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Ostfriesenglück

Als Buch hier erhältlich:

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Ein Wollcafé für Fenjesiel oder wie die Liebe zum Backen und Stricken, alles besser machen kann

Inklusive köstlicher Rezepte und kreativer Strickanleitungen

Anneke, gerade erst von einem tragischen Ereignis erschüttert,zweifelt an ihrer Zukunft. Alles ändert sich, als sie die lebensfrohe Konditorin Nora trifft, die in Fenjesiel Urlaub macht und ihr eeigenen Schwierigkeiten hat. Nora kennt das kleine Fischerdorf aus ihrer Kind. Oft hat sie mit ihren Großeltern dort Urlaub gemacht. Der Ort an der Küste besticht durch viel Charme und Bewohner, die alles voneinander wissen und einander helfen. Nora und Anneke sind sich auf Anhieb sympathisch. Durch ihre Freundschaft schaffen sie es, nicht nur ihre persönlichen Herausforderungen zu bewältigen, sie schmieden einen Plan für eine gemeinsame berufliche Zukunft.Ganz Fenjesiel ist in Aufruhr. Es spricht sich schnell herum, was die beiden vorhaben. Bald soll es ein neues Café geben, in dem es nicht nur Kaffee und Kuchen gibt.



  • Erscheinungstag: 20.08.2024
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908080
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Nora saß auf dem Bug des kleinen Ruderbootes und spürte das sanfte Schaukeln des Wassers unter sich. Ein leichter Sommerwind strich ihr durch das Haar, während die Sonne golden über dem Dollart glänzte. Ihr Großvater saß am Heck und zog die Ruderdollen durch das klare Wasser.

Plötzlich hörte er auf zu rudern und ließ das Boot langsam treiben. Nora sah ihn erwartungsvoll an. Ihr Großvater schmunzelte. »Habe ich dir schon die Geschichte von der versunkenen Stadt erzählt?«, fragte er.

»Nein, hast du nicht!« Nora sah auf das Wasser. »Hier? Unter uns?«

Er nickte. »Vor vielen, vielen Jahren lebten hier Menschen in einer prächtigen Stadt namens Torum. Sie hatten sieben Goldschmiede, waren sehr reich und aßen mit goldenen Löffeln von goldenen Tellern. Es gab drei Kirchen und drei Türme. Sie waren so schön, dass die Menschen die Zeit vergaßen, wenn sie sie ansahen. Aber dann …« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Die Leute in der Stadt waren vom Reichtum geblendet. Sie waren eitel und dachten nur an sich selbst. Bis …«

»Was? Erzähl weiter, Opa. Was ist mit der Stadt passiert?«, fragte Nora.

Ihr Großvater beugte sich etwas näher zu ihr und flüsterte geheimnisvoll: »Eines Tages wurde der Himmel schwarz und ein Sturm fegte über das Land hinweg. Der Wind brachte eine große Flut mit sich, die Torum verschlang. Die ganze Stadt versank im Wasser und wurde zu einem verborgenen Schatz. Kaum etwas erinnert noch daran. Doch manchmal hört man hier am Dollart noch etwas Besonderes.«

Nora sah ihren Großvater mit großen Augen an. »Was kann man hören, Opa?«

Ihr Großvater lächelte geheimnisvoll und fuhr fort: »Es heißt, dass die Glocken der versunkenen Stadt manchmal läuten. Wenn das Wasser ruhig ist und der Wind sanft darüber streicht, dann, so erzählen die Fischer, hören sie in der Tiefe des Wassers den fernen Klang der Glocken. Und bei klarem Wetter kann man auf dem Meeresgrund die Dächer der Türme und einige Häuser sehen.« Er legte den Finger auf die Lippen. »Psst!«

Nora wagte kaum zu atmen. Still saß sie neben ihrem Großvater und lauschte. Doch alles, was sie hörte, war das leise Plätschern der Wellen.

Sie beugte sich über den Bootsrand und schaute mit zusammengekniffenen Augen aufs Wasser. Es war grau und trüb. »Da ist nichts«, sagte sie enttäuscht. »Bist du sicher, Opa, dass es die Stadt gibt?« Sie sah ihn skeptisch an. »Oder ist das nur eine deiner erfundenen Geschichten?«

Ihr Großvater nahm ihre Hand und sagte ernst: »Ja, Nora, Torum hat es wirklich gegeben. Aber selbst wenn nicht, die Geschichten und unsere Fantasie sind wie ein Schatz, den wir in unseren Herzen tragen.«

Nora überlegte einen Moment. »Du hast es also doch erfunden!«

Der Großvater schüttelte den Kopf, und mit einem Lächeln im Gesicht griff er in den Rucksack, den er bei sich trug, und holte einen kleinen Löffel heraus. Er war golden und glänzte im Sonnenlicht. »Wenn man sehr viel Glück hat, findet man hin und wieder einen Beweis dafür, dass die Stadt wirklich existiert hat.«

KAPITEL 1

Anneke

Von draußen drang Möwenkreischen zu mir ins Zimmer. Aus der Ferne hörte ich dunkles Tuckern und Stampfen, dazwischen knappe Rufe. Ein Motor brummte, dumpfes Hämmern erklang. Der Hafen erwachte. Ich hatte das Bild vor Augen, wie der erste Kutter sich zum Auslaufen bereit machte.

Ich schlug die Augen auf. Der Morgen dämmerte.

Eine kurze Weile lag ich still da, starrte an die Decke und lauschte den Geräuschen. Sie waren mir seit meiner Geburt vertraut, denn ich war genau hier, in diesem Haus, direkt an der Ostfriesischen Küste mit Möwenkreischen, Kuttertuckern und Meeresrauschen als Begleitmusik geboren. Zumindest hatte Papa es mir immer genau so erzählt.

Wie gern hätte ich diesen kleinen Moment zwischen Schlaf und Wachsein festgehalten. Diesen Bruchteil einer Sekunde, in der die Welt noch in Ordnung und alles gut zu sein schien. Doch schon mit dem nächsten Atemzug war die trügerische Leichtigkeit vorbei.

Nichts war in Ordnung und meine Welt nicht mehr so, wie ich sie kannte. Sie würde nie mehr so sein. Wie Blei legte sich die Wahrheit über mich und drohte mich zu erdrücken.

