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Inselglück im kleinen Strickladen

Als Buch hier erhältlich:

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Maschenliebe und Schäfchenwolle

Es gibt kaum Schöneres als Yoga am Amrumer Strand. Um das mit anderen Menschen zu teilen, will Elisabeth eine Yogaschule eröffnen. Ihre Freundin Fenja ist begeistert und entwirft eine Entspannungs-Kollektion für ihr Modelabel– einschließlich selbstgestrickter Yogasocken. Ein Glück, dass sie zufällig Urlauberin Maighread trifft. Die Inhaberin eines Strickladens in Schottland ist genau die Richtige, um Fenja mit Tipps und Tricks in Sachen Wolle zur Seite zu stehen.


  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Aus der Serie: Amrum
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903764
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für alle Heldinnen,

die Kraft gefunden haben,

zu sich selbst zu stehen.

Und für jene,

die noch auf der Suche sind

nach dieser Kraft.

Und ganz besonders für Dich –

ja, genau Dich meine ich.

Glaube an Deine Träume!

Kapitel 1

Elisabeth

Gut gelaunt trat ich durch die Tür meines Friesenhauses hinaus und blieb wie jeden Morgen erst einmal auf der Schwelle stehen. Ich gähnte herzhaft, reckte die Arme nach oben und streckte mich. Das tat gut. Morgens früh das Erwachen der Welt erleben zu können, lohnte das frühe Aufstehen für mich. Auch wenn es heute mit kurz nach halb sechs sogar für meine Verhältnisse sehr früh war.

Ich sah mich um. Die Sonne zeigte sich gerade erst zaghaft über der Heide. Auf den Wiesen lag noch der Morgentau und darüber waberten zarte Dunstschleier.

Die Luft hier auf Amrum war besonders. Irgendwie magisch. Frisch und würzig, mit einem Hauch Meer – es war mein Glückselixier.

Morgendliche Rituale taten mir gut. Sie gaben mir Kraft für den Tag. Es hatte eine Zeit in meinem Leben gegeben, da waren sie für mich beinahe überlebenswichtig gewesen. Inzwischen fühlte es sich einfach richtig an, sie beizubehalten.

Noch heute erinnerte ich mich genau an mein erstes Yogaseminar. »Mach es wie eine Katze«, hatte der Kursleiter empfohlen. Zuerst hatte ich gedacht, er wollte, dass wir mitten in der Tür in den Vierfüßlerstand gehen und das Asana Die Katze machten. Doch Karl – so hieß der Kursleiter – hatte gelacht und das Missverständnis rasch aufgeklärt: »Nicht die Katze, Elisabeth, wie eine Katze«, hatte er gesagt und die Worte extra überbetont, damit ich begriff, was er meinte. Auf meinen noch immer verständnislosen Blick hatte er weiter ausgeführt, worauf er hinauswollte: »Wenn sie das Haus verlassen, bleiben Katzen immer erst einmal in der Tür stehen. Sie schauen sich in aller Ruhe um und checken die Lage. Ganz entspannt nehmen sie sich die Zeit, die nötig ist. Erst wenn sie entschieden haben, wohin sie sich wenden wollen, und sicher sind, dass keine Gefahr droht, machen sie sich auf den Weg. Und genau das solltet auch ihr tun.«

Ich hatte seine Worte von damals noch genau im Ohr: »Sich geistig und körperlich zu wappnen ist der erste Schritt, um dem Leben und seinen Herausforderungen gelassen zu begegnen.«

Es war mir absolut logisch und nachvollziehbar vorgekommen, deshalb hatte ich es ausprobiert und praktizierte es bis heute fast immer, wenn ich das Haus verließ.

Da ich in diesem Kurs aber auch das tägliche Yoga für mich entdeckt und bald darauf eine lange yogaintensive Zeit in Indien verbracht hatte, konnte ich bis heute nicht sagen, was mehr dazu beigetragen hatte, meine Gelassenheit zu steigern. Vielleicht war es auch die Kombination aus beidem, die gewirkt hatte und noch immer wirkte. Zumindest aber schadete mir das Innehalten auf der Türschwelle sicher nicht.

Das Seminar war der Startschuss gewesen, nach dem ich vieles verändert hatte. Das Innehalten auf der Schwelle war eine dieser Veränderungen, die mir seit dem Seminar damals eine liebe Gewohnheit geworden war. Ein kleines Wohlfühlritual, das mich in den Tag begleitete. Genau wie das Ziehen einer Tarotkarte immer direkt nach dem Aufwachen. Schließlich wollte ich wissen, was für Energien mich erwarteten.

In der Zeit meiner Selbstfindung hatte ich viel ausprobiert, an etlichen Seminaren teilgenommen und mich auch dem Spirituellen geöffnet. Neben Yoga hatte ich auch Horoskope und eben Tarot entdeckt. Sie hatten mir vor ein paar Jahren, als ich mich sehr verloren fühlte, geholfen, Halt zu finden. Es ging dabei um viel mehr als um alberne Bilder, die einem die Zukunft vorhersagten. Es hatte etwas mit der inneren Einstellung und den Empfindungen zu tun, die man mitbrachte. Ich fühlte mich wohl damit, und es tat mir gut, eine Ahnung von dem zu bekommen, was an diesem Tag auf mich warten mochte.

Heute hatte ich den Narren gezogen. Keine ganz schlechte Karte, aber auch keine ganz gute. Der Tag stand demnach unter dem Zeichen verspielter Leichtigkeit. Das Bild zeigte einen jungen Mann, der sein Bündel an einem Stock hängend über der Schulter trug. Vor einem warmen tiefgelben Hintergrund schien er durch die Welt zu tänzeln. Ich nannte den Jungen immer Hanns Guck-in-die-Luft, weil das Bild mich an diese Geschichte aus dem Struwwelpeter erinnerte. Demnach könnte es heute vielleicht sogar ein bisschen chaotisch werden.

Mein Tageshoroskop hatte obendrein Herausforderungen angekündigt, die sich sogar über diesen Tag hinaus erstrecken könnten. Mit der richtigen Einstellung und etwas Kampfgeist würde sich aber alles zum Guten wenden.

Trubelig mit der Aussicht auf ein Happy End, fasste ich die Botschaft von Karte und Horoskop für mich zusammen und war damit ganz zufrieden. Es konnte schließlich nicht immer nur eitel Sonnenschein geben, das wäre mir auf Dauer sowieso zu langweilig. Welchen Lebensbereich der bevorstehende Trubel betreffen würde, blieb allerdings eine Überraschung.

Zu diesem bewusst entspannten Lebensgefühl, zu dem meine täglichen Routinen beitrugen, kam seit einigen Jahren auch noch mein aktueller Lebensmittelpunkt, der mich jeden Tag aufs Neue glücklich machte.

In diesem Fall hatte ich keine Zweifel: Der Neuanfang auf Amrum hatte mir den letzten positiven Kick gegeben, um wieder in die Spur zu kommen.

Seit ich auf der Insel lebte und obendrein auch noch in meinem Traumhaus, konnte mich nichts mehr so schnell aus der Kurve werfen. Ich war die Gelassenheit in Person. Das hatte ich mir verdammt noch mal so was von verdient. Ich hatte mir nicht nur mein Haus, sondern mein gesamtes neues Leben richtig hart erkämpft.

Mein Friesenhaus stand in dem Inselort Nebel neben der alten Mühle, die ein Wahrzeichen des Eilands war und in der sich ein kleines Museum befand. Ich hatte mich schon in dieses Haus verliebt, als ich es das erste Mal gesehen hatte. Das war bei einem meiner ersten Besuche gewesen, Jahre vor meinem Entschluss, nach Amrum zu ziehen.

