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Rules For Being A Girl

Als Buch hier erhältlich:

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Macht Mädchen Mut, sie selbst zu sein

Wie alle Mädchen ist Marin an ihrer Schule mit lauter ausgesprochenen und unausgesprochenen Anforderungen konfrontiert: Schminke dich, aber trag nicht zu viel Make-up. Werd nicht zu dünn, aber auch nicht zu dick. Sei witzig, aber dränge dich nicht in den Mittelpunkt … Und Marin ist gut darin, die Regeln zu befolgen. Bis ein Vorfall mit ihrem Lehrer ihr die Augen öffnet. Erstmals sieht Marin, wie ungerecht Mädchen und Frauen behandelt werden. Und sie beschließt, sich nicht länger an die Spielregeln von anderen zu halten, auch wenn das bedeutet, dass sie sich gegen ihre eigenen Freunde stellen muss.

Von der Autorin von »Sex and The City«!


  • Erscheinungstag: 22.09.2020
  • Seitenanzahl: 272
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Hardcover
  • Format: Klappenbroschur
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800422

Leseprobe

Für meine liebe, unerschütterliche Freundin Jeanine Pepler

CB

Für mein Töchterchen Colleran, die unter meinem Herzen wuchs, während dieses Buch geschrieben wurde

KC

1. KAPITEL

»Und darum«, sagt Mr. Beckett, der in der dritten Stunde (Fortgeschrittenenkurs Englisch) mit überkreuzten Knöcheln an seinem Pult lehnt und uns aus dunklen, glänzenden Augen ansieht, »wurden Hemingway und Fitzgerald die berühmtesten ›Frenemys‹ des zwanzigsten Jahrhunderts. Offen gestanden wird Ihnen das bei der Abschlussprüfung wahrscheinlich nicht von allzu großem Nutzen sein, denn da fragen sie aus unerfindlichen Gründen nicht danach, was Sie über Tratsch und Klatsch im Verlagswesen von vor hundert Jahren wissen. Aber Sie können es ja im Hinterkopf behalten und bei einer Party Ihre Freunde damit beeindrucken.« Breit lächelnd stellt er sich gerade hin und zieht einen Marker aus der hinteren Tasche seiner dunkelblauen Khakihose.

»Okay«, sagt er, »und jetzt zu den Hausaufgaben.«

Allgemeines Aufstöhnen. Bex – so nennen wir ihn – winkt uns als einen Haufen Weicheier ab und erklärt, bis morgen müssten wir die ersten vierzig Seiten von In einem anderen Land gelesen haben. »Das geht schnell«, verspricht er uns und lässt dabei den Marker von einem Finger zum nächsten wandern, wie ein Zauberer mit einem Kartenspiel. »Einer der Vorzüge von Hemingway – nur einer von vielen, das besprechen wir morgen genauer – besteht darin, dass er kein Freund von großen Worten ist.«

»Gut so«, witzelt Gray Kendall, ein langbeiniger Lacrosse-Spieler, der erst seit September bei uns ist. Er lümmelt auf seinem Stuhl ein paar Reihen hinter mir und lässt kurz ein Wangengrübchen erkennen. »Ich nämlich auch nicht.«

Schließlich klingelt es, und wir schlurfen Richtung Tür. Vom Flur her hört man Stuhlbeine auf Linoleum schrappen, und aus der Mensa riecht es nach dem Tagesgericht – Hähnchensandwich.

»Bist du so weit?«, frage ich Chloe und mache bei ihrem Pult ganz vorne Halt. Sie hat ihren typischen roten Lippenstift aufgelegt, trägt eine riesige Hipster-Brille, und ihr weizengelbes Haar fällt leicht gewellt bis auf ihre Schultern. Den Kragen ihrer Schuluniformbluse ziert ein winziger Anstecker in Form eines rosafarbenen Flamingos.

»Mhm«, sagt sie und späht über meine Schulter zu Bex, der gerade mit eleganten Bewegungen das Whiteboard sauber wischt. Er trägt heute einen grauen Kaschmirpulli. Ich quittiere ihr Geglotze mit hochgezogenen Augenbrauen, woraufhin sie eine Grimasse schneidet. »Ja.«

»Na dann.« Ich nicke betont und hänge mir meinen Rucksack über die Schulter. Wir sind schon im Aufbruch, da sieht Bex zu uns herüber.

»Ach, ja, Marin«, sagt er und schüttelt schuldbewusst den Kopf. »Ob man’s glaubt oder nicht, ich hab heute schon wieder nicht an dein Buch gedacht. Aber morgen habe ich es ganz sicher dabei.«

»Kein Problem.« Ich lächle ihn an.

Seit fast zwei Wochen will Bex mir seine Ausgabe von Die Korrekturen leihen, weil er meint, dass das Buch mir super gefallen wird, aber er vergisst ständig, es mitzubringen.

»Wann immer es passt. Ganz ehrlich, so wahnsinnig viel Zeit habe ich sowieso nicht, um noch was zum Vergnügen zu lesen.«

»Ich weiß, ich weiß.« Er schaut verschmitzt. »Ihr habt alle Hände voll damit zu tun, Videos auf euren YouTube-Kanälen zu posten, oder was ihr sonst noch so zum Vergnügen macht.«

Mir klappt die Kinnlade runter. »Stimmt nicht!«, sage ich, wobei mir innerlich wohlig warm wird. »Bei den Tonnen von Hausaufgaben für Englisch!?«

»Ja, ja«, gibt Bex zurück, aber mit einem Lächeln. »Und jetzt raus mit euch. Ich habe Mittagsaufsicht, wir sehen uns dann unten.«

»Glück für Sie«, sagt Chloe neckisch.