War es wirklich erst acht Wochen her, dass meine Eltern diesen schrecklichen Unfall gehabt hatten? Erst sechs Wochen, seit wir sie beerdigt hatten?

Die kleine Kirche war bis auf den letzten Platz belegt gewesen, ganz hinten hatten sogar ein paar Leute dem Trauergottesdienst stehend beiwohnen müssen. Meine Eltern waren beliebt gewesen in Fenjesiel. Wertvolle Mitglieder unserer Gemeinde hatte der Pfarrer sie genannt. Freunde und Bekannte hatten sich zuerst in der Kirche und dann auf unserem kleinen Friedhof versammelt, um Peter und Sabine zu verabschieden und mir an diesem Tag beizustehen. Und doch hatte ich mich mitten zwischen all den Menschen so allein gefühlt wie noch nie.

Wie in Trance hatte ich die Umarmungen und das Händeschütteln über mich ergehen lassen. Ich hatte mich bedankt, genickt, einzelne Worte und kurze Sätze gewechselt, ohne zu begreifen, was eigentlich gesprochen wurde. Ich hatte so neben mir gestanden, dass ich nicht einmal geweint hatte – erst nachts, als ich im Bett gelegen und die Stille des leeren Hauses in meinen Ohren gedröhnt hatte, waren die Tränen geflossen.

Bei Kaffee und Kuchen hatten die Leute nach der Beerdigung Geschichten erzählt und so die Erinnerung an Peter und Sabine noch einmal lebendig werden lassen. Die Lütte, die einmal samt ihrem Cockerspaniel im Hafenbecken gelandet war. Peter, der beim Boßeln nach einigen Schnäpsen statt der Kugel versehentlich mit viel Schwung sein Handy geworfen hatte. Die beiden frisch verliebten Teenager beim Maitanz, als der Pfarrer sie knutschend hinter der Kirche erwischt und ihnen die Ohren lang gezogen hatte. Sie erinnerten an die Hochzeit der beiden und wie es gewesen war, als sie das Haushaltswarengeschäft von Mamas Eltern übernommen hatten und in die kleine Wohnung über dem Laden gezogen waren. Das Haus, in dem ich geboren worden war, hatten sie erst gekauft, als Mama mit mir schwanger gewesen war.

Irgendwann hatten sich die Fenjesieler die Kuchenkrümel aus den Mundwinkeln gewischt, einen letzten Schnaps auf das Wohl der Gegangenen gekippt und waren in ihre eigenen Leben und in ihren Alltag zurückgekehrt. Nur ich nicht. Ich hatte kein eigenes Leben mehr. Keinen Alltag.

Es fühlte sich an, als sei das alles erst gestern gewesen. Acht Wochen, und ich hatte noch immer keine Idee, wie es weitergehen sollte.

Mit der rechten Hand tastete ich nach meinem Handy und aktivierte den Bildschirm. Es war kurz vor sechs. Schlafen würde ich nicht mehr können, also schlug ich die Decke zurück und schwang meine Beine über die Bettkante. Als ich zum Fenster hinausblickte, sah ich, dass ein strahlend schöner Spätsommertag anbrach. Ich atmete tief durch und fasste einen Entschluss. Ich hatte jetzt lange genug in Schockstarre verharrt. Es war an der Zeit, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Heute würde ich entscheiden, wie es weitergehen sollte.

Barfuß tapste ich ins Bad. Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte ich in Bluejeans und meinen Lieblingsringelpullover. Bevor ich die Wollsocken über die Füße streifte, hielt ich sie in Händen und strich sanft über die Maschen. Mama hatte sie mir gestrickt. Ohne Schnickschnack. Ein kurzes Bündchen und den Rest glatt rechts.

»Mach doch mal was mit Muster«, hatte ich ihr immer wieder vorgeschlagen. »Zöpfe, Lace oder Fair Isle.«

Aber Mama hatte jedes Mal den Kopf geschüttelt und abgewunken. »Firlefanz kostet nur Zeit und Nerven. Es genügt doch, wenn eine in der Familie mit Nadeln zaubern kann«, hatte sie immer geantwortet und mir ein anerkennendes Küsschen auf die Wange gedrückt.

Sie war stolz auf ihre talentierte Tochter, das hatte sie bei jeder Gelegenheit betont.

»Außerdem sollen die Dinger keinen Schönheitswettbewerb gewinnen, sondern deine Füße warmhalten, Annekind«, hatte sie dann immer hinterhergeschoben.

Sie hatte mich immer Annekind genannt, und ich hatte mich immer geärgert, weil ich wollte, dass sie mich als Erwachsene sah und nicht als Kind. Wie gern würde ich ihr Annekind jetzt noch einmal hören.

Mama hatte immer vor dem Fernseher gestrickt. In einem Affentempo waren die Maschen von einer Nadel auf die andere geflogen. Eine Socke an zwei Abenden. Wenn ein spannender Film im Fernsehen lief, hatte sie auch mal eine Socke an einem Abend geschafft. Je aufregender der Film war, desto hektischer hatten Mamas Nadeln geklappert.

Ich lächelte bei der Erinnerung daran.

Oft hatten wir zusammen auf dem Sofa gesessen und gestrickt. Mama ihre Stinos, wie sie ihre stinknormalen Socken genannt hatte, und ich Tücher, Pullover, Jacken und andere hübsche Dinge. Bei mir gab es immer Schnickschnack. Im Gegensatz zu Mama liebte ich schwierige Muster und Herausforderungen.

Obwohl ich viele meiner fertigen Arbeiten an Freunde verschenkte, hatte ich selbst auch schon eine ansehnliche Sammlung von Stricksachen. Ich war seit Jahren die beste Kundin im Fenjesieler Woll-Laden Tante Erna. Dort gab es eine reiche Auswahl an besonderen Garnen, die mein Herz höherschlagen ließen und die Lust weckten, etwas daraus zu stricken. Meist kamen die Ideen, während ich die Knäuel streichelte und bewunderte. Und so verließ ich das Geschäft eigentlich nie ohne reichlich Beute. Seit ich dieses Hobby in der vierten Klasse der Grundschule für mich entdeckt hatte, machte Stricken mich glücklich.