Das Haus und sein wunderschöner kleiner Garten hatten mich magisch angezogen. Das Reetdach, die blauen Fensterläden und der weiße Gartenzaun mit allerlei getöpferten Zaunsitzern wirkten auf mich wie aus einem Bilderbuch. Um das Haus herum waberte eine Wolke aus lieblichem Rosenduft. Ich hatte sofort den Wunsch gehabt hineinzugehen, um zu sehen, ob es drinnen ebenso behaglich war, wie es von außen wirkte.

Vom ersten Moment an hatte das Haus mein Herz erobert und mich nicht mehr losgelassen. Ich hatte immer wieder daran gedacht und mir nichts mehr gewünscht, als irgendwann einmal ein Zuhause zu haben, das genauso zauberhaft war.

Dass ausgerechnet dieses wundervolle Anwesen zum Verkauf gestanden hatte, als ich – ein Vermögen auf dem Konto, das mir zu meinem neuen Leben verhelfen sollte – nach einer Heimat suchte, war für mich wie ein Zeichen gewesen. Mein Gefühl hatte mir gesagt, dass das Schicksal mir nach einigen sehr harten Jahren und Erfahrungen die Hand zur Versöhnung reichen wollte, und ich war absolut bereit gewesen, sie anzunehmen.

Doch ganz so einfach, wie ich es erwartet hatte, war es dann doch nicht gewesen. Obwohl ich vor lauter Begeisterung bereit gewesen war, ohne jede Verhandlung den geforderten Preis zu zahlen, hatte der Vorbesitzer das Olsenhaus nicht an mich verkaufen wollen. Es sollte in den Händen echter Insulaner bleiben.

»Wir lassen nicht zu, dass unsere Insel zu einem zweiten Sylt wird«, hatte er gewettert.

»Und genau deshalb möchte ich auch nach Amrum ziehen und nicht nach Sylt«, hatte ich ohne zu zögern erwidert.

Aber meine ersten Versuche, ihn zu überzeugen, waren verhallt. Der Eigentümer war mir gegenüber weiter misstrauisch geblieben. Hauptsächlich hatte er Bedenken gehabt, dass ich das Haus als Feriendomizil nutzen und nur ein paar Wochen im Jahr auf der Insel sein würde. Ich verstand seine Ängste und seinen Wunsch, das unvergleichliche Inselflair erhalten zu wollen. Aber genau das war ja mein Grund, warum ich ausgerechnet dieses Häuschen für mich wollte. Ich war wirklich auf der Suche nach einem neuen Zuhause gewesen.

Aber vermutlich erzählte das jeder zweite Kaufinteressent, und so war es nicht einfach gewesen, dem Verkäufer meine ehrliche Absicht und meine Integrität der Insel gegenüber glaubhaft zu machen. In seinen Augen gehörte ich zu den reichen Festlandschnöseln, die sich auf Amrum breit machen und Profit aus seiner Heimat schlagen wollten.

Doch ich hatte nicht lockergelassen – und irgendwann tatsächlich gewonnen.

Noch heute löste der Gedanke an den Moment, als ich das erste Mal den Schlüssel in das Schloss meines Hauses steckte und die Tür öffnete, wohlige Glücksschauer bei mir aus. Hier hatte ich meinen verlorenen Seelenfrieden endgültig wiedergefunden.

Tief atmete ich ein und aus und füllte mit jedem Atemzug genüsslich meine Lungen. Die letzte Müdigkeit verflog. Jetzt war ich bereit für alles, was heute anlag – einschließlich der kleinen Turbulenzen.

Voller Vorfreude auf den Vormittag holte ich mein Fahrrad aus dem Unterstand und machte mich auf den Weg Richtung Satteldüne und von dort weiter nach Wittdün. Radeln gehörte für mich ganz selbstverständlich zu meinem Inselleben dazu. Früher hätte ich mir nie vorstellen können, ohne Auto zu leben, doch hier auf Amrum vermisste ich es überhaupt nicht.

Während ich schwungvoll in die Pedale trat, war ich in Gedanken schon bei Jan in seiner Zimmererwerkstatt. Ich durfte seine Werkzeuge benutzen und mich in einer Ecke der großen Halle mit meinen Projekten ausbreiten. Mit Holz zu arbeiten war seit einiger Zeit meine zweite große Leidenschaft nach dem Yoga. Kleine Möbel, Spielzeug und Deko, ich ließ meiner Kreativität freien Lauf. Unter Jans Anleitung hatte ich sogar schon mal eine kleine Schüssel gedrechselt, denn auch Drechseln konnte er meisterlich gut.

Neben der Arbeit an meinen eigenen Sachen half ich Jan auch oft bei seinen Aufträgen, die von zu reparierenden Schranktüren über das Piratenschiffbett fürs Söhnchen bis hin zu hölzernen Wendeltreppen reichten. Auf diese Weise konnte ich ihm für den Platz in seiner Werkstatt danken.

Selbstverständlich hatte ich ihm angeboten, etwas für die Mitnutzung der Maschinen zu bezahlen, aber er weigerte sich strikt, Geld von mir anzunehmen. Als ich nicht hatte nachgeben wollen, hatte er mir vorgeworfen, nicht zu verstehen, was Freundschaft bedeutete. Er war richtig sauer geworden und ich hatte meine Versuche, ihn zu überzeugen, vorsichtshalber aufgegeben, um unsere Freundschaft nicht zu gefährden.

Über meine tatkräftige Unterstützung war Jan aber trotzdem froh. Nicht nur, weil es zu zweit wesentlich schneller ging, es machte auch viel mehr Spaß.

Wir arbeiteten ziemlich gut Hand in Hand, das hatten wir inzwischen schon bei einigen gemeinsamen Projekten unter Beweis gestellt. Über Jans Arbeit hatten wir uns überhaupt erst kennengelernt. Damals, als meine Freundin Fenja den Anbau ihres Hauses in ein Atelier mit angrenzendem Laden umgebaut hatte.

Fenja und ich hatten uns auf der Fähre kennengelernt. Ich war nach einem Tag auf Föhr auf dem Rückweg nach Amrum gewesen, als ich sie an Deck hatte sitzen sehen. Traurig und verloren hatte sie gewirkt und sofort meinen Beschützerinstinkt geweckt. Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte ich mich zu ihr gesellt und ein Gespräch begonnen. Wir hatten uns im Handumdrehen angefreundet und seither gab es kaum einen Tag, an dem wir uns nicht sahen oder Nachrichten schrieben.

Ganz selbstverständlich war ich Jan beim Umbau von Fenjas Räumen zur Hand gegangen. Als Hannah, die dritte im Bunde unserer Frauenfreundschaft, einige Zeit später ihre Pension in ein Café verwandelt hatte, war schon klar gewesen, dass ich das mit Jan gemeinsam in die Hand nehmen würde.

Jan war ein grandioser Handwerker mit einer sehr künstlerischen Ader. Er baute nicht einfach nur funktional, sondern immer auch mit liebevollen Details, die aus jedem Stück etwas Besonderes machten. Ich war auch nicht schlecht, aber an seine Kunstfertigkeit kam ich nicht heran. Was natürlich absolut okay für mich war. Mehr noch, etwas anderes wäre merkwürdig gewesen. Immerhin hatte Jan eine langjährige Ausbildung absolviert, ich dagegen hatte lediglich Leidenschaft, Ehrgeiz und vielleicht etwas mehr Geschick als der Durchschnitt der Bevölkerung vorzuweisen.

Ich bremste leicht ab und nahm eine Kurve. Dann legte ich wieder Tempo zu. Auf die Arbeit heute freute ich mich besonders, denn Leonies Geschenk sollte den letzten Schliff bekommen. Gerade noch rechtzeitig.

Unser aller Sonnenschein, Hannahs kleine Tochter, wurde heute neun Monate alt, und das wollten wir feiern. Leonie war das erste Kind in unserem Freundeskreis und wir alle waren völlig vernarrt in sie. Ich konnte es kaum erwarten, zu sehen, wie sich mein Leoschätzchen freute. Bestimmt würde sie vor Begeisterung in den höchsten Tönen kieksen und quietschen.