»Oh, ja.« Bex grinst, legt das Wischtuch weg und reibt sich die Hände am Hosenboden trocken. »Macht euch nur lustig über mich, das kratzt mich gar nicht – ihr unterschätzt nämlich, wie sehr es mich zu den Hähnchensandwiches zieht. Abmarsch.«

Die Mensa der Bridgewater Prep ist zugleich auch Aula und Turnhalle, mit einer Bühne an einem Ende und versenkbaren Tischen für die Sportstunden. Unser Tisch ist schon ziemlich gut besetzt, als Chloe und ich dazustoßen – die übliche, etwas eigenartige Mischung aus Bex-Lieblingen und Lacrosse-Cracks, mit denen wir zusammensitzen, seit ich mit Jacob zusammen bin.

»Hey Süße«, sagt er und zwickt mich zur Begrüßung in die Seite. »Wie war’s bei dir so bis jetzt?«

»Checkst du, ob sie langsam fett wird?«, witzelt sein Kumpel Joey und macht Anstalten, mich ebenfalls zu kneifen.

Ich weiche aus, verdrehe die Augen und zeige ihm den Stinkefinger. »Verpiss dich, Joey.« Dann knuffe ich Jacob gegen die Schulter. »Verteidige gefälligst meine Ehre, ja?«

»Du hast gehört, was die Dame gesagt hat«, kommt es von Jacob, was als Ehrenrettung zugegebenermaßen ein bisschen lahm ist. Aber dann zieht er mich auf seinen Schoß, gibt mir einen Kuss auf die Wange, und fürs Erste vergesse ich meinen Ärger. Wir sind seit dem letzten Frühjahr zusammen, als Miss Shah uns für unser Forschungsprojekt im Fortgeschrittenenkurs Geschichte der USA eingeteilt hat und wir auf einmal nebeneinandersaßen. Ich hatte auf jemanden gehofft, den ich rumkommandieren könnte, um uns beiden auf die Art eine Eins zu verschaffen – so habe ich es bei Gruppenprojekten bisher praktisch immer gemacht. Doch zu meiner Überraschung hatte Jacob ganz eigene Ansichten zu der Frage, welche Primärquellen sich am besten für eine auf Dokumenten basierende Untersuchung der Sozialreformen eignen würden, die zum Bürgerkrieg geführt hatten. Volle zwei Wochen lang lagen wir im Clinch, bis wir zu einer Übereinkunft kamen. Als wir eine Eins für unsere Arbeit kassierten, hob er mich vor der versammelten Klasse hoch und wirbelte mich herum.

Jetzt setze ich mich auf meinen Platz, hole ein Truthahnsandwich aus meiner Tasche und nicke Dean Shepherd zu, der sein Tablett neben dem von Chloe abstellt. Die beiden sind dieses Jahr zusammen zum Ehemaligenball gegangen, und seither versucht er ziemlich unmissverständlich, sich an sie ranzumachen. »Gehst du am Freitag zu der Party bei Emily Gerato?«, fragt er, knackt den Verschluss seiner Dr.-Pepper-Flasche und hält sie Chloe als Erstes hin.

Chloe zuckt mit den Schultern und schält ihre Clementine sauber in einem Stück ab. »Ich hab drüber nachgedacht«, räumt sie ein. »Und du?«

Ich verpasse Deans Antwort und zum Glück auch den Großteil von Joeys darauffolgendem Gelaber darüber, wie scharf Emily und ihre Freundinnen von der Tanz-AG doch alle sind – denn gerade habe ich Bex auf dem Podium am anderen Ende des Raums neben Miss Klein entdeckt, einer Biolehrerin, die erst seit September hier ist. Sie ist noch ziemlich jung, vielleicht etwa Ende zwanzig, hat dunkles, lockiges Haar, trägt eine Brille und so gut wie immer Hemdblusenkleider von Banana Republic. Sie sitzt da, die Füße in Stiefeletten mit Blockabsatz überkreuzt, und isst einen Becher Joghurt von der ausgefalleneren Sorte, während Bex über etwas lacht, das sie gerade gesagt hat.

Chloe schnippt eine Clementinenschale zu mir rüber. »Na, wer glotzt denn da so«, sagt sie und deutet mit dem Kinn Richtung Bex.

»Ich nicht!«, zische ich, leise genug, dass Jacob es nicht hört.

»Aja. Wisch dir mal lieber den Sabber vom Mund.« Chloe lacht.

Ich stoße einen theatralischen Seufzer aus. »Was soll ich machen? Du weißt doch, dass ich bei Männern in Khakihosen schwach werde.« Ich schaue wieder zu Bex und Miss Klein. »Meinst du, da läuft was?« Es wäre gelogen zu behaupten, Chloe und ich hätten kein brennendes Interesse an Bex’ Liebesleben.

»Was?« Chloe schüttelt entschieden den Kopf. »Nein.«

»Wieso nicht?«, frage ich. »Miss Klein ist doch ganz schnuckelig.«

»Also, ich weiß nicht.« Chloe wirkt nicht überzeugt. »Für eine Nachrichtensprecherin in einem Lokalsender vielleicht.«

»Ich würde sie bumsen«, so Joeys hilfreicher Beitrag.

