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Kristallblau - Insel des Ursprungs

hier erhältlich:

Das Finale der Kristallblau-Saga!

Sera weiß, dass sie in allergrößter Gefahr schwebt, solange sie in dieser Welt verweilt. Denn ihr Blut kann Verletzungen und Krankheiten heilen und ist somit von den Menschen sehr begehrt. Nachdem sie den Fängen von Agnes‘ Vater entkommen ist, muss Sera die geheimnisvolle Insel Braxos finden. Hier soll das Band der Cerulean und damit Seras Weg zurück in die Stadt über den Wolken verankert sein. Doch niemand außer Agnes‘ und Leos Großmutter kennt den sagenumwobenen Ort. Gemeinsam mit ihren Freunden tritt Sera eine gefährliche Reise an, die sie für immer verändern wird.

Packende Fantasy von der Autorin der Juwel-Trilogie!



  • Erscheinungstag: 25.08.2020
  • Aus der Serie: Kristallblau
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 432
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850304

Leseprobe

Für Matt,

Frühling für meinen Sommer

und Herbst für meinen Winter

Erster Teil

Arbaz, Insel Thaetus, Pelago

1

SERA

Als die Küste von Pelago am Horizont erschien, stand Sera gerade im Ausguck der Maiden’s Wail.

Hier oben, wo sie meilenweit sehen konnte, war sie am liebsten. Seit der Flucht vor Xavier McLellan aus Kaolin waren sie nun schon fünfzehn Tage auf See. Noch immer erschauderte Sera, wenn sie an jene Nacht dachte: an die Theateraufführung, bei der sie von allen angestarrt worden war; an die Elfen, die zwischen den Wurzeln des Arboreals Boris aufgestiegen waren; an den Meerspitz Errol, der auf Seras Rücken die Glasdecke des Theaters zum Einsturz gebracht hatte, und an den Weg über die Dächer von Old Port City bis zum Hafen. Noch immer sah Sera vor sich, wie die wunderschöne silberne Borke von Boris verkohlt war, als die Elfen die Blätter und Zweige in Flammen gesetzt hatten. Noch immer empfand sie nagenden Schmerz über den Tod des lieben Baums, der sich geopfert hatte, um Sera und Errol die Flucht zu ermöglichen.

Sera hatte dieses Opfers nur verdient, wenn sie ihre Freiheit so nutzte, wie Boris es gewollt hatte. Wenn sie das Band fand, das die Stadt über dem Himmel mit dem Planeten verknüpfte, und nach Hause zurückkehrte.

Errol sprang aus dem Wasser. »Land, Sera Lighthaven!«, rief er. Die Fäden über seinen Augen schimmerten rosa und lilafarben. Dann verschwand er wieder in der Tiefe.

Sera schwang sich über die Reling und kletterte die Takelage hinunter zu Leo McLellan, der allein an Deck stand. Seine Zwillingsschwester Agnes war von den Seeleuten herzlich in Empfang genommen worden, Leo eher nicht. Die Kapitänin Violetta hatte von Anfang an deutlich gemacht, dass er postwendend über Bord geworfen würde, wenn er den Frauen der Besatzung mit seinem »kaolinischen Machogehabe« käme. Seine Gegenwart wurde nur toleriert, weil er Seras Begleitung war, denn die Pelagier hielten sie für Saifa, die Göttin des Lebens. Sera wusste nicht, wie sie den Matrosinnen erklären sollte, wie falsch sie damit lagen.

»Pelago!«, rief sie aufgeregt, sprang den letzten Meter hinunter und landete leichtfüßig auf dem Holz. »Wir sind fast da, Leo.«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sehen würde«, erwiderte er und band seine schweren schwarzen Locken mit einem Lederriemchen nach hinten. Im Verlauf der Reise waren seine Haare lang und widerspenstig geworden. Tagelang hatte Leo darüber geklagt, bis Sera sagte, sie ständen ihm sehr gut. Er sähe damit irgendwie freier aus, anders als der Mensch, den sie in Kaolin kennengelernt habe. Danach sprach er nie wieder davon, sich die Haare abschneiden zu lassen.

»Ich bin gespannt, wie es dort ist«, sagte Sera. Ihr wurde auf einmal bewusst, wie stark sie daran gezweifelt hatte, dass sie Pelago je erreichen würde. Die Insel Braxos jedoch, wo das Band seinen Ursprung hatte, lag noch sehr viel weiter oben im Norden. Sie hatten noch eine lange Seereise vor sich.

»Hast du gesehen?« Mit leuchtenden Augen und roten Wangen kam Agnes zu den beiden herüber. »Da ist Pelago! Wir haben es geschafft!«

»Ich glaube, du wirst die Stadt Arbaz mögen«, sagte Vada, die hinter Agnes her schlenderte. »Dort gibt es den größten Markt von ganz Pelago. Da kommt selbst der von Ithilia nicht mit. Aber sagt das nicht den Ithiliern.«

Vada war die einzige Matrosin, von der Sera wie ein Mensch behandelt wurde, und die einzige, die sie nicht Saifa nannte. Sera vermutete, dass das mit Agnes zusammenhing; die beiden Frauen mochten sich sehr gern und waren sich während der Überfahrt immer näher gekommen.

»Ich kann es nicht erwarten!«, platzte es aus Agnes heraus. »Leo, Eneas hat doch gesagt, seine Schwester würde auf dem Markt arbeiten. Vielleicht finden wir sie!«

»Von mir aus«, sagte Leo und zeigte auf sein Hemd. »Wir können treffen, wen du willst, solange ich irgendwo neue Klamotten bekomme!«

Vada grinste. »Was? Gefallen dir Jacobas alte Sachen etwa nicht?«

Agnes bekam einen Lachanfall. Leo trug die abgelegten Kleider von einer der größten Matrosinnen, da sein schicker Anzug aus dem Theater völlig unpassend für das Leben an Bord war.

»Seltsamerweise nicht«, sagte er trocken. »Zumindest nicht nach zwei Wochen ohne Waschen.«

»Also, ich bin mir sicher, dass dir die pelagische Mode sehr gut stehen wird«, bemerkte Vada. »Du hast die richtige Figur dafür.«

»Mode ist unsere geringste Sorge«, sagte Agnes und stopfte eine lose Strähne in ihren Haarknoten. »Und wir müssen nach Ithilia, nicht nach Arbaz.«

Ithilia war die Hauptstadt von Pelago und lag auf einer anderen Insel namens Cairan. Letztendlich bestand Pelago nur aus Inseln, und auch wenn Sera seit zwei Wochen intensiv Karten studierte, fand sie das alles noch sehr verwirrend. Wenn sie den Planeten von der Stadt über dem Himmel aus betrachtet hatte, hatte Pelago so klein gewirkt, eine Ansammlung unregelmäßiger braungrüner Flecken. Mit der Zeit jedoch hatte sie begriffen, wie groß diese Welt tatsächlich war.

»Genau genommen müssen wir nach Braxos«, erinnerte Leo sie.

»Aber unsere Großmutter ist in Ithilia«, sagte Agnes. »Sie erwartet mich. Und ich weiß, dass sie uns helfen kann.«

»Wenn es außer dem Triumvirat jemanden in Pelago gibt, der euch helfen kann«, sagte Vada, »dann ist das auf jeden Fall Ambrosine Byrne.«

Sera hoffte, dass diese Ambrosine ein netterer Mensch war als der Vater von Agnes und Leo. Für den Mann, der sie gefangen gehalten hatte, hatte sie nicht das Geringste übrig. Doch so grausam und gefühllos er auch war, war er das einzige lebende Elternteil der Zwillinge. Über die Mutter, Alethea Byrne, und deren Familie wussten die beiden so gut wie nichts, nur dass die Byrnes in Pelago sehr mächtig und einflussreich waren. Agnes klammerte sich an ihre Vorstellung von Ambrosine, so wie Sera nachts den Anhänger mit dem Stern umklammerte, den ihre beste Freundin Leela ihr geschenkt hatte.

Sie zog die Kette mit dem Mondstein unter ihrem Hemd hervor und rieb mit dem Daumen darüber, dankbar, diese eine greifbare Erinnerung an ihre Stadt zu haben. Heute war der Stein kalt – was die Temperatur anging, schien er ein Eigenleben zu führen; nur selten stimmte sie mit der Wärme der Luft oder der von Seras Körper überein. Sie fragte sich, ob das auch schon so gewesen war, als er in Leelas Schlafzimmer in der Stadt über dem Himmel gelegen hatte. Letztens in ihrer gemeinsamen Kajüte hatte Agnes gesagt, sie sei nachts plötzlich wach geworden und hätte schwören können, der Stein an Seras Hals würde summen.

»Ich komme zurück, Leela«, murmelte sie. »Ich komme, meine lieben Mütter.«

Leo drückte ihre Schulter. »Du wirst sie bald wiedersehen.«

Doch das konnte er nicht wissen, nicht wirklich.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Vada.

Wohlbekannter Frust stieg in Sera auf. Sie war davon überzeugt, dass es eine Möglichkeit geben musste, sich mit den Menschen auf diesem Planeten zu verständigen – sie nicht nur zu verstehen, sondern auch verstanden zu werden –, egal ob sie nun Pelagisch oder Kaolin sprachen. Sera konnte sich nicht vorstellen, dass die alten Cerulean auf einen Planeten hinuntergegangen waren und mit völlig Fremden den Blutbund geschlossen oder ihnen ihr Blut gegeben hatten. Bis jetzt waren das die einzigen beiden Wege, über die es Sera gelungen war, sich zu verständigen, zuerst mit Agnes und dann mit Leo. Es musste noch eine andere Kommunikationsmöglichkeit geben, die ihr nicht so viel abverlangte. Besonders, da sie jetzt wusste, dass ein Blutbund mit Menschen bedeutete, Erinnerungen mit ihnen zu teilen.

Immer wieder musste Sera an die Nacht denken, als sie in einer Kiste eingeschlossen gewesen war und versehentlich mit Leo den Blutbund geschlossen hatte. Obwohl sie ihn nicht berührt hatte, konnte sie in seinen Kopf und er in ihren sehen. Sicherlich trug er da schon Seras Magie in sich, dennoch war sie überzeugt, dass es einen Weg gab, sich mit allen auf diesem Planeten so normal zu unterhalten, wie sie am ersten Abend im Theater mit Errol gesprochen hatte.