Besonders toll fand ich es, wenn es herausfordernd war. Wenn mein Gehirn und meine Finger sich vor Anstrengung zu verknoten drohten und sich dabei unter meinen Händen ein edles Stück entwickelte, dann schüttete mein Körper Glückshormone aus. Nach meiner Überzeugung war es gerade der Schnickschnack, der das Leben schmückte und die Seele streichelte.

Socken hatte ich seit Jahren keine gestrickt. Vielleicht sollte ich damit anfangen? Ich könnte Stinos stricken und dabei an Mama denken.

Das war ein schöner Plan, ich freute mich schon darauf. Ich nahm mir vor, gleich nachher bei Tante Erna reinzuschauen und passende Wolle auszusuchen. Ab zehn war der Laden geöffnet – und das sieben Tage die Woche.

Jeden Tag von zehn Uhr, bis der Sandmann kommt – so stand es auf der Tafel neben der Eingangstür. Und genau so hielt Erna es tatsächlich. Erst wenn sie abends müde wurde, schloss sie das Geschäft und schleppte sich die Treppe nach oben. Ihre Wohnung nutzte sie während der Saison nur zum Schlafen und Duschen. Erna lebte quasi in ihrem Wollgeschäft. Im Hinterzimmer hatte sie eine kleine Küche, das genügte ihr.

Ich zog mich fertig an, schnappte mir ein leichtes Tuch und die Jacke und verließ das Haus. Bis Erna öffnete, dauerte es noch ein paar Stunden, doch die Zeit wollte ich nutzen. Ein Spaziergang würde mir ganz sicher guttun.

Gedankenverloren stand ich auf das Geländer gelehnt am Sieltor, mit Blick auf den Hafen, und sah den Wellen zu, die mit leisem Plätschern gegen die Kaimauer schwappten. Die Flut hatte den Höchststand fast erreicht. Ein paar kleine Boote schaukelten leicht auf dem Wasser, in ein paar Stunden würden sie wieder trocken liegen.

Der Lauf der Zeit, das Auf und Ab des Lebens – hier am Meer war es greifbar und in seiner Unvergänglichkeit auch immer wieder irgendwie tröstend für mich. Hier trafen sich Vergangenheit und Zukunft und nahmen mich in der Gegenwart in den Arm – genau so hatte ich es Mama einmal erklärt, ich musste fünfzehn oder sechzehn gewesen sein und hatte damals gerade den geballten Weltschmerz auf meinen Schultern gefühlt. Erwachsen zu werden war nicht einfach gewesen, aber am Meer zu leben hatte mir dabei geholfen, meinen inneren Frieden wiederzufinden. Damals. Ich hoffte darauf, dass es auch heute wieder so sein würde. Noch war die Wunde zu frisch, der Schmerz zu laut.

Ich hatte einen langen Spaziergang gemacht und dabei versucht, mir über die Zukunft klar zu werden und meinen Vorsatz vom Morgen in die Tat umzusetzen. Ich musste dringend entscheiden, wie es weitergehen sollte. Doch so einfach, wie es sich kurz nach dem Aufwachen angefühlt hatte, war es nicht. Ich war verzweifelt. Sosehr ich es mir wünschte, ich fand einfach keine Antwort.

Sollte ich beruflich umschwenken und das Geschäft meiner Eltern weiterführen? Oder bei dem neuen Arzt anfragen, ob er mich anstellen wollte? Ich war zwar Krankenschwester, hatte aber sechs Jahre als Arzthelferin gut mit Doktor Petersen zusammengearbeitet, bis er vor zwei Monaten – kurz vor dem Unfall meiner Eltern – die Praxis aus Altersgründen geschlossen hatte. Den Gerüchten nach sollte demnächst ein neuer Hausarzt die im Moment leer stehende Praxis übernehmen. Als ich vor ein paar Tagen bei Bente und Bente in der Buchhandlung gewesen war, hatte Matta mir erzählt, dass Doktor Paul Sievers aus dem Krankenhaus aus Leer nach Fenjesiel wechseln würde. Mehr hatte sie aber nicht gewusst.

»Vielleicht ist er ja Junggeselle, dann schnappst du ihn dir, Anneke«, hatte sie noch hinterhergeschoben und mir vielsagend zugezwinkert. Natürlich lautstark wie immer, sodass Bente im Büro und vermutlich halb Fenjesiel es gehört hatten. Ich hatte nur die Augen verdreht und war ohne Buch gegangen.

Matta war schwerhörig und weigerte sich, ihr Hörgerät zu tragen. Deshalb sprach sie immer viel zu laut. Aber dass Fenjesiel mich gern verkuppeln würde, war auch kein Geheimnis. Seit ich Hennrik vor bald einem Jahr verlassen hatte, waren alle der Meinung, ich bräuchte wieder einen Mann. Dabei wollte ich gar keinen. Ich hatte keine Lust, mich wieder zu binden – zumindest nicht im Moment. Irgendwann vielleicht, ich würde schon merken, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Aber Matta und die anderen glaubten mir nicht und wurden nicht müde, immer neue Verkupplungsversuche zu starten.

Vielleicht brauchte ich eine Luftveränderung? Ich könnte mich in Emden oder Leer im Krankenhaus bewerben. Krankenschwestern wurden doch immer gebraucht. Was hielt mich noch hier in Fenjesiel?

Der Wind wehte mir immer wieder die Haare ins Gesicht. Anfangs strich ich die Strähnen automatisch mit einer Hand wieder nach hinten, irgendwann ließ ich es geschehen und blickte durch den hellbraunen Vorhang meiner Locken hindurch.

Der Fenjesieler Hafen war das Herz des Ortes. Hier auf dem Platz direkt neben der Anlegestelle fand zweimal wöchentlich der Markt statt, wo Bauern, Fischer, Händler und Künstler ihre Waren feilboten. Straßenmusiker und Gaukler fanden sich auf dem Platz ein, um den Menschen ihr Können zu präsentieren, um zu unterhalten, gute Laune zu verbreiten und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich mochte den Hafen schon, seit ich ein kleines Kind war. Hier war immer etwas los, es gab immer etwas zu sehen, das Leben pulsierte. Wenn man jemanden treffen wollte, war der Hafen der richtige Ort.

Am Pier lagen einige Kutter, das Boot der Seenotrettung, eins der beiden Ausflugsschiffe und Jontes Hausboot. Das Bullauge war verdeckt, vermutlich schlief er noch. Er machte oft die Nacht zum Tag.

