wetterfrösche hatten auch gesagt, es würde trocken bleiben. Maighread seufzte. Mussten sie ausgerechnet heute mit ihrer Prognose völlig danebenliegen? Vielleicht hatten sie versehentlich die falschen Wetterkarten gelesen.

An jedem anderen Tag wäre es ihr egal gewesen. Doch für die Party in Jasons Pub war es leider wichtig. Das Ausflugslokal lag ein gutes Stück außerhalb und etwas höher in den Hügeln der Highlands. Zugeschneite Straßen waren da kein Vergnügen. Sie konnten ihr Vorhaben aber auch nicht verschieben, da Chloes Entbindungstermin schon ziemlich nah war. Das Baby sollte die Party schließlich im Bauch miterleben und noch nicht geboren sein. Außerdem ging es nicht nur um Chloe, sondern auch darum, bei Jason zu sein. Sie hatten ihn schon zwei Wochen nicht besucht, es wurde höchste Zeit.

Joshuas und Maighreads Freund hatte harte Monate hinter sich und durfte sich nicht zu sehr in der Einsamkeit vergraben. Sie mussten ihn dabei unterstützen, wieder ins Leben zu finden. Die Babyparty war die perfekte Gelegenheit dafür. Jason war früher ein sehr geselliger Mensch gewesen, und Maighread hoffte, dieses Gefühl wieder in ihm wecken zu können.

Alle waren eingeweiht – alle bis auf Chloe selbstverständlich. Sogar Scott hatte dichtgehalten und Maighread bei den Vorbereitungen geholfen. Ursprünglich hatte sie ihm gar nichts erzählen wollen. Schließlich war es auch sein Baby, und er hätte die Überraschung ebenso verdient gehabt wie die werdende Mama. Aber ohne seine Hilfe wäre Maighread nicht an Chloes und seine Babyfotos gekommen, und die brauchte sie unbedingt für das Wer-ist-welches-Baby-Ratespiel. Das war einer von vielen Programmpunkten, die sie auf die Beine gestellt hatte.

Maighread löste ihren Blick vom Fenster und ging zu dem Korb mit der Hygge – eine dicke und flauschig weiche Schurwolle der Firma Novita, die sie selbst sehr mochte. Sie nahm zwei Knäuel in der Farbe Flamingo. Vivian war ebenfalls aufgestanden und Maighread durch den Laden gefolgt. Sie hatte bereits den Mantel an und war bereit für den Aufbruch.

»Für dich«, sagte Maighread und drückte der Musikerin die Wolle in die Hand. »Die hat dir doch so gut gefallen. Zwei Knäuel reichen für eine hübsche Mütze.«

»Hey, cool! Danke, Maighread. Ich freue mich!« Vivian stopfte die Wolle, ohne lange zu fackeln, in ihren Rucksack und schob ihn sich über die Schulter. »Dann mache ich mich jetzt auf den Weg«, sagte sie. »Ich fahre direkt hoch, setz mich ins Pub und stricke. Vielleicht ist die Mütze fertig, bis ihr kommt.«

Maighread lachte. Genau so hätte sie es an Vivians Stelle auch gemacht. »Dann bis später. Chloe wird ausflippen vor Freude, wenn sie dich sieht.«

»Das ist der Plan«, sagte Vivian und zwinkerte Maighread zu.

Das Glockenspiel erklang. Eisige Winterluft strömte in den Verkaufsraum und wehte ein paar Flocken mit herein, als Vivian schwungvoll die Tür des Wolle & Zeit öffnete.

Sie hatte nur einen der Knöpfe an ihrem Wollmantel geschlossen und trug den Schal lässig locker über den Schultern, statt sich den Temperaturen angemessen dick darin einzumummeln. In der nackten rechten Hand hielt sie ihren über und über mit allerlei Stickern beklebten Geigenkasten, den sie immer bei sich hatte. Maighread konnte sich nicht erinnern, Vivian je ohne ihr heißgeliebtes Instrument gesehen zu haben. Die Musikerin hatte Schriftzüge wie »Make love, not war«, Namen von Mozart bis zu Black Sabbath und Bilder wie die weltberühmte Zunge der Rolling Stones und die schottische Flagge darauf gesammelt. Auch der Zebrastreifen mit den Beatles fehlte nicht. So bunt wie dieser Koffer, so bunt war auch seine Besitzerin. Genau das hatte Maighread von Anfang an fasziniert, deshalb hatte sie Vivian im Herbst zum Yarn Festival nach Callwell eingeladen.

Vivian ließ den Kasten sacht hin und her pendeln und warf einen Blick auf die Straße. Sie schien die Kälte gar nicht wahrzunehmen. Maighread dagegen spürte sie umso mehr. Fröstelnd kroch sie tiefer in die dicke Strickjacke und versteckte ihre Finger so gut es ging unter den Handstulpen, die sie bei der Kälte selbst im eigentlich gut beheizten Laden nicht auszog. Es ging ihr dabei mehr um das herrlich kuschlige Gefühl.

Maighread liebte es, Wolle auf der Haut zu spüren, und kostete die kalte Jahreszeit voll aus. Ohne Angst haben zu müssen, ins Schwitzen zu kommen, mummelte sie sich nach Herzenslust in Tücher, Pullover, dicke Socken, Jacken und Mützen. Sie konnte einfach nicht genug davon bekommen.

Während sie dastand und Vivian beobachtete, wanderten ihre Gedanken kurz zum frühen Morgen und nach Callwell Castle zurück.

»Ich könnte als mobile Litfaßsäule für meinen Laden auf die Straße gehen«, hatte sie beim Anziehen geulkt.

Joshua hatte sie in seine Arme gezogen, ihr einen intensiven Kuss gegeben und dabei seine Hände unter dem Wollpullover auf Wanderschaft gehen lassen. »Also ich weiß nicht«, hatte er nach eingehender Prüfung gesagt. »Litfaßsäulen sind doch sehr viel runder als du. Wobei ich deine Rundungen an genau den richtigen Stellen liebe, sie sind perfekt.« Als wollte er sich vergewissern, schob er seine Hand wieder unter Maighreads Pulli.

Doch sie hatte sich aus der Umarmung gewunden. »Keine Zeit«, hatte sie erklärt und Joshua schnell noch einen Kuss auf die Lippen gedrückt. »Ich habe noch so viel zu tun, damit heute Nachmittag wirklich alles klappt. Denkst du an die Windeln? Und an die Lieferung für Shelter Scotland?«

Maighread hatte sich angewöhnt, die gestrickten Sachen, die sie für den Laden nicht mehr brauchte oder selbst nicht mehr trug, zu sammeln und in unregelmäßigen Abständen nach Glasgow in einen von der Organisation Shelter Scotland geführten Sozialladen zu bringen. Dort konnten Menschen aus armen Verhältnissen günstig einkaufen. Es gab so viel oft unverschuldete Armut. Selbst Leute, die einer regelmäßigen Arbeit nachgingen, hatten teilweise Probleme, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Lebenshaltungskosten explodierten, ohne dass es entsprechende Lohnerhöhungen gab. Egal ob es um Kleidung, Lebensmittel, Miete oder Energie ging – einfach alles wurde immer teurer.