»Dich hat niemand gefragt, Joe.« Ich wende mich wieder Chloe zu. »Ich meine ja bloß: lange Abende mit Zeugniskonferenzen, romantische Blickwechsel im Lehrerzimmer …«

»Oh mein Gott.« Chloe wirft sich einen Schnitz Clementine in den Mund. »Bist du sicher, dass das nicht deine Fantasien sind? Vielleicht solltest du dir das mit dem Journalistenberuf doch noch mal überlegen. Ich glaube, deine wahre Berufung sind Liebesromane.«

»Das ist Journalismus!«, protestiere ich und lache. »Seriöser, investigativer Journalismus zum Thema ›Völlig neue Einblicke in das Liebesleben von Amerikas wichtigstem Nationalheiligtum – unseren Lehrern‹.«

Chloe schnaubt. »Mach du nur«, sagt sie und packt die Clementinenschale wieder in ihre braune Lunchtüte. »Ich muss jedenfalls los, heute Nachmittag habe ich einen Zahnarzttermin, deshalb gehe ich früher. Ist es okay, wenn du die Besprechung ohne mich leitest?«

Chloe und ich sind in diesem Jahr Mitherausgeberinnen des Beacon und verbringen praktisch jeden freien Moment mit Bex und der restlichen Belegschaft im Büro, beugen uns über die lahmen Computer oder räkeln uns auf der schrottigen, durchgesackten Couch.

»Ja, logisch. Ich schreib dir heute Abend.« Ich winke zum Abschied und schaue zu Jacob, der schon sein zweites Hähnchensandwich verputzt hat. »Willst du denn zu der Party bei Emily Cerato gehen?«, frage ich.

»Klar«, sagt er mit einem Schulterzucken und öffnet eine Packung Oreos. »Wieso nicht?«

»Ach, weiß nicht.« Ich knabbere ein Stück Popcorn. »Ich hab mir gedacht, wir könnten uns auch den Film angucken, von dem ich dir neulich erzählt habe, den mit den Schwestern, die das Haus erben?«

»Dieses historische Ding?« Er runzelt die Stirn. »Willst du dir das nicht lieber mit Chloe oder deiner Mom ansehen?«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Womit du sagen willst, du stichst dir lieber die Augäpfel aus, als dir das anzutun!?«

»Das habe ich nicht gesagt«, verteidigt sich Jacob und bietet mir in der Hoffnung auf Frieden einen Keks an. »Wenn du willst, gehen wir natürlich.«

»Ja, ja.« Dabei weiß ich, dass er es wirklich so meint – er ist kein Spielverderber –, aber es hat keinen Sinn, ihn in einen Film zu schleppen, den er mit Sicherheit total mädchenhaft und langweilig finden wird. »Du bist vom Haken. Party klingt doch ganz lustig.«

Jacob nickt und zeigt über meine Schulter auf Bex, der in der Mensa die Runde macht wie ein Bräutigam beim Hochzeitsempfang und von jedem, ob Debattierfreak oder übelster Schlägertyp aus dem Footballteam, bereitwillig angelächelt wird. »Dein Kerl kommt her«, sagt er. »Soll ich ihn fragen, ob er mit Miss Klein v…?«

»Oh mein Gott«, sage ich und bewerfe ihn mit einem Stück Popcorn, »das ist so was von widerlich. Und außerdem habe ich davon kein Wort gesagt.« Dennoch kommt mir der Gedanke, dass Bex, wenn Jacob ihn geradeheraus fragen würde, ob er und Miss Klein ein Paar sind, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit eine ehrliche Antwort geben würde. Das ist eine seiner netten Seiten – er ist nicht wie manch anderer Lehrer versessen darauf, eine blöde Geheimniskrämerei um sein Leben außerhalb der Schule zu machen. Neulich hat er uns im Unterricht erzählt, dass er auf der Fahrt zur Schule einen Strafzettel wegen zu hoher Geschwindigkeit bekommen hätte – am Abend davor war er bis spät in die Nacht bei der Party eines Freundes, der gerade einen Band Kurzgeschichten publiziert hatte, und da hat Bex verschlafen. Und am Tag mit dem Fototermin hat er sein eigenes Jahrbuch aus der Elften mitgebracht und ließ uns über seine Muschelkette und seinen Stachelkopf während der Nullerjahre lachen.

Jetzt bleibt er einen Moment bei unserem Tisch stehen, witzelt mit Dean herum und fragt Jacob nach dem Lacrossespiel von gestern. Eigentlich ist momentan gar keine Saison für Lacrosse, aber das Team der Bridgewater ist so gut, dass sie mit Sondergenehmigung in irgendeiner Hallenliga spielen und die Schulbusse nutzen dürfen, wenn ein Match ansteht. Jeder findet, dass die Lacrosse-Leute was Besonderes sind. Ich finde das vielleicht auch, obwohl es mich ehrlich gesagt nervt, dass sie das offensichtlich wissen.

»Haben Sie Ihr Hähnchensandwich gekriegt?«, frage ich Bex.

Er nickt ernsthaft. »Oh ja.« Dann greift er über meine Schulter nach der Popcorntüte und nimmt sich eine Handvoll heraus.

»Entschuldigung?!«, sage ich, dabei habe ich eigentlich gar nichts dagegen.

Bex zuckt mit den Schultern. »Schulsteuer«, sagt er und grinst. »Besprich das mit deinem zuständigen Abgeordneten.«

Ich greife nach der Tüte, aber er hält sie zum Spaß hoch über meinen Kopf und lacht über meine jämmerlichen Versuche, sie zu fassen zu kriegen, da hören wir, wie Direktor DioGuardi sich hinten auf dem Podium räuspert.

»Bitte alle einmal herhören, meine Damen und Herren«, sagt er und stemmt die Hände in die Hüften wie ein Bodybuilder in einer Karikatur. Bevor er in die Verwaltung wechselte, war er Sportlehrer gewesen, und das sieht man auch jetzt noch, an seinen fleischigen Unterarmen und seinem Oberkörper, der wie ein auf die Spitze gestelltes Dreieck in seinem kastanienbraunen Hemd steckt. Er trägt eine Trillerpfeife um den Hals, mit der er uns bei Versammlungen und Sonderveranstaltungen in Schach hält und die er sich manchmal auch in den Mund steckt, wenn er über etwas nachdenkt, als wäre er ein Säugling mit einem Schnuller. Letztes Jahr haben sich sämtliche Lacrossespieler als Direktor DioGuardi verkleidet.