Jonte war ein Weltenbummler – oder Lebenskünstler, wie er sich selbst gern nannte. Er war im Herbst vor einem Jahr in Fenjesiel angekommen. Er lebte auf seinem Hausboot, an dem er seit Monaten schraubte, hämmerte und erneuerte. Wenn er Geld brauchte, schnappte er sich seine Gitarre, setzte sich auf den Marktplatz und spielte Musik.

Ich mochte Jonte. Er war immer gut gelaunt und erzählte spannend und unterhaltsam von seinen Reiseerlebnissen. Wir hatten schon manchen Abend in gemütlicher Runde im Alten Fährmann verbracht.

Bevor Jonte das heruntergekommene Hausboot gekauft und damit bei uns im Hafen gelandet war, hatte er mit einem Boot die Welt umsegelt – zumindest, wenn seine Erzählungen kein Seemannsgarn waren. Manche Storys waren so wild, dass ich mir nicht sicher war.

Mein Blick fiel auf den Fischer mit Mütze auf dem Kopf und Pfeife im Mundwinkel, der neben mir am Geländer lehnte und wohlwollend über das Treiben zu wachen schien. Er war eine von etlichen Bronzeskulpturen, die es in Fenjesiel zu entdecken gab.

»Na, was siehst du?«, fragte ich ihn und grinste. Der olle Kerl gab mir wieder einmal keine Antwort. Ich machte mir manchmal einen Spaß daraus, mich mit den Figuren zu unterhalten, und erntete dafür durchaus verwunderte Blicke – besonders von Touristen. Aber das störte mich nicht. Die Einheimischen kannten mich und ließen mir mein Vergnügen.

Unten am Pier watschelte Fiete wie eine Ente auf seinen O-Beinen auf seinen Kutter zu. Fast konnte man den Eindruck bekommen, der alte Fischer hätte Modell gestanden für die Bronzefigur.

»Moin, Anneke«, grüßte Fiete, als er mich entdeckte. Wie immer hatte er seine Schiffermütze auf und eine Pfeife im Mundwinkel stecken – genau wie sein Bronzezwilling.

»Moin Fiete«, grüßte ich zurück. »Geht’s raus?«

»Jo.«

Mehr sagte er nicht. Fiete war kein gesprächiger Typ, auch das hatte er mit seinem Doppelgänger gemeinsam. Mir war es gerade recht. Ich nickte.

»Na dann: Guten Fang«, rief ich noch und wandte ich mich wieder dem Wasser zu.

Auf dem Hausboot rührte sich etwas. Das Bullauge wurde geöffnet und Jontes blonder Strubbelkopf kam zum Vorschein. Als er mich entdeckte, lächelte er und brachte damit seine Wangengrübchen zum Vorschein.

»Das nenn ich mal eine schöne Aussicht. Moin, Anneke. Bleib, wo du bist, bin gleich bei dir.«

Schon verschwand der Kopf, und das Bullauge wurde geschlossen. Ein paar Minuten später tauchte Jonte an der Luke auf. Behände kletterte er an Deck, sprang von Bord und stand Sekunden später auch schon neben mir. Sportlich war er, das konnte man nicht leugnen.

»Na, alles klar?«, fragte er gut gelaunt.

»Eher trüb wie die Nordsee nach Sturm«, rutschte es mir heraus, bevor ich nachdenken konnte. Verflixt. Das hatte ich nicht sagen wollen. Schnell zwang ich mich zu einem Lächeln. »Ich muss aufräumen«, schob ich hinterher. Ich hatte keine Lust, mit Jonte über meine Sorgen zu sprechen. Er würde meine Gefühle und Überlegungen garantiert nicht verstehen. Ich hatte Verantwortung, etwas, was er abgeschüttelt hatte.

War ich etwa neidisch auf Jontes Leichtigkeit? Der Gedanke schoss mir unerwartet durch den Kopf. Ich musterte mein Gegenüber. Strahlend blaue Augen, blonde Locken, die in alle Richtungen abstanden, und Lippen, die immer ein wenig zu lächeln schienen. Jonte strahlte Lebensfreude und Leichtigkeit aus. Unwillkürlich dachte ich an mich selbst. An das Bild, das ich heute Morgen im Spiegel gesehen hatte. Traurigkeit und Schwere. Als würde eine dunkle Wolke um mich herumwabern. Ich hatte in den letzten Wochen all meine Leichtigkeit und mein Lachen verloren. Das musste ich wiederfinden.

Schluss jetzt! Energisch gab ich mir den Befehl und straffte die Schultern.

»Tut mir leid, Jonte, aber ich muss los«, sagte ich und hob die Hand zum Gruß.

»Ich dachte, wir gehen einen Kaffee trinken«, versuchte Jonte mich aufzuhalten.

»Sorry, keine Zeit.« Schon sprang ich die Treppe zum Anleger hinunter.

Ich hatte mir heute Morgen versprochen, mich endlich zu entscheiden, und genau das würde ich jetzt auch tun. Ich wollte nur noch eben die Sockenwolle besorgen und dann in den Laden gehen. Beim Gedanken daran fühlte ich ein Flattern im Bauch. Seit dem Unfall war ich nicht mehr dort gewesen, ich musste mich dem jetzt stellen. Es gab keine andere Möglichkeit.

Der Fischkutter tuckerte Richtung offenes Gewässer. Ich sah Fiete am Steuer stehen. Dann lenkte ich meine Schritte vom Pier weg in die Hafenstraße, wo nicht nur Tante Erna, sondern hundert Meter weiter auch das Haushaltswarengeschäft Sperling lag.

Intuitiv wusste ich, dass ich dort im Geschäft meiner Eltern die Antwort finden würde, die ich so dringend suchte.

KAPITEL 2

Nora

Plötzlich war der Sommer wieder da. Seit Ende August hatte es ununterbrochen geregnet, die Tage waren grau und viel zu kalt gewesen. Doch heute schien die Sonne, das Thermometer kletterte auf über zwanzig Grad. Die Natur hatte beschlossen, den Herbst noch etwas warten zu lassen.

Ich stand am Fenster und blickte in den Biergarten, wo Luisa gerade die Vasen mit frischen Blumen auf die Tische stellte. Die weißen Freesien, die ich im Blumenladen gekauft hatte, machten sich gut auf den lindgrünen Tischdecken. Sie sahen nicht nur hübsch aus, sie dufteten auch himmlisch.