Maighread liebte den Gedanken, anderen mit ihrer Spende etwas zu ermöglichen, was für sie sonst unerreichbar wäre. Da sie nur hochwertige Wolle verarbeitete, waren ihre Stricksachen heiß begehrt und immer im Nu ausverkauft.

»Das Paket liegt schon im Auto. Ich fahre gleich los«, hatte Joshua versprochen. »Und ich vergesse auch nicht, eine Decke über die Windeln zu legen, damit Chloe sie nicht versehentlich entdeckt«, hatte er hinterhergeschoben und seiner Liebsten zugezwinkert, die gerade schon Luft geholt hatte, um ihn an die Vorsichtsmaßnahme zu erinnern.

Seit Maighread die Baby Shower für Chloe plante, machte sie, vor lauter Angst, Chloe könnte etwas mitbekommen, alle um sich herum verrückt. Sie war sich zeitweise schon selbst damit auf die Nerven gegangen. Aber das war es wert gewesen, denn sie hatten es geschafft, das Geheimnis zu hüten. Soweit Maighread es beurteilen konnte, war Chloe bisher vollkommen ahnungslos.

Joshua war in seine Jeans geschlüpft, und Maighread hatte sich die dicken Wollsocken, gestrickt aus einem Garn der 7-Brothers-Serie, übergestreift. Wie immer, wenn sie ein neues Paar Socken das erste Mal an den Füßen hatte, hatte sie vor Freude mit den Zehen gewackelt. Die Glitzersocken aus der Lapintaika Aran waren erst am Abend zuvor fertig geworden. Die Farbe hieß Potion. Das melierte Rot gefiel Maighread ausgesprochen gut. Und das Funkeln des eingewebten Glitzerfadens passte perfekt in die Vorweihnachtszeit. Kein Wunder also, dass sie bereits das nächste Paar angeschlagen hatte. Dieses Mal in Glass-Bead-Grün, was ebenfalls perfekt zu Weihnachten passte. Zum Glück strickten sich die Socken mit dieser dicken Wolle fast wie von selbst. So blieb ihr noch genug Zeit für all die anderen Projekte, die auf diversen Nadeln auf ihre Fertigstellung warteten. Joshua hatte festgestellt, dass Maighread nicht nur ein Wolloholic, sondern auch ein Strickoholic war, und ihr versichert, dass er sie genau so verrückt liebte, wie sie war.

Bei der Erinnerung an das Funkeln in Joshuas Augen, als er sie in den Armen gehalten hatte, zog ein Schauer Maighreads Arme hinauf. Und das lag eindeutig nicht an der kalten Luft. Nach der Party würde sie sich wieder mehr Zeit für ihren Liebsten nehmen, sie freute sich schon auf ruhige Stunden voller Zweisamkeit. Aber jetzt musste sie sich zuerst um die letzten Details kümmern.

Entschlossen tauchte Maighread aus dem kurzen Tagtraum auf und betrachtete Vivian, mit der sie in der letzten halben Stunde nicht nur den Auftritt besprochen, sondern ihr auch detailliert den nicht ganz einfachen Weg zu Jasons Pub beschrieben hatte. Ob sie sich nicht doch noch überreden ließe, mit ihr und Joshua zu fahren? Maighread holte Luft und wollte gerade ansetzen, da wandte Vivian sich zu ihr um.

»Und mach dir keinen Kopf, ich finde den Weg schon«, sagte sie, als hätte sie Maighreads Gedanken gehört. Sie hielt den Zettel mit der Wegbeschreibung hoch. »Du weißt doch: Lebe wild, frei und glücklich, dafür bist du auf der Welt!«

»Wie wäre es, wenn du bei uns mitfährst und da wild, frei und glücklich bist?«, versuchte Maighread einen erneuten Vorstoß.

Doch damit kam sie bei Vivian nicht weiter.

»Lass gut sein, Maighread«, sagte sie, und sowohl der Ton ihrer Stimme als auch ihr Gesichtsausdruck ließen keinen Zweifel daran, dass sie keinen Bock auf Maighreads Gluckengehabe hatte. Einen Moment sah sie Maighread ernst an, dann atmete sie durch und lächelte versöhnlich. An ihrer Entscheidung änderte das allerdings nichts. »Weißt du, ich bin schon ein großes Mädchen, ich schaffe das. Und so kann ich abdüsen, wenn mir der Sinn danach steht.« Dann grinste sie in Mollys Richtung. »Wenn ich doch vom Weg abkomme, müsst ihr eben einen Suchtrupp losschicken! Molly findet mich bestimmt. Was, meine Süße? Du lässt mich doch nicht im Stich, oder?«

Molly hob den Kopf, als sie ihren Namen hörte, aber sie stand nicht auf. Erst wollte sie herausfinden, ob es sich lohnte, ihr warmes Plätzchen zu verlassen. Da nichts weiter passierte, legte sie das Kinn wieder auf die elegant übereinandergeschlagenen Vorderpfoten und schloss die Augen. Nur die Augenbrauen, die sich hoch und runter bewegten, verrieten, dass Molly wachsam blieb. Schließlich wollte sie keine Gelegenheit für einen Hundekeks verpassen.

Vivian lachte. »Ich pass wohl besser auf, dass ich mich nicht verfahre«, meinte sie. »Molly sieht nicht so aus, als hätte sie Lust auf einen größeren Sucheinsatz.« Gut gelaunt trat sie ins Freie. »Bis später!«

Mit diesem letzten Gruß hob sie die Hand zu einem Abschiedswinken und stapfte mit schnellen Schritten durch den Schneematsch davon. Hinter ihr schwang die Tür zum kleinen Strickladen langsam zu.

»Die rechte Abzweigung«, rief Maighread ihr durch den kleiner werdenden Türspalt noch hinterher. »Nicht vergessen!«

Doch ihre Mahnung verklang ungehört. Die knallroten Haare mit der quietschgrünen Strähne, die der Musikerin fast bis an den in einer engen schwarzen Lederhose steckenden perfekt knackigen Po reichten, verschwanden aus Maighreads Blickfeld.

Sie seufzte. Vivian war wie ein erfrischender Sommerwind – oder nein, korrigierte sie ihren Gedanken, eher wie übermütige Böen an einem Sommertag. Hoffentlich nahm sie Maighreads Warnung nicht zu leicht. Sie kannte sich in der Gegend noch nicht so gut aus, und ihr Navigationssystem würde ihr im entscheidenden Moment nicht weiterhelfen. Bei der Route zum Pub gab es einen Informationsknoten. Wenn man den Angaben der Webdienste folgte, landete man auf einem Wanderpfad. Wer trotz aller Widrigkeiten weiterfuhr, endete auf einer Aussichtsplattform, auf der das Wenden schon bei gutem Wetter einem Höllenkommando gleichkam. Je nach Fahrzeug und Witterung war es schwierig bis unmöglich. Das hatten Maighread und Joshua am eigenen Leib erfahren – zu ihrem Glück an einem wunderschönen Spätsommertag. Und sie hatten die im ersten Moment missliche Situation am Ende auch zu nutzen gewusst.

