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Goldmädchen

Als Buch hier erhältlich:

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Manchmal erfordern Mut und Loyalität einen Balanceakt der Extraklasse...

Ihr Leben lang hat Audrey auf diesen Moment hingefiebert: Sie und ihre beste Freundin Emma haben die Chance, bei den Olympischen Spielen zu zeigen, dass sie zu den besten Turnerinnen der Welt gehören. Aber es kommt anders als geplant. Denn ihr Trainer, dem beide Mädchen vertrauen, seit sie drei Jahre alt sind, wird wegen Missbrauch an ihrer Mannschaftskollegin verhaftet. Das Team steht vor einem Scherbenhaufen. Obwohl Audrey in Leo, dem Sohn der neuen Trainerin, ihre große Liebe findet, hat sie keine Ahnung, wie sie Olympia bestehen soll. Und sie muss sich entscheiden: Ist sie bereit, für ihren Traum von Gold ihre Freundinnen zu verraten?

»Mit Insiderblick zieht Jennifer Iacopelli den Vorhang vor weltberühmten Athleten zurück, deren harte Arbeit und unglaubliche Leistungen oft wegen ihrer einzigartigen Fähigkeit übersehen werden, das Unmögliche einfach aussehen zu lassen. Das Ergebnis ist sportlich, überwältigend und macht süchtig.«
Sarah Henning, Autorin

»Goldmädchen ist ein überzeugendes Buch rund um den Spitzensport, das sich an tatsächliche Ereignisse anlehnt und doch keinen Abklatsch der bekannten Geschehnisse darstellt.« Rita Dell’Agnese, Jugendbuch-Couch, 08.2021



  • Erscheinungstag: 22.06.2021
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800323

Leseprobe

Erstes Kapitel

Glühend weiß zuckt der Schmerz durch meine Wirbelsäule, zieht brennend durch meine Hüfte und in meine Schenkel. Ich beiße die Zähne zusammen und balle die Fäuste, bohre die stumpfen Fingernägel tief in die Handflächen.

Komm schon, Audrey, stell dich nicht so an. Reiß dich zusammen.

Ich klopfe mit den Fingerknöcheln meine Wadenmuskeln ab, um mich von dem Schmerz abzulenken, während ich im Spagat auf dem Boden sitzend auf meinen Einsatz warte.

Das einzige Geräusch in der ausverkauften Halle ist das nachhallende Quietschen des Barrens, das bis zu den Dachsparren hinaufsteigt. So geht es seit zwei Tagen. Eine nach der anderen gehen wir an den Sprungtisch, den Schwebebalken, den Stufenbarren oder auf die Bodenfläche und zeigen unsere Küren, während das Publikum den Atem anhält.

Den Atem anhält wie ich. Würde ich es nicht tun, könnte alles zu viel werden, und niemand darf merken, wie sehr mein Rücken schmerzt.

Schon gar nicht er.

Trainer Gibson – oder Gibby, wie wir Kunstturnerinnen der US-Nationalmannschaft ihn nennen – patrouilliert zwischen den einzelnen Tribünen umher und hält mit Adleraugen nach den geringsten Anzeichen von Schwäche Ausschau. Er ist überall gleichzeitig, kühl und analytisch, bemerkt jedes Zögern, jedes Zucken, saugt noch die winzigste unserer Schwächen auf.

Er steht in seinem rot-weiß-blauen Trainingsanzug zu meiner Linken und verschränkt die Arme über dem glänzenden Stoff.

»Was macht der Rücken, Audrey?«, fragt er.

»Alles super. Kann losgehen.«

Er zieht die Augenbrauen hoch und gibt ein ungläubiges Brummen von sich, ohne seinen starren Blick auch nur eine Sekunde von meiner Mannschaftskollegin und besten Freundin Emma Sadowsky abzuwenden, die gerade am Barren schwingt.

Gibby kann starren, so viel er will, Emma wird es nicht vermasseln. Er weiß es, obwohl er mit betont kritischer Miene ihre Handstände und Holmwechsel beobachtet. Sie ist die Perfektion in Person.

Doch auch nur das kleinste Zucken von mir? Das ist quasi das Eingeständnis, dass ich zu große Schmerzen habe, um weiterzumachen.

Emma ist eine großartige Turnerin, aber selbst an ihren besten Tagen ist sie am Barren nicht besser als ich. Dafür ist sie sonst in allem besser als ich, was die eine Sache mehr als ausgleicht. Wir trainieren zusammen, seit unsere Mütter uns im Alter von drei Jahren zum Mutter-Kind-Turnen angemeldet haben. Jetzt, vierzehn Jahre später, sind wir bei der Qualifikation für Olympia.

Ich bin mir sicher, dass sie es ins Team schafft. Als letztjährige Gewinnerin der National- und der Weltmeisterschaft gilt sie als Favoritin für gleich mehrere Goldmedaillen in Tokio. Bis jetzt hat Emma alles erreicht, wovon wir als kleine Mädchen geträumt haben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie olympisches Gold gewinnt.

Für mich hingegen würde es an ein Wunder grenzen, wenn ich es überhaupt ins Team schaffe. Die Schmerzen spielen dabei keine Rolle. Nicht wirklich. Abgesehen von den glückseligen Tagen nach einer Kortisonspritze fühlt sich mein Rücken immer so an. Die Ärzte haben gesagt, ich solle aufhören, woraufhin ich ihnen gesagt habe, den Vorschlag könnten sie sich sonst wohin schieben. Dann habe ich mich entschuldigt, und wir haben uns auf einen Kompromiss geeinigt: Nach Olympia höre ich auf.

Ich habe also nur noch ein paar Wochen vor mir. Oder, wenn meine nächste Übung danebengeht, nur noch ein paar Minuten.

Mit einem befriedigenden Klatschen, als ihre Füße auf der Matte aufkommen, beendet Emma ihre Übung mit einem gestreckten Doppelsalto. Ihr Körper biegt sich auf diese bewundernswerte Art, bei der mein vierter Lendenwirbel anfängt zu zucken. Vielleicht liegt das aber auch am Tosen der Menge, die ihrem Liebling zujubelt.

Freude für meine beste Freundin durchströmt mich, während sie beide Arme hebt, um sich beim Kampfgericht abzumelden, und dann ihren Fans winkt. Ein Stachel der Aufregung schießt durch meinen Körper. Der Schmerz tritt in den Hintergrund. Gleich ist es Zeit für meine Kür, und mein Körper und mein Geist sind völlig im Einklang.

Ein paar Minuten zum Durchatmen habe ich noch, denn zwanzig Meter vor mir beginnt Chelsea Cameron, die aktuelle Mehrkampf-Olympiasiegerin, gerade ihre Bodenübung. Sie staffeln die Übungen für die Fernsehübertragung, damit die Fans zu Hause alles sehen können.

»Du hast es gerockt«, sage ich und stehe auf, als Emma vom Podium springt, ein breites künstliches Lächeln im Gesicht. Ich kenne sie lange genug, um den Unterschied zu sehen.

»Ich weiß«, sagt sie und streicht sich die Haare zurück. Ihre Hände stecken noch in den staubigen Turnriemchen. Die kreideähnliche Magnesia hinterlässt helle Strähnen in ihren orangeroten Haaren, nur Nuancen heller als ihre Haut. Ich muss lächeln. Sonst bin ich es immer, die Kreidesträhnen in den dunklen Haaren hat. »Du packst das, Rey.«

»Klar.«

Sie lächelt wieder, diesmal ehrlich, und ein Teil der Anspannung fällt von meinen Schultern ab, obwohl Gibby immer noch neben mir steht. Es sieht vielleicht so aus, als würde er Chelsea beobachten, die auf der anderen Seite der Arena auf der Bodenfläche turnt, aber ich zweifle keine Sekunde daran, dass zumindest ein Teil seiner Aufmerksamkeit auf mich gerichtet ist.

Ich lasse die Arme kreisen, strecke sie über meinen Kopf und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass mir Gibbys Anwesenheit deutlich bewusst ist, während ich in Gedanken ganz bei der Übung sein sollte, die vor mir liegt. Er ist kaum größer als ich, aber das Ausmaß seiner Macht über meine Welt lässt ihn für mich riesenhaft erscheinen.

Er fährt sich durch die dichten braunen Haare, die an den Schläfen ganz leicht ergraut sind. »Zeig mir, was du kannst, Audrey«, sagt er. Sonst … füge ich im Kopf hinzu.