Dieses kleine Menschlein hatte eine enorm kräftige Stimme, und die meiste Zeit nutzte sie ihr Instrument, um ihre Freude kundzutun. Ich hatte noch kein Kind erlebt, das so fröhlich und fast immer gut gelaunt war.

Selbstverständlich hatte ich gleich nach ihrer Geburt ein ausführliches Horoskop erstellt. Leonie hatte die Gunst der Sterne auf ihrer Seite, so viel war sicher. Kein Wunder also, dass die Kleine ein echter Sonnenschein war.

Hannah hatte wirklich Glück, die Mama dieses süßen Goldschatzes zu sein.

Die Augen hatte Leonie von ihrem Papa Lennard, dafür hatte sie Hannahs Stupsnase geerbt. Und sie hatte ein Lächeln, das direkt ins Herz ging. Seit Leonie auf der Welt war, hatte sie unser aller Leben verändert. Ihre Patentante sein zu dürfen war fantastisch. Den Patenjob teilte ich mir mit Fenja und unserem Freund Holke, der in Hamburg lebte.

Fenja nähte viel für Leonie, ich entwarf Holzspielzeug und andere Basteleien und Holke sorgte für Bücher und Musik – so hatte jeder einen Schwerpunkt und alles andere teilten wir auf, wie es sich ergab. Wir waren ein gutes Dreiergespann, nahmen unsere Patenschaft ernst und erfüllten die Aufgabe ziemlich gewissenhaft. Auch wenn Hannah manchmal meinte, wir würden unseren kleinen Schatz zu sehr verwöhnen. Papperlapapp. Als ob das möglich wäre. Und außerdem waren Pateneltern doch genau dafür da, oder etwa nicht?

Vor lauter Träumerei sah ich den Hasen, der vor mir aus dem Gebüsch heraus und quer über den Weg hoppelte, erst im letzten Moment. Erschrocken riss ich den Lenker herum und hatte Mühe, das Schlingern des Rades abzufangen.

»Pass doch auf, Meister Lampe«, donnerte ich über meine Schulter hinweg dem Hasen hinterher, der inzwischen mit großen Sprüngen über die Wiese setzte und von meinem Anpfiff ziemlich unbeeindruckt schien. Vorsichtshalber beschloss ich, lieber etwas besser auf den Weg zu achten, statt meinen Gedanken nachzuhängen.

Die Route von meinem Haus neben der alten Mühle in Nebel nach Wittdün kannte mein Fahrrad zwar schon fast von allein, aber auf spontane Begegnungen mit der Amrumer Tierwelt war es nicht vorbereitet. Ein Sturz und womöglich gebrochene Knochen standen nicht auf meiner Wunschliste. Diese Art von Turbulenzen konnte ich mir gerne sparen.

In den letzten Monaten hatte es nur wenige Tage ohne Abstecher zu Jan in die Werkstatt gegeben. Oder besser, ohne Jans Gesellschaft. Wenn wir nicht gemeinsam arbeiteten, machten wir Yoga am Strand oder, wenn das Wetter nicht mitspielte, in meinem Yogaraum. Oft verbrachten wir auch Zeit mit den anderen. Fenja und Malte, Hannah, Lennard und Leonie und Tahmineh, die anfangs nur Fenjas Mitarbeiterin gewesen war, inzwischen aber auch fest zu unserer Freundesrunde gehörte. Wir kochten gemeinsam, sahen Filme oder spielten Karten. Natürlich verbrachten wir auch viel Zeit zusammen am Strand. Picknicks mit allerlei Köstlichkeiten gehörten zu diesen Ausflügen dazu.

Jan hatte sich sehr gut in unseren Kreis integriert, alle mochten ihn und seine zurückhaltende höfliche Art.

Mit Jan zusammen zu sein machte mir Spaß, ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Im Lauf der letzten Monate waren wir richtig gute Freunde geworden.

Aber okay, zugegeben. Ein bisschen mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Jan konnte ich nicht leugnen. Aber eben nur ein bisschen. Bisher hatte ich mich nicht überwinden können, Jan mein Herz auf dieser anderen Ebene zu öffnen. Obwohl ich ihm als Freund vorbehaltlos vertraute, rannte ich gegen eine innere Wand und drohte meine Gelassenheit zu verlieren, sobald es von der Freundschaft Richtung Beziehung zu gehen drohte.

Ich war nicht zu diesem Schritt bereit und wusste nicht, ob ich es je sein würde. Freundschaft war doch auch etwas Wertvolles und außerdem so viel unkomplizierter als der ganze Beziehungskram.

Ich ahnte, dass es Jan anders ging, dass er gefühlstechnisch schon weiter war. Zum Glück hatte er sehr viel Verständnis. Ohne Details meiner Vergangenheit zu kennen, akzeptierte er, dass ich Zeit brauchte und bedrängte mich nicht, forderte nicht mehr, als ich zu geben bereit war. Er drängte mich auch nie, ihm von dem zu erzählen, was ich erlebt hatte.

Und ich musste mir eingestehen: Es funktionierte. Dieses rücksichtsvolle Verhalten machte es mir umso schwerer, ihm zu widerstehen. Es war zum Verrücktwerden. Einerseits wollte mein Herz nichts anderes, als sich Jan zu öffnen, andererseits brauchte eben genau dieses Herz einen gewissen Sicherheitsabstand und verfiel in Panik, sobald es zu eng wurde.

Die gutmütigen Sticheleien meiner Freundinnen Fenja und Hannah halfen mir auch nicht gerade, meinen Seelenfrieden zu bewahren. Selbst unsere schüchterne Tahmineh hatte mir erst gestern selbst gemachtes Dattelkonfekt zugesteckt und gesagt: »Macht Herz weit, Elisabeth. Ist gut gegen Angst.« Sie war noch nicht lange in Deutschland und ihr Deutsch noch etwas holprig, was alles, was Tahmineh sagte, ganz zauberhaft klingen ließ.

Pah. Als ob ich Angst hatte. Vernunft war das. Reine Vernunft. Aber darüber diskutierte ich nicht mehr. Außerdem war Tahminehs Dattelkonfekt ausgesprochen köstlich. Jan und ich hatten es gestern nach unserem Sundowner-Yoga am Strand zusammen verputzt.

Der Abend war wundervoll gewesen. Wenn der Himmel am Horizont rot leuchtete und der Abend sich langsam über die Insel senkte, lag ein Zauber in der Luft, der mich immer wieder aufs Neue berührte. In diesen Momenten schien alles friedlich und wundervoll.

Jetzt erreichte ich den Waldrand. Wie fast immer fuhr ich auch heute den kleinen Bogen über den westlichen Weg, statt den geteerten Radweg durch die Inselmitte zu nehmen. Seit ich das erste Mal mit Fenja hier entlanggeradelt war, gehörte der Weg durch den Wald zu meinen Lieblingsstrecken. Und genau wie damals kam mir auch heute wieder Rilke in den Sinn. Vor lauter Lauschen und Staunen sei still, du mein tieftiefes Leben, hatte ich damals rezitiert und ein Stück weiter des Wegs hatte Fenja den Faden aufgenommen und voller Inbrunst weitergesponnen: Und dann, meine Seele, sei weit, sei weit. Dass dir das Leben gelinge.

Unfassbar, was seit damals alles geschehen war. Ich liebte Amrum noch immer mit jeder Faser meines Herzens. Vielleicht heute sogar noch mehr als damals, denn inzwischen hatte ich Freunde, Jan und erste Wurzeln, die mir Halt gaben. Die Schatten meiner Vergangenheit waren so hell geworden, dass ich sie kaum noch wahrnahm.

Die Stimmung im Wald verzauberte mich. Die Bäume und das Unterholz, dahinter die Dünen und der Kniepsand und dann – natürlich vom Weg aus unsichtbar – die alles dominierende Nordsee, die mich von jeher in ihren Bann zog.