Bei dem Gedanken an den unverhofften Ausflug huschte ein Lächeln über Maighreads Lippen. Joshua hatte den Wagen mit etlichen Anläufen und zentimeterweisem Vor und Zurück mühsam gewendet. Maighreads Hände waren wegen des gefährlichen Manövers vor Anspannung feucht geworden, und sie hatte sogar das Strickzeug weglegen müssen. Ihr Herz hatte sich angefühlt, als wolle es einen Geschwindigkeitsrekord brechen. Das Wenden mit den Hinterreifen so nah am steilen Abhang war so gar nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Nachdem Joshua es geschafft hatte, hatte er erleichtert geschnauft und kurz entschlossen den Motor abgestellt. Jetzt erst hatte er Maighread gezeigt, dass auch ihm unwohl gewesen war.

»Wenn wir schon mal hier sind, können wir auch den Moment nutzen, ein bisschen die Natur genießen und unsere Nerven beruhigen, findest du nicht?«, hatte er sie gefragt. »Der Besuch bei Jason läuft uns nicht weg.«

»Die Belohnung hast du dir verdient«, hatte Maighread spontan zugestimmt. Den Spaziergang und die unverhoffte Zweisamkeit mitten im Nirgendwo hatten sie beide sehr genossen.

Himmel, was war heute nur mit ihr los? Jetzt träumte sie schon wieder. Wenn sie so weitermachte, war es Mittag, und sie hatte nichts erledigt. Doch das ungute Gefühl, wenn sie an Vivian auf dem schwierigen Weg dachte, machte Maighread zu schaffen. Hoffentlich verfuhr sie sich nicht. Es war im Spätsommer schon schwierig gewesen, bei Nässe und Glätte wäre das Wenden halsbrecherisch. Vivian müsste vermutlich im Rückwärtsgang den schmalen Weg zurücksetzen.

Und selbst wenn sie die richtige Route nahm – Maighread war nicht wohl bei dem Gedanken, Vivian bei diesem Wetter allein fahren zu lassen. Auch wenn Vivian ein – wie sie sagte – »großes Mädchen« war. Maighread fühlte sich für die Musikerin verantwortlich, schließlich hatte sie Vivian für den Nachmittag gebucht. Aber nun war es eben so. Vivian hatte ihren Standpunkt deutlich gemacht und jede Hilfe energisch zurückgewiesen.

Typisch Vivian, genau so hatte Maighread sie kennengelernt. Immer auf ihre Unabhängigkeit bedacht. Und natürlich hatte die Musikerin recht. Sie war eine erwachsene Frau und obendrein eine erfahrene Weltenbummlerin. Außerdem hatte Maighread sie vor dem Fehler in der Technik gewarnt, ihr den Weg zu Jasons Pub genau erklärt und eine Skizze gezeichnet. Was sollte also schiefgehen? Gleichzeitig sah Maighread vor ihrem inneren Auge Vivians silbergrauen Volvo einen Hang hinuntergestürzt und zwischen den Bäumen hängend.

Halb genervt, halb amüsiert schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Ihr Panikmonster malte sich schon wieder die schlimmsten Szenarien aus. Das konnte es leider verflixt gut. Aber immerhin kannte sie sich selbst und konnte gegensteuern. Entschlossen konzentrierte sie sich auf die schönen Dinge und beachtete das ungute Bauchgrummeln einfach nicht weiter.

Schon legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Es war fantastisch, dass Vivian nach ihrem Auftritt beim Callwell Yarn Festival Ende September noch in Glasgow geblieben und für die Babyparty jetzt noch einmal an den Loch Lomond zurückgekommen war. Chloe war verliebt in Vivians Geigenspiel, sie würde ausflippen, wenn sie von der Überraschung erfuhr. Unwillkürlich musste Maighread seufzen, da war der Gedanke wieder: Hoffentlich kam Vivian heil bei Jason an.

Verflixt, der gute Vorsatz hatte nicht lange gehalten. Wie immer, wenn sie etwas Besonderes plante, war Maighread schrecklich aufgeregt und nervös. Regelmäßig überrollten sie Panikwellen mit der Gewissheit, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Was rational betrachtet totaler Quatsch war. Erstens hatte Maighread inzwischen einige Erfahrung mit der Planung von Events, zweitens hatte sie alle Punkte fein säuberlich notiert und – was noch wichtiger war – das meiste auch bereits abgehakt, und drittens war es eine private Veranstaltung, und kein Mensch würde sich aufregen, wenn etwas nicht bis ins kleinste Detail perfekt wäre. Maighread versuchte, ihr unsicheres Ich mit dieser Aufzählung zu überzeugen – mit mäßigem Erfolg. Schon tauchten die nächsten Schreckensszenarien in ihrem Kopf auf und versuchten, sie verrückt zu machen.

Der wunderschöne Weihnachtskranz, den Chloe Maighread gebunden hatte, schaukelte noch ein bisschen, nachdem die Tür längst ins Schloss gefallen war. Das Klingeln der Türglocke war noch nicht ganz verhallt, da öffnete sich die Tür schon wieder.

Ach du Schreck! Mit einem großen Satz hechtete Maighread zur Sitzecke, warf Babypulli, die To-do-Liste und ihr Strickjournal auf das Sofa und ein Kissen darüber. Dann wandte sie sich zur Tür und versuchte, möglichst unschuldig zu lächeln.

Kapitel 2

Chloe

Wie so oft saß Chloe, nachdem Scott sich verabschiedet hatte, an ihrem Lieblingsplatz in der Küche. Ein Kissen im Rücken, die Füße auf dem Schemel und über den Beinen eine Decke, träumte sie mit offenen Augen vor sich hin. Ihr Strickzeug lag unbeachtet in ihrem Schoß.

Auf dem Tisch stand ihre neue Lieblingstasse mit einem Storch, der ein Baby in einer Windel trug. Amely hatte sie ihr geschenkt. Auf einer Seite der Tasse war die Windel, in der das Baby lag, hellblau, auf der anderen rosa. Chloe drehte die Seiten immer abwechselnd zu sich hin. Manchmal versuchte sie zu deuten, zu welcher Seite sie tendierte, und fragte sich, ob ihr Unterbewusstsein ihr dadurch vielleicht einen Tipp geben würde, ob sie einen Sohn oder eine Tochter bekommen würden. Und dann musste sie über sich selbst lachen, denn natürlich wusste Chloe, dass so etwas Humbug war. Abgesehen davon wollte sie es gar nicht wirklich wissen. Sie und Scott hatten beschlossen, dass das Geschlecht des Kindes eine Überraschung sein sollte.

Während sie so dasaß, nippte Chloe hin und wieder gedankenverloren an ihrem inzwischen nur noch lauwarmen Tee. Sie hätte stundenlang so sitzen können – wenn da nicht das Problem mit der Blase gewesen wäre. Je weiter die Schwangerschaft fortschritt, desto häufiger musste Chloe rennen.