Chelsea landet nach ihrer finalen Sprungkombination. Ihre Tage als Spitzenturnerin sind vorbei, doch an ihrem Namen hängt noch immer das Gewicht von olympischem Gold und millionenschweren Sponsorenverträgen. Außerdem ist sie selbst mit zwanzig noch der Hammer am Sprungtisch und am Boden.

Ich hole tief Luft und verbanne Chelsea aus meinen Gedanken. Gibby will sehen, was ich am Barren draufhabe, und ich muss ihm zeigen, dass ich ins Olympia-Team gehöre. Dass ich meiner Träume würdig bin.

Auf geht’s, Audrey, rock diese Nummer, und du fährst nach Tokio.

Die Menge hat sich nach Chelseas Bodenkür wieder beruhigt, gerade rechtzeitig, damit der Ansager noch rufen kann: »Und jetzt am Barren für die New York City Gymnastics Elite, Audrey Lee!«

Mein Herz setzt kurz aus, als ich meinen Namen höre, und ein Schauer der Aufregung durchfährt mich. Wenn das hier das letzte Mal ist, dann will ich mich später an jedes Detail erinnern. Ich schaue meiner Trainerin Pauline in die Augen. Sie reibt den Barren genau so mit Magnesia ein, wie ich es mag, nur eine hauchdünne Schicht, damit nichts klumpt. Ein angespanntes Lächeln huscht über ihr Gesicht, und ich lächle zurück.

Die Zeit reicht nicht, um all die Worte auszusprechen, die mir durch den Kopf gehen, wie dankbar ich ihr bin und wie sehr ich sie liebe und dass sie, egal, was passiert, immer wie eine zweite Mutter für mich sein wird. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass die Zeit nicht reicht. Jetzt ist eindeutig der falsche Zeitpunkt zum Heulen.

Die Menge tobt, aber nicht laut genug, um das Rauschen des Bluts in meinen Ohren zu übertönen. Die Ampel neben dem Podium ist noch rot, daher lasse ich den Blick durch die Arena schweifen. Alle möglichen Geräte spiegeln das Licht, Kameraleute mit ihrer Ausrüstung, die bei dem Versuch, unauffällig zu sein, kläglich scheitern, und über alldem liegt feiner Kreidestaub.

Es ist wunderschön.

Der Kampfrichter am Ende der Reihe gibt mir grünes Licht. Es kann losgehen.

Alles andere tritt in den Hintergrund. Ich hebe einen Arm zum Gruß, strecke den anderen zur Seite, eine affektierte Geste, die ich mir bei den russischen Turnerinnen abgeschaut habe, mit denen ich mich fast schon zwanghaft beschäftigt habe, als ich jünger war. Dann drehe ich mich um und richte den Blick auf die zylindrischen Fiberglasholme, die mir mein Ticket zu den Olympischen Spielen verschaffen könnten.

Ich schwinge hoch in den Handstand, halte ihn lange genug, um meine Kontrolle zu zeigen, aber nicht so lange, dass das Blut in meinen Kopf rauscht, dann falte ich meinen Körper in der Mitte zusammen und grätsche die Beine zum V, gestreckt von der Hüfte bis zu den Zehenspitzen. Bei einer Barrenkür, besonders bei meiner, ist kaum Zeit zum Atmen. Es ist einer der schwierigsten Bewegungsabläufe der Welt, jedes Element ist mit dem nächsten verbunden, eine geschmeidige Melodie, die unter dem Ächzen des Barrens und dem Sirren der Schwünge dahinfließt. Auf dem oberen Barren lasse ich los und greife um, dann wieder auf den unteren, Umschwung und gleich wieder nach oben.

Es ist nicht wie fliegen, aber es ist so nah dran, wie man als Mensch nur kommen kann. Jetzt ein großer Schwung in die Drehung, zurückschnellen und loslassen, den Körper stocksteif in ein, zwei, drei Schrauben drehen und landen, den winzigen Ausfallschritt voll unter Kontrolle, kaum ein Wanken.

Geschafft.

Eine perfekte Kür und ein großer Seufzer der Erleichterung. Ich klatsche in die Hände, wobei eine Magnesiawolke aufstäubt, und hebe die Arme, um mich beim Kampfgericht abzumelden, vielleicht zum letzten Mal.

Als ich vom Podium springe, umarmt Emma mich schon, bevor meine Füße den Boden berühren. Als Nächste umarmt mich Pauline, die mich sogar besser kennt als meine Eltern. Über ihre Schulter hinweg fange ich Gibbys Blick auf, doch es liegt keinerlei Gefühl darin. Keine Freude oder Zufriedenheit, nur undefinierbare Unbeugsamkeit. Er wendet den Blick ab.

Ich habe getan, was er verlangt hat, oder nicht?

War es genug?

»Komm«, raunt Emma mir zu, als unsere Trainerin mich loslässt. Pauline hat Tränen in den Augen, als ich mich umdrehe. Tränen der Freude? Der Trauer? Beides?

Ich nehme Emmas Hand und drücke sie.

»Ich wusste, dass du es kannst«, sagt sie und drückt zurück.

In dem Moment wird alles zu viel. Ich ziehe sie an mich, Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln. »Ich bin so stolz auf dich. Auf uns.«

»Ich auch.« Ihre Stimme ist kratzig, doch sie schluckt die Gefühle hinunter, noch etwas, worin sie besser ist als ich.

Pauline legt mir den Arm um die Schultern. Gemeinsam gehen wir in die Ecke der Halle, während die letzte Teilnehmerin angesagt wird.

»Und nun am Boden, aus dem San Mateo Gymnastics Center: Daniela Olivero!«

Die Götter des Turnsports wussten genau, was sie taten, als sie Dani den letzten Platz in der letzten Runde zugewiesen haben. Ihre Übung The Greatest Showman ist bei Turnfans extrem beliebt, und sie selbst ist am Boden einfach spektakulär, kann wahnsinnig hoch springen und hat einen unfassbaren Vorrat an Energie.

Bis letztes Jahr gehörte sie noch nicht zur Elite, aber in den letzten Monaten – auf der Zielgeraden vor Olympia – hat sich für sie alles bestens gefügt.

Die Musik bringt die Menge augenblicklich auf die Beine. Ich werfe Emma einen Blick zu, und sie grinst zurück. Gemeinsam tanzen wir mit. Die Choreographie ist sagenhaft. Wir haben sie im Trainingslager rauf und runter geschaut.

Sierra Montgomery und Jaime Pederson, zwei Turnerinnen aus Oklahoma, die immer aneinanderkleben, lachen erst über uns, werden dann aber selbst in den Bann der Musik gezogen und lassen die Hüften kreisen.

Die Musik endet, gerade als Dani ihren letzten Sprung perfekt landet und das Publikum jubelt, eine regelrechte Lärmwelle schlägt über uns zusammen. Meine Schmerzen sind nur noch eine flüchtige Wahrnehmung, ein Kribbeln im Hinterkopf, während alle Wettkampfteilnehmerinnen durcheinanderschwirren und sich in den Armen liegen.

Ich umarme Sierra, dann Jaime und schnaufe kurz durch, als ich fast von Chelsea Cameron über den Haufen gerannt werde. Obwohl sie gerade mal 1,50 Meter groß ist, wirft sie mich fast um, ihre braunen Locken drücken sich an meine feuchte Wange. Sie weint und merkt wahrscheinlich gar nicht, wen sie da umarmt, denn wir haben über die Jahre kaum mehr als ein paar Worte gewechselt. Dani umklammert immer noch ihre Trainerin, aber Emma umarmt sie von hinten wie ein Bär – so bärenhaft ein Mädchen von vierzig Kilo sein kann – und schleift sie zu uns herüber.

Bittersüße Tränen kitzeln in meinen Augenwinkeln. Es ist ein nahezu unerträgliches Gefühl, da hinauszugehen und alles zu geben, um zu beweisen, dass man dazugehört, und dann noch immer nicht zu wissen, ob es genug war.

Fast gegen meinen Willen huscht mein Blick zur Anzeigetafel. Ich will nicht hinsehen, aber ich muss. Die zusammengezählten Wertungen aus zwei Wettkampftagen werden angezeigt, damit alle sie sehen können, und bevor mein Schicksal von Gibby entschieden wird, muss ich wissen, wo ich stehe. Obwohl die Welt vor meinen Augen verschwimmt, erkenne ich meinen Namen deutlich genug.