Jetzt musste Leo für sie übersetzen, und Vada nickte ihr mitfühlend zu.

»Ich verstehe immer noch nicht so richtig, woher du nun kommst«, sagte sie, »aber ich hoffe, dass du gesund dahin zurückkehren kannst.«

Sera lächelte sie dankbar an.

In dem Moment tauchte Errol auf. Diesmal blitzten die Fäden über seinen hervorquellenden Augen in dunklen Grau- und Rottönen, seine Schwimmflossenhände flatterten, und sein Fischschwanz schlug heftig hin und her.

»Schiffe!«, rief er. »Es kommen Schiffe mit dunklen Segeln und bösen Gesichtern.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Agnes besorgt.

Doch noch bevor Sera übersetzen konnte, ertönte ein Horn. Alle Matrosinnen strömten an Deck. Vada erschrak.

»Triumviratsschiffe!« Vadas Mutter Violetta stürmte herbei. »Vada, versteck Saifa! Schnell!«

Das Triumvirat war das Regierungsorgan von Pelago und bestand aus drei Königinnen. Vada hatte erzählt, dass diese Königinnen nicht immer einer Meinung waren und manchmal untereinander stritten, sodass Konfliktsituationen in Pelago brenzlig werden konnten, je nachdem, welcher Königin man sich verpflichtet fühlte.

Violetta rief den Matrosinnen Befehle zu, sie sollten die Fracht gut verstecken und die »Ablenkung« herausholen, was auch immer das bedeutete. Sera wusste nicht, was genau die Maiden’s Wail transportierte, schätzte aber, dass sie – außer ihr selbst – noch andere verbotene Dinge mit sich führte.

»Was haben die Schiffe des Triumvirats in diesen Gewässern zu suchen, bei der heiligen Bas?«, rief Vada, packte Sera am Arm und führte sie zu einer niedrigen Holzbank an der Reling. Sie öffnete den Deckel, und ein kleines Versteck kam zum Vorschein. Sera brauchte keine Aufforderung, um hineinzuklettern.

»Der Junge muss auch da rein!«, befahl eine faltige alte Matrosin namens Breese. »Das Triumvirat braucht nicht auf die Idee zu kommen, wir hätten einen Byrne entführt.«

Augenscheinlich hatte Leo so große Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Mutter, dass man ihn auch in einem Land erkannte, in dem er nie zuvor gewesen war. Es war ziemlich eng zu zweit in der Kiste, doch mit ein wenig Herumrücken kamen Sera und Leo zurecht. Als Vada die Sitzfläche der Bank wieder hinunterklappte, bekam Sera einen Kloß im Hals. Zum Glück klaffte ein kleiner Spalt zwischen zwei Holzbrettern, und wenn sich die beiden ein wenig reckten, hatten sie einen Großteil des Decks im Blick. Leos Kopf war auf Höhe von Seras Taille, ihre Füße drückten gegen seinen Rumpf. Sie hatte ein seltsam schummriges Gefühl im Bauch. So nah war sie Leo noch nie gewesen.

Es dröhnte ein paar Mal dumpf, als Vada Gegenstände auf die Bank stellte – vermutlich zur überzeugenderen Tarnung. Sera hörte, wie sie Agnes zuflüsterte: »Halt den Blick gesenkt und sag nichts! Dein Pelagisch ist zwar sehr gut, aber wir dürfen kein Risiko eingehen, solange wir es vermeiden können.«

Vada hatte sowohl Agnes als auch Leo in Pelagisch unterrichtet und sich gewundert, wie schnell die beiden die Sprache erlernten. Bald konnten sich die Zwillinge problemlos mit anderen unterhalten; Leo schien sogar ein etwas besseres Ohr und Verständnis dafür zu haben als Agnes. Vada vermutete, sie hätten wegen ihrer pelagischen Herkunft vielleicht einen gewissen Vorteil, doch Sera glaubte, dass ihre in den Geschwistern wirkende Magie für die erstaunlichen Fähigkeiten verantwortlich war. Sera war froh, dass Agnes diese Gabe besaß und dadurch als Pelagierin durchging – wenn Sera nur eins über Kaolin und Pelago wusste, dann dass die beiden Länder sich gegenseitig abgrundtief hassten. Die Entdeckung von Braxos hatte alles nur noch schlimmer gemacht.

»Wir waren so lange auf See«, brummte Leo, »dass wir nicht mitbekommen haben, was im Rest der Welt los ist.«

Er klang nicht gerade optimistisch. Sera verlor ihren Mut – sie waren nicht die Einzigen auf dem Weg nach Braxos. Die Menschen glaubten, auf der Insel gebe es einen Schatz oder sie besäße magische Kräfte. Würden Fremde die Insel vor Sera erreichen und das Band beschädigen? Sera biss sich auf die Lippe und versuchte, ihre Angst zu unterdrücken. Im Moment musste sie leise sein und durfte nicht entdeckt werden.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Rufe erschallten.

»Stehen geblieben!«

Agnes und Vada stellten sich mit den anderen Matrosinnen an Deck auf, die Hände gefaltet, die Köpfe gesenkt. Holz knarrte, dann kamen Schritte näher. Sera musste sich einen Schreckensschrei verkneifen, als die furchterregendste Frau in ihr Blickfeld trat, die sie je gesehen hatte.

Sie war sehr groß gewachsen und trug eine hochgeschlossene Lederweste in fleckigem Schwarz und Violett, die ihr bis auf die Oberschenkel reichte und vorne und hinten einen Schlitz für die Bewegungsfreiheit hatte. Ihre schweren Stiefel waren bis zu den Knien hoch geschnürt, darin steckte eine dunkle Hose aus grobem Garn. Die Unterarme der Frau waren von den Fingerknöcheln bis zu den Ellenbogen von Ledermanschetten bedeckt, an denen Kupferringe befestigt waren. Der hohe Kragen war mit dazu passenden kleinen Pailletten verziert. Sie hatte kurz geschnittenes Haar, das ihr stachelartig vom Kopf abstand. Ihre Miene war kalt und völlig emotionslos. Streng sah sie Vada an.

»Wer ist die Kapitänin dieses Schiffs?«, wollte sie wissen.

Violetta trat vor. »Ich. Violetta Murchadha, zu Ihren Diensten. Die Maiden’s Wail ist ein einfaches Handelsschiff auf der Rückfahrt von Kaolin.«

Die Frau schnaubte verächtlich. »Handelsschiff!« Sie drehte sich zu weiteren Personen um, die Sera nicht sehen konnte. »Durchsuchen!« Ähnlich gekleidete Frauen gingen an der Holzkiste vorbei; einige stiegen hinunter in den Laderaum. Sera spürte, wie sich Leo neben ihr anspannte.

Die furchtbare Frau wandte sich wieder an Violetta. Um ihre Lederweste trug sie einen Gürtel mit einer Sammlung kurzer gekrümmter Messer, die im Sonnenlicht gefährlich blitzten. Auf ihre Brust war ein silberner Mond geprägt. »Ich bin Rowen Drakos, Anführerin der Garde der Aerin«, sagte sie.

Die Aerin war eine der Königinnen, erinnerte sich Sera. Eine zweite hieß »die Renalt«, den Namen der dritten hatte sie vergessen. Wenn eine Frau den Thron bestieg, hatte Vada erklärt, ließ sie ihren Vornamen fallen und wurde nur noch mit ihrem Nachnamen angesprochen. Sera fand das reichlich seltsam und traurig; sie konnte sich nicht vorstellen, Agnes auf einmal »die McLellan« nennen zu müssen.

Violetta verneigte sich kurz. »Ist mir eine Ehre«, sagte sie. »Seit den Zeiten meiner Ururgroßmutter zollt meine Familie der Aerin ihren Respekt.«

»Eure Respektsbekundungen interessieren mich nicht. Ich will die Wahrheit wissen! Habt ihr kaolinische Passagiere an Bord, vielleicht sogar welche, die an die heiligen Strände von Braxos wollen?«

»Ich habe nichts außer ein paar Schüsseln, zwei, drei Teppiche, ein paar Rollen Kupferdraht und eine kaputte Vase, für die ich in Old Port City deutlich zu viel berappt habe«, erwiderte Violetta locker. »Meine Crew und ich waren froh, als wir dieses dreckige Land endlich hinter uns lassen und uns auf den Heimweg machen konnten. Mit der Gnade der Göttinnen haben wir die Fahrt sicher hinter uns gebracht. Aber ich muss sagen, dass uns in all meinen Jahren auf See noch nie ein Triumviratsschiff aufgebracht hat, bevor ich in Arbaz eingelaufen bin.«

»Die Zeiten ändern sich«, sagte Rowen. »Alle Häfen im Osten sind geschlossen, niemand darf mehr ohne Genehmigung einlaufen – das hat das Triumvirat vor weniger als vier Tagen beschlossen. Ohne Gegenstimme.«

Violetta war überrascht. »Eine einstimmige Entscheidung?«

»Gefährliche Zeiten«, sagte Rowen. »Die Kaoliner strömen nur so ins Land. Sie haben es auf das abgesehen, was rechtmäßig den Pelagiern gehört. Selbst die Lekke hat begriffen, dass drastische Maßnahmen notwendig sind. Jeder, der einem Kaoliner hilft oder ihm Unterschlupf gewährt, wird verhaftet und eingesperrt. Die Kerker von Banrissa füllen sich schon mit Kaolinern und pelagischen Verrätern.«

»Eine kühne Entscheidung«, bemerkte Violetta. »Und eine kluge. War das die Idee der Aerin? Sie ist noch nie vor etwas zurückgeschreckt.«

Das schien Rowen gerne zu hören – sie verzog den Mund zu einer Art Grinsen. »Ja, war es«, sagte sie. Ihr Blick wanderte über die Matrosinnen. »Ist das deine gesamte Besatzung?«

»Jawohl«, erwiderte Violetta.