»Wenn Sie mir einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit schenken könnten, möchte ich mit Ihnen über Ihr und mein Lieblingsthema sprechen – die Bekleidungsvorschriften!«

»Oh Mann«, murmelt Bex, so leise, dass nur ich es hören kann, dann drückt er mir kurz die Schulter durch den Pullover meiner Schuluniform hindurch, richtet sich auf und schlendert zurück zum Podium. »Auf geht’s.«

Ich sehe ihm erstaunt nach – eine so ungefilterte Reaktion bekommt man selten von einem Lehrer, nicht mal von einem so coolen wie Bex. Andererseits ist DioGuardi berüchtigt für seine lächerliche Besessenheit von den Bekleidungsvorschriften. Ich fand es nie schlimm, eine Schuluniform zu tragen – es hat was, wenn man sich nicht jeden Tag Gedanken um ein schickes Outfit machen muss –, aber seit Neuestem ist DioGuardi auf dem Kriegspfad und kommt gefühlt jede Woche mit neuen Regeln zu allem und jedem, von der Rocklänge über Make-up bis zu der Frage, wie groß unsere Ohrringe sein dürfen. Wobei es sich anscheinend von selbst versteht, dass für die Jungs offenbar keinerlei Vorschriften gelten.

Ich schaue zu Jacob, aber der scrollt sich völlig ungerührt unter dem Tisch durch Instagram.

»Auf geht’s«, wiederhole ich und wappne mich für die endlose Prozedur.

Nachmittags sitze ich auf der uralten Couch im Büro der Schülerzeitung und arbeite mich durch ein Matheproblem, da erscheint Bex in der offenen Tür. Es ist schon nach fünf, unsere Besprechung war schon vor ein paar Stunden zu Ende, aber ich muss warten, bis Mom mich abholt.

»Hey«, sagt er und schaut auf die Uhr über dem Whiteboard. »Hast du eine Mitfahrgelegenheit?«

»Oh ja«, sage ich. Er trägt ein Jackett aus offenbar butterweichem Leder, seine dunklen Locken reichen bis über den Kragen. Es heißt, er hätte sich sein Studium mit Modeln finanziert – angeblich hat letztes Jahr eine aus der Elften die Bilder aus dem Netz ausgegraben, Chloe und ich konnten sie aber selbst nie finden –, und jetzt gerade kann ich mir das gut vorstellen. »Meine Mutter kommt bald. Ich habe natürlich einen Führerschein, aber wir haben nur ein Auto. Und meine Schwester ist immer mit diesem Schachkram zugange, deswegen.« Ich zucke mit den Schultern.

Bex zieht die Augenbrauen hoch. »Welcher Schachkram?«

»Meine kleine Schwester ist Schachmeisterin von Massachusetts«, erkläre ich ihm leicht verlegen. »Sie hat Unterricht bei so einem schrulligen alten Typen in Brookline. Normalerweise würde mich einfach mein Vater abholen, aber er hatte ein Meeting, und Chloe musste zum Zahnarzt, deshalb …« Ich klappe den Mund zu – wieso sollte ich ihn mit den banalen logistischen Details meines Lebens langweilen? »Jedenfalls, bei mir ist alles gut.«

Bex lächelt bloß. »Na, komm«, sagt er und nickt in Richtung Parkplatz. »Ich kann dich fahren.«

»Oh.« Ich schüttle instinktiv den Kopf und ziehe die Ärmel meines kratzigen blauen Uniformpullis über meine Hände. »Nein, ist schon okay, das brauchen Sie nicht zu tun.«

Bex zuckt mit den Schultern. »Ich würde es nicht anbieten, wenn ich es nicht ernst meinte«, sagt er leichthin. »Sonst rumpeln hier bald nur noch du und Mr. Lyle herum.« Mr. Lyle ist der Hausmeister, ungefähr zwei Meter zehn groß und um die Schultern fast genauso breit. Hinter seinem Rücken nennen ihn alle Hodor.

»Pack dein Zeug zusammen.«

Ich sehe aus dem Fenster, zu den Kiefern, hinter denen violettblau die Dämmerung einfällt, und dann wieder zu Bex. »Okay«, sage ich schließlich, schlucke die Aufregung herunter und greife nach meinem Rucksack. »Klar, danke.«

Ich schreibe Mom eine Nachricht, dass ich woanders mitfahren kann, und folge Bex durch den leeren Flur runter zum Lehrerparkplatz. Unterwegs erkläre ich ihm, wie er fahren muss. Er hat einen ramponierten Jeep mit einem bröckeligen Bernie-Sanders-Sticker auf der Stoßstange. Drinnen riecht es nach Kaffee. Auf der Rückbank liegt eine zusammengeknautschte Sporttasche. Als Bex den Motor anlässt, erklingt melancholischer, gitarrenlastiger Indie-Folk – Bon Iver, glaube ich, aber vielleicht nur, weil er schlicht der einzige Musiker aus dem Genre ist, dessen Namen ich kenne.

»Ich weiß schon, ich bin die reinste Karikatur meiner selbst«, sagt Bex und nickt zu der Stereoanlage hin, während wir vom Parkplatz rollen. »Fehlt nur noch der Holzfällerbart.«

»Nein, ist schon okay«, sage ich lächelnd. »Ich mag es auch, draußen im strömenden Regen zu stehen und mir die Augen auszuheulen.«

Bex bricht in schallendes Gelächter aus. »Das hat meine Ex-Freundin auch immer gesagt«, gesteht er. »Sie nannte es ›Mann-Traurig-Hund-Tot-Musik‹.«

Ich lache mit, auch wenn mir bei dem Wort Ex-Freundin ein bisschen kribblig wird. Wie sie wohl war? Ob sie hübsch war? Aber am meisten interessiert mich, warum sie sich getrennt haben.