»Wie süßer Pfeffer«, hatte die Floristin gesagt. »Ist das möglich?«

»Bei rotem Pfeffer lagern sich durch den langen Reifeprozess Zuckermoleküle im Fruchtfleisch ein«, hatte ich ihr erklärt. »Nicht zu verwechseln mit den rosa Beeren, die oft fälschlicherweise als Pfeffer bezeichnet werden, aber botanisch nicht verwandt sind.«

Sie hatte mir die Blüten unter die Nase gehalten. »Riech mal.«

»Süß und tatsächlich mit einer leichten Pfeffernote«, hatte ich bestätigt.

Ein sanftes Lächeln hatte ihre Lippen umspielt. »Freesien gelten als bedingungsloses Symbol der Liebe.«

In mir hatte der Duft noch etwas anderes ausgelöst. In den letzten Monaten waren wir im Restaurant so beschäftigt gewesen, dass ich kaum Gelegenheit gehabt hatte, innezuhalten, nachzudenken, zu mir zu kommen. Wie oft hatte ich mir vorgenommen, meine Großmutter zu besuchen. Aber ich hatte es nicht geschafft, hatte mir einfach nicht die Zeit genommen, mich zweieinhalb Stunden ins Auto zu setzen, um zu ihr zu fahren. Dann hatte mich der Blumenduft in die Vergangenheit zurückversetzt. Er erinnerte mich an das blumige Parfum meiner Oma.

Was würde sie wohl sagen, wenn sie mich jetzt sehen könnte? So gestresst war ich schon lange nicht mehr gewesen. Am Limit. Ich sehnte mich nach ihr, nach dem Tee aus frischer Minze und Honig, den sie für mich zubereitete. Nach ihren aufmunternden Worten, ihrer warmen Stimme, die in den letzten Jahren etwas brüchig geworden war. Nach ihrem fürsorglichen Blick.

Doch bevor ich mir die Zeit nehmen konnte, sie zu besuchen, mussten mein Bruder und ich uns aus dem finanziellen Schlamassel befreien, in den wir geraten waren.

Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Vor zwei Jahren hatte Nils den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt, das Restaurant übernommen, und ich hatte zugesagt, ihn zu unterstützen. Kurzerhand hatte ich meinen Job als Konditorin gekündigt, um bei ihm zu arbeiten. Statt zu backen, kochte ich oder bediente Gäste. Es lief gut an, aber dann hatte das Gesundheitsamt die Ausstattung der Küche beanstandet. Er musste investieren, um die Auflagen zu erfüllen. Nur mit Mühe konnte er die Bank überzeugen, einen weiteren Kredit zu gewähren. Als es endlich wieder aufwärtsging, zeigten sich plötzlich Schimmelflecken an den Wänden. Die längst fällige Sanierung des Daches hatte der Eigentümer immer wieder aufgeschoben. Dadurch war nach und nach Wasser ins Mauerwerk eingedrungen. Eine Sanierung war aber immer noch nicht in Sicht, obwohl der Hausbesitzer sie schon vor Wochen angekündigt hatte. So wie es aussah, stand uns nun auch noch ein Rechtsstreit bevor. Meine Nerven lagen blank und die von Nils auch. Ich musste mir wieder mehr Zeit für die Dinge nehmen, die mir wichtig waren, Spaß machten!

Ich ging in meine Küche, gab dunkle Schokolade in einen Topf, schmolz sie im Wasserbad und gab einen Schuss flüssige Sahne dazu. Vorsichtig rührte ich sie unter die glänzende Masse. Gleich würde ich sie über die kleinen Küchlein gießen, die ich vor wenigen Minuten aus dem Ofen geholt hatte. Sie waren noch lauwarm und würden himmlisch schmecken. Zusammen mit einer Kugel Vanilleeis passten sie perfekt zu dem schönen Wetter, das uns heute überrascht hatte.

Ich nahm einen flachen weißen Teller, legte ein Küchlein darauf, goss die Schokoladenmasse darüber, dachte an die Floristin und streute ein paar zerstoßene rote Pfefferkörner darauf. Auf das Eis verzichtete ich. Ich hatte keine Lust, dafür ein Stockwerk tiefer in den Kühlraum zu gehen. Ich war zu ungeduldig, wollte sofort wissen, wie meine neueste Kreation schmeckte.

Es war perfekt. Ich hatte nur die besten Zutaten verwendet. Achtundsiebzigprozentige Schokolade, echte Vanille, bester Espresso … Das Ergebnis war saftig, roch leicht bitter und schmeckte auch so. Süß, herb und herrlich schokoladig. Dazu ein Hauch Pfeffer. Unsere Gäste würden das Dessert lieben.

Ich ging mit dem Teller ins Arbeitszimmer, setzte mich an den Schreibtisch, da hörte ich plötzlich die Dielen im Flur knarren, schnelle Schritte, Nils kam.

Lächelnd drehte ich mich um. Er würde sich über das neue Dessert auf der Karte freuen.

Nils blieb in der Tür stehen. »Weißt du, wo der Lieferschein ist?«

Ich sah zum Schreibtisch. »Im Ordner.«

Er schüttelte den Kopf. »Da habe ich schon nachgesehen.« Nils kniff die Augen zusammen und hob das Kinn. »Verdammt, Nora, da ist er nicht. Wann gewöhnst du dir endlich an, die Sachen gleich wegzuräumen, damit wir nicht stundenlang danach suchen müssen?« Er schlug mit der flachen Hand gegen den Türrahmen. »So geht das nicht, so geht das wirklich nicht weiter! So können wir nicht zusammenarbeiten.«

Ich kannte ihn mein Leben lang. Gut genug, um zu wissen, dass er sich gleich wieder beruhigen würde. Er machte seinem Unmut Luft, und eine halbe Stunde später war alles vergessen. Ich ärgerte mich über meine manchmal unorganisierte Arbeitsweise, aber diesmal war ich mir sicher, dass mein Bruder sich irrte. Ich ging zu meinem Schreibtisch, öffnete den Ordner, blätterte ihn durch und fand, was ich suchte.

»Du suchst den Lieferschein? Hier ist er.«

Nils kam zu mir, stellte sich hinter mich und schaute mir über die Schulter.