»Und die sind alle in Ordnung?«

»Den Frauen würde ich mein Leben anvertrauen. Wir haben nichts mit Braxos am Hut, wir wollen nur zurück nach Hause.«

Rowen griente. »Dann wärt ihr die Einzigen im gesamten Land, die nicht nach Braxos wollen.«

Violetta überlegte und sagte dann: »Wurde die Insel denn schon gefunden? Wie ihr merkt, sind die jüngsten Entwicklungen leider an uns vorbeigegangen.«

»Nein«, erwiderte Rowen. »Seit diese verfluchten Kaoliner darüber gestolpert sind, wurde die Insel nicht wieder gesichtet. Bisher sind sechs Schiffe auf der Suche danach verschollen – von mehr wissen wir zumindest nicht. Die Aerin stellt gerade eine Eliteeinheit aus besonders geeigneten Schiffen zusammen, um sich selbst auf die Suche zu machen.«

»Möge Farayage ihre Fahrt segnen!« Violetta berührte ihre Stirn.

Rowen schnaubte verächtlich. »Sie hätte den Segen der Meeresgöttin nicht nötig, wenn Ambrosine Byrne sich nicht so stur anstellen würde.«

Agnes scharrte mit den Füßen, und Rowen warf ihr einen Blick zu. In dem Moment rief eine ihrer Soldatinnen: »Unter Deck nichts zu finden!«

»Sehr gut«, sagte Rowen. »Violetta Murchadha, kraft der mir von unserer Königin, der Aerin, verliehenen Befugnisse erteile ich dir die Erlaubnis, in Arbaz anzulegen.« Sie reichte der Kapitänin einen Streifen Papier. »Zeig dies beim Einlaufen dem Hafenmeister. Mögen die Göttinnen mit euch sein!«

»Mögen die Göttinnen mit euch sein«, wiederholte Violetta und verbeugte sich.

Bis die Soldatinnen auf ihr Schiff zurückgekehrt waren, wagte Sera kaum zu atmen. Wieder ächzte das Holz, dann hörte man nur noch Wasser plätschern. Lange Zeit rührte sich niemand auf der Maiden’s Wail. Sera tat der Rücken weh, die Muskeln in ihren Beinen krampften, doch sie blieb mucksmäuschenstill und wartete.

»Meinst du, sie sind weg?«, flüsterte Leo. Genau in dem Moment wurde die Kiste aufgeklappt.

»Sie sind weg!«, stieß Agnes aus und hielt Sera den Arm hin, um ihr herauszuhelfen. Sera blinzelte in die Sonne und entdeckte das Schiff in der Ferne, ein schwarzer Umriss am Horizont.

»Das ist nicht gut«, sagte Vada, als Leo aus der Kiste kletterte und sich reckte und streckte. »Wenn die Misarros jetzt schon pelagische Schiffe anhalten.«

»Misarros?«, wiederholte Leo.

»Die Elitekampftruppe von Pelago«, erklärte Vada. »Die Misarros schützen das Triumvirat und reichere Familien, die sich Leibwächter und so was leisten können.«

Violetta kam zu ihnen. »Noch nie in meinem Leben habe ich eine Erlaubnis gebraucht, um in Arbaz einzulaufen«, sagte sie und wedelte mit dem Papier, als sei sie persönlich beleidigt. »Ich frage mich, was uns dort erwartet. Die Zeiten ändern sich in der Tat.« Sie schaute zum Schiff der Misarros hinüber. »Und zwar nicht zum Besseren.«

2

LEO

Leo konnte das mulmige Gefühl nicht ganz abschütteln, das die Misarros bei ihm ausgelöst hatten. Doch dann kam der Hafen von Arbaz in Sicht, und der Anblick war derart überwältigend, dass alles andere vorerst in den Hintergrund rückte. Sein ganzes Leben lang hatte Leo Pelago derart gehasst, dass er nie einen Gedanken daran verschwendet hatte, wie es dort aussehen könnte. Jetzt war er erschüttert, wie wunderschön das Land war.

Terrakottafarbene Bauwerke wiesen wie lange Finger in den Himmel, funkelten im Licht der untergehenden Sonne, als seien sie mit Diamanten besetzt. Leo erkannte Uhrentürme, Turmspitzen und Kuppeln aus gelbem und orangefarbenem Stein. Rauchfähnchen kringelten sich aus rosafarbenen Schornsteinen, und irgendwo in der Ferne läutete eine Glocke. Die Stadt war von Hügeln umgeben, in fröhlichen Farben gestrichene Häuser sammelten sich um den großen Markt, der sich in der weitläufigen weiß verputzten Anlage mit dem roten Ziegeldach hinter den Hafenanlagen befinden musste. Das Meer war kristallblau, eine Farbe, die fast in den Augen schmerzte. Alles war unglaublich idyllisch, besonders im Vergleich zu dem Smog, dem Stahl und dem trüben Wasser von Old Port. Kurz fragte Leo sich, warum ihr Chauffeur Eneas dieses Land überhaupt verlassen hatte.

Leo überlief jedes Mal ein kalter Schauer, wenn er darüber nachdachte, was passiert wäre, wenn der Fluchtplan gescheitert wäre und er Kaolin nicht verlassen hätte (er säße jetzt in irgendeinem Zug und würde sich täglich von dem Schauspieler James Roth in die Hand schneiden lassen müssen). Leo hätte Seras Blut meistbietend versteigern müssen, zusammen mit den Zauberkräften von Boris und Errol – nun ja, die von Boris wohl nicht, da der arme Baum ja verbrannt war. Allein bei der Vorstellung stieg Leo die Galle hoch.

»Und, was hältst du von meinem furchtbaren Land, moulil?«, fragte Vada und schlug ihm auf den Rücken. Moulil war das pelagische Wort für Maultier. Vada gab Leo alle möglichen Namen, nur mit seinem richtigen sprach sie ihn nicht an. Maultier, Trottel, dummer Byrne, Chauvi … Anfangs hatte er sich darüber geärgert, jetzt jedoch nicht mehr. So war Vada halt.

»Es ist wunderschön«, sagte er. Sein Kompliment schien sie gleichzeitig zu überraschen und ihr zu schmeicheln.

»Es ist herrlich«, stimmte Agnes zu. »Nur diese Schiffe gefallen mir nicht.«

Links von ihnen segelte ein schnittiger schwarzer Schoner mit einer Flagge, auf der fünf rote Sterne prangten.

»Noch eine Patrouille des Triumvirats.« Vadas Gesicht verdüsterte sich. »Von der Lekke. Seht ihr die Sterne? Fünf rote Sterne sind das Symbol der Lekke. Das Wappen der Renalt zeigt eine goldene Sonne, und die Aerin hat einen silbernen Mond, wie ihr an ihren Misarros gesehen habt. Es gefällt mir nicht, dass alle drei Königinnen dafür gestimmt haben, die Häfen zu schließen.«

»Ist das ungewöhnlich?«, fragte Leo.

»Meistens entscheiden sie mit einer Gegenstimme. Die Lekke ist die vernünftigste von den dreien und greift immer erst spät zu drastischen Maßnahmen. Wenn sie aber diesmal derselben Meinung ist wie die anderen beiden, dann befürchte ich …«

Vada verstummte.

»Was?« Leo war sich unsicher, ob er die Antwort wirklich hören wollte.

»Dass es Krieg gibt«, schloss Vada.

Es wäre Wahnsinn von Kaolin, Pelago den Krieg zu erklären – die kaolinische Flotte war nicht annähernd so wehrhaft wie die Armada von Pelago. Wenn andererseits bekannt wurde, dass immer wieder Kaoliner verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurden, wie konnte der Präsident von Kaolin dann untätig bleiben? Irgendwann wäre er gezwungen, sich zu wehren. Leo hoffte nur, dass sie dann schon ein gutes Stück auf dem Weg nach Braxos zurückgelegt hätten.

Langsam näherte sich der Schoner dem Hafen. Er durfte jedoch erst anlegen und den Landungssteg herausholen, als Violetta Rowens Schreiben vorgezeigt hatte.

»Gut«, sagte Vada. »Der Trottel und ich gehen auf den Markt. Ihr braucht neue Klamotten, zur Tarnung.« Sie warf einen kurzen Blick auf Sera. »Besonders du. Ich muss meine Mutter fragen, ob du mit der Maiden’s Wail nach Ithilia fahren kannst. Nach dem, was heute passiert ist, will sie es vielleicht nicht riskieren. Ich warte aber besser, bis sie ein paar Whiskey getrunken hat.«

»Ich möchte auch auf den Markt«, protestierte Agnes.

»Nein«, sagte Vada bestimmt. »Wenn da etwas passiert, wäre Sera auf sich allein gestellt. Außerdem möchte ich gerne mit einem Byrne über den Markt von Arbaz schlendern.« Sie kicherte. »Dann wird mir Diana Oleary nicht noch mal zwölf Aurum für diese zuckrige Katzenpisse abknöpfen, die sie Met nennt!«

Sie warteten, bis die Matrosinnen die Fracht abgeladen hatten. Als Letztes wurde eine Kiste vom Schiff getragen, die mit einem schweren Schloss gesichert war.

»Was ist da denn drin?«, fragte Leo.

»Das geht dich einen feuchten Kehricht an«, beschied Vada ihm. »Und denk dran, von jetzt an kein Kaolin mehr. Du sprichst nur noch Pelagisch.«

Leo schnaubte und zog eine Grimasse, doch Vada hatte ihm schon den Rücken zugekehrt und ging über den Steg an Land, sodass er keine andere Möglichkeit hatte, als ihr zu folgen.

Am Kai wimmelte es von Menschen, hauptsächlich Seeleute und abgehalfterte Typen mit wettergegerbten Gesichtern und verbrannter Haut. Misarros waren ebenfalls unterwegs und schritten mit Ehrfurcht gebietenden Mienen durch die Menge, Schmuck aus verschiedenen Metallen zierte ihren Hals und die Arme. Leo schätzte, dass die Misarros sich von der Polizei von Old Port City nicht so leicht unterkriegen lassen würden.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, brummte Vada, als eine Misarro mit einem Mond als Abzeichen einen Gassenjungen am Schlafittchen packte und ihn zur Seite zog. Leo blieb dicht bei Vada, und so steuerten sie auf den Eingang des Marktes zu, einen großen Bogen in der Mitte des rot bedachten Gebäudes, über dem die Wörter MARGORA DE ARBAZ standen. Eine Frau in dunkler Hose und grüner Weste beäugte Leo und drehte dabei einen Saphirring von der Größe einer Walnuss an ihrem Finger. Hinter ihr stand ein schlanker junger Mann, ungefähr in Leos Alter, mit langen braunen Locken. Er trug ein Seidenhemd, das bis zum Bauchnabel offen war, und seine Hose war so eng, dass sie wie aufgemalt aussah. Die Frau flüsterte dem Jungen etwas zu, worauf er zu Leo hinübertänzelte.