1. Emma Sadowsky

118,2

2. Daniela Olivero

118,0

3. Sierra Montgomery

117,1

4. Jaime Pederson

116,3

5. Audrey Lee

115,4

6. Chelsea Cameron

110,5

Alle sind durchgekommen wie erwartet, auch wenn ich überrascht bin, wie knapp der Abstand zwischen Emma und Dani ist. Es gibt vier Plätze im Team für die Olympischen Spiele, und ich bin auf Platz fünf, aber Gesamtwertungen sind nicht so wichtig wie das, was Gibby will. Bleiben wir realistisch. Es kommt ausschließlich auf seine Meinung an.

Inmitten des Durcheinanders ziehe ich mir meinen schwarzen Trainingsanzug über, den gleichen, den auch Emma hat. Auf dem Rücken ist mit silbernen Strasssteinen die Skyline von New York abgebildet, und am linken Revers steht NYC Elite. Ziemlich scheußlich, aber Turnmode ist selten geschmackvoll. Jetzt fließen die Tränen wirklich. Ganz egal, was passiert, das ist das letzte Mal, dass ich meinen NYC-Trainingsanzug trage. Von jetzt an trage ich den Anzug der Nationalmannschaft oder gar nichts.

Hör auf, Audrey. Genieß den Augenblick.

Ich versuche, Emma im Gedränge auszumachen und die Gefühle herunterzuschlucken. Es klappt nur halb. Aber das ist besser als gar nicht. Als ich meine Tasche über die Schulter werfe, bedeutet uns einer der Helfer, den ich vage als einen Funktionär des NGC erkenne, des National Gymnastics Committee, die Halle zu verlassen. Ich schlurfe hinter den anderen Mädchen her. Insgesamt sind wir zwölf, die aber gleich auf vier plus zwei Ersatzturnerinnen zusammengestutzt werden.

Hinter mir ruft der Ansager: »Während wir auf die Entscheidung des Auswahlkomitees warten, gratulieren Sie mit mir der Silber- und Bronzemedaillengewinnerin Janet Dorsey-Adams, Inhaberin und Trainerin von Coronado Gymnastics and Dance, zu ihrer Aufnahme in die NGC Hall of Fame!«

Der Scheinwerfer folgt Janet auf die Tribüne, wo sie ihren Pokal in Empfang nehmen soll. Es ist schon cool, in die Hall of Fame aufgenommen zu werden. Ob ich in ein paar Jahren vielleicht auch …

»Audrey, komm!« Emmas Stimme unterbricht meine Gedanken. Sie ist schon weiter vorne, als ich dachte.

Ich drehe mich um, um ihr zu folgen, doch direkt vor meinen Augen befindet sich plötzlich der Oberkörper von jemandem, der sehr viel größer ist als ich. Um ein Haar stoßen wir zusammen, bohrt sich meine Nase in seine Brustmuskeln, bevor zwei starke Arme mich sanft an der Schulter auffangen. Ein kleiner Schritt zurück, und die Kollision ist verhindert. Er lässt mich los, ich blicke auf, und meine Augen weiten sich überrascht. Ich kenne ihn.

Es ist Leo Adams, der Sohn von Janet Dorsey-Adams und Junior-Weltmeister im Snowboarden. Seine Mum hat ihn immer zu Wettkämpfen mitgeschleppt, als wir klein waren. Wir sind online befreundet, aber im echten Leben habe ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.

Er trägt ein breites Grinsen und ein T-Shirt mit der Aufschrift This Is What A Feminist Looks Like, und im Vergleich zu mir mit meinen 1,52 Meter ist er ziemlich groß, mindestens 1,80. Er ist ethnisch gemischt – halb schwarz, halb weiß – und hat einen Hauch von Sommersprossen auf der Nase.

»Hi, Leo.«

Innerlich schaudere ich, weil mir nichts Originelleres einfällt. Und was ist, wenn ich zwar seinen Namen kenne, er meinen aber nicht?

Das wäre peinlich.

Doch ein Lächeln überzieht sein Gesicht, und ich muss ebenfalls lächeln. »Audrey Lee!«, sagt er. O Gott sei Dank, er weiß, wer ich bin. »Pass bloß auf. Nicht, dass du noch wegen Tollpatschigkeit deinen Platz im Team verlierst.«

Ich gestatte mir noch ein Lächeln. »Es könnte das Risiko wert sein.«

Was zum Teufel, Audrey? Flirtest du etwa? Das muss das High nach dem Wettkampf sein.

»Audrey!« Emma ruft wieder durch den langen Gang, ihre Stimme hallt von den Betonwänden wider. Sie winkt mir ungeduldig zu, aber ich zögere. Sie und die anderen Mädchen verschwinden in der Umkleide.

Es ist seltsam. Ich habe eine Art Paralleluniversum betreten, in dem das Adrenalin meinen Schmerz betäubt und meine Turnkarriere gleich für immer beendet sein könnte, und der Gedanke hat etwas ungemein Erleichterndes. »Ich sollte vielleicht …«

»Du solltest ganz bestimmt«, erwidert er, und ich muss lachen.

»Meine Damen und Herren, in fünfzehn Minuten stellen wir Ihnen das neue Olympiateam der Vereinigten Staaten von Amerika vor!«, ruft der Ansager.

Ich mache einen Schritt in Richtung Umkleide, und dann noch einen. Nicht umdrehen, Audrey. In einem Monat hast du noch genug Zeit, an Jungs zu denken, wenn du dir deine olympische Medaille geholt hast. Oder zwei.

Die Tür schwingt hinter mir zu. Die anderen Mädchen sind schon da, sogar Sarah Pecoraro und Brooke Orenstein. Sie haben sich letztes Jahr als Einzelturnerinnen qualifiziert. Sie fahren auch nach Tokio, haben aber keine Chance auf die Mannschaftsmedaille wie wir anderen – wenn wir es schaffen.

»Wo warst du denn?«, fragt Emma und zieht mich auf den freien Platz neben sich.

»Erinnerst du dich an Leo Adams?«

»Was?«, quietscht sie. »Der ist hier? Warte, wie lange ist es noch bis zur Bekanntgabe?«

Sie ist total aufgedreht, was ich sehr gut nachvollziehen kann. Sie hat gerade als Beste in der Qualifikation für Olympia abgeschnitten und muss trotzdem weiterbangen wie wir anderen. Da ist jede Ablenkung willkommen.

»Fünfzehn Minuten.«

Mein Handy vibriert in meiner Tasche. Es warten tausende Benachrichtigungen auf mich. Dank der Fernsehübertragung der Qualifikation drehen die sozialen Netzwerke völlig durch, aber ich habe gelernt, den Großteil davon zu ignorieren.

Nur der letzte Alert weckt meine Neugier. Es ist ein Post von @Leo_Adams_Roars.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche, das Lächeln zu unterdrücken, das er mir gerade schon einmal entlockt hat, während ich seinen Account öffne. Das Profilbild ist gut getroffen, dieselben Sommersprossen, dasselbe Lächeln und noch dazu die Grübchen, die ich gerade völlig unverständlicherweise übersehen habe.

»Wow. Der ist ja superheiß«, sagt Emma, vermutlich lauter als geplant.

»Wer ist superheiß?«, fragt Sierra augenblicklich und streckt den Kopf zu uns rüber.

»Leo Adams«, erklärt Emma und zeigt auf mein Handy. Schwups, schon sorgt mein kleiner Augenblick mit Leo für die Ablenkung, die wir alle brauchen.

»Ist das Janet Adams’ Sohn?«, fragt Jaime.

»Nee, das ist nur irgendein Typ, der zufällig den gleichen Nachnamen hat und bei ihrer Preisverleihung rumhängt, Jaime.« Sierra verdreht die Augen.

»Snowboarder?«, fragt Chelsea, während mein Daumen über einem Schwarzweißfoto verharrt, auf dem er mit einem Snowboard an den Füßen auf einem Berg zu sehen ist – oben ohne wohlgemerkt –, während in der Ferne die Sonne aufgeht.

»Ein Snowboarder mit Sinn für Ästhetik«, stichelt Emma und zieht eine ihrer perfekt geschwungenen rotblonden Augenbrauen hoch.