»Du hast ihn bei den offenen Bestellungen abgeheftet, obwohl er erledigt ist«, stellte er fest. Seine Stimme klang gereizt. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass wir ein System brauchen, dass wir …«

Ich wartete, bis er zu Ende gesprochen hatte, und erklärte: »Du hast gesagt, du willst die Getränkelieferung überprüfen, also habe ich sie zu den unerledigten Vorgängen sortiert.« Mein Blick fiel auf die Vase mit den Freesien, die ich auf die Kommode neben der Tür gestellt hatte, um ein paar Farbtupfer und den süßen Duft ins Arbeitszimmer zu bringen. »Du wirst ein paar Tage ohne mich auskommen müssen«, entschied ich spontan. »Ich werde Oma besuchen, ich muss unbedingt mal raus.«

»Was? Aber …« Er hielt inne. »Vielleicht ist das eine gute Idee. Dann können wir beide in Ruhe überlegen, wie es weitergeht. So, wie es jetzt läuft, jedenfalls nicht.«

Ich sah ihn über die Schulter an. »Haben wir ein berufliches Problem oder eins unter Geschwistern?«

»Das eine bedingt das andere, wenn wir nicht aufpassen.« Er fuhr sich durchs Haar. »Ich will nicht, dass wir uns streiten.«

Das wollte ich auch nicht. »Wir werden eine Lösung finden.«

Er nickte. »Wann fährst du? Dann frage ich Luisa, ob sie für dich einspringt. Sie hat mich neulich sowieso schon gefragt, ob sie ein paar Stunden mehr arbeiten kann. Sie übernimmt bestimmt gerne für dich.«

Die beiden mochten sich. Ein bisschen zu sehr, wie ich fand. Dass ich Luisa im Verdacht hatte, für den Fehlbestand unserer Getränke verantwortlich zu sein, behielt ich für mich. Tatsache war, dass sich jemand an unserem teuren Whisky und anderen Spirituosen vergriffen hatte. Deshalb hatte Nils auch nach der Getränkebestellung gefragt. Er verdächtigte allerdings den Fahrer des Lieferwagens oder eine der beiden Aushilfen, während ich Luisa im Visier hatte. Letzte Woche hatte ich gesehen, wie sie im Vorratsraum die Flaschen in den Regalen hin und her geschoben hatte. Um Ordnung zu schaffen, wie sie sagte, als ich sie darauf ansprach. Nachdem Nils sie auch noch dafür gelobt hatte, beschloss ich, meine Skepsis vorerst für mich zu behalten.

Ich schaute zum Fenster, hinter dem die Sonne schien. Jetzt war genau der richtige Zeitpunkt, um ein paar Tage mit Oma zu verbringen. Im Garten sitzen, selbst gemachte Limonade trinken, Apfelkuchen essen, spazieren gehen und danach den lang vermissten Pfefferminztee aus der großen blauen Henkeltasse trinken.

»Am besten so schnell wie möglich.« Ich nahm den Lieferschein aus dem Ordner und hielt ihn Nils hin.

Er griff zu. »Gut. Dann frage ich Luisa, ab wann sie dich vertreten kann.«

»Ab morgen.« Ich stand auf. »Damit ich noch etwas von dem schönen Wetter abbekomme.« Aber darum ging es mir eigentlich nicht. Ich wäre auch bei strömendem Regen gefahren, denn plötzlich wollte ich nur noch weg. Das Restaurant war von Anfang an keine gute Idee gewesen, niemals hätte ich mich darauf einlassen sollen, für meinen Bruder zu arbeiten. Ich war zwar nur seine Angestellte, aber ich teilte die volle Verantwortung mit ihm – bei schlechter Bezahlung.

Ich betrachtete das halbe Schokoladenküchlein auf meinem Teller. Der Appetit war mir vergangen. Aber nur kurz. Als Nils weg war, aß ich es auf, holte mir ein zweites und verzehrte auch das bis auf den letzten Krümel. Danach ging es mir besser.

Ich hätte Arbeit und Privatleben wenigstens räumlich trennen sollen. Aber es war zu verlockend, die Wohnung über dem Restaurant zu mieten, als sie überraschend frei wurde. Sie war schön, mit hohen Stuckdecken, alten Holzdielen und Erkern. Die Küche war klein, aber das machte nichts, denn ich benutzte meistens die des Restaurants.

Ruhe fand ich nicht. Ich wohnte hier, Nils fünf Kilometer entfernt. Im Restaurant gab es immer etwas zu tun, und es war so einfach, die Treppe runterzugehen und nach dem Rechten zu sehen, die Tische abzuwischen oder die Töpfe zu schrubben, die in der Spülmaschine nicht sauber geworden waren. Und jetzt kam auch noch der Wasserschaden dazu.

Wenn der Vermieter nicht bald etwas unternahm, bedeutete das nicht nur die Schließung des Restaurants, es würde auch einen Umzug bedeuten. Aber daran wollte ich im Moment nicht denken. Ich wollte lieber erst einmal wieder zu Kräften kommen. Wir würden einen Weg finden, da war ich mir sicher.

Ich nahm mein Handy und drückte die Kurzwahltaste für Omas Festnetzanschluss. Es war Samstag, zehn Uhr morgens. Wahrscheinlich saß sie gerade auf der Terrasse, trank eine Tasse Tee und las ein gutes Buch.

»Guten Morgen, Nora!«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass das nicht die Stimme meiner Großmutter war, sondern die meiner Mutter.

»Hat Papa dir gesagt, dass ich hier bin? Ich habe mein Handy zu Hause vergessen.« Sie seufzte. »Das blöde Ding macht mich immer noch wahnsinnig. Entweder ist der Akku leer oder ich habe es vergessen. Jedenfalls hast du mich jetzt erreicht. Wie geht es dir? Immer noch so viel zu tun?«

Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Warum war meine Mutter bei meiner Großmutter? Und warum nahm sie an, dass ich sie sprechen wollte?

»Es ist immer noch sehr stressig«, sagte ich schließlich.