»Willst du mit mir ausgehen?«, fragte er verschämt auf Pelagisch.

Leo war noch nie zuvor von einem Mann angesprochen worden. »Nein«, erwiderte er ebenfalls auf Pelagisch, ohne groß nachzudenken. Vada griff nach seiner Hand und zog ihn weiter.

»Hör auf damit!«, zischte sie.

»Womit?«, fragte er. »Ich hab doch nichts getan.«

Dann schob und drängte ihn die Menschenmenge durch den Torbogen, und Leo musste sich anstrengen, Vada und ihren kastanienbraunen Zopf nicht aus den Augen zu verlieren. Vor dem Gebäude zog sich ein Säulengang entlang, der weit nach links und rechts reichte. Die Geräusche wurden von den Mauern zurückgeworfen. Schließlich betrat Leo die eigentlichen Markthallen. Vada zog ihn zu einem goldenen Häuschen mit einer gestreiften Markise. Auch ohne Pelagischkenntnisse hätte Leo das Schild an der Fassade verstanden:

KRÖGER – AURUM.

Vada drehte sich zu ihm um. »So, du Trottel, jetzt schauen wir mal, wie viel dein Gesicht wirklich wert ist«, sagte sie leise. »Benimm dich so, als würdest du über diesen ganzen Leuten stehen. Dürfte dir nicht zu schwerfallen, oder?« Leo widerstand dem Impuls, die Augen zu verdrehen. Schon rief Vada: »Aus dem Weg! Mr. Byrne ist hier! Platz für Mr. Byrne!«

Staunend verfolgte Leo, wie sich die Menge teilte und die anstehenden Leute Platz machten, um ihn und Vada durchzulassen. Viele sahen ihn mit großen Augen an oder verbeugten sich vor ihm.

»Gib mir dein Geld und überlass mir das Reden«, murmelte Vada, als sie sich dem Schalter näherten. Schnell drückte ihr Leo ein dickes Bündel Kröger in die Hand.

»Dorinda, du faules Miststück!«, rief Vada und knallte das Geld auf den Tresen. »Pass auf und wechsle mir diese Scheine, aber zack, zack!«

Dorinda war eine dürre Frau mit einem dichten Schopf grellroter Haare, die ein muschelbesetztes Band aus dem Gesicht hielt. Eine Zweistärkenbrille saß auf ihrer Nase. Ihre langen Fingernägel waren vorn spitz gefeilt und pechschwarz lackiert.

»Vada«, sagte sie und zog die zweite Silbe mit hörbarem Genuss in die Länge. Ein zuckersüßes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht und war ebenso schnell wieder verschwunden. »Stell dich gefälligst hinten an, du kleine Ratte! Ich habe dir schon letztes Mal gesagt: keine Sonderbehandlung! Ist mir scheißegal, wer deine Mutter ist. Soll ich vielleicht die Misarros rufen?«

Bei der Vorstellung erschauderte Leo innerlich; auch wenn er aussah wie ein Byrne, würde er auf keinen Fall als einer durchgehen, wenn sie anfingen, ihm Fragen zu stellen.

»Wenn du die Misarros für Mr. Byrne rufen willst, dann bitte schön, gerne!«, rief Vada. »Ambrosine freut sich bestimmt sehr zu hören, wie ihre Familie auf diesem Markt behandelt wird.«

Dorinda warf Leo einen kurzen Blick zu und zuckte zusammen. Sofort machte sie ein unterwürfiges Gesicht. »Bei den Göttinnen, ich habe Sie nicht gesehen, Sir! Natürlich tausche ich das Geld sofort für Sie um.«

Als Dorinda ging, grinste Vada ihn an. »Das klappt ja besser, als ich gedacht hatte.«

Einige Minuten später kam die Kassiererin mit einem schweren Lederbeutel zurück, in dem es klimperte, als sie ihn abstellte. »Soll ich das Geld noch einmal für Sie nachzählen, Sir?«

Leo schüttelte den Kopf, dann stützte er die Hand in die Hüfte und sah in die Ferne, als wäre da etwas weitaus Interessanteres. Das machte sein Vater auch immer, wenn er mit jemandem redete, der seiner Meinung nach weit unter ihm stand.

Vada schnappte sich die Tasche und befestigte sie an ihrem Gürtel. »Mögen dich die Göttinnen segnen«, sagte sie zu Dorinda.

Die musterte Leo eingehend, wie er leicht beunruhigt feststellte. »Ich wüsste gerne, Sir, ob Sie mir sagen können … Es wird erzählt, dass Ambrosine die Seewege rund um Culinnon gesperrt hat, die zu den Verlorenen Inseln führen. Heißt das, dass sie Braxos gefunden hat?«

Er glaubte, den Namen »Culinnon« schon einmal gehört zu haben, aber er konnte ihn nicht einordnen.

»Wenn es Ambrosines Wille wäre, dass Sie erfahren, was Ambrosine tut, dann wäre sie bestimmt längst hergeeilt und hätte es Ihnen erzählt«, sagte er, bevor ihm einfiel, dass er nicht sprechen sollte. Doch als Dorindas Wangen rot anliefen, schien sich Vada insgeheim zu freuen. Leo spürte, dass es das Beste war, jetzt so schnell wie möglich zu verschwinden.

»Komm, Vada!«, sagte er in scharfem Ton und machte kehrt, ohne auf sie zu warten. Ziellos marschierte er einfach drauflos, mitten durch die Menge. Er sah bunte Zelte, kleine Pferche mit Tieren, Backsteinhäuschen mit Reetdach und Lebensmittelhändler, an deren Ständen sich Körbe voller Obst und Gemüse drängten: reife Birnen, violette Pflaumen und eine orange Frucht mit spitzen blauen Blättern, daneben glänzende Gurken, rote Tomaten und dicke Karottenbündel. Schließlich blieb Leo zwischen einem Obstverkäufer und einem Metzger stehen. Vada klopfte ihm auf die Schulter.

»Gut gemacht«, sagte sie. »Das war ganz schön brenzlig, was?«

»Allerdings«, sagte Leo.

»Na, zumindest wissen wir jetzt, dass du dich als Byrne ausgeben kannst.«

Leo fand die Erkenntnis nicht besonders tröstlich. »Und was ist, wenn sie den Misarros von uns erzählt?«

»Die Misarros haben kein Interesse daran, sich Ärger mit einem Byrne einzuhandeln«, versicherte Vada ihm. »Es sei denn, auch das hat sich inzwischen verändert und die ganze Welt ist verrückt geworden. Komm, wir müssen dir neue Kleidung besorgen! Und was zu essen kaufen – ich habe solchen Hunger!«

Sie holte zwei Birnen für sich selbst und Leo, und als er die Zähne in das süße Fruchtfleisch schlug, spürte er, dass seine Anspannung allmählich nachließ. Der Saft lief ihm am Kinn hinunter. Fünfzehn Tage lang hatte er nichts als Pökelfleisch, altes Brot und harten Käse gegessen. Die Birne war das Beste, was er je geschmeckt hatte, davon war er überzeugt.

»Wir sollten Sera eine mitbringen«, sagte er beim nächsten Bissen.

Vada sah ihn mit erhobener Augenbraue an.

Leos Gesicht wurde heiß. »Ich meine ja nur … weil sie ja kein Fleisch isst«, stammelte er.

»Klar. Meinst du nur«, sagte Vada mit einem wissenden Grinsen.

Sie kamen an einem Silberschmied vorbei, dessen Vasen, Schalen und Löffel in der spätnachmittäglichen Sonne glänzten, und gingen dicht nebeneinander durch eine enge Gasse, die auf einen kleinen Platz führte. Er war von Marktständen in verschiedenen Braun- und Rottönen umringt. Offenbar wurden hier nur Teppiche feilgeboten. Vada und Leo schlugen einen Bogen um eine Frau auf Stelzen, die ein fließendes Gewand in leuchtendem Grün trug und mit vier gestreiften Bällen jonglierte, dann schoben sich die beiden an einer kleinen Musikgruppe vorbei, die mit Geigen, Dudelsäcken und Trommeln eine fröhliche Melodie spielte. Hinter jeder Ecke schienen Misarros zu lauern, doch es gelang Vada immer, ihnen auszuweichen. Leo hielt den Kopf gesenkt, bis sie um die nächste Ecke bogen und sein Blick auf eine überwältigende Auswahl an Edelsteinen fiel, die im Sonnenlicht funkelten.

»Wie groß ist dieser Markt eigentlich?«, staunte er.

»Sehr groß«, antwortete Vada. »Einer Legende zufolge kam einmal eine reiche Frau von einer der Inseln im Norden hierher, um sich diesen prächtigen Markt anzusehen, verirrte sich jedoch zwölf Tage lang darin. Als man sie fand, war sie nur noch Haut und Knochen und knabberte an einer toten Ratte.«

»Bah!«, machte Leo, und Vada lachte. Dann duckte sie sich unter einem dünnen Seidenlaken hindurch, das zwischen zwei Apothekenständen gespannt war, aus deren offenen Türen der kräftige Duft von Kräutern quoll. Leo folgte ihr und fand sich vor einer Reihe von Zelten in Lila- und Lavendeltönen wieder. In einem Zelt lagen ordentlich gefaltete Hosen auf einem Tisch, im nächsten hingen Hemden, und ein drittes Zelt bot das aufsehenerregendste Sortiment von Kleidern an, das Leo je gesehen hatte. Es gab Zelte, in denen Kopfschmuck aus Muscheln verkauft wurde, andere, in denen alle möglichen Schuhe ausgestellt waren, und wieder andere mit einer großen Auswahl von Schals und Tüchern.