Während ich vor mich hinträumte und meinen Gedanken nachhing, machte ich ordentlich Tempo. Die sich schnell drehenden Reifen knirschten leise auf dem Waldweg. Außer mir war hier noch kein Mensch unterwegs. Ganz ungestört zwitscherten die Vögel ihr Morgenlied. Eine Kaninchenfamilie hoppelte aufgeschreckt davon, als ich an ihnen vorbeibrauste. Ich lachte dunkel auf und genoss den kühlen Fahrtwind, der mir über das Gesicht strich. Jetzt wehten die letzten Schlafgeister endgültig davon.

Ohne innezuhalten steuerte ich am Leuchtturm vorbei und fuhr bald darauf auf den Hof von Jans Werkstatt. Das Rad stellte ich direkt neben dem Eingang ab. Ich fühlte mich voller Elan. Die Viertelstunde Frühsport hatte mir gutgetan.

»Moin, Elisabeth«, grüßte Jan und sah mich erstaunt an, als ich die Werkstatt betrat. »Donnerlittchen, bist du früh dran.« Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Moin, Jan«, erwiderte ich und lachte. »Weißt du doch: Der frühe Hering fängt die Krabbe.« Er stand an der Werkbank und ich ging zu ihm.

Jan legte das Stück Holz zur Seite, das er gerade begutachtet hatte und umarmte mich zur Begrüßung. Wir gaben uns ein freundschaftliches Küsschen auf die Wange.

»Konntest du nicht schlafen?«, wollte Jan wissen. Er musterte mich prüfend.

»Doch«, brummte ich. »Zumindest bis zu dem Moment, als zwei Möwen sich direkt neben meinem offenen Fenster um ihr Frühstück streiten mussten.« Ich verdrehte die Augen. »Zuerst wollte ich mich noch mal umdrehen. Aber dann dachte ich, da ich schon mal wach bin, kann ich auch zu dir kommen und mich um Leonies Kugelbahn kümmern.«

»Super. Ich muss gleich los, habe heute eine Baustelle in Norddorf. Aber du kriegst das auch ohne mich hin. Sehen wir uns in der Mittagspause am Strand?«

»Zwölf, und ich besorge das Mittagessen?«, fragte ich.

Jan nickte. »Das passt.«

Er hob die Hand zum Gruß und lächelte in meine Richtung. Dann packte er seine Tasche und ging.

Mit einem Klack fiel die Tür hinter Jan ins Schloss, dann wurde es still um mich herum. Jans Abfahrt hörte ich nicht, er hatte sich einen Elektro-Transporter angeschafft, der für die kurzen Fahrten auf der Insel perfekt geeignet war.

***

Die Handflächen legte ich vor der Brust aneinander und hob nun langsam die Arme bis über meinen Kopf. Beim Hochgehen atmete ich tief ein. Am höchsten Punkt verharrte ich ein paar Sekunden, bevor ich die Hände voneinander löste und mit der Ausatmung die Arme in weitem Bogen rechts und links von meinem Körper nach unten nahm. Ich wiederholte die Übung noch zweimal, dann beschloss ich, meine kleine Trainingseinheit zu beenden. Nachher wollte ich schließlich noch mit Jan zusammen üben. Ein letztes Durchatmen und ich ließ mich rücklings in den Sand fallen.

Es war ein perfekter Frühsommertag. Die Sonne wärmte meine Haut, über mir kreischten die Möwen und das Rauschen der Wellen vollendete den Soundtrack Amrums. Ich schloss die Augen und genoss das Gefühl. Vielleicht sollte ich die halbe Stunde, bis Jan kam, nutzen, um ein kleines Nickerchen zu machen.

Ich schlug die Augen wieder auf, um zu sehen, was um mich herum geschah. Ich hatte den Strandabschnitt fast für mich allein. Ein gutes Stück entfernt hatten sich zwei Familien niedergelassen. Die Kinder spielten in den auf den Strand laufenden Wellen und hatten großen Spaß. Immer wieder bückten sie sich, um Muscheln aufzuheben.

Ich könnte auch schwimmen gehen, statt zu dösen, überlegte ich. Die Sonne hatte mich schon ordentlich erhitzt. Ich wägte die Optionen gegeneinander ab und war unentschlossen.

In meiner Tasche blökte ein Schaf. Das gab mir die Gelegenheit, die Entscheidung aufzuschieben. Ich zog die Tasche näher zu mir und kramte das Handy hervor. Fenja hatte mir eine Nachricht geschrieben.

Fenja: Hey, was treibst du? Ich habe für Leonie ein neues Kleid genäht – aus dem Erdbeerstoff. Und das gleiche auch für das Bärchen. Soll ich dich nachher abholen?

Leonie und ihr Bärchen. Unwillkürlich legte sich ein Lächeln auf meine Lippen. Das Bärchen hatte Leonie von Fenja zur Geburt bekommen. Es war ein Bärenkind aus blauem Plüschstoff mit einem sehr niedlichen Gesicht, kleinen Puschelohren und Schlenkerarmen und – beinen. Von Anfang an hatte Fenja sich einen Spaß daraus gemacht, Babykleidung doppelt zu arbeiten – für Leonie und für ihr Bärchen, das keinen Namen hatte, sondern eben einfach Bärchen hieß. Bä, wie Leonie die Schlenkerpuppe nannte, war immer dabei, egal ob es auf den Spielplatz ging oder an den Strand. Fenja war noch online, also tippte ich direkt meine Antwort in das Handy.

Elisabeth: Da wird sie sich bestimmt freuen! Bin am Strand. Die Kugelbahn ist fertig. Komm doch auch. Norddorf an unserer Yogastelle.

Fenja: Ich kann nicht, muss Tahmineh helfen. Zu viel Arbeit. Zwei bei dir?

Elisabeth: Alles klar. Bis nachher.

Ich tippte auf das Display, kontrollierte, ob noch weitere Nachrichten eingegangen waren – nichts. Auch gut. Das Handy wanderte wieder in die Tasche zurück.

Ich konnte es kaum erwarten, Leonie mit den Geschenken zu überraschen. Hannah hatte uns zwar den Vogel gezeigt, weil wir Leonies Neunmonatstag feiern wollten, aber dann hatte sie gelacht und uns zum Kaffee eingeladen. »Machen wir es eben wie Alice im Wunderland und feiern Nicht-Geburtstage«, hatte sie gemeint und sich ihren Pony aus der Stirn gepustet.

Ich ließ mich wieder auf den Rücken fallen, aber schon im nächsten Moment wurde ich unruhig. Ich hatte keine Lust mehr, faul herumzuliegen. Außerdem war mir heiß. Obwohl hier am Strand ein sanftes Lüftchen wehte, standen mir Schweißperlen auf der Stirn. Damit war die Entscheidung gefallen. Ich würde mir ein erfrischendes Bad in den Wellen gönnen, bevor Jan für unser Yogatraining aufkreuzte. Ich setzte mich wieder auf, zog mir das Shirt über den Kopf und schob mir die weichen Yogashorts über die Hüften nach unten. Den Bikini hatte ich in weiser Voraussicht zu Hause schon angezogen. Mit einem Satz kam ich auf die Füße und rannte durch den warmen Kniepsand Richtung Nordsee.

Ich lief in die Wellen hinein und blieb dann stehen. Das Wasser umspülte meine Waden. Im ersten Moment zuckte ich zurück, als das kühle Nass auf meine erhitzte Haut traf. Es war doch noch reichlich kalt. Doch schon Sekunden später hatte ich mich daran gewöhnt und genoss das Prickeln auf meiner Haut. Ich grub meine Zehen in den nassen Sand und drehte die Fersen ein bisschen hin und her, sodass ich einsank.