»Er hat letztes Jahr die Juniorweltmeisterschaft gewonnen«, sage ich lässig und hoffe, dass ich nicht so klinge, als würde ich seine Karriere akribisch verfolgen. Da ist ja auch wirklich nichts dabei. Wir alle posten mindestens einmal am Tag irgendwas, und er kannte meinen Namen, also weiß er vermutlich ähnliche Dinge über mich. Wahrscheinlich. Hoffentlich.

Dani beugt sich vor, um an Chelsea vorbeizuschauen. »Typen wie der sollten prinzipiell ohne Shirt rumlaufen. Schaut euch mal die Schultern an.«

Und dann bekomme ich fast einen Herzinfarkt, als Sierra die Hand ausstreckt und den Gefällt-mir-Button drückt. »O mein Gott!« Viel zu spät ziehe ich das Handy weg. Ich habe nicht gerade viel Erfahrung mit Jungs – vierzig Stunden Training die Woche lassen nicht viel Zeit für Romantik –, aber ich weiß genug, um zu verstehen, dass ein Like für ein monatealtes Foto ziemlich verzweifelt aussieht.

Sierra lacht, und die anderen Mädchen kichern. »Ist doch nicht schlimm. Guck mal!«

Sie hat recht. Endlich lese ich die Nachricht, die er geschrieben hat:

@Leo_Adams_Roars: Mit @drey_Lee zusammengestoßen! Keine Sorge. Es geht ihr gut. Das Gold am Barren ist uns sicher! #NGCQuali

Ein Klopfen unterbricht uns, und aller Augen lösen sich von meinem Handy. Schluss mit der Ablenkung. Gibby und die anderen vom Auswahlkomitee stehen vor der Tür.

Es ist Zeit.

Zweites Kapitel

Mein Atem geht ganz flach, als wir in einer Reihe die Halle betreten und mit erhobenen Armen der Menge winken. Sie empfängt uns mit lautem Jubel, der für mich kaum mehr als ein Summen im Hintergrund ist. All die Jahre des Träumens waren nicht genug, um mich auf diesen Moment vorzubereiten. Meine Haut fühlt sich kribbelig und taub zugleich an.

Gibby steht in der Mitte der dunklen Halle im Licht eines einzelnen Scheinwerfers. Seine Frisur sitzt tadellos, seine Schultern sind straff, sein Rücken gerade. Seine Haltung verlangt ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist mir eine Ehre, Ihnen nun die Turnerinnen vorzustellen, die die Vereinigten Staaten von Amerika bei den Olympischen Spielen in Tokio repräsentieren werden. Neben unseren Turnerinnen in der Einzel-Qualifikation, Sarah Pecoraro und Brooke Orenstein, gratulieren Sie mit mir …

… Chelsea Cameron …

… Audrey Lee …

… Daniela Olivero …

… Emma Sadowsky …

… sowie unseren Ersatzturnerinnen Sierra Montgomery und Jaime Pederson.«

Ich bin in Tränen ausgebrochen, als Gibby in der Umkleide unsere Namen verlesen hat, und seitdem ist es immer schlimmer geworden. Meine Wangen sind schon wund vom vielen Tränenwegwischen. Meine Kehle ist geschwollen, und ich bekomme meinen Atem einfach nicht unter Kontrolle. Aber heute ist mir das egal. Selbstbeherrschung wird total überbewertet.

Emma steigt neben mir im blendenden Scheinwerferlicht auf das Podium. Bis jetzt hat sie sich völlig unter Kontrolle. Keine Träne, kein Blinzeln, sie ist die Ruhe selbst, wie es sich für die beste Turnerin der Welt gehört. Ich drücke ihre Hand ganz fest. Ihre Hand in meiner zu spüren, zeigt mir, dass das alles wirklich wahr ist. Wenn ich sie losließe, könnte sich alles einfach in Luft auflösen und ich würde aus diesem vollkommenen, quälend perfekten Traum erwachen.

Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe, und gleichzeitig ist es ganz anders. Wenn ich es nicht ins Team geschafft hätte, hätte mich das viel unglücklicher gemacht, als es mich jetzt glücklich macht, es geschafft zu haben. Es ist komisch zu wissen, dass ich mir Misserfolge viel stärker zu Herzen nehme als Erfolge. Gesund ist das sicher nicht, aber so bin ich nun mal.

Irgendetwas knallt laut, und ich zucke zusammen, als ein Konfettiballon über uns explodiert, und glitzernde rote, weiße und blaue Schnipsel von der Decke auf uns herabregnen und sich in unsere Haare setzen. Einer landet sogar in meinem Mund. Wieder liegen wir uns lachend in den Armen. Ich glaube nicht, dass ich je in meinem Leben so viel umarmt habe wie heute. Eigentlich war das nie so mein Ding, aber jetzt könnte ich mich daran gewöhnen.

»Kommt, Mädels, wir machen einen Huddle!«, übertönt Chelsea den Lärm. Sie war schon bei den letzten Olympischen Spielen dabei und weiß, wie es sich anfühlt, aber ich will diesen Moment voll auskosten. Mit meinem Rücken habe ich nur diese eine Chance. Sierra legt den Arm um meine Schultern, und wir stellen uns im Kreis auf. Wie fühlt es sich für sie und Jaime an? Ersatzturnerinnen. Ich weiß nicht, ob mir an ihrer Stelle nach Feiern zumute wäre.

Emmas Arm legt sich von der anderen Seite um mich, und dann stehen wir alle ganz dicht zusammen, wir acht. Die Namen dieser Mädchen werden für immer mit meinem verbunden sein, ganz egal, was zwischen diesem Moment und der Abschlusszeremonie in Tokio passiert.

»Wir sind jetzt ein Team.« Chelsea muss fast schreien. Trotzdem dringt ihre Stimme nicht über unseren Kreis hinaus. »Wir kämpfen gegen den Rest der Welt, und wir werden gewinnen!«

Ich nicke. Alle nicken.

»Hände in die Mitte«, kommandiert Chelsea. Da will wohl jemand Mannschaftskapitänin werden. Na ja, ist ja auch naheliegend für die älteste und erfahrenste Turnerin. Chelsea streckt die Hand aus, dann Emma, dann Jaime und Sierra, ich und Dani und schließlich Sarah und Brooke. »USA auf drei – eins, zwei, drei …«

»USA!«, brüllen wir und werfen die Hände in den Himmel, drehen uns in einer Bewegung um und winken der Menge. Die Lichter gehen an, und ich glaube, ich kann meine Eltern ein paar Reihen über dem Sprungtisch sehen.

Ja, da sind sie, und mir ist nicht mal peinlich, dass Mum wie wild auf und ab hüpft und mir wie eine Verrückte winkt, während Dad lächelt und mit dem Rest der Menge applaudiert.

Ich winke zurück, aber ich kann jetzt nicht zu ihnen, sonst müsste ich über die Absperrung klettern, die den Wettkampfbereich vom Publikum trennt, und die Sicherheitsleute würden einen Herzinfarkt kriegen. Ich sehe sie ja bald.

Aber erst kommen die Interviews.

Der Mitarbeiter vom NGC, dem wir das ganze Wochenende wie Entenküken gefolgt sind, scheucht uns vom Podium. Irgendjemand drückt mir ein Taschentuch in die Hand, während wir zum Pressebereich gebracht werden. Es stehen schon Hocker mit unseren Namen für uns bereit.

Ich setze mich auf meinen Hocker, tue mein Bestes, mir die Tränen wegzutupfen, ohne mein Make-up vollends zu ruinieren, und schon kommen die ersten Reporter. Vor Emmas und Chelseas Stühlen ist der Andrang wie erwartet groß, aber es ist cool zu sehen, dass auch Dani Olivero eine beachtliche Fangemeinde hat, zuzüglich der ganzen spanischsprachigen Medien. Ihre Familie stammt ursprünglich aus Mexiko und spricht zu Hause Spanisch, sodass sich die Journalisten von ihr vermutlich ein paar gute O-Töne erhoffen. Auf der anderen Seite des Raums stehen sechs leere Stühle für die Mädchen, die es nicht geschafft haben. Sie sind immer noch in der Umkleide. Wie knapp war es? Wie nah war ich dran, eine von ihnen zu sein, statt hier draußen auf diesem lächerlich unbequemen Hocker zu sitzen?

Einige Reporter haben anscheinend beschlossen, mich zuerst zu interviewen und sich erst später den Stars zu widmen.