»Das hier«, sagte Vada und streckte die Arme aus, »ist der beste Ort auf dem ganzen Markt, um Kleidung zu kaufen. Die Frage ist nur: Wo fangen wir an?«

»Agnes wird eine Hose wollen«, erwiderte Leo. »Eine praktische, bequeme.«

Vada nickte. »Wir können sie so einkleiden, dass sie wie die Tochter einer Kauffrau oder wohlhabenden Kapitänin oder wie eine Kammerdienerin aussieht.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Dienstmagd wäre vielleicht das Beste für unseren Plan.«

Das würde seiner Schwester bestimmt nicht gefallen, aber sie würde sich über die Hose freuen. »Und was machen wir mit Sera?«, fragte Leo.

Vada runzelte die Stirn. »Wenn man ihre Haut oder ihre Haare sieht, erregt das Aufsehen, und das können wir gerade überhaupt nicht gebrauchen.«

Sie gingen an einer Zeltreihe entlang. Als sie zwei Misarros mit goldenen Sonnen auf der Brust sahen, die vor dem schönsten Zelt in der ganzen Reihe Wache standen, blieben Vada und Leo abrupt stehen. Festmoden Ofairn übersetzte Leo noch schnell das Schild über dem Eingang, dann zog Vada ihn zurück, doch hinter dem Zelt waren ebenfalls Misarros. Vada fluchte leise vor sich hin, bückte sich und zog in einer fließenden Bewegung ein Messer aus ihrem Stiefel, mit dem sie einen langen Schlitz in die Seitenwand des Zelts schnitt. Sie schlüpfte hinein und zog Leo mit sich.

Im Zelt hingen zahllose Kleider, schillernde Anfertigungen aus Seide und Spitze, Prachtexemplare der Schneiderkunst, manche mit langem Arm, andere trägerlos, einige mit Muscheln oder Perlen bestickt, andere mit Steinchen – vermutlich aus dem Fluss –, außerdem Kiesel in diversen Grau- und Grüntönen. Bis auf ein Mädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt, konnte Leo niemanden im Zelt entdecken. Sie hatte braune Haut, kupferrotes Haar und große Rehaugen und sie probierte offensichtlich gerade ein Kleid an, dass sie von Kopf bis Fuß in Spitze hüllte.

Zu Leos Überraschung gab Vada ein ersticktes Geräusch von sich, sackte auf ein Knie und stieß ihn mit dem Ellenbogen an, damit er es ihr nachtat.

»Prinzessin Rahel«, stieß sie aus. »Das haben wir nicht … Es tut mir leid … wir wollten nur …«

Leo hatte noch nie erlebt, dass die Matrosin so von der Rolle war. Im nächsten Moment wurde ihm jedoch klar, was sie gerade gesagt hatte. Prinzessin?

»Erhebt euch«, sagte das Mädchen und kicherte. »Das ist nicht die Zelttür. Habt ihr euch verirrt? Wisst ihr nicht, wie ein Zelteingang aussieht?«

Die beiden standen auf, das Mädchen rümpfte die Nase. »Ihr stinkt. Seid ihr Matrosen? Wart ihr schon mal in Kaolin? Meine Mutter sagt, da leben nur Ungläubige. Und sie würden ganz langweilige Sachen anziehen. Gefällt euch dieses Kleid? Mistress Phebe hat es selbst entworfen. Ich heirate in einem Monat, ist das nicht aufregend?« Ihr Blick fiel auf Leo. Wieder bemerkte er erkennendes Aufblitzen und dann etwas, was er von den Mädchen aus Old Port kannte: Begehren.

»Du siehst aus wie ein Byrne«, sagte die Prinzessin.

»Ich bin auch einer«, erwiderte er, weil Vada immer noch überwältigt neben ihm kniete. »Meinen aufrichtigen Glückwunsch zur bevorstehenden Vermählung!«

Rahel grinste. »Vielen Dank«, sagte sie und machte einen kleinen, eleganten Knicks. Dann beugte sie sich vor und flüsterte: »Meine Familie hasst deine Familie.«

Wenn es eins gab, was Leo gut konnte, dann war es, mit reichen Mädchen zu flirten. »Und meine Familie hasst deine«, gab er mit einem Zwinkern zurück, wofür er mit einem erneuten Kichern belohnt wurde. »Aber da unsere Familien gerade nicht hier sind, können wir doch Freunde sein, oder?«

Rahel war erfreut. »Solange wir es geheim halten«, sagte sie.

»Natürlich.« Leo verbeugte sich. Ihm wurde klar, dass die Misarros, die vor diesem Zelt Wache standen, wohl die Leibgarde der Prinzessin waren. Die goldene Sonne auf ihren Oberteilen verriet ihm, dass er es mit der Tochter der Renalt zu tun haben musste. »Ich wundere mich, dass du in so gefährlichen Zeiten nach Arbaz reist.«

Rahel klatschte in die Hände. »Ich weiß. Das ist so aufregend, nicht? Auch wenn ich nicht verstehe, warum Mutter dafür gestimmt hat, die Häfen zu schließen. Ithilia ist viel spannender jetzt, wo so viele neue Leute da sind. Sie wollte nicht, dass ich herkomme, aber ich muss doch ein Kleid von Mistress Phebe haben, nicht? Sie ist die beste Schneiderin im ganzen Land! Wer kümmert sich schon um alte Kähne aus Kaolin? Ich habe gehört, dass man in Kaolin so gut wie nie segelt, sondern dass sie dort mit großen hupenden Maschinen herumfahren. Willst du hier auch neue Kleider kaufen? Was du anhast, passt dir ja nicht besonders gut. Warum läuft ein Byrne wie ein normaler Matrose herum? Ist das deine Freundin?«

Vada schnaubte verächtlich, Leo schüttelte den Kopf.

»Nein, sie ist meine Dienstbotin«, sagte er. Rahel schien sehr erfreut, das zu hören.

In dem Moment wurde die Zeltplane aufgeworfen, und eine Frau kam herein, die einen sehr aufwendigen Kopfschmuck in der Hand hielt. »Ich habe genau das Richtige für Euch gefunden, Prinzessin«, sagte sie, dann erblickte sie Leo und Vada und verstummte. Sie war ungefähr Ende vierzig, hatte gewellte schwarze Haare und braune Haut. Ein Kleid aus schimmernden blaugrünen Schuppen betonte ihre kurvige Figur. Leo war zwar überzeugt, dass er sie noch nie gesehen hatte, dennoch kam ihm ihr Gesicht irgendwie bekannt vor.

»Sehen Sie mal, Mistress Phebe, hier ist ein Byrne, der zu Ihnen will!«, verkündete Rahel. »Aber er ist nicht durch den Eingang hereingekommen. Der braucht wirklich neue Kleider, was?«

Mit wackligen Knien und ganz zittrig vor Sorge beäugte Leo die Frau und fragte sich leicht besorgt, wie sie reagieren würde. Doch sie sah ihn nur an und wandte sich dann mit einem freundlichen Lächeln an die Prinzessin. »Ja, das stimmt«, sagte sie. »Wir sind mit der Anprobe fertig. Sie können sich nebenan umziehen, dann komme ich gleich zu Ihnen.«

Prinzessin Rahel schien es nicht eilig zu haben, Leo zu verlassen, doch schließlich gab sie nach. Als sie allein waren, dröhnte Leo immer noch das Herz in den Ohren, und Vada rappelte sich auf.

Mistress Phebe verschränkte die Arme vor der Brust. »Leo McLellan!«, sagte sie.

Schockiert starrte Leo sie an.

»Nein«, widersprach Vada schwach. »Er ist ein Byrne, er …«

»Ja, klar ist er ein Byrne«, unterbrach die Frau sie. »Die Augen, die Nase, das Kinn … Mein Gott, er hat sogar ihre Haare, wenn auch nicht dieselbe Farbe.« Sie legte den Kopf schräg. »Aber dieser Byrne ist nicht auf dem Grund und Boden von Culinnon oder in den königlichen Straßen von Ithilia aufgewachsen.«

»Ich …« Leo wusste nicht, was er sagen sollte. Vada offensichtlich auch nicht.

Die Frau lächelte und hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Phebe Ofairn. Ich glaube, du kennst meinen Bruder, Eneas.«

3

AGNES

Die Sonne ging unter, und Leo und Vada waren noch immer nicht zurück.

Agnes lief in der Kapitänskajüte auf und ab, während Sera aus dem Bullauge über der Koje spähte, fasziniert von den Geräuschen und Sehenswürdigkeiten von Arbaz.

Warum brauchten die beiden so lange? Agnes betastete den Brief in ihrer Tasche, den Brief, den sie von ihrer Großmutter bekommen hatte. Sie trug ihn immer bei sich, zusammen mit dem Foto ihrer Mutter. Die beiden Dinge erinnerten sie daran, wer sie war und welches Ziel sie hatte. Sie holte den Brief heraus und las ihn zum millionsten Mal.

Meine liebste Agnes,

hoffentlich erreicht Dich dieser Brief. Ich habe Freunde an der Universität von Ithilia, die mir überraschende (und willkommene) Neuigkeiten haben zukommen lassen. Bitte besuch mich nach Deiner Ankunft! Hier nur so viel: Schon lange sehne ich mich danach, Dich kennenzulernen.

Deine Dich liebende Großmutter,

Ambrosine Byrne

Das Datum von Agnes’ Gespräch an der Akademie der Wissenschaften stand bereits fest. Es waren nur noch wenige Tage bis dahin. Agnes wollte es nicht verpassen, konnte es nicht verpassen; ihr ganzes Leben lang wartete sie schon auf diese Gelegenheit. Aber Sera musste nach Hause. Agnes würde ihre Freundin auf keinen Fall fragen, ob sie die Reise vielleicht um einen Tag verschieben könnten. Sie hatte ja schon schreckliche Schuldgefühle, wenn sie nur darüber nachdachte.

»Ich weiß, was du denkst.« Als Agnes Seras Stimme hörte, zuckte sie zusammen. Schnell schob sie den Brief in die Tasche zurück.

»Ich mache mir Sorgen um Leo«, log sie.

»Nein, das stimmt nicht. Du denkst an diese Schule, an die du so gerne gehen möchtest. Du hast dort bald ein Gespräch, nicht wahr?«

Agnes war verwirrt und überrascht – sie hatte kaum über die Universität gesprochen, aus dem unbestimmten Gefühl heraus, allein die Erwähnung könnte die Möglichkeit des Versagens heraufbeschwören.