Trotz der Kälte war das Wasser herrlich und lockte mich. Genug gespielt. Zügig stapfte ich durch den flachen Abschnitt. Die Wellen schwappten mir zuerst gegen die Schienbeine, nach ein paar Schritten plätscherten sie über meine Knie und an den Oberschenkeln hoch. Bevor die nächste Welle meinen Bauch erreichte, blieb ich stehen und atmete tief ein. Mit dem Ausatmen warf ich mich mit über den Kopf gestreckten Armen in die Fluten und tauchte einmal komplett unter. Ich machte zwei kräftige Schwimmzüge und tauchte prustend wieder auf. Auf meinem ganzen Körper hatte sich wohlige Gänsehaut gebildet. Als der Wind über meinen Körper strich, fingen meine Zähne an zu klappern. Schnell ging ich in die Knie und begann zu schwimmen.

»Elisabeth, hallo, warte, ich komme mit«, tönte Jans Stimme vom Strand herüber.

Paddelnd drehte ich mich auf den Rücken, winkte in die Richtung, aus der ich Jans Stimme gehört hatte, und rief: »Dann los, es ist herrlich.«

Doch Jan war nicht mehr zu sehen. Eigenartig. Verwundert schüttelte ich den Kopf. Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Oder hatte ich mir sein Rufen nur eingebildet? Ich kniff die Augen zusammen. Nichts. Er war wirklich nicht da. Offenbar hatte ich eine sehr lebhafte Fantasie und hörte Stimmen, wo keine waren. Gerade als ich mich wieder auf den Bauch drehen und jetzt wirklich ein Stück hinausschwimmen wollte, tauchte Jan prustend direkt neben mir auf.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich schrie erschrocken auf. Im nächsten Moment lachte ich über mich selbst. Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Jan war ein ausgezeichneter Taucher und hatte mich schon mehrfach damit erschreckt, plötzlich wie aus dem Nichts aufzutauchen.

»Wolltest du mir etwa davonschwimmen?«, fragte er gespielt empört. Er zog streng die Augenbrauen zusammen und versuchte mich finster anzusehen, aber seine lächelnden Augen verrieten ihn.

»Das würde ich mir doch nie einfallen lassen. Sag mal, wie kannst du denn so lange die Luft anhalten?«, wollte ich wissen. »Hast du etwa Dianthuskraut geschluckt?« Lachend kontrollierte ich seine Ohren und meinte: »Keine Kiemen.«

Anspielungen auf Harry Potter waren so etwas wie ein Running Gag zwischen uns. Mal unterstellte ich Jan Zauberkräfte, und ein anderes Mal er mir.

»Dianthuskraut war aus, ich habe den Luftikuszauber verwendet«, konterte Jan locker. »Aber so lange war das gar nicht. Du hast nur in der falschen Richtung gesucht, sonst hättest du mich entdeckt.«

»Luftikus«, prustete ich und platschte mit der flachen Hand auf das Wasser, dass es nur so spritzte. »Als ob das ein Zauberspruch wäre.« Ich schüttelte energisch den Kopf und ließ meine nassen Haare fliegen. »Du bist echt ein Quatschkopf, Jan«, stellte ich fest und gab ihm einen Schubs. »Los jetzt«, kommandierte ich. »Lass uns mal ein bisschen schwimmen, bevor du mir auch noch die Story vom Weißen Hai erzählst.«

Schon machte ich die ersten Züge und schwamm Jan damit tatsächlich für Sekunden davon. Doch er reagierte schnell und setzte mir nach und verfiel neben mir in gleichmäßige Schwimmzüge.

»Ich muss nachher noch mal zu meinem Kunden«, erzählte Jan, während wir nebeneinander schwammen. »Zum Neunmonatskaffee schaff ich es erst so gegen vier.«

»Kein Problem«, gab ich zurück. »Wir lassen dir ein Stück Kuchen übrig.« Ich grinste. Hannah betrieb das Café Inselglück. Sie hatte immer eine tolle Auswahl selbst gebackener Kuchen und tischte immer so viel auf, dass wir regelmäßig stöhnten.

»Da habe ich ja Glück«, feixte Jan. Er nickte Richtung Strand. »Was ist? Zurück und ein bisschen Yoga?«

»Okay«, entschied ich, wendete und legte ein wenig Tempo zu. Im nächsten Moment schoss ein scharfer Schmerz in mein rechtes Bein. Ich schrie erschrocken auf und hatte Mühe, mich über Wasser zu halten. Jan reagierte prompt. Er schnappte mich und legte mir von hinten einen Arm um. »Ruhig, Elisabeth, ich bin da und halte dich. Keine Panik, du bist in Sicherheit. Hast du einen Krampf?«

Ich nickte mit zusammengepressten Lippen. Hölle, tat das weh. »In der Wade«, presste ich hervor.

»Versuch das Bein zu strecken. Zieh die Zehen zu dir, damit der Wadenmuskel gedehnt wird. Keine Angst, Elisabeth, ich halte dich.«

Nachdem ich den ersten Schreck überwunden hatte, konnte ich auch wieder denken. Jans Arm gab mir Sicherheit. Ich konzentrierte mich darauf, den Muskel zu dehnen. Der Schmerz ließ nach, ich konnte mich wieder selbst über Wasser halten.

»Danke«, sagte ich leise und versuchte mich aus Jans Griff zu lösen. Ich spürte, dass er zögerte, mich wieder loszulassen.

»Elisabeth«, flüsterte er nah an meinem Ohr. Seine Stimme klang aufgewühlt und heiser, und er drückte mich noch etwas enger an sich.

»Danke, Jan. Es geht wieder«, sagte ich in energischem Ton. Das wirkte. Jan ließ mich los. Er sah mich an und wirkte, als hätte ich ihm eiskaltes Wasser übergekippt.

»Entschuldige bitte«, murmelte er.

Nachdem er sich überzeugt hatte, dass es mir gut ging und ich wirklich wieder schwimmen konnte, zog er mit kräftigen Zügen davon und war längst aus dem Wasser, als ich das Ufer erreichte.

»Jan«, sagte ich und stockte. Ich wusste nicht so richtig, was ich sagen sollte. Dann entschloss ich mich, über den Moment hinwegzugehen. Darüber zu sprechen würde es nur für uns beide schlimmer machen. »Danke«, sagte ich deshalb mit fester Stimme. »Du hast mir gerade das Leben gerettet und mich davon abgehalten, in Panik zu geraten. Jan, ich danke dir.«

»Ach was«, gab er zurück. »Das war ja nur ein kleiner Krampf. Wahrscheinlich hättest du das auch ohne mich in den Griff bekommen. Wir waren sowieso nicht weit draußen.« Er holte tief Luft, sah auf die Uhr und meinte: »Ich sollte los, es ist doch schon später als gedacht. Wir sehen uns dann nachher. Bis später.«

Ich setzte mich auf meine Yogamatte und sah dem davonstapfenden Jan traurig nach.

Gerade erst hatte ich gedacht, meine Wunden seien inzwischen richtig gut verheilt, aber meine Reaktion auf Jans Nähe erzählte etwas anderes. Verflixt noch mal. »Verfluchter Florian. Ich will nicht, dass du immer noch so viel Macht über mich hast. Ich will das nicht. Nicht alle Männer sind solche Idioten. Und Jan ist ganz sicher keiner«, schimpfte ich halblaut vor mich hin. Aber sosehr ich es mir auch wünschte, mein Herz flatterte ängstlich.

Ich rappelte mich auf und konzentrierte mich auf meine Yogaübungen. Kontemplation. Ich wollte aufhören zu denken und mich nur auf das Jetzt konzentrieren. Vielleicht würde ich so einen Weg finden, meine Angst zu überwinden – ja, Tahmineh hatte recht. Ich hatte eine Heidenangst.

Kapitel 2

Maighread

Nachdenklich trank Maighread einen Schluck Tee und strich sich Butter auf ihr Rosinenbrötchen. Sie fühlte sich erschöpft und irgendwie melancholisch, gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst. Es war ihr erster Tag auf Amrum. Eigentlich müsste sie übersprühen vor guter Laune und Unternehmungslust. So lange hatten sie und Joshua davon geträumt und sich darauf gefreut. Wieso hatte sie dann plötzlich das Gefühl, diese zwei Wochen Insel könnte ihr zu lang werden?