»Audrey«, beginnt eine große blonde Frau mit hochgesteckten Haaren. »Was geht dir jetzt durch den Kopf, da du weißt, dass dein Comeback erfolgreich ist?«

Oh, alles klar. Sie wollen eine Erlösungsstory. Erlösung wovon? Vermutlich von den Schmerzen. Ich bin immer noch so high, dass ich sie gar nicht spüre, obwohl ein Stuhl ohne Rückenlehne normalerweise die Hölle ist.

Ich lächle und beiße mir auf die Lippe, um mir eine flapsige Antwort zu verkneifen – leider umsonst: »Don’t call it a Comeback!«

Einige Reporter lachen, sie haben die Anspielung kapiert. Ich komme aus Queens, und LL Cool J’s Mama Said Knock You Out ist für mich vermutlich wichtiger als für die meisten anderen. Die Frau, die die Frage gestellt hat, runzelt verwirrt die Stirn, und ich zucke etwas verlegen mit den Schultern. »Entschuldigung. So ist das eben beim Turnen. Es gibt die ganze Zeit über Verletzungen. Wir kommen alle drüber weg. Aber ich bin wirklich froh, dass ich genug Zeit hatte, mich zu erholen und wieder so leistungsfähig zu werden, dass ich es ins Team geschafft habe.«

»Da du gerade vom Team sprichst«, meldet sich ein junger Typ mit langen Koteletten und Hipsterbrille zu Wort. »Du bist Fünfte in der Gesamtwertung und hast es trotzdem unter die ersten vier geschafft. Findest du das fair?«

Ich muss alles aufbringen, was ich über den Umgang mit der Presse gelernt habe, um nicht die Augen zu verdrehen. »Das liegt leider weit über meinem Zuständigkeitsbereich.« Ich lächle und zucke wieder mit den Schultern. Mein Dad ist Chirurg und kommentiert mit diesem Satz ständig die Entscheidungen seines Chefs im Krankenhaus. »Das Mannschaftsfinale ist ziemlich kompliziert, an jedem Gerät werden die drei besten Turnerinnen zusammengesetzt. Vielleicht hat es etwas damit zu tun.«

Nicht nur vielleicht, sondern genau deswegen bin ich ins Team gekommen. Ich gehöre zu den Top drei am Barren und am Schwebebalken. Chelsea gehört zu den Top drei am Sprungtisch und am Boden. Dani und Emma sind unsere besten Mehrkämpferinnen, an allen vier Geräten herausragend. Wir sind vier Turnerinnen, deren Stärken und Schwächen sich so gut ergänzen, dass wir in jedem Bereich der Teamwettkämpfe eine perfekte Gruppenleistung abliefern können. Das ist simple Mathematik.

Eine ältere Frau, die ich als Reporterin der Sports Illustrated erkenne, fragt: »Bist du überrascht, dass du es geschafft hast?«

»Überrascht? So würde ich es nicht formulieren, aber wenn Sie mich fragen, ob ich davon ausgegangen bin, dass ich es schaffen würde: auf keinen Fall.«

»Wie ist es, dass du und Emma Sadowsky gemeinsam nach Tokio fahrt?«

Endlich mal eine gute Frage. Ich könnte die Reporterin küssen.

Emma sitzt ein paar Hocker weiter und gibt ihr Interview wie ein Profi. Alles, was ich in dieser Hinsicht kann, habe ich von ihr gelernt. »Es ist fantastisch, der absolute Wahnsinn, einfach unglaublich. Sie ist meine beste Freundin, ich weiß gar nicht, wie ich das letzte Jahr ohne sie überstanden hätte. Dass sie jeden Tag mit mir in der Halle war, hat mir die Kraft gegeben, weiterzumachen. Mit der besten Freundin zur Olympiade zu fahren, ist einfach nur großartig. Ein absoluter Traum.«

»Glaubst du, dass sie Irina Kareva schlagen kann?«

»Letztes Jahr hat sie sie geschlagen.« Ich konnte an der Weltmeisterschaft zwar leider nicht teilnehmen, aber wenigstens war es unglaublich befriedigend zu sehen, wie Emma an Irina Kareva vorbeigezogen ist. Alle hatten geglaubt, der russische Superstar sei nicht zu schlagen, aber Emma hat sie mit fast einem ganzen Punkt überflügelt, nachdem Irina auf dem Balken gepatzt hatte.

»Kareva hat letzte Woche ein Video von einem dreifach geschraubten Yurchenko gepostet. Wenn sie den schafft, wird sie einen Riesenvorsprung vor Emma haben.«

Das ist ein lächerlich großes Wenn. Bis jetzt hat noch keine Frau einen dreifach geschraubten Yurchenko in einem Wettkampf geschafft, und in dem Video macht Kareva keine besonders gute Figur. Das ist das Einzige, was mir an den russischen Turnerinnen nicht gefällt. Sie haben oft wunderschöne Choreographien, aber sie muten sich immer Sprünge zu, die ihre Fähigkeiten weit übersteigen. Das sage ich natürlich nicht vor der Kamera. »Da kann ich nur wiederholen: Das liegt leider nicht in meinem Zuständigkeitsbereich.«

»Du und die anderen Mädchen wurdet gerade in den sozialen Medien offiziell verifiziert. Wie findest du das?«

Ich sage das Erste, was mir in den Sinn kommt. »Haben Sie schon mal gesehen, welche Idioten so einen blauen Haken haben?« Der Reporter lacht, aber eine Mitarbeiterin vom NGC wirft mir für die freche Antwort einen strengen Blick zu. »War nur Spaß. Es ist super. Ein absoluter Traum.«

Ich weiß selbst nicht mehr, was ich rede. Das Adrenalin lässt langsam nach, und ein plötzlicher Schmerz zuckt durch meine Hüfte. Ich habe zu lange still gesessen, wenn ich den Schmerz nicht im Rücken spüre. Mein Blick huscht zu der NGC-Mitarbeiterin, und sie versteht sofort, dass ich genug habe.

»Tut mir leid«, sagt sie und drängt sich in die Runde, »aber Audrey muss jetzt ihren Rücken behandeln lassen, damit er sich erholen kann. Vielen Dank für die Fragen. Die Mädchen, die nicht ins Team aufgenommen worden sind, werden Ihnen in ein paar Minuten für Fragen zur Verfügung stehen.«

Ich rutsche von meinem Hocker und schnappe mir den Blumenstrauß, den wir nach der Ernennung bekommen haben. Mom wird sich freuen. Sie macht sich immer Sorgen, dass ich das ganz normale Teenagerleben verpasse, deshalb wird sie froh sein, dass sie diese Blumen pressen und in ein Album kleben kann, als wäre es der Blumenstrauß vom Abschlussball oder so. Abschlussball oder Olympia? Keine Frage, was besser ist.

Apropos Mom. Als ich den Pressebereich verlasse, sehe ich meine Eltern mit den Familien der anderen Mädchen zusammenstehen. Dads dunkler Lockenkopf überragt alle anderen. Mom sieht neben ihm winzig aus. Ihre langen schwarzen Haare fallen ihr über den Rücken. Wenn ich meine aus dem Dutt lösen würde, würden sie genauso aussehen wie ihre.

Die Leute stellen immer neugierige Fragen nach meiner Familie. Mom wurde als Baby aus Südkorea adoptiert, und ich schlage eindeutig nach ihr. Wenn wir zwei allein unterwegs sind, werden wir oft gefragt, woher wir kommen und welche Nationalität wir haben, als würde das irgendwen irgendetwas angehen und wäre nicht einfach nur verdammt unhöflich. Wenn ich dagegen mit Dad unterwegs bin, nehmen die Leute an, ich wäre adoptiert. Mein Nachname Lee trägt auch noch seinen Teil zur Verwirrung bei, weil er auf Dads englische Vorfahren zurückgeht, auch wenn das schon richtig lange her ist.

»Audrey!«, ruft Mom, als sie mich endlich entdeckt hat, und schlängelt sich an dem Typen von der Security vorbei. Dann schlingt sie auch schon die Arme um mich und zieht mich an sich. »Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz!«

»Du warst fantastisch, Rey«, fügt Dad mit seiner tiefen Stimme hinzu. Seine riesige Hand legt sich um meinen Hinterkopf, und er umarmt Mom und mich gleichzeitig. Ein perfekter Moment. Von diesem Moment habe ich geträumt, seit ich alt genug war, um zu wissen, was die Olympischen Spiele sind. Es war nicht immer leicht für sie, mir all die Jahre zur Seite zu stehen.