Sera lächelte. »Leo ist viel beeindruckter von dir, als er durchblicken lässt.«

Agnes spürte, dass ihre Wangen heiß wurden. »Das ist nicht so wichtig«, sagte sie. »Hauptsache, wir bekommen dich nach Braxos.«

»Agnes.« Sera stand auf und nahm Agnes’ Hände in ihre weichen silbernen Hände. »Bei unser Fahrt geht es nicht nur um mich. Wir verändern uns alle, finden neue Wege im Leben, du, Leo und ich. Du bist meine Freundin. Ich möchte nicht, dass du wegen mir eine Gelegenheit verpasst. Wir fahren zuerst nach Ithilia, wo du dich bei dieser Schule vorstellst, und dann fahren wir weiter nach Braxos. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn du diese Chance nicht nutzen würdest. Ich möchte nicht, dass du mir etwas nachträgst, wenn ich … wenn ich nicht mehr hier bin.«

Agnes hatte das Gefühl, ihr Hals schnüre sich zu. Natürlich wünschte sie sich für Sera, dass sie zu ihrem Volk zurückkehrte, dennoch würde sie Agnes ganz furchtbar fehlen. Agnes hatte noch nie eine richtige Freundin gehabt. Jetzt hatte sie Vada, aber das war etwas anderes – Vada war Verlangen und Begehren, Vada beherrschte nachts ihre Träume, und morgens lag ihr Name auf Agnes’ Zungenspitze. Vada war alles Mögliche, was Agnes noch nie zuvor gefühlt hatte.

»Du bist die beste Freundin, die ich je hatte«, sagte Agnes. »Ich bin so froh, dass ich dich kennengelernt habe. Also, es freut mich natürlich nicht, dass mein Bruder dich mit einem Netz gefangen hat und mein Vater dich in eine Kiste gesteckt hat, aber …«

Sera lachte. »Wie seltsam das alles begonnen hat. Aber du bist immer nett zu mir gewesen, vom ersten Augenblick an. Du hast mir gezeigt, dass nicht jeder Mensch böse ist.«

»Ein Punkt für die Menschheit – wir sind nicht alle schlecht.«

»Diese Misarros waren allerdings sehr beängstigend«, sagte Sera erschaudernd. »Ich habe Angst, dass es jetzt noch schwieriger wird, nach Braxos zu gelangen.«

»Aber du hast doch gesagt, Errol würde den Weg kennen«, erinnerte Agnes sie. »Das ist unser Vorteil.«

Sera nickte. »Wenn er uns wenigstens sagen könnte, wie weit es ist oder wie lange man bis dorthin braucht. Aber er spricht nur von Schwimmstrecken und Untiefen. Ich glaube nicht, dass er Entfernungen so berechnet wie wir.«

Agnes ließ sich auf eine Koje fallen und starrte an die Decke. Sera setzte sich neben sie.

»In Kaolin war mir alles so klar«, sagte Agnes. »Da wusste ich, was ich wollte. Was ich tat. Jetzt, da wir in Pelago sind, habe ich das Gefühl, als hätte ich bisher nicht begriffen, wie groß die Welt tatsächlich ist.«

»Ich auch«, sagte Sera. »Bis ich runtergefallen bin, kannte ich nur die Stadt über dem Himmel. Aber es gibt so viel mehr im Universum.« Sie seufzte. »Ich wollte schon immer diesen Planeten sehen. Dann ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen, nur nicht so, wie ich dachte.«

»Glaubst du wirklich, dass du mithilfe des Bandes nach Hause kommst?«, fragte Agnes.

»Ja«, erwiderte Sera, und Agnes schaute hoch. Sera war fest entschlossen. »Das Band ist die Verbindung zwischen meiner Stadt und diesem Planeten. Es muss der Rückweg sein. In alten Zeiten reisten die Cerulean immer zu dem Planeten, an den sie gebunden waren. Also mussten sie auch die Möglichkeit haben, in die Stadt zurückzukehren.« Sera drehte sich zum Bullauge um und schaute hinaus. »Je näher wir diesem Land kamen, desto stärker wurde meine Magie. Es fühlt sich an, als würde sie fast aus meinen Adern platzen.« Sie stieß einen leisen Schrei aus. »Da sind sie!«

Die beiden Mädchen krabbelten aus der Koje, rissen die Tür auf und liefen zur Luke, während oben Schritte zu hören waren. Die Luke wurde aufgeworfen, und vor einem viereckigen Stück Sonnenuntergang tauchte Vadas Gesicht auf.

»Also das war mal ein interessanter Einkaufsbummel, gelinde ausgedrückt«, bemerkte sie. »Hier, fangt!«

Sie warf mehrere Pakete nach unten, die in buntes, weiches Papier eingeschlagen und mit einer Kordel zugebunden waren. Agnes fing ein blaues auf, das sich stabiler anfühlte als das grüne, das folgte. Leo musste seine Päckchen vorsichtig nach unten durchreichen – er hatte einen ganzen Stapel mitgebracht; mit grünen Schleifen verzierte Schachteln, in Papier eingeschlagene Kleidungsstücke. Das ausgefallenste Paket von allen war für Sera: Es war in Goldfolie gewickelt und hatte einen Stempel mit einem Schwan, dessen Kopf drei Sterne zierten.

»Ich helfe dir in das Kleid«, sagte Vada zu Sera, als sie mit Leo nach unten in den Laderaum kletterte. »Es hat sehr viele Knöpfe.« Sie wandte sich an Agnes. »Du und dein Bruder, ihr müsst euch umziehen, schnell. Wir wollen nicht zu spät zum Essen kommen, und ich will nicht nach Einbruch der Dunkelheit über den Markt laufen.«

Sie schob Leo vor und drängte Sera in die Kapitänskajüte.

»Zum Essen?«, fragte Agnes. »Wo gehen wir denn essen? Was ist auf dem Markt passiert?« Sie folgte Leo in seine Kajüte, die weniger ein Raum als vielmehr eine ungenutzte Nische war. Auf einer verstaubten Bank lagen eine Decke und ein Kopfkissen, in die Wand waren zwei leere Regale eingelassen.

»Erkläre ich dir, wenn ich mich umgezogen habe«, sagte Leo. Die beiden wandten sich voneinander ab.

Agnes öffnete das festere Päckchen und stieß einen Freudenschrei aus. »Vada hat mir eine Hose gekauft!«, rief sie.

Leo schnaubte verächtlich. »Ich habe dir eine Hose gekauft. Dachte, du wolltest eine.«

»Oh, danke!«

»Steht dir bestimmt besser als deine alten Laborklamotten.«

Agnes verkniff sich eine Antwort und zog sich aus. Sie war es nicht gewohnt, ihrem Bruder dankbar zu sein.

Die Hose aus dunkelblauer Wolle saß wie angegossen. Das Hemd war aus Leinen und hatte lange Ärmel mit Aufschlägen. Im dritten Päckchen war eine Weste aus dunkelrotem Wildleder, vom Schnitt her ähnlich wie die schwarze von Vada, aber sehr viel feiner. Außerdem fand Agnes Stiefel aus weichem Leder und ein kleines Stirnband mit einer Verzierung aus Jakobsmuscheln an der Seite. Als sie komplett umgezogen war, hätte sie weinen können.

Noch nie hatte sie sich allein aufgrund ihrer Kleidung so wohlgefühlt, so sehr sie selbst – jedenfalls wie das Selbst, das sie immer hatte sein wollen. In diesen Sachen hatte sie das Gefühl, eine Schicht Kaolin abgelegt und zurückgelassen zu haben.

»Oh Leo!«, rief Agnes. Ihr wollte keine bissige Bemerkung einfallen. »Das ist perfekt!«

»Ich wusste deine Größe nicht genau«, sagte er. »Ich hab ja immer nur Kleider für dich ausgesucht.«

»Bist du fertig?«

»Ja, bin so weit«, erwiderte er. Es klang nervös. »Aber versprich mir, dass du nicht lachst, ja?«

»Warum sollte ich lachen?« Beide drehten sich gleichzeitig um, und Agnes fiel die Kinnlade herunter.

»Leo!«, war alles, was sie herausbrachte.

In seinen Anzügen und Smokings hatte ihr Bruder immer eine gute Figur gemacht, aber in den pelagischen Kleidern wirkte er wie ein völlig anderer Mensch. Agnes fragte sich, ob er dasselbe von ihr dachte.

Leo trug eine schicke schwarze Hose, die an den Knöcheln schmal zulief, dunkelrote Schuhe mit großen goldenen Schnallen und fünf Zentimeter hohen Absätzen, ein champagnerfarbenes Hemd aus feinster Seide im traditionellen Schnitt, den die feine pelagische Gesellschaft bevorzugte: große, bauschige Ärmel, am Handgelenk zusammengefasst, und auf der Brust so weit offen, dass man viel Haut sah. Ein türkisfarbener Gürtel, passend zu seinen Augen, war um seine Taille gebunden.

»Die haben mich gezwungen, das hier zu nehmen«, sagte er verdrießlich, doch bevor Agnes fragen konnte, wer »die« waren, seufzte er und schaute an sich hinab. »Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, dass ich mal solche albernen pelagischen Klamotten anziehe, über die Robert und ich uns immer lustig gemacht haben.«

»Robert ist ein kleinkarierter Spinner«, sagte Agnes. »Ich finde überhaupt nicht, dass du albern aussiehst.« Leo warf ihr einen vernichtenden Blick zu, sie hob abwehrend die Hände. »Das ist mein Ernst! Ich meine, es ist was anderes als sonst, aber … es steht dir irgendwie, ehrlich.«

»Ich bin praktisch nackt«, sagte Leo und zog an dem offenen Brustausschnitt. »Warum knöpfen die ihre Hemden nicht zu? Warum haben die Hemden nicht mal Knöpfe? Und diese Hose ist so eng, dass ich mich damit bestimmt nicht hinsetzen kann. Und wieso muss ich Schuhe mit Absätzen tragen?«

Agnes konnte sich das Lachen nun doch nicht verkneifen. »Wenigstens sind das nicht so spitze Dinger, in denen man nur herumwackelt und hinfällt. Die sind doch total stabil. Sehr praktisch.« Bevor Leo erneut protestieren konnte, öffnete seine Schwester die Tür. »Jetzt erzähl, was auf dem Markt passiert ist und wo wir heute essen gehen.«

»Also, zuerst mal hatten alle recht mit meinem Gesicht.« Leo machte ein paar zögernde Schritte in seinem neuen Schuhwerk. »Die Frau, die unser Geld gewechselt hat, hat nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass ich ein Byrne bin. Sie hat mich gefragt, ob Ambrosine alle Passagen zu den Verlorenen Inseln gesperrt hat. Unsere Großmutter ist vielleicht noch mächtiger, als wir gedacht haben.«

Agnes wurde mulmig zumute. »Selbst wenn sie die Passagen abgeriegelt hat, würden sie uns doch wohl durchlassen«, sagte sie nervös.

