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Ein Himmel aus Gold

Als Buch hier erhältlich:

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Willkommen in den goldenen Zwanzigern in Cornwall!

»The Great Gatsby« trifft »Stolz und Vorurteil« – übersetzt von Bestsellerautorin Antonia Michaelis!

Das leerstehende herrschaftliche Cardew-Haus übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die siebzehnjährige Lou aus. Immer wieder schleicht sie sich in die alte Bibliothek darin und liest – bis sie eines Tages von den Besitzern überrascht wird. Die reichen Geschwister Robert und Caitlin finden Gefallen an ihr und laden sie zu ihren rauschenden Festen ein. So betritt Lou eine ihr bislang fremde Welt voll Glamour und Cocktailpartys. Und immer mehr verfällt sie Roberts Charme. Doch kann der reiche Cardew-Spross wirklich Gefühle für sie hegen?

Voller Romantik, Glamour und Atmosphäre: Eine Liebesgeschichte zum Schwelgen!

  • »Eine erfreulich schwärmerische Liebesgeschichte für Teenager [...]. Während man sich hin und wieder an Georgette Heyer, F. Scott Fitzgeralds 'Der Große Gatsby' und Dodie Smiths 'Das Sommerschloss' erinnern mag, hat dieses Feel-Good-Buch etwas völlig Eigenes« The Guardian
  • »Lou ist eine wunderbar liebenswerte Erzählerin, mal sehr ergreifend, mal extrem amüsant, wenn es um das Außenseitersein geht. Voll Anklängen an Scott Fitzgerald und Austen, ist dies eine absolut vorzügliche Liebesgeschichte, die mitreißt« The Irish Times
  • »Ein fesselnder, charmanter und nostalgischer Liebesroman« Express

  • Erscheinungstag: 14.10.2019
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850069

Leseprobe

Für meine großartige Mutter,
die mir gesagt hat, dass die Clotted Cream
immer oben auf die Marmelade gehört.

Prolog

Es begann mit einem Apfel. Wie Ärger oftmals. Und dieser besondere Apfel hatte es in sich – ein Pendragon, rotfleischig und süß, den ich aus einem fremden Obstgarten gestohlen hatte.

Ich weiß nicht, warum ich gerade jenen Tag wählte, um mich auf den Weg zur Insel zu machen. Nach all den Jahren des sehnsüchtigen Hinüberstarrens erschien es mir auf einmal unglaublich dringend, dort hinzukommen, das Ufer unter meinen Füßen zu spüren.

Als ich ankam, landete ich direkt im Obstgarten, und ich pflückte den Apfel von seinem Ast, ohne darüber nachzudenken. Und mit dem ersten Bissen war ich verloren.

Damals hatte das Cardew-Haus in all seiner verblassenden Schönheit seit über fünf Jahren kein freundliches Gesicht mehr gesehen (und im Übrigen auch kein unfreundliches). Der ummauerte Garten war so verlassen wie das Haus, vernachlässigt und verwildert, bis ich mich hineinstahl und begann, seine Früchte zu pflücken.

Nach jener ersten, süßen Kostprobe war es mir unmöglich, der Insel fernzubleiben. Ich versuchte es nicht einmal. Ich kam am nächsten Tag wieder und am nächsten und an dem darauf, und jedes Mal ging ich ein wenig weiter vom Ufer fort, stieß tiefer ins Innere der Insel vor, eroberte all ihre wunderbaren, versteckten Orte für mich.

Das Haus selbst befand sich oben auf einem kleinen Hügel: ein riesiges altes Gebäude in gregorianischem Stil mit weitem Blick in alle Richtungen. Die Vorderseite wies zum Dorf auf dem Festland, sie war lang und niedrig, mit hohen Fenstern, eingeschnitten in den honigfarbenen Stein voll wucherndem Efeu. Grob in den Fels gehauene Stufen führten durch den wilden Garten zu einer Auffahrt aus Kies. Dort begann der Damm, der die Insel mit dem Festland verband. Hinter dem Gebäude thronte eine große Rasenfläche über dem Meer, das mal von einem glitzernden Türkis war, mal von einem schlammigen, geheimnisvollen Graugrün. Der Obstgarten, der mich zuallererst hierhergelockt hatte, lag gleich neben dem Haus, und die Bäume hingen je nach Jahreszeit so voll von Äpfeln, rubinroten Kirschen oder schweren, samtigen Pflaumen, dass man sie beinahe ächzen hörte. Auf der anderen Seite schlängelte sich eine schmale Treppe hinunter bis zu einer kleinen, geschützten Bucht mit goldenem Sand, in der das Wasser ruhig und warm war.