»Ich könnte direkt ins Bad ziehen«, hatte sie letzte Nacht zu Scott gesagt, als sie das dritte Mal wieder ins Bett gekrochen war. »Oder zumindest ins Gästezimmer, damit du in Ruhe schlafen kannst.« Sie fühlte sich schlecht bei dem Gedanken, dass sich Scott wegen ihrer nächtlichen Unruhe müde durch den Tag schleppen musste. Doch davon wollte ihr Liebster nichts hören. Er hatte Chloe an sich gezogen, ihr den Nacken geküsst und gemurmelt: »Untersteh dich, mich hier allein zu lassen. So kann ich mich schon daran gewöhnen. Wenn unser Menschlein erst einmal auf der Welt ist, werden wir für eine längere Zeit auch nicht mehr durchschlafen können. Außerdem habe ich schon viel anstrengendere Phasen durchgemacht in meiner Zeit im Krankenhaus. Als Bereitschaftsarzt lernst du, im Minutentakt zu schlafen.«

Scott tat wirklich alles, damit Chloe sich wohl und geliebt fühlte. Er war schon immer ein sehr aufmerksamer Partner gewesen. Seit er wusste, dass Chloe ein Kind in sich trug, achtete er noch mehr auf ihre Bedürfnisse und umsorgte sie liebevoll.

Chloe seufzte. So schwer es ihr auch fiel, wenn sie jetzt nicht aufstand, würde es ein Malheur geben. Sie schlug die Decke zur Seite, nahm die Füße vom Schemel und verließ ihr gemütliches Plätzchen. Es wurde sowieso Zeit, sonst wäre der Vormittag vorbei, und sie hätte nichts gemacht außer in den Tag geträumt.

Chloe lächelte den Storch mit der himmelblauen Windel im Schnabel an, stellte ihre Teetasse in die Spüle und ging zuerst ins Bad und dann ins Schlafzimmer. Wenn sie jetzt ohnehin unterwegs war, konnte sie auch direkt ihre Schwangerschaftsgymnastik-Übungen machen, dann hatte sie das für heute wenigstens erledigt.

»Na dann wollen wir mal«, murmelte sie und schnaufte mürrisch. Allein das Umziehen jedes Mal war nervig. Die früher einmal superbequeme Leggins kniff im Schritt, und das ehemals riesige Oversized-Shirt spannte so sehr über dem Bauch, dass man den Abdruck ihres herausstehenden Nabels sehen konnte. Die Geschwindigkeit, in der sie an Umfang zulegte, war beängstigend.

Bei jeder Ultraschalluntersuchung rechnete Chloe damit, dass der Arzt sagte: »Sie bekommen Zwillinge!« Doch obwohl er immer wieder beteuerte, dass ganz sicher nur ein Baby in ihr heranwuchs, konnte sie die Angst vor einer Doppellieferung nicht ganz loswerden. Sie hätte gern Scotts Bestätigung gehabt, aber da sie das Geschlecht des Kindes nicht wissen wollten, musste er beim Ultraschall immer weggucken. Als Arzt hätte er es sonst sicher sofort gesehen. Doch auch ohne Bildbeweis wurde Scott nicht müde, ihr zu versichern, dass sein Kollege sicher kein Baby übersehen hatte. Der Bauchumfang sei keineswegs außergewöhnlich. Chloe fiel es schwer, das zu glauben. Ein Menschlein allein konnte sich doch unmöglich so dick machen. Sie sah an sich hinunter und hatte schon keine Lust mehr auf ihre Übungen, bevor sie überhaupt angefangen hatte.

Es gab so viel schönere Dinge für Schwangere als diese lästige Gymnastik. Sie könnte sich einfach ins Bett fallen lassen und noch ein kleines Schläfchen machen. Müde genug fühlte sie sich. Oder sie könnte spazieren gehen. Frische Luft war schließlich gesund, und sie könnte beim Gehen ja immer wieder den Beckenboden anspannen. Die nass fallenden Flocken, die sie beim Blick aus dem Fenster erspähte, ließen diese Idee allerdings schneller verpuffen, als sie aufgekommen war. Aber zu Maighread in den Strickladen könnte sie gehen, meldete sich trotzig die nächste Idee, um der verhassten Übungsroutine zu entkommen. Gemütlich auf dem Sofa sitzen, Tee trinken, plaudern und an dem Lätzchen weiterstricken, das sie letzte Woche begonnen hatte. Auf den einen Tag kam es doch wohl nicht an. Sie übte schließlich ansonsten brav und fast regelmäßig. Außerdem hatte Scott ihr aufgetragen, sich zu entspannen und Stress zu vermeiden. Diese Turnerei stresste sie.

Die Versuchung, ihrer Unlust nachzugeben, war groß. Allerdings meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sollte sie? Sollte sie nicht? Bevor sie einen Entschluss fassen konnte, piepte ihr Handy.

Was für eine willkommene Ablenkung von dem inneren Kampf! Neugierig zog Chloe das Telefon aus ihrer Jackentasche und aktivierte das Display. Scott hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Er war nach dem Frühstück in die Praxis gefahren, um Schreibkram zu erledigen, den er während der Öffnungszeiten nicht schaffte. Zum Mittagessen hatte er zu Hause sein wollen, und nachmittags wollten sie alle zusammen einen Ausflug zu Jason machen, um ihn zu überraschen und ein bisschen aus seiner Einsamkeit zu holen. Neugierig tippte Chloe auf das Programm, um die Nachricht zu öffnen.

Liebling, es dauert doch länger. Ich muss nachher von der Praxis aus direkt zum Hof der Hendersons. Allison hat angerufen, ihre Mutter hat wieder Fieber.

Könntest du bitte mit Maighread und Joshua vorausfahren? Ich komme so schnell wie möglich nach. Und denk an deine Übungen, Chloe. Ich liebe dich! Und unseren Bauchbewohner ebenso. Pass gut auf euch beide auf. Kuss! <3

Chloe seufzte und strich verliebt mit dem Zeigefinger über den Text. Scott war einfach wunderbar. Callwell konnte froh sein, so einen engagierten Arzt bekommen zu haben. Ob er wohl geahnt hatte, dass sie gerade in Versuchung geraten war, sich vor dem Training zu drücken? Er kannte sie einfach zu gut.

Aber wie auch immer. Sie hatte es ihm versprochen und würde Wort halten. Also Augen zu und durch. So eine halbe Stunde war ja schließlich keine Ewigkeit.

Ich liebe dich, Scott McBrayer. Pass bitte auch auf dich auf. Unser Menschlein und ich brauchen dich! Ich werde jetzt üben und dann zu Maighread in den Strickladen watscheln. Kuss <3

Bevor sie wieder ins Hadern kommen konnte, schaltete Chloe entschlossen das Trainingsvideo an und schickte ihren inneren Schweinehund zurück in seine Hütte. Schon flimmerte das samtweiche Gesicht von Fee auf. Die Trainerin war selbst im achten Monat schwanger.

Als Chloe den Kanal entdeckt hatte, war sie zuerst begeistert gewesen. Sie hatte gehofft, sich besser zu fühlen, wenn die Übungsleiterin mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatte wie sie. Doch die Freude währte nur kurz. Von wegen: gleiche Probleme. Verglichen mit Chloe war Fee eine Elfe. Und ein echter Sonnenschein. Immer gut gelaunt strahlte sie in die Kamera, während sie sich elegant auf ihre Matte niederließ und ihre Teilnehmerinnen begrüßte. Tag für Tag. Aber klar, wenn jemand auch schon Fee hieß. Als gäbe es keine Hormone, die das Seelenleben durcheinanderwirbelten. Keine Rückenschmerzen und keine Verdauungsprobleme. Diese Frau schien von all den üblichen Schwangerschaftsproblemen verschont zu bleiben.