»Das ist noch nicht alles«, entgegnete Leo. Sie gingen durch den schmalen Gang zur Kapitänskajüte. »Wir haben zufällig eine Prinzessin getroffen. Die Tochter der Renalt.«

»Ihr habt eine Prinzessin getroffen? Wie?«

»Als wir uns vor Misarros versteckt haben«, sagte Leo, als sei es das Normalste der Welt. »Jedenfalls hat die Prinzessin ein Kleid bei einer Frau gekauft, die sich als Eneas’ Schwester entpuppte. Sie ist eine ziemlich bekannte Schneiderin in Pelago. Sie hat mich sofort erkannt und uns dann geholfen, die Sachen auszusuchen. Für heute Abend hat sie uns zum Essen eingeladen. Da müssen wir also hin.«

»Was?«, rief Agnes. »Ihr habt Eneas’ Schwester gefunden? Wie ist sie so? Wo wohnt sie? Warum hast du mir das nicht sofort erzählt?«

»Weil ich wusste, dass du mir dann tausend Fragen stellst und dass es Ewigkeiten dauert, bis du angezogen bist, und dann wären wir zu spät gekommen. Du hast den Markt nicht gesehen, Agnes; da laufen wirklich unzählige Misarros herum. Wir dürfen nicht auffallen, sonst landen wir noch im Gefängnis oder Schlimmeres.«

Agnes’ Herz setzte aus. »Die würden doch keine Byrnes festnehmen, oder?«

»Wenn Ambrosine die Seewege zu den Verlorenen Inseln gesperrt hat, weiß ich nicht, ob es im Moment so toll ist, ein Byrne zu sein. Außerdem sind wir halbe Kaoliner. Hier wird jeder verhaftet, den sie verdächtigen, etwas mit Kaolin zu tun zu haben.«

Ihr Bruder hatte recht, das wusste Agnes, auch wenn es ihr nicht gefiel. Sie mussten ihre Großmutter finden. Sobald sie unter Ambrosines Schutz standen, wären sie in Sicherheit. Agnes wollte Leo noch mehr Fragen stellen, doch da ging die Tür zur Kapitänskajüte auf und er blieb so abrupt stehen, dass Agnes mit ihm zusammenprallte.

Sera stand im Rahmen, ihr Haar hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt. Hinter ihr war eine selbstgefällig grinsende Vada, die ähnlich wie Agnes angezogen war, nur dass sie statt einer dunkelroten eine dunkelgelbe Weste trug.

»Phebe hatte recht. Sie sieht perfekt aus«, bemerkte Vada.

Seras enges violettes Spitzenkleid unterstrich ihre schlanke Figur. Es hatte ein Muster aus Blumen – Tulpen, Veilchen und Ringelblumen. Die Ärmel waren so lang, dass sie über die Hände reichten und jeder Finger bis zum Gelenk in Spitze gehüllt war. Am Hals war das Kleid hochgeschlossen, die Taille zierte ein Gürtel aus elfenbeinfarbenen Muscheln in filigranen Goldfassungen. Das Kleid bedeckte Seras Füße und war zudem mit einer langen Schleppe versehen. Es wirkte äußerst anmutig und elegant.

»Sie sieht wunderschön aus«, sagte Agnes.

»So etwas tragen pelagische Frauen aus der Oberschicht traditionellerweise, wenn sie heiraten«, sagte Vada. »Prinzessin Rahel hatte gerade eine Anprobe für eben so ein Kleid. Das ist die perfekte Verkleidung. Sera spielt die Rolle der schüchternen Braut deines Bruders.«

Leo lief dunkelrot an.

»Aber was ist mit ihren Haaren?«, fragte Agnes. »Und mit ihrem Gesicht?«

Vada schnippte mit den Fingern. »Das Beste fehlt noch.« Sie verschwand und kehrte mit einem auffälligen Kopfschmuck zurück. Vorsichtig setzte sie ihn auf Seras Scheitel. Er bestand aus unzähligen kleinen Muscheln – Pantoffelschnecken, Kalb-Mondschnecken und spitz zulaufende Venusmuscheln bildeten zwei Spitzen wie kleine Hörnchen. Dazwischen ruhte eine wunderschöne blassrosa Meeresschnecke. Schnüre mit violetten und türkisfarbenen Perlen verdeckten Seras Gesicht und Haare und reichten bis auf ihr Schlüsselbein.

»Seht ihr? Perfekt!« Vada strahlte. »Agnes, du und ich tun so, als wären wir ihre Dienerinnen.«

»Was?«, rief Agnes.

»Du willst doch runter vom Schiff, oder?«, sagte Vada. Agnes murrte, aber es stand zu viel auf dem Spiel. Sie musste wohl oder übel einen Abend lang so tun, als würde sie ihren Bruder bedienen.

Sera drehte den Kopf nach rechts und links, sodass die Perlen leise klackerten. »Man kann etwas schlecht sehen«, sagte sie.

»Keine Sorge, wir passen auf, dass du nicht stolperst oder so«, versicherte Agnes ihr.

Vada sah Leo stirnrunzelnd an. »Wo ist dein Camerz, kaolinischer Narr?«

»Sein was?«

»Ich musste auch einen Kopfschmuck kaufen«, brummte Leo, bevor er sich an Vada wandte. »Ich habe gesagt, was ich jetzt anhabe, muss reichen.«

»Oh, tut mir leid, aber bist du zufällig in Pelago geboren und aufgewachsen? Kennst du unsere Bräuche und Traditionen so wie deine eigenen? Ja? Oder doch nicht? Dann halt den Mund und setz deinen Camerz auf!«, schimpfte Vada.

Leo murmelte etwas vor sich hin und stampfte zu seiner Koje.

Sera lächelte Agnes glückselig an. »Das ist ein sehr schönes Kleid, oder?«

»Auf jeden Fall«, bestätigte Agnes.

Sera betrachtete ihre Arme in der violetten Spitze. »Mir gefällt die Farbe. In der Stadt über dem Himmel gibt es nur blaue und weiße Kleider.«

Agnes freute sich immer, wenn Sera etwas fand, das sie an diesem Planeten mochte. Auch wenn es nicht unbedingt an ihr lag und die Freundin bald zu ihrem Volk zurückmusste, war Agnes doch sehr glücklich, wenn sie hörte, dass ihre Heimat nicht ganz so furchtbar war.

»Deine Sachen sind auch sehr schön«, sagte Sera. »Es sieht aus, als würdest du dich sehr wohl darin fühlen.«

»Was hat sie gesagt?«, fragte Vada.

»Sie mag meine Sachen«, erklärte Agnes. »Sie findet, es sieht aus, als würde ich mich darin wohlfühlen.«

Vada blinzelte ihr zu. »Das stimmt, kleine Löwin. Sie sehen aus wie für dich gemacht.«

Agnes lief rot an. Da tauchte Leo auf. Ein Reif aus gesprenkelten Junoniamuscheln krönte seine Locken. Auch wenn er darüber geklagt hatte – der Kopfschmuck war dezent und stand ihm hervorragend.

Vada klatschte in die Hände. »So, meine Freunde!«, rief sie. »Lasst uns essen gehen!«

4

SERA

Kaum hatte Sera ihren Fuß ans Ufer von Pelago gesetzt, spürte sie, wie die Magie in ihr stärker wurde, eine aufregende Kraft, die ihr ein Gefühl von Macht verlieh und sie gleichzeitig verwirrte. Sie fühlte mit überwältigender Deutlichkeit, dass ihre Stadt mit diesem Land verbunden war und es sie begrüßte wie eine alte Freundin.

Dann gingen sie auf den Markt, und Sera war fast überfordert von all den Menschen. Eine gewisse Anspannung lag in der Luft. Überall marschierten Misarros herum, die gelegentlich einen Marktbeschicker oder Käufer anhielten und befragten. Doch die von Vada ausgesuchte Verkleidung funktionierte – niemand verbeugte oder kniete sich vor Sera, niemand behandelte sie wie eine Erscheinung oder eine Göttin.

Wenn die vier überhaupt beachtet wurden, dann stand Leo im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sera sah, dass ein alter Mann die Hand auf die Stirn legte und ein junges Mädchen zweimal zu ihnen herübersah. Sera war erleichtert, dass Leo als pelagisch durchging. Agnes schien überhaupt niemand zu beachten.

Seras Beine hörten jedoch erst auf zu zittern, als sie den ausgedehnten Markt hinter sich gelassen hatten. Sie gelangten auf eine breite Prachtstraße, auf der viele Pferdekutschen unterwegs waren, verziert mit Muscheln, Steinen und Juwelen. Dazwischen eilten Menschen herum. Hin und wieder wurde auf den breiten Schultern von Trägern eine Sänfte hindurchgeschoben, deren Gardinchen zur Seite gezogen waren, um den kühlen Abendwind hereinzulassen, sodass man die Frau oder den Mann darin liegen sah.

Orientierungslos blieb Leo stehen und schaute nach rechts und links.

»Wohin jetzt?«, zischte er Vada zu, doch bevor sie antworten konnte, trat ein junger Mann in Uniform auf die vier zu. Er trug eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und flache Sandalen. Auf seiner rechten Brust prangte in Rot dasselbe Emblem, das auf dem Einwickelpapier von Seras Kleid gewesen war – ein Schwan mit drei Sternen.