Und da fiel es mir plötzlich ein. Seit mein Großvater vor einem Jahr gestorben war, war meine Großmutter ständig unterwegs. Sie war gar nicht da. Sie hatte mir erzählt, dass sie mit ihrer Freundin Gerda in die Lüneburger Heide fuhr. Und ich hatte nicht mehr daran gedacht. »Gießt du die Blumen?«

»Ja, ich bin gerade fertig.« Meine Mutter atmete tief durch. »Ist das Wetter nicht schön?«

»Das ist es. Deshalb habe ich beschlossen, mir spontan ein paar Tage frei zu nehmen. Ich muss mal raus, was anderes sehen.«

»Mach das. Das ist eine gute Idee. Wo willst du denn hin?«

»Das weiß ich noch nicht.« Hannover kam ohne meine Oma nicht infrage.

»Fahr in die Lüneburger Heide«, schlug meine Mutter vor. »Da blüht es gerade. Oma wird Augen machen, wenn du sie damit überraschst.« Sie machte eine kleine Pause. »Oder du kommst zu uns. Dein altes Zimmer steht dir immer noch zur Verfügung.« Sie machte eine kleine bedeutungsvolle Pause. »Papa würde sich auch freuen. Du weißt, dass er das nicht so gemeint hat.«

»Doch, das hat er, Mama. Aber mach dir jetzt keine Sorgen. Dass ich so lange nicht da war, liegt wirklich nur daran, dass wir hier so viel zu tun haben. Ich komme bestimmt bald wieder. Aber jetzt brauche ich einfach mal eine Auszeit. Und dabei denke ich ehrlich gesagt nicht an mein altes Kinderzimmer.«

»Er hat dich trotz allem sehr lieb.«

Trotz allem? In den letzten zwei Jahren hatte ich meine Eltern an Heiligabend nicht besucht, weil ich die Zeit mit meinem damaligen Freund Marcello bei seiner Familie verbracht habe. Der Streit, der deswegen zwischen meinem Vater und mir ausgebrochen war, hing immer noch wie eine dunkle Wolke über uns. Ein Wort hatte das andere ergeben, und aus dem abgesagten Weihnachtsbesuch waren plötzlich Vorwürfe geworden, die mich sehr verletzt hatten. Er sei enttäuscht von mir, hatte er mir an den Kopf geworfen. Sowohl meine Berufswahl als auch die Wahl meines Freundes seien ein Griff ins Klo gewesen. Er hätte mehr von mir erwartet. Im Nachhinein war mir klar geworden, dass mich diese Aussage nur deshalb so getroffen hatte, weil ich ihm insgeheim recht gegeben hatte. Marcello war inzwischen Geschichte. Wir hatten uns nach drei Jahren getrennt, weil er sich vernachlässigt fühlte, mit meinen langen Arbeitszeiten nicht zurechtkam und eine Frau wollte, die zu Hause war, wenn er zu Hause war. Spätestens um achtzehn Uhr unter der Woche und natürlich auch am Wochenende. Ich hatte keinen Freund mehr, stritt mich mit meinem Vater und kämpfte um ein Restaurant, das nicht mir, sondern in erster Linie meinem Bruder am Herzen lag. Etwas stimmte nicht. Es war an der Zeit, mich zu fragen, wie lange ich noch an einem Traum festhalten wollte, der nicht meiner war.

»Wie gesagt, ich komme euch bald besuchen«, wiederholte ich. »Versprochen.«

»Und wo willst du hin?«

»Irgendwo ans Meer«, entschied ich spontan.

»Gute Idee. Da könnte ich ja mitkommen.«

Ich war so überrascht, dass ich einen Moment brauchte, bevor ich antwortete. »Das ist eine schöne Idee, nur würde ich lieber allein sein.« Es reichte mir, dass ich meinen Bruder fast jeden Tag um mich hatte. Da wollte ich mir nicht auch noch meine Mutter antun. Dass ich meine Zeit eigentlich mit Oma verbringen wollte, behielt ich für mich.

Sie lachte. »Keine Sorge, das war nur ein Scherz. Fahr du mal allein, das wird dir guttun.«

Ich verabschiedete mich, räumte die Küche auf und ging nach unten, um mit Nils zu reden. Er saß im Biergarten bei einer Tasse Kaffee. Mit Luisa. Die gedeckten Tische sahen bezaubernd aus, genauso wie das Lächeln, mit dem sie gerade meinen Bruder anstrahlte. Ich blieb auf der kleinen Terrasse stehen, die zum Biergarten hinter dem Haus führte.

Die beiden hatten mich noch nicht bemerkt. Ich beobachtete, wie mein Bruder sich durch das dunkle volle Haar strich, während er sich mit ihr unterhielt. Nils sah gut aus. Er war groß, sportlich, hatte markante Gesichtszüge – und Charme. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Luisa sich in ihn verlieben würde, wenn sie es nicht schon getan hatte. Ich hoffte, Nils würde sich zurückhalten. Davon abgesehen, dass ich mir nicht sicher war, ob sie für den Getränkeschwund verantwortlich war, war sie eine zuverlässige Kraft, immer pünktlich, fleißig. Und genau sein Beuteschema, klein, zierlich, langes dunkles Haar, immer gut gelaunt …

Gerade als ich mich bemerkbar machen wollte, entdeckte sie mich. Ich ging über die kleine Treppe nach unten. Wie immer zählte ich dabei in Gedanken mit, eins, zwei, drei, vier. Wie viele Stufen war ich in den letzten Monaten hoch und wieder runter gegangen, um die Gäste zu bedienen?

Luisa winkte mir zu. »Nora! Nils hat mich gerade gefragt, ob ich für dich einspringen kann«, rief sie.

Ihr Strahlen vertiefte sich, als ich am Tisch ankam. »Das passt so was von gut gerade. Ich habe Zeit, und das Geld kann ich ganz dringend gebrauchen. Du kannst beruhigt wegfahren, ich halte hier gern bis Sonntag die Stellung.«

»Bis Sonntag?« Ich sah zu Nils. Wir hatten nicht darüber gesprochen, wie lang ich bleiben würde. Aber das wollte ich später mit ihm klären, wenn wir unter uns waren.

»Dann hast du das ganze Wochenende für dich«, sagte er.

»Das wird dir bestimmt guttun.« Luisa lächelte mich an. »Du kannst dich zu hundert Prozent auf mich verlassen.« Plötzlich wurde sie ernst. »Ich wollte sowieso noch mal mit euch beiden reden und fragen, ob wir meine Arbeitszeit nicht generell um einige Stunden erhöhen können.«

»Das sieht schlecht aus, das können wir uns momentan leider nicht leisten.« Nils schaute zerknirscht. »Aber danke für dein Angebot, wir wissen das sehr zu schätzen.«

Erleichtert atmete ich auf. Nils hatte recht, das konnten wir uns nicht leisten.