Wie jedes Mal fühlte Chloe sich bei dem Anblick der anmutigen Frau schrecklich dick und unbeholfen. Noch mehr als ohnehin schon.

Wie machte Fee das nur? Ihr Bauch war doch auch kugelrund. Und trotzdem bewegte sie sich, als wäre sie federleicht und der Bauch überhaupt nicht im Weg. Bei Chloe dagegen war nichts elegant oder leicht. Sie ächzte, als sie sich auf ihre Gymnastikmatte setzte.

»Na los, dann führ mir mal vor, was ich für ein Walross bin«, murmelte sie.

»Leg dich auf den Rücken, spüre, wie dein Körper sich mit der Unterlage verbindet, und lass alle Anspannung los. Konzentriere dich auf das Baby, das in dir wächst, und auf die Freude.«

Chloe folgte den Anweisungen. Nachdem sie endlich lag, fühlte sie sich wie ein hilfloser Käfer, der versehentlich auf dem Rücken gelandet war. Aber es half nichts, da mussten sie und das Menschlein in ihrem Bauch durch. Nur das mit dem Gefühl, sich mit der Unterlage zu verbinden, funktionierte. So gut, dass Chloe nicht wusste, ob sie je wieder hochkommen würde.

Im nächsten Moment musste sie über sich selbst lachen. Vor lauter Ächzen und Jammern vergaß sie manchmal, wie glücklich sie war. Und dazu hatte sie auch allen Grund. Egal wie kugelrund und schwerfällig sie war, sie trug ihr Baby unter dem Herzen, und die Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen. Scott liebte sie. Er liebte jedes dieser gefühlt hunderttausend Pfund. Er sagte es ihr immer und immer wieder. Und sie wusste, dass das die Wahrheit war. Sie konnte es spüren.

Als sie daran dachte, ging es ihr gleich wieder besser, und sie fühlte sich bereit für die heutige Übungseinheit.

Scott hatte ihr liebevoll streng aufgetragen, jeden Vormittag eine halbe Stunde zu trainieren. Immer abwechselnd, an einem Tag Entspannungsübungen und am nächsten Tag Schwangerschaftsgymnastik.

Seit einer Woche beschränkte sich die Gymnastik allerdings auf Beckenbodentraining. Einerseits ging es darum, den Beckenboden zu kräftigen, denn immerhin musste er das Gewicht des Babys tragen, und dieses kleine Wunder in ihr wurde täglich schwerer. Andererseits sollten Schwangere sehr bewusst lernen, die Beckenbodenmuskeln anzusteuern, um sie während der Geburt entspannen zu können und sich dadurch leichter zu öffnen.

An diesem Punkt des Gespräches, als Scott ihr die Wichtigkeit der Loslassübungen erläutert hatte, hatte Chloe zuerst geblockt. Das schien ihr doch ein Stück drüber zu sein. Scott schien sich einzubilden, besser zu wissen, was bei der Geburt vor sich ging, als die Gebärende selbst.

»Also das mit der Kräftigung leuchtet mir ja ein«, hatte Chloe gesagt. »Aber loslassen?« Sie hatte die Skepsis nicht nur im Ton, sondern auch in ihrer Miene und Körperhaltung gezeigt. »Du meinst ernsthaft, es wird leichter, eine Melone aus mir herauszupressen, wenn ich meinen Beckenboden entspannen kann?« Sie war richtig sauer geworden, weil sie das Gefühl gehabt hatte, Scott verstand überhaupt nicht, was auf sie zukam. »Meinst du nicht, dass ich während der Geburt ein paar andere Probleme habe, als mich auf die Entspannung meines Unterleibs zu konzentrieren?«

Doch Scott war einfach er selbst geblieben. Ruhig und liebevoll. »Liebling, ich war schon bei vielen Geburten dabei. Ich weiß, dass dich der Gedanke daran verunsichert. Aber bitte vertrau mir. Diese Übungen werden dir helfen«, hatte Scott sie gebeten. »Ich sage das nicht nur so, Chloe. Vergiss nicht, ich bin Arzt.«

Er hatte sie in den Arm nehmen wollen, doch Chloe hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sich weggedreht.

»Und ich bekomme das Kind«, hatte sie trotzig erwidert.

Als ob ein Mann eine Ahnung davon hatte, was Frauen während einer Schwangerschaft und Geburt durchmachten. Am liebsten hätte Chloe Scott an den Kopf geworfen, dass sie ihn anmaßend fand. Aber ein Teil von ihr wusste, dass die Hormone sie dazu brachten, so genervt zu reagieren. Scott war einfühlsam und fürsorglich. Sie hätte sich keinen besseren Partner an ihrer Seite und Vater für ihr Baby wünschen können. Er erfüllte ihr die verrücktesten Wünsche, massierte jeden Abend ihre Füße und wurde nicht müde, ihr zu sagen, wie wunderschön sie war. Also hatte sie ihre Wut geschluckt und ihm zuliebe mit der Schwangerschaftsgymnastik samt Beckenbodenentspannung begonnen. Die morgendlichen Übungen waren inzwischen zwar zur Routine geworden, aber gern machte sie sie trotzdem nicht.

»Lege deine Hände auf die Knie, öffne sie etwas, damit dein Bauch dazwischen passt, und mache nun mit deinem Becken kleine Kreise. Erst in die eine Richtung, dann in die andere. Bleibe in deinem Tempo, und atme dabei tief in deinen Bauch hinein. Spürst du die Entspannung? Genieße es. Atme tief in deinen Babybauch hinein.«

Chloe gab ein dumpfes Ächzen von sich. »Entspannung? Die spinnt doch«, grummelte sie. »Hat man je ein Nilpferd entspannt auf dem Rücken liegen sehen?«

Sie ließ die Knie los und legte die Beine langsam ab – genau wie die Trainerin.

»Jetzt kommt eine Übung im Vierfüßerstand. Komm über die Seite hoch. Hände und Knie etwa schulterbreit, der Rücken ist gerade. Denke an die Atmung, und bleibe in deinem Rhythmus. Wechsle nun ein paarmal zwischen Katzenbuckel und Hohlkreuz. Im Katzenbuckel spannst du deinen Beckenboden fest an und lässt ihn bei der Abwärtsbewegung wieder los. Ganz langsam und in deinem Rhythmus. Achte auf deinen Körper. Du musst dich wohlfühlen. So sorgst du gut für dich selbst und für dein Baby.«

Chloe schnaubte. Sie würde viel lieber auf dem Sofa gut für sich und ihren Zwerg sorgen. Oder bei sich im Laden. Dort könnte sie Weihnachtsgestecke binden und ganz locker nebenbei den Beckenboden anspannen und entspannen. Aber nein. Stattdessen robbte sie hier wie ein gestrandetes Walross auf ihrer Gymnastikmatte herum, weil sie es Scott versprochen hatte. Es war nicht immer von Nutzen, wenn der werdende Vater gleichzeitig auch Arzt war.