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie natürlich, was sie umtrieb – aber es fiel ihr nicht leicht, sich das einzugestehen. Maighread machte einen extratiefen Atemzug, der schon fast wie ein Seufzer klang, und biss ein Stück von ihrem süßen Brötchen ab. Es war total blöd, aber sie hatte Sehnsucht nach Callwell. Ihre Freunde fehlten ihr, ihre Hündin Molly und auch ihr Laden, das Wolle & Zeit.

Natürlich hatten Chloe, Elisabeth, Gwendolyn und Eilidh alles im Griff. Darüber musste Maighread sich ganz gewiss keine Gedanken machen. Und sie alle machten das von Herzen gern. Für Chloe als Maighreads beste Freundin war es selbstverständlich gewesen einzuspringen, damit Maighread und Joshua auf Deutschlandtour gehen konnten. Da ihr Kräuterladen direkt neben dem Wolle & Zeit lag, war das auch überhaupt kein Problem für sie. Und Maighreads Großmutter Elisabeth hatte das Wollgeschäft viele Jahre selbst geführt. Sie hatte Erfahrung und Spaß daran, mal wieder im Laden zu stehen.

Chloes Großmutter Gwendolyn und Eilidh, die Haushälterin und gute Seele von Callwell Castle, hatten gleich zwei gute Gründe für ihren Einsatz. Sie wollten Maighread und Chloe unterstützen und ihrer Freundin Elisabeth zur Seite stehen. Die drei älteren Frauen klüngelten ohnehin täglich zusammen.

Das Granny-Kleeblatt, wie Maighread und Chloe sie inzwischen nannten, hatte es kaum erwarten können, das Kommando im kleinen Strickladen zu übernehmen. Das war auch gut so. Maighread war von Herzen dankbar für die Unterstützung und die Möglichkeit zu reisen. Aber dennoch. Das Wollgeschäft war nun einmal ihr Baby. Sie litt unter Trennungsschmerz.

»Was ist los, Honey?«, fragte Joshua prompt. Natürlich war ihm aufgefallen, dass Maighread stiller war als sonst. Er fasste über den Tisch nach ihrer Hand und drückte sie. »Geht es dir nicht gut?«

»Alles okay«, beeilte Maighread sich, Joshua zu beruhigen. Das fehlte noch, dass sie ihm mit ihrer albernen Gefühlsduselei die Freude verdarb. Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. Doch es half nichts. Sie konnte Joshua einfach nichts vormachen. Als er sie prüfend musterte, wusste sie, dass er keine Ruhe geben würde, ehe sie ihm nicht gesagt hatte, was mit ihr los war.

»Ich fühle mich nur ein bisschen angematscht. Nichts, was Beachtung bräuchte«, erklärte sie deshalb. »Schließlich habe ich überhaupt keinen Grund dafür. Das Hotel ist sehr schön und unser Bett ein Traum. Ich habe ausgezeichnet geschlafen.«

Das hatte sie wirklich. Das Zimmer war ganz nach Maighreads Geschmack sehr liebevoll im Vintagestil eingerichtet. Und das Bett war so perfekt, dass sie sich wie auf Wolken gebettet gefühlt hatte.

»Und das Frühstück ist köstlich. Hier, probier mal«, schob sie hinterher und streckte Joshua ihr mit Butter bestrichenes Rosinenbrötchen hin, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie wollte ihm nicht sagen, dass sie Heimweh hatte. Das würde ihn nur unnötig belasten. Und so schlimm war es nicht, sie würde das sicher in den Griff bekommen. Wenn sie gleich den ersten Ausflug machten, würde es ihr schnell besser gehen.

Joshua biss ab und kaute.

»Hm, wirklich lecker«, befand er gleich darauf, nachdem er geschluckt hatte. Doch Maighreads Ablenkungsversuch hatte nicht funktioniert. Joshua kam auf ihr Befinden zurück. »Vielleicht macht dir die Klimaumstellung zu schaffen«, mutmaßte er. »Das Nordseeklima kann anfangs ziemlich müde machen.«

Maighread nickte und war froh, dass Joshua ihr ein gutes Stichwort gegeben hatte. Äußere Einflüsse waren ein guter Erklärungsansatz. »Das könnte es sein. Oder die Fahrt sitzt mir noch in den Knochen.«

Während sie es aussprach, wurde ihr klar, dass es tatsächlich die Ursache für ihre Gefühle sein könnte. Körperliche Erschöpfung zog oft auch emotionale Gewitter nach sich, das war nicht außergewöhnlich. Sie hatte zwar gut geschlafen, aber ihre Muskeln fühlten sich trotzdem noch an wie durch die Mangel gezogen. Vermutlich war ihr Körper noch damit beschäftigt, das ausgeschüttete Adrenalin abzubauen.

»Dieser ewige Stau und der unglaubliche Verkehr gestern. Und obendrein ist der Rechtsverkehr auch für mich als Beifahrerin echt anstrengend. Wir sind zwar schon eine Woche in Deutschland, aber das geht mir immer noch ganz schön auf die Nerven. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich dachte, es kracht. Was für ein Glück, dass wir hier auf der Insel das Auto kaum brauchen werden.«

»Da sagst du was. Es hat zwar bisher super geklappt, aber die ständige Konzentration ist ziemlich anstrengend.«

Maighread und Joshua waren am Abend des Vortags ziemlich erledigt mit der letzten Fähre auf Amrum angekommen. Sie hatten sich vorab in einem hübschen kleinen Hotel in Nebel ein Zimmer gebucht und waren vom Anleger aus, ohne sich großartig umzusehen, direkt dorthin gefahren. Die Insel kennenlernen und alles erkunden wollten sie lieber mit neuer Kraft, wenn sie ausgeschlafen hatten. Die Rundreise durch Deutschland und vor allem die letzte Etappe hatten es in sich gehabt.

Eigentlich war die Fahrt von Vlotho nach Dagebüll gar nicht so lang, sie hätten das ganz locker pünktlich zu ihrer Nachmittagsfähre schaffen können. Aber in Hamburg hatten sie wegen eines Unfalls vier Stunden vor dem Elbtunnel im Stau gestanden. Natürlich hatten sie dadurch ihre Fähre verpasst und dank Joshuas Bleifuß gerade so mit Ach und Krach das letzte Schiff des Tages erwischt.

Aber auch wenn es wirklich super anstrengend gewesen war, hatte das alles Maighread gestern nicht die Laune verhageln können. Ihre letzte Zwischenstation war die Anstrengung allemal wert gewesen.

Sie dachte an das Woolhouse in Vlotho, das sie am Vortag besucht hatten. Dieses zauberhafte Wollgeschäft und die Atmosphäre hatten sie überwältigt. Maighread hatte den Kontakt zum Woolhouse über die West Yorkshire Spinners geknüpft. Nicola, die deutsch-englische Wollhändlerin, war genauso wollverrückt wie sie selbst. Und eine Seele von Mensch. Sie sprudelte nur so über vor Ideen und hatte Maighread direkt in ihr Herz gelassen. Schon Minuten nach dem Kennenlernen hatte Maighread sich wie Nicolas langjährige Freundin gefühlt.

Sie hatten viel gelacht, Strickideen und Wollwissen ausgetauscht und sich ihre Arbeiten gezeigt. Maighread hatte Nicola von ihrem Besuch beim Wollhersteller Wolle Schaf erzählt und ihr die Wollproben gezeigt, die sie mitgenommen hatte. Und Nicola hatte ihre Gäste aus Schottland durch ihr Wollparadies geführt. Bei der Bobbelstation hatte Maighread große Augen bekommen. Das Besondere an diesen Wollknäueln war, dass es sich dabei um ein Garn mit Farbverlauf handelte. Das machte es möglich, ein komplettes Strickstück mit speziellem Farbschema zu stricken, ohne zwischendurch einen Faden ansetzen zu müssen.