»Mr. Byrne«, sagte der Mann und verbeugte sich tief. »Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen. Mistress Ofairn hat mich geschickt, damit ich Sie, Ihre Braut und Ihre Dienstboten zum Essen bei ihr geleite. Bitte folgen Sie mir!«

Leo reagierte mit einem knappen Nicken. Sie überquerten die Straße, schlängelten sich geschickt zwischen Kutschen hindurch und nahmen schließlich eine kleinere Straße, die von Häusern aus hellem Stein in Elfenbein, Rosé und Blassgold gesäumt wurde. Hier war es ruhiger. Seras Herzschlag beruhigte sich allmählich.

Der Dienstbote bog scharf nach rechts in eine Straße ab, die blaugrau gepflastert war und steil bergauf ging. Die Behausungen links und rechts waren in Blau- und Grüntönen gehalten. Oben angekommen, pustete Leo schwer, und selbst Sera war ein wenig außer Atem. Die Luft in diesem Land gefiel ihr besser als die Schwüle von Kaolin. Durch den schwachen Geschmack von Salz und die frische Brise vom Meer fühlte Sera sich stärker, lebendiger. Obwohl, ihren Kopfschmuck hätte sie gerne abgenommen. Der wurde immer schwerer, und die Perlenschnüre vor ihrem Gesicht störten sie langsam.

Das Haus ganz oben auf der Anhöhe war so strahlend blau wie Seras Haar; es gefiel ihr auf Anhieb. Eine niedrige Steinmauer umgab den gepflegten Garten, die Tür war in einem einladenden Gelb gestrichen. Aus dem Schornstein stieg eine dünne Rauchwolke, Vorhänge mit Blumenmuster wehten in den offenen Fenstern. Von innen hörte Sera leises Kinderlachen.

Der Dienstbote eilte einen mit Forsythien gesäumten Gartenweg entlang, deren sonnengelbe Blüten zur Haustür passten. Er führte die Gäste ins Haus und rief: »Mistress Phebe, ich habe Mr. Byrne und seine Begleitung mitgebracht!«

Der Raum war groß und luftig, die Wände weiß gestrichen und mit Muscheln und Blumen dekoriert. Auf einer Seite stand ein großer Tisch aus Treibholz mit zwei Bänken und mehreren Kerzen, die unterschiedlich weit abgebrannt waren. Auf der anderen Seite, neben der Tür, befand sich ein großes Erkerfenster, vor dem ein geschwungenes Sofa, ein Schaukelstuhl, ein kleiner Pouf und ein niedriger Tisch mit Büchern und Zeitungen gruppiert waren. In einer Ecke stand ein Schaukelpferd inmitten von Spielzeug – eine Ente auf Rädern, ein Kreisel, eine kleine Gießkanne.

Eine Frau kam herein. Sie hatte braune Haut wie Agnes, aber schwarzes Haar, das hochgesteckt und mit Muscheln geschmückt war. Sie trug ein schlichtes Kleid aus rosa Seide. Als sie ihre Gäste erblickte, strahlte sie übers ganze Gesicht.

»Danke, Aeden«, sagte sie zum Diener. »Das ist alles für heute Abend.«

Der Mann schien nicht gehen zu wollen. »Ganz bestimmt, Mistress? Ich könnte noch …«

»Das ist alles«, wiederholte sie mit einer gewissen Strenge, worauf der Mann sich tief verbeugte und das Haus verließ. Die Frau machte einen Schritt auf die vier zu und richtete den Blick auf Agnes. »So!«, sagte sie. »Du musst Agnes sein.«

»Ja, d…das stimmt«, stotterte Agnes.

»Ich bin Phebe Ofairn. Mein Bruder hat mir so viel von dir erzählt. Es ist mir eine Ehre, dich zu Gast zu haben.«

Verlegen trat Agnes von einem Bein aufs andere. »Ähm, ja, danke, dass Sie … dass du mich eingeladen hast. Beziehungsweise uns. Eneas war immer …« Sie verstummte. »Wie geht es ihm? Hast du was von ihm gehört?«

Phebe sah sie freundlich an. »Keine Sorge, mein Kind. Es geht ihm gut. Ich habe einen Brief von ihm bekommen. Keinen Tag, nachdem ihr nach Pelago aufgebrochen seid, hat er Old Port verlassen. Es war ihm zu gefährlich, noch länger dort zu bleiben. Da er euch zur Flucht verholfen hatte, konnte er nicht länger für euren Vater arbeiten.«

Agnes atmete aus. »Oh, das ist eine gute Nachricht.«

Phebes dunkle Augen richteten sich auf Sera. »Und du musst Sera sein. Leo hat mir viel von dir erzählt.«

Sera spürte, dass sie ihr Gesicht jetzt nicht mehr verstecken musste. Vorsichtig hob sie den Kopfschmuck an. Phebe stieß einen leisen Schrei aus und legte die Hand auf die Brust.

»Bei den Göttinnen!«, murmelte sie vor sich hin. »Du siehst wirklich genau wie Saifa aus.«

»Ich bin aber keine Göttin«, sagte Sera. »Ich bin eine Cerulean.«

Phebe machte große Augen angesichts des melodischen Kauderwelschs, als das auch sie Seras Sprache vermutlich wahrnahm – jedenfalls hatte Agnes Sera erklärt, dass ihre Stimme so geklungen hatte, bevor sie den Blutbund geschlossen und sich gegenseitig hatten verstehen können. Leo übersetzte Seras Worte. Frustriert biss sie die Zähne aufeinander. Es musste eine Möglichkeit geben, sich ohne die Hilfe eines Übersetzers und die gefährliche Prozedur des Blutbunds zu verständigen, und sie hoffte sehr, diese bald zu finden.

»Das hast du mir schon erzählt, im Geschäft. Cerulean.« Phebe sprach das Wort aus, als sei sie unsicher, wie es betont würde. »Ich weiß immer noch nicht, was das bedeutet, aber du bist hier willkommen, Cerulean oder Saifa oder wer auch immer du bist. Kommt, ihr habt bestimmt großen Hung…«

Sie wurde von einem kleinen Jungen unterbrochen, der ins Zimmer geflitzt kam.

»Mama, Mama!«, rief er mit Tränen in den Augen. »Parisa hat mir mein …« Er hielt inne und runzelte die Stirn. »Warum sprichst du Kaolin, Mama?«

Ohne Erklärungen anderer oder Bemerkungen wie die des Jungen wusste Sera nie, wer gerade welche Sprache benutzte. In ihren Ohren klangen sie alle gleich. Aber sie fand es sehr nett von Phebe, sich mit Leo und Agnes in ihrer Muttersprache zu unterhalten. Jetzt wurde ihr klar, dass es gefährlich war – und noch gefährlicher war es für diesen kleinen Jungen, eine Göttin in seinem Haus zu sehen. Schnell setzte Sera ihren Kopfschmuck auf.

»Carrick, geh wieder zu deinem Vater in die Küche!«, befahl Phebe in scharfem Ton. »Mama hat Besuch, das habe ich dir schon erklärt.«

Ein drahtiger Mann mit blasser Haut und langen honigblonden Haaren kam herein, ein quäkendes, strampelndes Baby auf dem Arm.

»Tut mir leid, Liebling«, sagte er und packte den Jungen am Arm. »Er ist mir ausgebüxt. Ich …«

Beim Anblick von Leo hielt er inne und staunte. »Er sieht wirklich genau aus wie sie.«

»Hab ich doch gesagt«, entgegnete Phebe.

»Bist du Prinzessin Rahel?« Carrick schaute Sera fragend an. »Mama, hast du die Prinzessin mitgebracht?«

»Nein, Schatz, das sind Freunde von Mama«, erklärte Phebe. »Prinzessinnen kommen nicht zu Schneiderinnen nach Hause. Sie war bei mir im Geschäft. Das habe ich dir doch schon erklärt, weißt du nicht mehr?«

Carrick grinste Sera selbstgefällig an. »Meine Mama ist berühmt«, sagte er.

Phebe warf ihrem Mann einen flehenden Blick zu. »Bring ihn bitte ins Bett, Davin.«

»Hast du schon die Abendzeitung gelesen?«, wollte der Mann wissen.

Phebe nickte ihm knapp zu, womit das Gespräch offensichtlich beendet war.

»Komm, Carrick!«, sagte Davin, während das Baby auf seinem Arm laut vernehmlich gähnte. Er gab Phebe einen Kuss auf die Wange. »Das Abendessen ist fertig. Ich habe Tabitha nach Hause geschickt, wie du gesagt hast.« Sein Blick streifte Leo. »Jetzt verstehe ich, warum.«

Als sie gegangen waren, nahm Sera ihren Kopfschmuck wieder ab und schüttelte ihre strahlend blauen Haare.

»Entschuldigung«, sagte Phebe. »Die Kinder sollten gar nicht mehr auf sein, aber mit einer Siebenjährigen, einem Fünfjährigen und einem Kleinkind haben Davin und ich in diesem Haus nur noch wenig zu sagen. Mir wäre es allerdings lieber gewesen, wenn Carrick mich nicht hätte Kaolin sprechen hören.« Seufzend rieb sie sich die Stirn.

»Das tut uns leid. Wir wollten dich nicht in Gefahr bringen«, sagte Agnes.

Phebe lächelte sie matt an. »Ihr seid für Eneas immer wie die Kinder gewesen, die er nie hatte. Ist kein Problem, wir sprechen morgen mit Carrick darüber, und dann ist es gut. Setzt euch doch!«, sagte sie und zeigte auf den Tisch. »Ich bin sofort wieder da.«

»Ich bin so froh, dass es Eneas gut geht«, sagte Agnes, als sie sich zusammen auf die Bank gesetzt hatten. »Ehrlich gesagt hab ich mir ziemliche Sorgen gemacht.«

»Phebe scheint sich ja nicht allzu sehr über Seras Aussehen zu wundern«, stellte Leo fest. »Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«

»Sie war drauf vorbereitet«, erwiderte Vada. »Ich glaube nicht, dass die Leute auf dem Markt genauso reagieren würden.«

Sera stimmte ihr zu.

»Ich frage mich, warum ihr Mann die Nachrichten in der Zeitung erwähnte«, sagte Agnes. Sera nickte. Ihr war die Bemerkung auch nicht entgangen.

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