Ihm zuliebe war sie auch nur noch selten im Laden. Nachdem sie sich vor ein paar Wochen etwas übernommen und abends ein schmerzhaftes Ziehen im Unterleib gespürt und einen viel zu hohen Blutdruck gehabt hatte, hatte er sie beschworen, kein Risiko einzugehen. Er wusste, dass sie sich nicht zurückhalten würde, wäre sie im Laden. Es gab viel zu tun, und Chloe war nicht dafür gemacht, anderen bei der Arbeit zuzusehen. Zähneknirschend musste Chloe sich eingestehen, dass Scott recht hatte. Doch die Untätigkeit ging ihr schrecklich auf die Nerven.

Immerhin durfte sie an drei Nachmittagen noch im Laden mitarbeiten. Alles andere hatte das Granny-Kleeblatt übernommen. Gwendolyn, Elisabeth und Eilidh wuppten ihren Laden, bis Chloe wieder konnte. Chloes Kräuterträume ohne Chloe, das war eine Vorstellung, die ihr so gar nicht behagte. Aber Scott war unerbittlich geblieben.

»Drei Tage je drei Stunden, und nur leichte Arbeiten. Es tut mir leid, Liebling, aber alles andere wäre unverantwortlich. Du lässt dich viel zu sehr mitreißen, wenn du im Laden bist. Gerade jetzt, mitten im Weihnachtsgeschäft. Ich weiß, dass es dir schwerfällt, aber denk an dich und unser Baby. Wir können froh sein, dass wir deinen Blutdruck wieder im Normalbereich haben, du reagierst in deinem Zustand sensibel auf Stress.«

Wieder hätte ein Teil von ihr gern mit Scott diskutiert, doch der andere Teil stimmte ihm zu. Sie hatte schließlich nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr kleines Menschlein im Bauch die Verantwortung.

»Autsch!« Chloe zuckte zusammen, als ein scharfer Schmerz durch ihren Rücken schoss. »Ich glaube, das reicht für heute.« Entschlossen tippte sie auf das Display ihres Tablets, und Fees Stimme verstummte.

Chloe setzte sich auf die Matte, lehnte sich gegen die Wand und gönnte sich noch ein paar Dehnungen und entspannte Atemzüge.

»Na, du Zwerg, alles klar bei dir?«, fragte sie und legte beide Hände auf ihren Bauch. Es dauerte nicht lange, dann klopfte von innen etwas gegen die Bauchdecke. Ihr Menschlein antwortete seiner Mama.

Kapitel 3

Maighread

»Ach, du bist es«, begrüßte Maighread ihre Besucherin erleichtert. »Und ich dachte schon …« Sie führte den Satz nicht zu Ende, sondern sagte stattdessen: »Guten Morgen, Amely. Schön, dass du da bist!«

Maighread war froh, Amely zu sehen. So konnte sie gleich ein paar weitere Punkte auf ihrer To-do-Liste abhaken. Sie hatte direkt die ersten Fragen auf den Lippen und war drauf und dran, Amely zwischen Tür und Angel damit zu überfallen, da überlegte sie es sich anders. Es fiel ihr zwar schwer, doch sie hielt sich zurück. Sie waren schließlich gut im Zeitplan. Ihre Freundin sollte erst einmal in Ruhe ankommen. Sie konnten es sich in der Strickecke bequem machen und einen Tee zusammen trinken, während Maighread ihre letzten Punkte für die perfekte Baby Shower abhakte.

Amely und Maighread hatten sich vor Jahren auf einem Wollfestival in Edinburgh kennengelernt. Amely war eine sehr begabte Färberin und genauso wollverrückt wie Maighread. Oder vielleicht fast genauso wollverrückt, denn kaum jemand konnte Maighread in diesem Punkt das Wasser reichen. Über die gemeinsame Leidenschaft waren die beiden sich nähergekommen und im Laufe der Zeit zu besten Freundinnen geworden.

Zu Beginn des Kennenlernens hatte Amely noch zusammen mit ihrer Mutter in Edinburgh gelebt. Die beiden waren eng miteinander verbunden gewesen. Nach einer Krebsdiagnose war Amelys Mutter jedoch innerhalb weniger Monate gestorben. Viel zu schnell und viel zu früh!

Dieser vollkommen unerwartete Schicksalsschlag hatte Amely komplett aus der Bahn geworfen. Sie hatte nicht mehr arbeiten können und war unfähig gewesen, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Sie war drauf und dran gewesen, sich in ihrer Trauer zu verlieren. Das hatten Maighread und Chloe natürlich nicht zulassen können. Kurzerhand hatten sie Amely nach Callwell geholt, um ihr die Zeit zu geben, die sie benötigte. Sie sollte sich ausruhen, verwöhnen lassen und langsam wieder auf die Beine kommen. Wirklich alle hatten sich um die angeschlagene und verloren wirkende Amely gekümmert und sie mit offenen Armen in ihren Kreis aufgenommen. Und es war ihnen leichtgefallen, weil man gar nicht anders konnte, als Amely in sein Herz zu schließen. Eilidh hatte sie bekocht, Maighread und Joshua hatten sie zum Wohnen nach Callwell Castle eingeladen, Chloe hatte ihr bei der Trauerbewältigung geholfen und sie am Ende sogar dazu gebracht, dass sie wieder färben konnte. Scott hatte sich um Amelys körperliche Gesundheit gekümmert, Elisabeth und Gwendolyn hatten sie in großmütterliche Obhut genommen, und Peter, Chloes Cousin und Inhaber der Destillerie McDurmanns Whisky, hatte dafür gesorgt, dass Amely immer etwas zu tun hatte – kleine Ausflüge, Kinobesuche, Ausritte, Bootsfahrten. Peter hatte sich ständig etwas Neues einfallen lassen. Die ganze Gemeinschaft hatte sich um Amely bemüht.

Auch wenn es nicht einfach gewesen war, hatten sie zuletzt mehr Erfolg gehabt, als Maighread zu Beginn zu hoffen gewagt hätte. Denn zu all der liebevollen Aufmerksamkeit hatte sich noch ein tieferes Gefühl gesellt – die Liebe.

Inzwischen lebte Amely mit fünf Alpakas, ein paar Hühnern, zwei Katzen und einem Hund am Rand von Callwell in einem alten Farmhaus mit Blick auf den See. Zum Einzug hatte sie von den Freunden ein selbst gemaltes wunderschönes Schild geschenkt bekommen: Stringer-Farm – passend zu Amelys Nachnamen.

Peter war an dieser Entwicklung nicht ganz unbeteiligt gewesen. Amely und er hatten sich ineinander verliebt. Peter war bereits hin und weg gewesen, als Amely als Ausstellerin zum ersten Callwell Yarn Festival gekommen war. Doch es hatte noch lange gedauert, bis die beiden endlich zueinander gefunden hatten. Auch bei der Liebe war Amely ihre Trauer im Weg gewesen. Doch sie hatte sich mit Hilfe ihrer Freunde aus dem inneren Gefängnis befreit. Amely hatte ihr Lachen wiedergefunden, und sie und Peter waren inzwischen unzertrennlich.