Für einen Lehrer konnte man mit Bex immer schon extrem gut reden, und während der Fahrt hält er das Gespräch am Laufen – über DioGuardi und die Bekleidungsvorschriften, aber auch über ein Konzert, das er kürzlich in Boston besucht hat, und über eine Reihe von Autorenlesungen im Harvard Bookstore, die ich seiner Meinung nach mal auschecken sollte.

»Also du und Jacob Reimer, stimmt’s?«, fragt er und stellt die Musik leiser, während wir über den VFW Boulevard fahren, vorbei am Stop & Shop und dem PetSmart. »Scheint ein netter Kerl zu sein.«

»Oh!« Wer hat ihm davon erzählt? Die Frage steht mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn Bex macht mich übertrieben nach, die Augen weit aufgerissen, der Mund ein perfektes O.

»Ich weiß das eine oder andere«, sagt er und grinst. »Ihr denkt alle, Lehrer wären blinde und taube Dinosaurier, die keine Ahnung haben, was so vor sich geht.«

»Nein, das denke ich nicht!«, wende ich protestierend ein.

Um Bex’ Mund zuckt es. »Ja, ja.«

»Wirklich nicht«, gebe ich zurück und muss ein bisschen kichern. »Und ja, Jacob ist der Hammer.«

»Gut«, sagt Bex und schaut über die Schulter, bevor er auf die Abbiegespur wechselt. Seine langen Finger ruhen lässig am unteren Rand des Steuers. »Die meisten Jungs an der Highschool sind mehr oder weniger wie eine Mailbox auf zwei Beinen. Du hast recht, wenn du auf einem Supertypen bestehst.«

Vor Freude werde ich rot, was ich so gar nicht von mir kenne. Heiß und brennend steigt es mir über die Brust hinauf, und ich bin froh, dass ich einen Schal trage. »Danke«, sage ich und fummle an dem klebrigen Reißverschluss der Außentasche meines Rucksacks herum, zerre vergeblich an dem Häkchen.

Bex zuckt mit den Schultern. »Es stimmt ja.«

Ich nicke. »Äh, da sind wir«, sage ich und weise mit dem Kopf auf mein kleines Elternhaus im Kolonialstil. »Noch mal danke fürs Mitnehmen.«

»Kein Problem.«

»Bis morgen.« Ich stoße die Beifahrertür auf.

»Hey, Marin.« Er legt eine Hand auf meinen Arm, als ich aussteigen will. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, es fährt mir durch sämtliche Knochen. »Nur zur Sicherheit – äh, erzähl besser niemandem aus der Schule, dass ich dich nach Hause gefahren habe.«

»Oh«, sage ich überrascht. »Okay.«

»An meinem letzten Arbeitsplatz war es anders – es war ein Internat, deshalb habe ich ständig Schüler durch die Gegend gefahren, verstehst du? So ungefähr einmal pro Woche hatte ich sogar Schüler zum Abendessen bei mir. Aber hier …« Er verstummt. »DioGuardi führt ein anderes Regiment.«

»Nein, nein, vollkommen klar.« Es ist mir neu, dass er an einem Internat gearbeitet hat, bevor er zur Bridgewater kam. Auf der Stelle werde ich irre eifersüchtig auf all die Schüler, für die er je gekocht hat. »Ich werde nichts sagen.«

»Danke, Kumpel.« Sein Lächeln wirkt ein bisschen verschämt. »Schönen Abend noch.«

»Ihnen auch.« Ich lasse die Beifahrertür sacht ins Schloss fallen und winke ihm zu, wobei ich mir doof vorkomme. Bis der Jeep außer Sicht ist, bleibe ich auf dem dunklen Rasen stehen.

2. KAPITEL

Emilys Party findet zwei Tage später statt. Jacob holt mich mit dem Subaru ab, den seine Eltern ihm zum siebzehnten Geburtstag geschenkt haben, und wir fahren noch bei Chloe vorbei.

»Hey«, sage ich und drehe mich zu ihr um, während sie sich auf der Rückbank von ihrem flauschigen Schal befreit. Aus dem Lautsprecher schmachtet Whitney Houston, und im Wagen riecht es durchdringend nach dem Rasierwasser, von dem Jacob schwört, dass er es nicht auf die Heizungslamellen sprüht. »Wo warst du heute Nachmittag? Ich dachte, wir wollten das Layout machen.«

Chloe schüttelt den Kopf. »Bin bei der Arbeit eingesprungen. Rosie musste zum Arzt. Sorry, ich wollte dir eigentlich noch schreiben. Es war auf den letzten Drücker.«

Chloes Eltern haben ein griechisches Restaurant, das Niko’s. In der achten Klasse haben wir beide angefangen, dort zu jobben, erst Geschirrabräumen, mittlerweile Servieren.

»Bex war auch nicht da«, meckere ich, ziehe ein Bein unter mich und schalte die Heizung niedriger. »Es waren bloß Michael Cyr und ich, was heißt, dass ich mir eine geschlagene Stunde lang anhören musste, dass er gerade Breaking Bad entdeckt hat und Walter White sein neuer Held ist.«

»Bloß du und Michael Cyr, soso.« Jacob wirft mir einen Blick zu. »Sollte ich eifersüchtig sein?«

»Nur wenn du dich von einem Typen bedroht fühlst, der seine besten Freunde alle auf Reddit kennengelernt hat.« Ich pieke ihm in den Brustkorb. Jacob packt meine Finger und drückt zu. Chloe verdreht die Augen.