Nicola wickelte und entwarf eigene Modelle und obwohl Maighread mit Bobbeln noch keine Erfahrung hatte, war sie sofort begeistert von den unglaublichen Möglichkeiten, die sich durch die eigene Wicklung boten.

»Was ist?«, hatte Nicola sie gefragt. »Sollen wir dir einen maritimen Bobbel wickeln? Einen für das Inselglück, das dich auf Amrum erwartet? Dann kannst du dort damit etwas entwerfen, was zur Insel passt. Und es als Erinnerung mit nach Hause nehmen. Hast du Lust? Und wenn es gut ankommt, dann kannst du die Bobbel vielleicht sogar bei dir ins Angebot nehmen.«

Gesagt, getan. Sie hatten sich beraten, die Farben unterschiedlich kombiniert und schließlich hatte Maighread den ersten Bobbel mit ihrer persönlichen Wicklung in Händen gehalten.

Als Maighread und Joshua sich nach ein paar Stunden von Nicola und ihrem Mann Jörg verabschiedeten, waren aus dem einen vier Bobbel geworden, die Maighread im Gepäck hatte. Es waren Probewicklungen mit leichten Unterschieden in der Farbzusammenstellung und im Verlauf. Nicola hatte gesagt, Maighread sollte testen, welcher ihr am besten gefiel. Das würde dann der Inselglück-Bobbel werden.

Im Gegenzug hatte Maighread Nicola ein paar von Chloes handgeschöpften Seifen dagelassen und einen Teil der Proben von Wolle Schaf – sie hatte sich zum Glück reichlich eingedeckt.

Der Abschied war Maighread schwergefallen. Am liebsten hätte sie ein paar Tage in Vlotho drangehängt, aber das Hotel auf Amrum war gebucht und die Nordsee wartete.

Sie versprachen sich, in Kontakt zu bleiben. Bei ihrem nächsten Besuch in Nicolas englischer Heimat wollten Nicola und ihr Mann Jörg auch auf jeden Fall nach Callwell kommen. Maighread freute sich schon darauf, die beiden ihren Freunden vorzustellen.

Und plötzlich wusste sie, weshalb sie Sehnsucht nach Callwell hatte. Es waren nicht, wie sie gerade vermutet hatte, die Erschöpfung oder das Adrenalin, sondern der Besuch im Woolhouse gewesen. Dieser zauberhafte Laden hatte sie an ihren eigenen Woll-Shop erinnert und ihr ganz viel Inspiration gegeben. Sie war voller Ideen dort weggegangen und hätte am liebsten direkt damit begonnen, ihre Pläne umzusetzen. Aber genau das ging nicht, weil jetzt zwei Wochen Amrum vor ihr lagen. Und die wollte sie auch genießen. Schließlich war das der erste gemeinsame Urlaub mit Joshua.

Nachdem ihr klar war, wo der Knoten in der Wolle steckte, konnte sie auch gleich besser damit umgehen. Gedankenverloren nippte Maighread an ihrem Tee. Die Unterhaltung mit Joshua und das Reflektieren des letzten Tages hatten ihr geholfen. Sie hatte ihre gute Laune fast komplett wiedergefunden und konnte endlich auch wieder von innen heraus lächeln.

Außerdem würde sie sich nachher irgendwo am Strand ein gemütliches Plätzchen suchen und ein wenig stricken, das würde ihre Laune ganz sicher endgültig heben.

Joshua nahm den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse. Er tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab und legte sie auf den Teller.

»Ich war vorhin übrigens kurz an der Rezeption. Unsere Fahrräder stehen bereit.« Sein Gesicht strahlte vor Vorfreude. Er sah Maighread an und hob mahnend den Zeigefinger. »Denk dran, mit dem Fahrrad gilt genauso Rechtsverkehr wie mit dem Auto.«

Maighread verdrehte die Augen und grinste. Daran würde sie sich nie gewöhnen.

»Ich fahre einfach hinter dir her«, meinte sie. »Du hast das bisher ja super hinbekommen.«

»Dann komm, lass uns losziehen. Die Insel wartet. Und wenn wir am Strand sind, machen wir einen Videocall zu Chloe und den anderen.«

Was für einen klugen Verlobten sie doch hatte. Maighread stand auf und gab Joshua einen Kuss. Er hatte es zwar nicht gesagt, aber sie war ziemlich sicher, dass er ahnte, dass sie ein Anflug von Heimweh überfallen hatte. Ein Videocall vom Strand aus war ganz sicher das perfekte Heilmittel.

Während sie im Zimmer ihre Tasche für den Ausflug packte, verflogen auch die letzten Schatten. Maighread fühlte sich wieder leicht und fröhlich. Jetzt konnte sie es kaum erwarten, endlich diesen legendären Kniepsand zu sehen.

Genau wie Miriam, die junge Frau an der Rezeption, es ihnen empfohlen hatte, radelten sie quer über die Insel Richtung Westen. Da wenig los war, konnten sie gemütlich nebeneinanderher fahren. Sie trödelten nicht und achteten nur wenig auf die Landschaft, durch die sie fuhren. Das Inselinnere wollten sie bei einer anderen Gelegenheit erkunden. Jetzt lockte der großartige Strand, für den Amrum so berühmt war. Am Waldrand stoppten sie.

»Jetzt kann es nicht mehr weit sein«, meinte Joshua. Er hob die Nase Richtung Westen und schnupperte. »Fast kann man das Meer schon riechen. Was meinst du? Stellen wir die Fahrräder hier ab und gehen das letzte Stück zu Fuß?«

»Gute Idee«, stimmte Maighread ohne lang zu überlegen dem Vorschlag zu. Sie ging ohnehin lieber zu Fuß, da musste sie nicht darauf achten, auf der richtigen Seite zu bleiben.

Joshua nahm die große Strandtasche über die Schulter. Maighread hatte einen Rucksack dabei.

»Dann los«, sagte sie. »Lass uns herausfinden, ob der Märchenstrand wirklich so märchenhaft ist.« Übermütig klatschte sie ihrem Liebsten auf den Po.

»Hey«, rief er und grinste sie an. »Ich glaube, die Inselluft tut dir nicht gut.«

Als Revanche fuhr Joshuas Hand unter Maighreads leichtes Shirt und strich kurz über ihren Bauch und streifte dabei sanft mit den Fingerspitzen den unteren Rand ihres Bikinioberteils. Ein heißer Schauer zog von Maighreads Brust in Richtung Schoß. Jetzt war es an ihr, ein »Hey« auszustoßen. Es war unglaublich, aber Joshua schaffte es mit so einer kleinen Berührung, Maighreads Sinne in Alarmbereitschaft zu versetzen. Sie konnte nicht genug von ihrem Highlander bekommen.

Händchenhaltend spazierten die beiden Verliebten den Waldweg entlang. Es dauerte nicht lange, bis sie den Strandaufgang erreichten. Sie überquerten die Stelle zwischen den Dünen und schon der Ausschnitt, der sich ihnen hierbei zeigte, war atemberaubend. Als sie aber aus den Dünen heraustraten, erwartete sie ein unglaubliches Bild. Vor ihnen breitete sich weit und weiß der Kniepsand mit seiner ganzen Magie aus. Überwältigt blieben sie stehen.

»Oh wow!«, hauchte Maighread.

Mehr konnte sie im ersten Moment gar nicht sagen, es hatte ihr die Sprache verschlagen. Joshua schien es ähnlich zu gehen. Schweigend zog er Maighread an sich und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie lehnte ihren Kopf gegen Joshuas Brust und genoss seine Nähe. In dieser Stellung verharrten sie eine ganze Weile. Maighread konnte sich kaum sattsehen an der schieren Unendlichkeit dieses Strandes.