Vielleicht waren die beiden die Nächsten … Maighreads Blick streifte über Amelys flachen Bauch.

Mit Amely war wieder ein Schwall kalter Luft in den Laden geschwappt. Maighread fröstelte, während Amely sich den nassen Schnee von ihren Schultern klopfte und ihre Mütze vom Kopf zog.

»Hey, Maighread, guten Morgen. Na, das ist ja eine Begrüßung. Lass mich raten: Du dachtest, ich sei Chloe, und hast schnell alles unter die Sofakissen gepfeffert, was sie nicht sehen darf?« Amely grinste. »Entwarnung! Du kannst Notizbuch und Strickzeug wieder hervorkramen.«

Maighread drehte sich erstaunt zum Sofa und dann wieder zu ihrer Freundin. Konnte Amely etwa hellsehen?

»Woran strickst du denn?«, fragte Amely. Der Ton ihrer Stimme verriet Maighread schon, dass ihre Freundin sie necken wollte. Im nächsten Moment wusste sie, dass sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen hatte.

Bevor sie antworten konnte, sprach Amely schon weiter. »An dem hundertsten Höschen oder zur Abwechslung an einem Pulli?« Sie kicherte über ihren eigenen Witz. »Ersatz, falls die achtzig, die du schon fertig hast, plötzlich alle in der Wäsche sind? Ach, was sage ich denn? Wäsche! Chloe wird nie waschen müssen. Sie kann ihr Kind auch so täglich frisch einkleiden, bis es volljährig ist – mindestens!«

»Hey, mach dich nicht über mich lustig«, schimpfte Maighread gespielt entrüstet.

Sie wusste genau, dass Amely nur Spaß machte und sie in Wahrheit bewunderte. Oft genug betonte die Freundin, dass sie nie an Maighreads Geschwindigkeit und Kreativität heranreichen würde und auf Maighreads Talent neidisch sei. Was aber natürlich totaler Quatsch war. Amely konnte vielleicht nicht in Maighreads Tempo stricken, dafür war sie eine begnadete Färberin. Sie erhob dieses Handwerk zur Kunst. Von Amely gefärbte Wolle war nicht nur bunt, sondern immer auch irgendwie magisch.

Maighread hatte große Hochachtung vor dem Können ihrer Freundin. Ein Teil von ihr wollte es gern selbst lernen. Es wäre auch kein Problem. Seit letztem Sommer gab Amely auf ihrer Alpakafarm auch Färbeseminare. Doch Maighread hatte es bis jetzt noch nicht geschafft, an einem dieser Termine dabei zu sein oder vielleicht auch bei Amely Privatstunden zu nehmen. Es gab immer viel zu viel zu tun.

Vielleicht war das auch richtig so. Maighread konnte schließlich nicht alles selbst machen, auch ihr Tag hatte nur vierundzwanzig Stunden. Wenn sie Zeit fürs Färben abzweigen würde, müsste sie das an anderer Stelle – also vermutlich beim Stricken – einsparen. Das war kein verlockender Gedanke. Es gab schließlich nicht nur Chloes Baby zu bestricken, sondern auch jede Menge anderer Projekte. Maighreads Stricknadeln waren nahezu immer in Aktion.

Irgendwie war es auch schön, dass jede der Freundinnen ihre Stärken und ihren Wirkungsbereich hatte. Sie ergänzten sich wunderbar. Amely mit den Farben, Chloe mit den Kräutern und Seifen und Maighread mit der Wolle und dem Stricken.

Auch wenn Amely natürlich schamlos übertrieb, ein Fünkchen Wahrheit lag darin. Maighread fühlte sich ertappt. Sie wusste, dass sie es mit der Babyausstattung ein bisschen überzog. Vermutlich würde sie einiges davon im Laden verkaufen oder auch spenden, weil das Baby es gar nicht auftragen konnte. Außerdem hatte sie einige Sachen doppelt gestrickt, einmal in Rosa und einmal in Hellblau, weil sie nicht wusste, was gebraucht wurde. Und dennoch – so viel, wie Amely behauptete, war es wirklich nicht.

»Ich mich lustig machen?«, fragte Amely mit Unschuldsmiene. »Das würde ich doch nie tun. Du weißt ja: Übertreibung macht anschaulich. Und dass dieses Kind das best­angezogene mit den meisten Höschen, Pullovern und Decken sein wird, das Schottland je gesehen hat – da wirst du mir doch nicht widersprechen, oder?«

Als Maighread das vergnügte Funkeln in Amelys Augen sah, konnte sie gar nicht anders. Sie stimmte in das Lachen ein.

Amely kannte Maighread wirklich schon ziemlich gut. Sie stand, während sie ihre Freundin neckte, noch immer an der Tür. An ihren Schuhen klebte Schneematsch. Zum Glück hatte Maighread extra eine Matte an den Eingang gelegt. Amely stampfte ein paarmal fest auf, schälte sich aus ihrem Mantel und legte ihn weg. »Brr, was für ein Wetter. Was, Molly, das ist nicht nach unserem Geschmack, oder?« Sie ging zu der Hündin und kraulte sie zur Begrüßung unter dem Kinn. Molly wedelte mit ihrem Schwanz, blieb aber in ihrem kuschelwarmen Körbchen liegen. Es war ganz deutlich, dass sie ebenfalls keine Lust auf diese nasse Kälte hatte. Die Hundedame wusste die Vorzüge eines warmen Plätzchens zu schätzen. Nachdem sie Molly gestreichelt hatte, stand Amely auf und kam zu Maighread. »Hoffentlich hört es bald wieder auf zu schneien, sonst wird die Fahrt zu Jason anstrengend.«

»Mir graut schon davor«, stimmte Maighread Amely zu. Die beiden Frauen umarmten sich. »Ich bin wirklich froh, dass du da bist«, betonte Maighread noch einmal.

»Ich kenne dich doch und dachte mir, du könntest vielleicht ein bisschen Ablenkung brauchen.« Sie zwinkerte ihr zu. »Wie oft bist du die To-do-Liste schon durchgegangen?«

»Mpff«, machte Maighread und untermalte den Laut mit einem verzweifelten Kopfschütteln. Der Zettel war vom vielen Draufstarren bestimmt schon ganz dünn geworden. »Gehen wir es noch mal zusammen durch?«, fragte sie und zeigte auf die Liste, die sie inzwischen wieder unter dem Kissen hervorgezogen und auf den Tisch gelegt hatte. »Du weißt sicher, ob Peter an alles gedacht hat.«

»Auch zweimal, wenn es dich beruhigt«, antwortete Amely. »Peter hat das Auto schon beladen, die Punkte kannst du abhaken. Aber du weißt schon, dass du nur eine Babyparty planst, keinen Staatsakt?«

Offensichtlich war Amely heute dazu aufgelegt, Maighread auf den Arm zu nehmen. Doch die ließ sich nicht beirren.