Emily wohnt in einem weitläufigen Landstilhaus in einer Siedlung aus den 1950er Jahren mit lauter identischen weitläufigen Landstilhäusern, die in verschiedenen Pastelltönen gestrichen sind.

»Als ich in der zweiten Klasse war, bin ich aus dem Bus ausgestiegen und glatt ins falsche Haus gegangen«, sagt sie, führt uns durch den Flur und nimmt ein paar Flaschen Bier aus einem Kühlschrank neben der Hintertür. »Die alte Dame, sie hieß Gloria, hat mir gesagt, ich soll mich an den Küchentisch setzen, und hat mir auf die Schnelle ein Brot gebacken, und ab da war sie für ungefähr drei Jahre meine beste Freundin, bis sie gestorben ist.«

Jacob taucht sofort bei seinen Lacrosse-Kumpels ab – Joey und Ahmed, Gray Kendall und noch ein paar andere Typen. Es geht das Gerücht um, dass Gray letztes Jahr von seiner Eliteschule geflogen ist, weil er die Sorte von wilden Partys geschmissen hat, nach denen die Gäste im Krankenhaus landen, weil sie bunte Waschmittelkapseln mit Bonbons verwechselt haben. Binnen knapp drei Monaten an der Bridgewater hat er schon mit praktisch jedem Mädchen rumgemacht – eine endlose Parade hoffnungsvoll blickender Acht- und Neuntklässlerinnen, die sich an Spieltagen vor der Umkleidekabine herumdrücken. Es ist zutiefst peinlich für alle Beteiligten, auch wenn ich zugeben muss, dass er wirklich verboten gut aussieht.

Chloe und ich machen es uns auf der Treppe zum ersten Stock gemütlich und hören zu, wie Cardi B blechern aus dem Bluetooth-Lautsprecher auf dem Wohnzimmertisch rappt. Ein paar unbeholfen wirkende Typen aus der Neunten scharen sich um ein Handy, auf dem ein Video läuft. Deanna Montalto, die immer ziemlich nuttig wirkt, lümmelt neben Trina Meng auf dem Sofa.

»Hast du von der Sache mit Deanna und Tyler Ramos in der Aula gehört?«, flüstert Chloe mir zu und fährt mit dem Daumen um den Rand ihrer Bierflasche. »Ich habe das Gefühl, sie ist der eigentliche Grund für die neuen Kleidervorschriften.«

»Das von wegen, keine Kniestrümpfe mehr?« Emily lässt sich mit einer Dose Spiked Seltzer neben uns auf die Treppe plumpsen. »So was von dämlich.«

»Allerdings«, sage ich. »Erklär mir doch mal einer, wieso diese Prachtkerle ausgerechnet von unseren Knien dermaßen abgelenkt sein sollen, dass sie keine Hausaufgaben mehr machen können.« Ich stehe auf und ziehe über das Geländer hinweg Jacob ein bisschen aus seiner Lacrosse-Meute heraus. »Kann ich dich was fragen?«, setze ich an und verschränke unsere Finger ineinander. »Wieso würdet ihr Vollidioten besser lernen, wenn wir in Zukunft nur noch Strumpfhosen tragen?«

»Würden wir nicht«, schießt Jacob sofort zurück und grinst spitzbübisch. »Allerdings wäre Charlie Rinaldi damit um seine ansehnlichen Nebeneinnahmen gebracht – um die Fotos, die er in der Mensa unter dem Tisch von euch macht und online vertickt.«

Joey und Ahmed biegen sich vor Lachen. Selbst Chloe muss schmunzeln.

»Du bist ein Ekelpaket«, sage ich zu Jacob und gebe ihm einen Klaps auf den Ellbogen, muss aber selbst lachen.

Der Einzige, der ernst bleibt, ist Gray, der sein schlaksiges Gestell an den untersten Treppenpfosten gelehnt hat. »Braucht wer ein Bier?«, fragt er und hält seine leere Flasche hoch, tippt wie zum Gruß daran und geht.

»Der Typ ist echt schräg«, sagt Jacob und legt mir einen Arm um die Schulter. Ich sehe Grays breites Kreuz in der Menge verschwinden.

Die Party ist früh zu Ende – wie sich herausgestellt hat, hatten Emilys Eltern keine Ahnung, dass überhaupt eine stattfinden sollte, und waren nicht sonderlich begeistert, als sie nach dem Theater wieder zu Hause einliefen und dort zwei Dutzend Teenager, hübsch auf alle Möbelstücke verteilt, vorfanden.

»Wieso zum Teufel hat Emily nicht geschnallt, dass sie sich einen Einakter angesehen haben?«, fragt Chloe, als wir durch den Vorgarten zu Jacobs Auto flitzen. In dem beißenden Novemberwind flattert ihr Schal hinter ihr her.

»Vielleicht hätten wir ihnen sagen sollen, sie wären im falschen Haus«, gebe ich zurück, was erst sie, dann mich in haltloses Gelächter ausbrechen lässt. Bis wir es geschafft haben, uns anzuschnallen, scheint Jacob drauf und dran zu sein, uns einfach an der Straße stehen zu lassen. »Ein bisschen Mitgefühl mit eurem nüchternen Chauffeur, bitte sehr.«

»Sorry, sorry«, beruhige ich ihn, muss aber immer noch kichern. Bestimmt findet er Chloe und mich zusammen ziemlich nervig, ist aber zu lieb, um was zu sagen. »Fahren wir.«

Es stellt sich heraus, dass wir alle drei am Verhungern sind, also holen wir uns beim rund um die Uhr geöffneten Drive-in von McDonalds Pommes und Milchshakes, dann setzen wir Chloe bei sich zu Hause ab.

»Sehen wir uns morgen bei der Arbeit?«, frage ich und drehe mich zu ihr auf der Rückbank um. Normalerweise haben wir samstags die gleiche Schicht, doch jetzt schüttelt sie den Kopf.