»Wirklich märchenhaft«, meinte Joshua und Maighread hörte seiner Stimme an, dass er ebenso beeindruckt war wie sie selbst.

Natürlich hatten sie sich vor ihrer Reise Filme über Amrum angesehen und viele Bilder. Aber jetzt hier zu stehen und diesen Inselzauber selbst zu erleben überstieg Maighreads ohnehin schon hohe Erwartungen noch einmal deutlich.

Sie ließ die Weite auf sich wirken. Ein ziemliches Stück entfernt sah sie die Wellen der Nordsee im Sonnenlicht glitzern. Der Himmel wölbte sich tiefblau über alles und verstärkte das Gefühl der Unendlichkeit bei Maighread noch.

»Wow«, sagte sie noch einmal. Jetzt hatte sie ihre Sprache wiedergefunden. »Das ist unfassbar schön. Und so wahnsinnig weit.«

Glücklich hob Maighread Joshua ihr Gesicht entgegen und gab ihm einen innigen Kuss. Sie spürte Joshuas Hände, die über ihren Rücken wanderten und ließ sich in die Zärtlichkeit fallen. Wenn wir jetzt allein wären … ging es ihr durch den Kopf.

Doch trotz aller Weite hörte man Kinderlachen und Hundegebell. Es kostete sie Überwindung, aber Maighread löste sich von Joshua.

»Sonst werden wir noch verhaftet«, sagte sie leise und kicherte, als sie in Joshuas Augen wie in einem Spiegel ihre eigene Erregung sah und sein bedauerndes Seufzen hörte. Aber er ließ sie los, denn natürlich wusste er, dass sie recht hatte.

Maighread stapfte ein paar Schritte Richtung Wasser. Dann blieb sie wieder stehen. Sie legte den Kopf in den Nacken, streckte ihre Arme zur Seite und drehte sich im tiefen Sand im Kreis. Wieder und wieder und immer schneller. »Hier wird das Herz ganz weit!«, rief sie. Als ihr schwindlig wurde, ließ sie sich lachend in den Sand fallen.

Jetzt wusste sie, dass sie die Tage auf Amrum würde genießen können. Der Inselzauber hatte sie in seinen Bann gezogen.

Joshua hatte sie amüsiert beobachtet und setzte sich jetzt neben sie.

»Die Berichte über die Insel waren nicht übertrieben«, sagte er. Andächtig nahm er eine Handvoll Sand und ließ ihn durch die Finger und über Maighreads Bein rieseln. »Weiß und fein, man könnte wirklich glauben, man ist in der Karibik.«

»Und so unfassbar viel«, staunte Maighread. Sie legte sich die Hand als Sonnenschutz wie einen Schirm über die Augen und ließ den Blick über die scheinbare Unendlichkeit des Kniepsandes wandern. »Ich habe noch nie so einen fantastischen Strand gesehen.«

»Es ist die perfekte letzte Station unserer Deutschlandreise, findest du nicht?«

»Oh ja, absolut«, stimmte Maighread ihrem Liebsten zu. Sie vermisste Callwell zwar immer noch, aber jetzt wusste sie, dass diese zwei Wochen für dieses Inselparadies kaum ausreichen würden. Vermutlich würde sie von nun an immer wieder nach Amrum kommen wollen. Der Inselzauber hatte sie komplett gefangen. Und sie hatte viele Pläne.

»Ich möchte den Strand genießen, aber auch die Insel entdecken. Das Watt soll auch sehr besonders sein. Wanderst du mit mir um die – wie heißt es – Odde? Das ist diese nördlichste Spitze der Insel. Ich habe gelesen, es soll ein Paradies für Vögel sein. Genau wie die Vogelkoje. Und auf den Leuchtturm müssen wir unbedingt. Und …«

»Du bist zauberhaft, wenn du vor lauter Plänen übersprudelst«, sagte Joshua und seine Stimme klang heiser. In dem Kuss, den er Maighread gab, lag ein Versprechen. Später. Wenn sie in ihrem Zimmer allein waren.

»Und jetzt rufen wir Chloe an«, krächzte Maighread, bevor sie Gefahr lief, von Joshuas Leidenschaft komplett mitgerissen zu werden.

***

Auf dem Weg zurück ins Hotel ließen sie sich mehr Zeit. Sie waren glücklich und erschöpft nach ein paar Stunden Strand. Das Wasser war herrlich erfrischend gewesen und die Sonne hatte dafür gesorgt, dass ihnen danach nicht kalt geworden war. Maighread hatte zuerst Muscheln gesucht – das hatte sie Chloe bei dem Videotelefonat versprochen – und dann angefangen, mit ihren Bobbeln zu experimentieren. Aber sie hatte den richtigen Dreh noch nicht raus und am Ende alles wieder aufgeribbelt, was sie in der Zeit am Strand gestrickt hatte. Es sollte ein extra großes Strandtuch werden. Nicht zu kompliziert und das Muster sollte sich möglichst dem Farbverlauf anpassen.

Obwohl sie sich auf eine Dusche freuten, hatten sie nicht widerstehen können und einen Abstecher zum Leuchtturm gemacht. Das hatte Maighreads Wunsch, ganz nach oben zu klettern, nur noch bestärkt. Sie hatte das Schild mit den Öffnungszeiten fotografiert und den Turm ausgiebig bewundert.

Jetzt fuhr Maighread langsam hinter Joshua her. Sie hatten den westlich liegenden Waldweg Richtung Norden genommen. Nebel lag etwa in der Mitte der Insel auf der östlichen Seite. Irgendwann mussten sie also rechts abbiegen, aber laut ihrer Handykarte ging es noch ein Stück weiter, bevor der Abzweig kommen sollte.

Ganz gemütlich trödelten sie vor sich hin und fuhren gerade so schnell, dass sie das Gleichgewicht auf den Fahrrädern nicht verloren. Als sie an einem Straßenschild vorbeikamen, entzifferte Maighread den Namen. Tanenwai stand da. Was für ulkige Bezeichnungen das waren. Maighread amüsierte sich. Sie mochte die norddeutschen Worte. Auch das hier allgemein übliche Moin als Gruß fand sie ganz entzückend.

Als sie am ersten Haus vorbeikamen, entdeckte Maighread ein Schild, das ihre Neugier weckte. Sie bremste ab.

»Joshua, warte bitte«, rief sie. »Sieh mal, was für ein wunderschönes Friesenhaus. Und da ist ein Laden drin. Dogissimo – Mode und Kunst«, las Maighread vor. Ob es da um Hundemode ging? Maighread hatte keine Ahnung, aber der kleine Laden zog sie magisch an. Sie hatte das Gefühl, unbedingt dort hinein zu wollen. Jetzt hatte sie das Geöffnet-Schild entdeckt, das an der Ladentür etwas seitlich neben dem Eingang zum Wohnhaus hing, damit war ihr Entschluss gefasst. »Lass uns bitte reingehen, das interessiert mich.«

Joshua, der sein Fahrrad bereits abgestellt hatte, sagte geflissentlich: »Aye, ganz wie Mylady wünschen.« Er ließ wieder einmal den Klischeschotten durchblitzen, wie es ihn in den alten Filmen der Highlander zu bewundern gab, oder in der beliebten Serie Outlander.

Maighread fand das normalerweise ziemlich niedlich, es passte nach Callwell Castle und zu Joshua, besonders, wenn er dabei seinen Kilt trug. Heute aber prustete sie amüsiert los.

»Du solltest deine Kleidung kontrollieren, bevor du den Highlander gibst, mein Schatz«, neckte sie ihn. »Die ausgefranzten Jeansshorts und dein blaues Ringelshirt machen die Vorstellung etwas unglaubwürdig.«

»Soll ich mich ausziehen?«, witzelte Joshua und tat, als würde er den ersten Knopf der Leiste öffnen. »Bedenke aber, was man über die Schotten und das Darunter munkelt.«

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