»Die Babyparty für Chloes Baby«, ergänzte sie mit gewichtiger Tonlage. »Das kommt einem Staatsakt ziemlich nahe.«

»Das stimmt natürlich auch wieder.« Amely sah sich um. »Also gut. Soll ich uns einen Tee kochen?«

»Das wäre super. Und ich mache Musik an.«

Kurz darauf klangen Weihnachtslieder durch den Laden, und Maighread ließ sich erleichtert aufs Sofa fallen. Das war ihre erste richtige Pause. Seit dem Öffnen heute war sie herumgewirbelt. Sie hatte Kundinnen bedient, die Wolle in den Regalen nachgefüllt und zwischendurch mit Vivian deren Auftritt besprochen. Da war es ihr gerade lieb, dass es vorübergehend ruhiger war. Auch wenn die Geschäftsfrau in ihr sich natürlich immer über reichlich Kundschaft freute.

Aus der Küche hörte Maighread Wasser rauschen und Tassen klappern. Kurz überlegte sie, ob sie Amely helfen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Eine Kanne Tee aufzugießen, schaffte Amely ganz sicher auch ohne Unterstützung. Stattdessen schnappte sie sich lieber das Strickzeug. Maighread warf einen Blick auf die Notizen in ihrem Strickjournal, wo sie alles akribisch festhielt, was sie strickte. Nach einer kurzen Orientierung wusste sie wieder, wie es weiterging, wickelte sich den Arbeitsfaden um den Finger und begann, den Faden durch die Maschen zu ziehen.

Maighread strickte die letzte Reihe zwei rechts, zwei links und kettete die Maschen des Pullovers ab, den sie vor drei Tagen erst begonnen hatte. So winzige Babykleidung strickte sich im Handumdrehen, kein Wunder, dass der Stapel für Chloes Baby stetig wuchs. Mit sicheren Bewegungen zog sie Masche für Masche über und hob dabei immer wieder den Blick, um aus dem Fenster zu sehen. Noch immer wirbelten die Flocken. Maighread seufzte und drehte den Kopf weg. Sie wollte das lieber gar nicht sehen.

Die Dekoration auf dem Tisch zu bewundern, war da viel erfreulicher. Maighread hatte ihre gerade fertig gewordenen Tischsets daraufgelegt und mit einer dicken Kerze in einem kleinen Adventsgesteck dekoriert. Das Gesteck war natürlich Chloes Werk.

Als Michael Bublés Have yourself a merry little Christmas aus dem Lautsprecher klang, summte Maighread leise mit. Danach ging es mit Amazing Graze weiter, es war die Version von Peter Hollens featuring Home Free, gefolgt von Ed Sheeran & Elton John mit Merry Christmas.

Maighread hatte eine Weihnachtsplaylist zusammengestellt und ließ sie seit Tagen auf Shuffle laufen. Durch die sich immer wieder verändernde Reihenfolge wurde es nie langweilig.

Es dauerte nicht lange und die Maschen waren abgekettet. Maighread nutzte ihren Schwung und machte sich daran, die Fäden zu vernähen. Sie strich über das Vorderteil mit dem niedlichen eingestrickten Drachen. Dabei lächelte sie versonnen.

Obwohl sie es nicht wollte, konnte sie nicht verhindern, immer wieder zum Fenster und in das Schneetreiben hinauszusehen. Die Flocken bildeten einen dichten weißen Vorhang. Maighread war besorgt wegen des Wetters.

Zusätzlich sah sie immer auch zur Tür. Chloe hatte zwar gesagt, sie wolle den Vormittag zu Hause bleiben und sich ausruhen, damit sie nachmittags fit war, aber bei ihr wusste man nie. Und den Pullover für ihr Menschenkind sollte sie auf keinen Fall vor der Babyparty sehen.

Maighread war ganz hibbelig. Chloe machte es ihr wirklich nicht leicht, die Überraschungen zu planen. Aber bislang war sie ihr immer einige Maschen voraus – und so sollte es bitte auch die letzten paar Stunden bis zur Ankunft beim Pub bleiben.

Amely kam mit der Teekanne und Tassen wieder in den Ladenraum. Sie hatte auch noch einen Teller mit Shortbread auf das Tablett gestellt. Lieblicher Duft von Rosenblüten stieg auf, als Amely zuerst Maighreads Tasse und dann ihre eigene mit der karamellfarbenen Flüssigkeit füllte.

»Dann lass mal sehen«, forderte Amely auf, kaum dass sie sich gesetzt hatte, und angelte auch schon nach Maighreads Block.

Sorgfältig studierte sie die Liste, schnappte sich den Stift und setzte Haken hinter einige der Punkte. »Die Karaokeanlage ist bereits im Auto«, sagte sie. »Ebenso die Babypuppen für das Wickelspiel und Peters und meine Babyfotos. Die Geschenke von Elisabeth, Gwendolyn und natürlich von uns sind ebenfalls im Kofferraum. Auch der letzte Karton mit Deko – alles andere hast du ja schon zu Jason geschafft. Eilidhs Geschenk nehmt ihr mit, richtig?«

Maighread fädelte einen Faden ein, dann sah sie Amely an. »Ja, genau. Wir fahren mittags. Eilidh hat eine Suppe gekocht, die nehmen wir mit und essen sie bei Jason zum Lunch. Später gibt es Tee und Kuchen, und danach wollte Jason ein Winterbarbecue machen. Aber Eilidh hat umgeplant und macht ein komplettes Weihnachtsdinner. Elisabeth und Gwendolyn haben ihr bei der Vorbereitung geholfen. Sie scheint Angst zu haben, dass im Pub jemand verhungern könnte.«

»Wie schaffst du es eigentlich, mit ihr im gleichen Haus zu leben und trotzdem deine Figur zu halten?«, fragte Amely. »Ich sehe Eilidh nur alle paar Tage und muss trotzdem höllisch aufpassen. Wenn es nach ihr ginge, hätte ich mich längst verdoppelt.«

Maighread nickte. »Ja, Eilidh liebt es, andere zu bekochen. Ich habe mir angewöhnt, meinen Teller immer mit Gemüse oder Salat so voll zu laden, dass sie gar nicht merkt, dass ich von den schweren Sachen etwas weniger nehme«, offenbarte Maighread Amely ihre Strategie.

»Raffiniert«, staunte Amely und nickte anerkennend. »Na, auf jeden Fall könnten wir wohl bis voraussichtlich Ostern locker bei Jason überleben, ohne hungern zu müssen«, verkündete sie. »Das ist doch beruhigend.«

»Na ich weiß nicht«, meinte Maighread skeptisch. »Mir würde garantiert die Wolle ausgehen. Stell dir das nur vor! Eine Katastrophe! Und ich fürchte, auch Chloe wäre nicht ganz einverstanden«, gab sie zu bedenken. »Ich gehe davon aus, dass sie das Baby doch lieber in …«

Die Türglocke ertönte. Maighread fuhr erschrocken hoch, und schon stand Chloe im kleinen Strickladen.

»Autsch«, machte Maighread. Sie hatte sich vor Schreck die Nadel in den Daumen gerammt. Möglichst unauffällig reichte sie hinter ihrem Rücken den Babypullover an Amely. Die verstand, griff zu und hustete plötzlich laut los. Maighread sah aus dem Augenwinkel, dass Amely das Geschenk hinter sich unter das Kissen schob. Sie hörte wieder auf zu husten und sagte: »Entschuldigung, habe mich verschluckt.«

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