»Na gut, immerhin habe ich dann das komplette Wochenende, das hilft mir.«

So wie die Spirituosen, dachte ich und bekam ein schlechtes Gewissen. Es war nett von Luisa, dass sie für mich einsprang. Außerdem hatte ich keine Beweise.

»Schön, dann fahre ich also«, sagte ich mit fester Stimme. »Danke fürs Vertreten, Luisa.«

Sie winkte ab. »Ach was, dafür brauchst du dich doch nicht zu bedanken.« Sie hob eine Augenbraue. »Übrigens habe ich gestern die Getränkelieferscheine mal mit dem Inhalt in den Kisten verglichen. Es ist nur eine Vermutung. Aber kann es sein, dass sich der Lieferant hin und wieder bedient? Ich habe beim letzten Mal ganz genau nachgezählt. Da fehlte definitiv eine Flasche.«

Prompt machte sich das schlechte Gewissen wieder bemerkbar. So abgebrüht, dass sie selbst zugriff und dann einen anderen verdächtigte, schätzte ich sie nicht ein. Ich war urlaubsreif. Die Auszeit hatte ich bitter nötig.

KAPITEL 3

Anneke

Das Glockenspiel erklang, als ich die Tür öffnete und in den kleinen Eckladen trat. Wie immer, wenn ich bei Tante Erna war, spürte ich dieses glückliche Kribbeln in den Fingern. Dieser Laden war für mich das, was ein Süßigkeitengeschäft für ein Kind war. Zauber und Verführung, wohin mein Blick auch ging. In den Regalen lag so viel wundervolle Wolle, und jedes einzelne Knäuel schien nur auf mich gewartet zu haben.

Hinter dem Verkaufstresen saß Erna in ihrem Schaukelstuhl. Sie hatte ein sehr hübsches gestricktes Tuch mit einer Spitzenumrandung um ihre Schultern gelegt. Ihre Hände, die das Strickzeug mit einer angefangenen Socke hielten, lagen bewegungslos in ihrem Schoß. Ernas Mund war leicht geöffnet, die Augen geschlossen. Das Gesicht mit den unzähligen Runzeln, die von einem langen Leben voller Freude und auch voller Kummer erzählten, wurde von schlohweißen Löckchen umrahmt. Rechts über dem Ohr hing noch ein kleiner Lockenwickler, den musste sie beim Frisieren übersehen haben.

Ich betrachtete die alte Frau liebevoll. Sie sah so friedlich aus. Als das Klingen der Türglocke endete, hörte ich Ernas leises Schnarchen.

Ich wusste, dass ihre Hüfte ihr chronische Schmerzen bereitete, im Schlaf war sie davon befreit. Deshalb gönnte ich ihr diese Auszeit von Herzen und beschloss, sie nicht aufzuwecken. Ich würde mir Wolle aussuchen und das Geld zusammen mit einem Zettel auf den Tresen legen.

Leise drehte ich mich zu dem großen Regal mit Körben voller Sockenwolle um und ließ meinen Blick über die Auslage schweifen. Die Auswahl war riesig. Alle Farben, dünne und dicke Wolle, unterschiedliche Hersteller. Sockengarn ging immer. Das hatte Erna mir verraten, als wir bei einem meiner regelmäßigen Besuche einmal über das Wollangebot und die Kundenwünsche gesprochen hatten.

Ich wählte ein vierfädiges Regia Garn in Rot und Orange mit verschiedenen Schattierungen und eines in Blauweiß, das perfekt zu meinem Ringelpullover passte. Es war ein Farbdesign, das Line A&C Lofoten Color hieß, und es gefiel mir ausgesprochen gut.

Mein nächster Griff ging zu dem finnischen Wollhersteller Novita. Mit deren Wolle hatte ich schon einige Tücher und einen Slipover gestrickt. Die Kollektion Seven Brothers war ein dickes Sockengarn mit Farben, die nicht nur meine Sockenlust anstachelten. Bestimmt könnte ich die ganz wunderbar mit einem dünnen Mohairfaden ergänzen und zu einem kuscheligen Wintertuch verarbeiten. Schon zuckte meine Hand zum Regal neben der Sockenwolle, wo das Mohair lag. Im nächsten Moment zog ich sie jedoch energisch wieder zurück.

Ich sollte mich nicht verzetteln. Heute war ich hier, um möglichst schöne und abwechslungsreich gefärbte Sockenwolle zu kaufen. Also konzentrierte ich mich wieder auf die Knäuel, die vor mir in den Körben lagen, und ließ sie auf mich wirken. Wenn ich schon Stinos ohne Firlefanz stricken wollte, musste zumindest die Färbung ein wenig Abwechslung bringen.

Ich drehte das Knäuel, das ich gerade gegriffen hatte, in meiner Hand und warf einen Blick auf die Banderole. Die Novita hatte nur zweihundert Meter Lauflänge auf hundert Gramm – das war ein achtfädiges Garn. Das würden extra dicke Kuschelsocken werden. Vorsichtshalber nahm ich von jeder Färbung ein zweites Knäuel mit, ich war mir nicht sicher, ob eines für ein Paar reichen würde.

Zufrieden stapelte ich die Wolle zu der anderen in meinem Arm. Damit waren meine warmen Füße im nächsten Winter garantiert.

Jonte blitzte in meinen Gedanken auf. Vielleicht sollte ich ihm auch ein paar dicke Socken stricken. Der Winter auf dem Hausboot konnte bestimmt ziemlich ungemütlich werden. Zumal er mitten in der Renovierung steckte und noch lange nicht alles gedämmt war. Die Idee, Jonte mit einem kleinen Geschenk zu überraschen, gefiel mir. Ich machte anderen Menschen gern eine Freude. Kurz entschlossen suchte ich nach den Farben, von denen ich annahm, dass sie Jonte gefallen würden. Gerade als ich mich für eine Färbung in Grünschwarz entschieden hatte und die Hand danach ausstreckte, sprach Erna mich von hinten an.

»Min Deern, ik heff di gornich höört.«

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