Ich zucke zusammen, als Mom mich etwas fester drückt. Sie spürt, dass ich mich verspanne, und lässt mich sofort wieder los. »Willst du zu deiner Trainerin?«

Ich nicke und lächele trotz der Schmerzen. »Wenn wir zu Hause sind, brauche ich eine Kortisonspritze. Dr. Gupta hat gesagt, eine müsste reichen, um mich durch Olympia zu bringen, wenn ich es ins Team schaffe.«

»Na, dann geh«, sagt Dad und zeigt auf die Trainerkabine am Ende des Gangs. »Wir sehen uns im Hotel. Das NGC schmeißt eine Party für euch.«

Ich ziehe unwillkürlich die Augenbrauen hoch. Das NGC ist nicht gerade für rauschende Partys bekannt – eher für frühe Schlafenszeiten im Trainingslager und Kontrollbesuche nachts um drei –, aber schließlich geht es um Olympia, da kann man wohl mal eine Ausnahme machen.

»Okay, dann bis später.« Ich überreiche Mom die Blumen und drücke sie beide noch einmal fest, bevor ich mich in Richtung Trainerkabine umdrehe.

Die anderen Mädchen sind ebenfalls mit ihren Interviews fertig. Einige umarmen noch ihre Eltern, aber die meisten wollen so schnell wie möglich zu ihrer Behandlung – Massage, Wärme, Eis –, die die Schmerzen für den Rest des Tages in erträglichen Grenzen halten wird.

»Wo ist Dani?«, frage ich Emma, die verlegen mit den Schultern zuckt und schnurstracks einen der Massagetische ansteuert.

»Die gibt immer noch Interviews«, sagt Sierra giftig. Auf ihren Wangen sind Tränenspuren zu sehen, und ich weiß, dass die nicht von Freudentränen sind. Sie kommt als Ersatzturnerin mit und steckt in einem sonderbaren Zwischenraum zwischen drinnen und draußen. Damit lässt sich wohl auch entschuldigen, dass sie die Augen verdreht und ihre Stimme ziemlich bissig klingt. »Anscheinend hat sie Emma heute im Mehrkampf geschlagen. Sie behandeln sie wie eine Art Wunder.«

Wow, ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie Emma heute in der Punktzahl übertroffen hat, auch wenn Emmas Gesamtpunktzahl aus den letzten beiden Tagen höher ist.

»Na ja, das ist ja auch eine große Sache«, sagt Jaime. »Emma ist die aktuelle US- und Weltmeisterin, und Dani war heute besser.«

Sierra schnaubt. »Stimmt. Denn die Punktzahlen in der Qualifikation stimmen immer mit denen im Wettkampf überein, wie wir alle wissen.«

Damit hat sie natürlich recht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass unsere Wertungen heute alle ein bisschen aufgeblasen wurden. Auch Kampfrichter lassen sich vom Olympia-Hype mitreißen.

Ich folge ihnen in die Trainerkabine, wo Gibby mich zu einer freien Liege winkt. Josh, einer der NGC-Trainer, hat dort schon mehrere Eisbeutel für mich deponiert.

»Glückwunsch«, sagt Josh und setzt sich auf einen Hocker, während ich auf die Liege klettere und mich bemühe, keine Grimasse zu schneiden, als ein stumpfer Schmerz durch meinen unteren Rücken dringt. Gibby steht neben mir, und bereits die Rieseneisbeutel um mich herum rufen dem Mann, der über meine Rolle im Team entscheidet, meine Verletzung ausreichend in Erinnerung.

»Danke«, erwidere ich und lächele Josh an. Er ist schon ewig bei der Nationalmannschaft.

»Du hast gute Arbeit geleistet, Audrey«, sagt Gibby, doch er sieht nicht mich an, sondern lässt den Blick über die anderen Mädchen im Raum huschen. Ich bin überzeugt, dass er das mit Absicht macht, um mir zu zeigen, dass es immer, selbst während er mit mir spricht, eine andere gibt, die meinen Platz einnehmen könnte.

»Das ist …«, setze ich an, doch er würgt mich ab.

»Du bist dir sicherlich im Klaren, dass alle Plätze im Team davon abhängen, welche Leistung ihr in der Vorbereitungszeit vor den Olympischen Spielen bringt.«

Ich schlucke die Panik hinunter, die in mir aufsteigt, und nicke kurz.

»Du und Emma träumt davon, gemeinsam Mannschaftsgold zu holen, seit ihr klein wart. Sie löst ihren Teil der Abmachung ein. Du bist heute ins Team berufen worden, aber du weißt sicherlich, wie knapp es war. Ich erwarte von dir, dass du mir mehr gibst, als du bisher getan hast. Hast du verstanden?«

»Ja. Natürlich.« Das ist eine Lüge. Was kann er noch von mir wollen? Ich bin total am Limit dessen, was ich mit meinen Schmerzen leisten kann – und das weiß er auch –, und selbst wenn ich es nicht wäre, bliebe mir gar nicht genug Zeit, um noch mehr herauszuholen. Am Barren sind meine Ergebnisse stabil, seit ich zurückgekommen bin. Wenn ich es ins Finale schaffe, habe ich gute Aussichten auf Gold. Und auch wenn die Schwierigkeitsgrade niedriger sind, waren meine Boden- und Sprungleistungen während des ganzen Auswahlprozesses ordentlich.

Mensch, Audrey, er meint den Balken!

Die Verbindungen zwischen meinen Figuren waren manchmal etwas wacklig, gerade in Wettkämpfen, unter dem Druck, den das Team permanent auf einen ausübt. Außerdem gehe ich auf dem Balken das größte Risiko für meinen Rücken ein. Der Schwebebalken geht auf die Gelenke, egal ob man runterfällt oder oben bleibt. Ich habe mir eingeredet, dass ich an dem Gerät nicht zu viel trainieren sollte, damit nicht irgendwann gar nichts mehr geht, aber das war natürlich eine Ausrede. Anscheinend läuft es darauf hinaus: Balken oder Pleite. Wenn ich die Verbindungen zuverlässig hinkriege, kann ich meine Punktzahl noch um etwa zwei bis vier Zehntel steigern.

»Ich werde alles tun, was nötig ist.«

»Gut«, sagt er. Plötzlich hebt er den Blick, zwinkert mir zu und deutet ein Lächeln an. »Nur dass du es weißt, ich drücke dir ganz fest die Daumen.«

Ich nicke und lächle durch die anschwellenden Schmerzwellen hindurch, die von meiner Wirbelsäule ausstrahlen.

Dann geht er weiter zu Sierra, die gerade eine Eispackung auf die Schulter bekommt, gegen die meine Päckchen winzig aussehen. Jaime liegt auf der Liege neben ihr und bekommt ähnliche Packungen um die Ellbogen. Ich frage mich, was er wohl zu ihnen sagt. Gibby ist ein toller Coach, aber er ist sich definitiv nicht zu schade für Manipulationen und scheut sich auch nicht davor, uns gegeneinander auszuspielen. Aber er hat gesagt, er drückt mir die Daumen, das ist doch gut, oder? Ich denke doch.

Ich hole tief Luft und sehe, dass Josh mich besorgt mustert. »Was macht der Rücken?«, fragt er.

Ich schwinge die Beine herum und lasse mich mit dem Gesicht nach unten bäuchlings auf der Liege nieder. »Alles bestens.«

»Na schön, dann wollen wir mal dafür sorgen, dass es auf der Party heute Abend auch so bleibt«, sagt Josh, während seine Finger vorsichtig über die schmerzende Stelle rund um meinen vierten Lendenwirbel gleiten. Zwischen seiner Hand und meinem ehemaligen Bandscheibenvorfall liegt Narbengewebe und anderes komisches Zeug. Unwillkürlich stöhne ich auf und gestehe damit ein, dass es meinem Rücken alles andere als bestens geht. Ich kneife die Augen zu, während Josh mich weitermassiert, und hoffe wider besseres Wissen, dass Gibby nichts gehört hat. Wenn er mehr von mir will, wird er es kriegen. Mit den Schmerzen werde ich schon fertig.

Drittes Kapitel

»Ich weiß, ich weiß«, sage ich, als ich in den Bus steige. Aller Augen sind auf mich gerichtet, die meisten von ihnen lachen, aber ich meine zu sehen, wie Sierra die Mundwinkel verzieht. Ich lasse mich auf den Platz neben Emma plumpsen und seufze erleichtert auf.