»Ich hab morgen frei«, sagt sie, hebelt ihren Milchshake aus dem Getränkehalter und hängt sich die Tasche um ihre schmale Schulter. »Ich bin das Wochenende über bei Kyra.«

Ich runzle die Stirn. »Echt?«

Kyra ist ihre etwas jüngere Cousine. Sie lebt in Watertown und ist schwer in eine griechisch-orthodoxe Jugendgruppe involviert. Ich kenne sie seit Jahren von Chloes Geburtstagspartys und finde sie mit ihrer klaren Linie cool, aber sie und Chloe stehen sich definitiv nicht besonders nahe.

»Wieso?«

Chloe zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung, meine Eltern wollen, dass wir uns anfreunden. Vielleicht hoffen sie, dass sie mir Gebete auf Griechisch beibringt.«

»Oh Mann«, necke ich sie. »Viel Glück, Kyra.«

»Ja, ja«, sagt Chloe genervt. »Danke fürs Mitnehmen, Jacob. Dann bis Montag.«

Sobald sie im Haus ist, schaut Jacob zu mir, seine scharfgeschnittenen, vertrauten Gesichtszüge matt erleuchtet vom Armaturenbrett. »Musst du gleich nach Hause?«

Ich zögere und sehe auf die Uhr. Tatsächlich muss ich erst in einer guten Stunde zu Hause sein, aber ich weiß, was eigentlich hinter seiner Frage steckt, nämlich ob ich Lust habe, noch mit ihm zum Parkplatz zu fahren und ganz hinten unter den Bäumen ein bisschen rumzumachen. »Ähm.«

»Wir gehen natürlich nur so weit, wie es für dich okay ist«, sagt Jacob schnell.

»Wow, danke.« Ich schneide eine Grimasse.

»Jetzt komm schon.« Jacob ist gekränkt. »Du weißt, was ich meine. Ich bin keiner von diesen Vollpfosten, die Druck machen. Ich dachte bloß …«

»Das weiß ich.« Ich bringe ihn mit erhobener Hand zum Schweigen und bin zugleich ein bisschen verlegen. Jacob hat ja völlig recht – er hat mir nie vorgehalten, dass wir noch nicht miteinander geschlafen haben, obwohl ich seine leise Enttäuschung bemerke, wenn wir dies und das machen und ich schließlich Stopp sage. Und es liegt auch nicht daran, dass ich nicht wollen würde. Was ich neulich zu Bex gesagt habe, war ernst gemeint. Jacob ist super. Er ist schlau, alle finden ihn witzig. Meine Güte, er ist Co-Trainer im Basketballteam seines kleinen Bruders. Und auch wenn ich manchmal noch immer darauf warte, dass es Tsching! macht und ich irgendwie erkenne, DER ist es – also bitte, wir sind hier an der Highschool und nicht in irgendeiner Liebeskomödie bei Netflix. Es gibt keinen Grund, wegen der ganzen Sache so rumzuzicken.

Schließlich seufze ich und ziehe mit einem Finger sanft am Gurt über Jacobs Brust. »Fahren wir«, sage ich.

Jacob lächelt.

3. KAPITEL

Am folgenden Wochenende hat Gracie ein Schachturnier am Harvard Square, also trotte ich mit meinen Eltern mit, um ihr zuzusehen. Bei Schachwettbewerben sind die verschiedenen Zusammenstellungen selbst auf Mittelschulebene – vor allem auf Mittelschulebene – noch komplizierter als die Setzliste beim March Madness-Basketballturnier. Das heißt, im Laufe der Jahre habe ich grausam viel Zeit damit zugebracht, in irgendwelchen Sälen zu sitzen und darauf zu warten, dass meine Schwester an der Reihe ist und vermeintliche Wunderkinder aus Newton und Andover in Grund und Boden spielt.

Heute zieht es sich noch zäher hin als üblich, der kleine Bruder von irgendwem tritt regelmäßig von hinten gegen meinen Stuhl, und die trockene, unwillkommene Hitze bringt mich zum Gähnen. Gracie sitzt neben mir, hat den Kopf an den roten Samtbezug ihres Stuhls gelehnt, die Augen geschlossen und hört Weihnachtsmusik. Mein Handy brummt – Jacob hat mir ein Bitmoji von sich mit heraushängender Zunge auf einem Snowboard geschickt. An dem Abend von Emilys Party habe ich ihn – wieder einmal – aufgehalten, bevor es zu weit ging, aber er scheint nicht beleidigt zu sein. Dieses Wochenende ist er bei seinem Cousin in Vermont, also wahrscheinlich zu begeistert davon, die »Berge abzurasieren« – seine Formulierung, nicht meine –, und ärgert sich nicht mehr, dass er mir nicht an die Wäsche gehen konnte.

»Ich suche mir einen Coffeeshop und mache ein paar Hausaufgaben«, flüstere ich schließlich.

Mom nickt. »Aber geh nicht zu weit weg«, weist sie mich an, fischt einen Zehndollarschein aus ihrer Handtasche und gibt ihn mir. »Ich gebe dir Bescheid, wenn sie dran ist.«

Letztlich lande ich in dem großen Starbucks nahe der U-Bahn-Station. Die feuchtkalte Witterung lässt die Fenster beschlagen. Ich hole meinen Laptop aus dem Rucksack und beäuge die Touristen und Collegekids, die Hipster mit ihren Tattoos und Undercuts in der Warteschlange. Manchmal denke ich, es wäre cool, ein bisschen mehr wie sie auszusehen, es mal mit pinken Haaren oder einem Augenbrauenpiercing oder so zu versuchen. Doch dann stelle ich mir die verdatterten Blicke und die höhnischen Kommentare vor, die ich mit Sicherheit kassieren würde, wenn ich je mit so was an der Bridgewater aufkreuzen würde, und finde es dann doch sicherer, nicht herauszustechen.