»Ist doch nicht schlimm, Rey«, sagt sie und rutscht ein Stück zur Seite, um mir Platz zu machen. »Es ist eben schwer, auf Kommando zu pinkeln.«

»Und wie!«

Nach dem Wettkampf mussten wir uns alle einem Dopingtest unterziehen, und bei mir hat es wie immer am längsten gedauert. Es ist kein Problem für mich, vor tausenden Zuschauern meine Kür zu turnen – aber genau dann zu pinkeln, wenn die Anti-Doping-Leute es verlangen, ist quasi ein Ding der Unmöglichkeit.

Abgesehen von unserem NGC-Sicherheitsmann sind nur die Turnerinnen im Bus, die nach Tokio fahren. Sarah und Brooke sitzen ganz vorne, getrennt von uns anderen, und das passt ganz gut, denn ihr Qualifikationsverfahren hatte mit unserem auch nichts zu tun. Sie werden nicht einmal in der Vorbereitungszeit auf Tokio mit uns zusammen trainieren. Wir fliegen morgen von San Jose aus ins Trainingscenter und werden sie erst im olympischen Dorf wiedersehen.

Kurz hatte ich selbst darüber nachgedacht, diesen Weg zu gehen – auf der ganzen Welt gegen andere Einzelstarter anzutreten, um mir so meinen Platz bei Olympia zu sichern, anstatt Gibby die Entscheidung zu überlassen, ob ich es ins Team schaffe oder nicht, aber wegen meiner Verletzung ist mir diese Option verwehrt geblieben. Außerdem war Gibby nicht gerade begeistert, als Sarah und Brooke sich für diesen Weg entschieden haben, und den Leiter des NGC vor den Kopf zu stoßen, stand im Jahr vor den Olympischen Spielen nicht ganz oben auf meiner To-do-Liste.

»Wir müssen uns doch nicht schick machen, oder?«, fragt Emma und zupft am glänzenden Stoff ihres Trainingsanzugs.

»Das ist jetzt auch schon egal«, motzt Sierra. »Dank Audrey kommen wir sowieso zu spät zur Party.«

»Keine Zeit zum Umziehen«, mault Jaime neben ihr.

»Ist doch egal«, sagt Chelsea auf diese ihr eigene Art, so zu klingen, als wäre ihr Wort das letzte. »Es sind doch nur unsere Familien, das NGC und vielleicht ein paar Sponsoren, die den ›Frisch-vom-Wettkampf-Look‹ super finden.«

»Und was ist mit Leo Adams?«, neckt Emma mich leise – aber nicht leise genug. Die anderen Mädchen haben sie garantiert gehört.

»Keine Ahnung.«

Ich habe keine Sekunde mehr an ihn gedacht, seit Gibby in die Umkleide gekommen ist und unsere Namen verlesen hat. Leo Adams ist süß, aber Olympia ist besser.

Jaimes Kopf lugt hinter Sierra hervor, ihre glänzenden blonden Locken rutschen schon wieder aus ihrem frisch gebundenen Dutt. »Ich wette, er ist da. Seine Mom hat einen Preis bekommen, und sie sind den ganzen Weg von Coronado hergekommen. Die bleiben auf jeden Fall über Nacht.«

»Es wäre nett, wenn er da ist, aber ich glaube kaum, dass Gibby es gut findet, wenn ich den ganzen Abend mit einem Typen rumhänge.«

Emma zieht eine Augenbraue hoch. »Komm schon, Audrey. Wir haben es ins Team geschafft. Du kannst dich doch wenigstens mal einen Abend entspannen. Nur für ein paar Stunden.«

Ich muss mir wirklich auf die Zunge beißen, um nicht pampig zu antworten. Auf keinen Fall soll der Rest der Gruppe erfahren, was Gibby zu mir gesagt hat.

Doch mein Gesicht scheint mich zu verraten, denn ihre Miene wird sofort sanfter. »Ich meine ja nicht, dass du auf den Tischen tanzen sollst. Versuch einfach, ein bisschen Spaß zu haben. Du bist seit Monaten ein Nervenbündel, du hast es dir verdient, ein bisschen zu feiern.«

»Das haben wir alle«, stimme ich ihr zu. Natürlich haben wir es uns verdient.

»Ganz genau, und wenn du ein bisschen mit einem süßen Typen feierst, wo ist das Problem?«

Sierra nickt. »Schau dir Chelsea an. Sie hat einen Freund, und jeder weiß, wie sehr sie sich seit der letzten Olympiade gesteigert hat.«

Emma lehnt sich zurück und verdreht die Augen. Chelsea hat den Spruch zum Glück nicht mitbekommen. Sierra ist ein richtiger Troll, sie kann ziemlich witzig sein, aber sie scheint nie zu wissen, wann es genug ist.

Der Bus fährt vor dem Hotel vor. Hinter der Absperrung wartet eine Menschenmenge, über die eine Welle der Aufregung hinweggeht, als die Leute sehen, wer im Bus ist. Emma rutscht von ihrem Platz, und die anderen reihen sich hinter ihr ein.

»Ich finde es total verständlich, dass du Gibby keine Angriffsfläche bieten willst«, sagt Dani und kräuselt die Nase. »Es gibt keine Garantie. Du bist bis hierher gekommen, weil du getan hast, was für dich funktioniert.«

»Sehe ich auch so.«

Sie nickt mir zu und geht vor mir durch den Bus. Dani ist nur ein Jahr älter als ich, und wir kennen uns schon ewig, aber wir waren uns nie besonders nahe. Sie ist erst in den letzten zwei Jahren vom Durchschnitt zur Spitzenklasse aufgestiegen.

Wir stehen wartend vorne im Bus. »Mädels, die Menge ist riesig, das schaffen wir leider nicht. Ihr dürft lächeln und winken, aber bitte keine Autogramme oder Fotos. Ihr müsst weitergehen«, sagt unser Sicherheitsmann.

»Alles klar«, erwidert Chelsea für uns alle, und er nickt.

»Auf mein Zeichen«, sagt er, dreht sich um und spricht in sein Funkgerät.

»Mädels, bevor wir da rausgehen, gibt es Geschenke!« Chelsea greift in ihre Tasche und holt sieben kleine Tütchen hervor, auf denen je zwei Turnerinnen abgebildet sind, die durch die Luft fliegen und ein C bilden. Es ist das Logo ihrer eigenen Kosmetikmarke. Ich habe mal ein Interview mit ihr gesehen, in dem sie erklärte, dass sie als schwarze Frau eine inklusive Kosmetiklinie mit einer breiten Palette an Farbtönen anbieten wolle. Ihre Produkte sind immer rasend schnell ausverkauft.

Chelsea reicht jeder von uns eine Tüte, als wir in dem schmalen Gang an ihr vorbeigehen. Sie hat mit sechzehn zweimal Gold bei Olympia gewonnen und war danach in mehreren Filmen und Musikvideos zu sehen. Sie ist auf eine Art berühmt, die ich mir für mich selbst absolut nicht vorstellen kann.

»Danke.« Ich nehme meine Tüte in Empfang, und sie lächelt und klopft mir auf die Schulter.

»Nichts zu danken, Rey.«

Der Fahrer betätigt den Hebel, der die Bustür öffnet, und wir werden von einer regelrechten Wand aus Geschrei und Kamerablitzen empfangen. Ich folge Dani die Treppe hinunter, direkt hinter mir kommt Chelsea. Der Durchgang, den das Hotel mit Metallabsperrungen vorbereitet hat, ist nicht breit genug, um die Fans daran zu hindern, die Hände nach uns auszustrecken und uns zu berühren. Die Menge drückt sich gegen die Absperrung. Ich klatsche ein paar Hände ab und versuche zu lächeln, aber mein Herz hämmert, mein Körper wird heiß, und ich würde am liebsten fliehen, während die Menge sich immer enger um uns schließt. Ich beuge die Schultern vor, ziehe den Kopf ein und versuche, mich so klein wie möglich zu machen.