»Marin?«

Ich sehe hoch und schnappe nach Luft. Um ein Haar hätte ich meinen Latte verschüttet: Vor mir steht Bex in Jeans und einem abgeranzten Kapuzenpulli. Mit seiner Brille und dem Kaffeebecher, der Messenger Bag über seiner Schulter und dem Laptop unter dem Arm sieht er aus wie ein Collegestudent, der über das lange Wochenende nach Hause gefahren ist. »Dachte ich mir doch, dass du es bist«, sagt er.

»Oh!« Ich stelle meinen Becher ab und lächle ihn an. »Hi.«

»Tschuldigung«, sagt er, »bist du jetzt traumatisiert?« Er grinst. »In der ersten Klasse habe ich unsere Direktorin mal am Pool gesehen und mich, glaube ich, nie richtig davon erholt. Eine Nonne im Badeanzug, nur damit das Bild sich bei dir so einbrennt wie bei mir.«

Ich sehe ihn überrascht an. »Nonnen dürfen Badeanzüge tragen?«

»Offenbar ja.« Bex schaudert, dann deutet er mit dem Kinn zu meinem Laptop. »Woran arbeitest du gerade?«

Ich schaue auf den Bildschirm und dann wieder zu Bex. »Mein Motivationsschreiben für die Brown University.«

»Tatsächlich?« Er runzelt die Stirn. »Da ist bald Abgabetermin, stimmt’s? Es sieht dir gar nicht ähnlich, das so lange aufzuschieben.«

»Ehrlich gesagt ist es fertig«, sage ich und freue mich, dass er mich in letzter Zeit scharf genug im Auge gehabt hat, um zu wissen, was mir ähnlich sieht und was nicht. »Also, in dem Sinn, dass es ein Essay mit fünf Absätzen, mit Anfang, Mittelteil und Schluss ist. Ich gehe es nur noch mal durch, damit es auch absolut hundertprozentig sitzt.«

»Der Fluch der Perfektionisten.« Bex lächelt verständnisvoll. »Soll ich es mir mal ansehen?«

Ich schüttle den Kopf. »Das müssen Sie nicht.«

»Nein, im Ernst«, sagt er. »Ich möchte es gern.« Er legt sein arg mitgenommenes MacBook auf den Tisch. »Na los, zeig mal her.«

»Was, jetzt sofort?«

»Fällt dir ein besserer Zeitpunkt ein?« Er setzt sich mir gegenüber und streckt die Hände nach meinem Laptop aus. Ich schließe meinen Browser – Bex muss ja nicht unbedingt wissen, dass ich rumgetrödelt und nach Fanfiction zu Riverdale gesucht habe –, dann reiche ich ihm das Ding rüber und halte mich an meinem leeren Becher fest.

»Also, ich kann hier nicht rumsitzen und zusehen, wie Sie das lesen«, verkünde ich keine fünf Sekunden später, stehe auf, um mir noch einen Latte zu holen. Während ich in der Schlange stehe, blicke ich unwillkürlich zu Bex und checke seine Miene. Seine Augen hinter der Schildpattbrille wirken ernst. Die schwache Nachmittagssonne zaubert etwas Gold in sein Haar.

Ein paar Minuten später komme ich zum Tisch zurück und kaue auf meiner Unterlippe herum.

»Das ist fantastisch«, sagt er, noch bevor ich sitze.

Ich schaffe es mit knapper Not, mir nicht die Hand vor den Mund zu schlagen. »Wirklich?«

Bex nickt. »Ganz ehrlich, Marin, ich habe schon eine Menge Motivationsschreiben gelesen, und ich würde so etwas nicht sagen, wenn es nicht stimmt. Das hier ist eine mehr als reife Leistung.«

»Danke.« Ich schaue auf meinen Becher und gebe mir Mühe, nicht zu breit zu grinsen. Er ist nicht der erste Lehrer, der mir das sagt, aber es von Bex zu hören wirkt irgendwie noch bedeutsamer. »Vermutlich werde ich trotzdem noch bis zum Abgabetermin daran herumbasteln, aber ich weiß Ihr Urteil wirklich zu schätzen.«

Bex lacht. »Ich bin genauso. Wie schon gesagt: der Fluch der Perfektionisten.« Er kippelt mit dem Stuhl nach hinten, als säße er selbst in einem Klassenzimmer. »Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber bin selber an der Brown gewesen. Wie mein Vater … und sein Vater ebenfalls.« Er lächelt ein bisschen verlegen. »Wenn du zum Vorstellungsgespräch fährst, halt mal nach dem Beckett Auditorium Ausschau.«

»Oh, wow«, sage ich mit großen Augen. Das wird ja immer besser. Ich habe davon gehört, dass seine Familie Geld hat, aber dass sie offenbar darin schwimmt … »Ja, mache ich.«

»Ich wollte nur sagen, wenn ich mal einen Anruf tätigen und ein bisschen meinen Einfluss geltend machen soll, bin ich gern dazu bereit. Keine Ahnung, ob irgendwer etwas darauf gibt, aber es kann ja nicht schaden, oder?«

»Danke.« Ich nicke und setze ein Lächeln auf. »Das wäre irre.«

Bex nickt zufrieden. »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Du hast es verdient.«

»Und, äh, was ist mit Ihnen?« Ich deute mit meinem Becher auf seinen Laptop. »Woran arbeiten Sie gerade?«

»Oh Mann.« Er schüttelt kleinlaut den Kopf. »Das willst du gar nicht wissen.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Jetzt aber raus mit der Sprache.«

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