Im Hotel ist es nicht viel besser. Viele Fans wohnen anscheinend ebenfalls hier, und die Lobby ist total überfüllt. Ich folge der spiegelnden Glatze unseres Sicherheitsmanns, der nahezu alle anderen in diesem Chaos überragt, und endlich erreichen wir einen Fahrstuhl, für den man eine Chipkarte braucht. Ich hoffe, das bedeutet, dass wir irgendwohin gehen, wohin die Menge uns nicht folgen kann, und spüre eine Welle der Erleichterung. Plötzlich habe ich lebhaftes Mitgefühl mit jeder echten Berühmtheit. Nur wenige Menschen würden mich erkennen, wenn ich die Straße entlanggehe, und ich überlasse Chelsea und Emma dieses Leben mehr als bereitwillig. Aber da scheine ich die Einzige zu sein.

»Das war ja unglaublich!«, japst Sierra, und Jaime hat ein breites Grinsen im Gesicht.

Emmas Wangen sind gerötet. »Was für ein Trubel!«

»Verrückt«, sagt Dani, doch auch ihre Augen sind groß und fröhlich.

Chelsea lächelt. »Gewöhnt euch dran, Mädels. Euer Leben hat sich gerade für immer verändert.«

Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll, doch dann öffnen sich die Fahrstuhltüren in einen großen Raum, in dem Musik dröhnt und Sekt ausgeschenkt wird, und eine andere Menge, diesmal Freunde, Familie, Sponsoren, Mitglieder des NGC und des Olympischen Verbands sowie Trainer und ehemalige Olympiateilnehmer, dreht sich in einer Bewegung zu uns um. Einen Moment lang ist es still, dann ertönen wilder Jubel und donnernder Applaus.

Gibby löst sich aus der Menge. Er hat seinen Trainingsanzug gegen eine Anzughose und ein weißes Hemd ausgetauscht. Ich habe ihn so gut wie nie in etwas anderem als Sportkleidung gesehen, und die Verwandlung ist verblüffend. Er sieht gar nicht mehr so einschüchternd aus – fast normal, als wäre er der Dad von irgendjemandem. Er lächelt uns an, dann hebt er einen Arm, und die Menge wird leiser. »Meine Damen und Herren, ich präsentiere Ihnen die olympische Turn-Mannschaft der Vereinigten Staaten von Amerika!«

»Hört, hört!«, ruft jemand.

Gibby hebt sein Glas und sagt: »Auf Emma, Chelsea, Dani, Audrey, Sarah, Brooke, Sierra und Jaime!«

Es ist komisch, dazustehen, während eine Menge Erwachsener ihre Gläser auf uns erhebt, aber dann ist es auch schon vorbei, die Musik wird wieder lauter, und wir werden in die Party hineingezogen.

Emma stößt mich mit ihrem spitzen Ellbogen an. »Aua! Was ist?«, frage ich, während ich mit den Augen den verschiedenen Tabletts mit Häppchen folge, die durch den Raum getragen werden. Ich glaube, es waren auch Würstchen im Schlafrock dabei. Ich halte eine strenge Diät ein, aber diesen Kalorienbomben kann ich einfach nicht widerstehen.

Sie deutet mit dem Kinn hinter mich, und ihr blödes Grinsen verrät mir schon, was ich dort sehen werde, noch bevor ich mich umdrehe. Wir ziehen uns immer gegenseitig damit auf, wenn eine von uns sich ein bisschen verknallt hat. Was nicht heißen soll, dass ich in Leo verknallt bin. Ich kenne ihn ja kaum.

Ihr Handy summt, und sie wirft einen schnellen Blick darauf, dann schaltet sie das Display aus. »Na los«, sagt sie. »Unsere Eltern sind da drüben. Ich halte dir den Rücken frei. Deine Haare sehen toll aus. Dein Eyeliner ist perfekt wie immer. Du bist jetzt eine Olympionikin! Nun geh schon und hau ihn von den Socken oder von seinem Snowboard oder was auch immer.«

Ich lächle und hebe salutierend die Hand. »Yes, Ma’am!«

Als ich mich umdrehe, steht er nur wenige Schritte vor mir, mit demselben Grinsen wie vorhin in der Halle. Und in der Hand hält er einen Teller mit Würstchen im Schlafrock.

»Gibst du mir eins ab?« Das ist vermutlich nicht der eleganteste Einstieg in einen Flirt, aber was soll’s, ich hab Hunger.

»So viele du willst«, sagt er und hält mir den Teller hin. Ich nehme eins und stecke es mir in den Mund. Himmlisch! Buttriger Teig um ein durch und durch köstliches Würstchen. Er hat sogar etwas Senf draufgekleckst. Ich glaube, ich muss ihn heiraten.

»Ich liebe die Dinger«, gestehe ich, als ich fertig gekaut habe.

»Du hast sie dir auf jeden Fall verdient. Mann, ewig nicht gesehen, oder?«

»Jahre. Bestimmt fünf oder sechs.«

»Du hast die Zeit offensichtlich gut genutzt«, sagt er und macht eine ausladende Geste. »Beim ersten Versuch, ins olympische Team aufgenommen zu werden, das ist ziemlich beeindruckend. Aber ich wusste, dass du es schaffst.«

Ich lache ein bisschen. »Ach ja? Ehrlich gesagt, ich nicht. Ich war so unglaublich nervös, bis er meinen Namen genannt hat. Ich bin sogar jetzt noch nervös.«

»Das merkt man dir nicht an.«

»Dann muss ich eine ziemlich gute Schauspielerin sein. Nervös ist eigentlich noch untertrieben für das, was ich gerade fühle.«

Sein Lächeln schwindet, plötzlich sieht er ernst aus. »Ich weiß genau, was du meinst. Dein ganzes Leben führt auf diesen einen Moment hin, und dann ist es so weit – du begegnest dem großen, dunklen Fremden, von dem du schon immer geträumt hast.«

Darüber muss ich jetzt wirklich lachen.

»Aber im Ernst, herzlichen Glückwunsch. Du wirst in Tokio alle um den Verstand bringen. Das weiß ich.«

»Danke. Ich kann einfach nicht glauben, dass es wirklich wahr ist, weißt du? Nach der OP und dem ganzen Training danach.«

»Ja, das habe ich mitbekommen«, sagt er und beißt sich auf die Unterlippe. Mit einem Mal wirkt er ein bisschen verlegen. »Ich hoffe, ich klinge jetzt nicht wie ein Stalker, aber ich habe die Fotos und Videos gesehen, die du nach deiner OP gepostet hast. Und nach meiner Verletzung …« Er verstummt.

Ich verziehe das Gesicht. Das Foto von seinem Gipsbein, das ich vor ein paar Monaten in seinem Feed gesehen habe, hatte ich ganz vergessen. »Wie lange bist du schon raus?«, frage ich und zeige auf sein Knie.

»Vier Monate. Ich mache seit einer Weile Physiotherapie, und die Ärzte haben mir erlaubt zu surfen, also tue ich das jetzt, bis ich so weit bin, dass ich wieder auf hartem Untergrund trainieren kann. Das heißt, wenn ich überhaupt beschließe, es noch mal zu versuchen.«

Ich ziehe erstaunt die Augenbrauen hoch. »Du bist dir nicht sicher, ob du …« Mein Handy summt in meiner Jackentasche. »Sorry.« Ich werfe einen raschen Blick darauf.

Eine Nachricht von Gibby.

Heute Abend darfst du feiern, aber denk an meine Worte.

Mein Blick huscht hastig durch den Raum. Emma, ihre und meine Eltern stehen mit Emmas Agent in einer Ecke. Sierra und Jaime stehen bei ihren Eltern, und alle reden wild durcheinander, wahrscheinlich darüber, dass sie ins Team hätten kommen sollen und nicht wir. Chelsea ist bei ihrem Freund und sieht so aus, als würde der Rest der Welt gar nicht existieren. Dani steht neben ihnen und schaut auf ihr Handy, genau wie ich gerade. Hat er ihr auch geschrieben?

»Alles okay?«, fragt Leo und holt mich in die Wirklichkeit zurück. Vielleicht ist aber auch Gibbys Nachricht die Wirklichkeit, und das hier etwas anderes, etwas, das ich lieber lassen sollte.

Dani steckt das Handy wieder in die Tasche, dreht sich zu Chelsea und ihrem Freund und sagt etwas, das beide zum Lachen bringt.

»Ja.« Ich schüttele den Kopf und lächle. »Alles in Ordnung.«

»Gut. Sag mal, wollen wir uns vielleicht irgendwo unterhalten, wo wir … nicht so im Weg stehen?«, fragt er und zeigt auf die lange Fensterwand, hinter der ein breiter Balkon liegt.

»Auf jeden Fall.«

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