Sie war ein Juwel, diese Insel, ein Schatz, zu lange allein gelassen und ungeliebt.

Doch immer hing ein ruheloses Gefühl über meinen Besuchen. Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis meine Neugier mich vom Garten zum Haus treiben würde. Ich begann, darum herumzuschleichen, als könnte ich es gegen mich aufbringen, wenn ich allzu rasch eindrang. Aber als ich an einem Fenster im Untergeschoss einen kaputten Riegel entdeckte, war es, als hätte eine höhere Macht für mich entschieden: Geh hinein.

Das alte Haus hätte abweisend wirken müssen, leer wie es war, mit den Möbelschutzbezügen und den verschlossenen Fensterläden, aber für mich strahlte es nur Ruhe und Freundlichkeit aus. Hier und da drangen Lichtstrahlen durchs Dunkel, in denen die Staubkörnchen tanzten, sie gaben dem Ort einen Hauch von schläfriger Melancholie, ja, das ganze Haus glich einer träumenden Märchenprinzessin, die nur darauf wartete, geweckt zu werden.

Nach jenem ersten Apfel schlich ich mich fast ein ganzes Jahr lang bei jeder Gelegenheit von zu Hause weg und zur Insel – um die Bibliothek zu durchwandern oder mich behaglich auf einem der orientalischen Teppiche zusammenzurollen, wo ich die Stille ganz in mich aufnehmen konnte.

Mein eigenes Zuhause war niemals still, doch trotz all des Lärms und Trubels fühlte ich mich manchmal einsam dort. Seltsam – wenn ich im Cardew-Haus war, ganz allein, spürte ich niemals Einsamkeit.

Das schlafende Haus und ich lernten uns langsam kennen, und ich verlor mich in Tagträumen davon, wie es aussähe, wenn es voller Menschen wäre – träumte die Gespräche, die sie führten, die Partys, die sie feiern würden, träumte, wie die Räume zum Leben erwachten, voll von strahlenden Lichtern.

Ich schrieb in mein Notizbuch oder las Kriminalromane, aß gestohlene Äpfel und warf die Kerngehäuse ins Feuer, das ich im Kamin anzündete, um den riesigen, leeren Salon warm zu bekommen.

Am Ende sollte es das Feuer sein, das mich verriet.

Es war ein kalter, nasser Freitag, an dem ich sie zum ersten Mal sah.

Regen trommelte aufs Dach, und hohe Wellen schlugen an die Felsen auf der Rückseite des Hauses. Doch ich hörte all das kaum, glücklich versunken in einen Agatha-Christie-Roman, den Bauch übervoll mit Obst. Vielleicht hatte ich zwei Stunden lang gelesen, vielleicht mehr, als ich plötzlich aufhorchte: Da war ein neues Geräusch zwischen den normalen Geräuschen des alten Hauses. Ich erstarrte, das Buch noch in meinen Fingern, und lauschte angestrengt.

Stimmen.

Jemand war hier.

Jemand war schließlich doch nach Hause gekommen.

Zwei Jemande: Ich hörte eine tiefe Männerstimme und die klare Melodie einer Frauenstimme, und vom ersten Moment an spürte ich, dass diese Stimmen hierhergehörten, dass sie zu dem Haus passten, in das Haus passten wie die fehlenden Teile eines Puzzles. Schritte hallten durch die leeren Flure, wurden lauter, kamen näher. Ich saß noch immer da wie versteinert. Mein Herz raste, als begegnete ich Einbrechern – dabei war der einzige Einbrecher ich selbst. Ich legte das Buch ab und glitt, so leise und so rasch es meine zitternden Beine erlaubten, hinüber zum Fenster. Jemand betrat tatsächlich den Ort, von dem ich geglaubt hatte, er gehöre nur mir!

Ich schwang ein Bein übers Fensterbrett, und mein nackter Fuß versank im hohen, nassen Gras. Und so, halb im Haus und halb außerhalb, hörte ich, dass die Stimmen jetzt beinahe bei mir angekommen waren. Ich kletterte ganz aus dem Fenster und drückte mich direkt daneben mit angehaltenem Atem an die Wand. Dann hörte ich, wie die Tür des Salons sich öffnete und die Schritte anhielten.

»Robert! Wer um alles in der Welt hat das Feuer angemacht?« Die Worte des Mädchens waren klar und deutlich, so hell, als brächte jemand mit einem Messer ein Glas zum Klingen. »Ich dachte, wir würden nicht erwartet?«

Ich wartete nicht länger, um mehr zu hören. So schnell meine Beine mich trugen, sauste ich um das Haus herum und die ausgewaschenen Stufen hinunter, über den knirschenden Kies der Auffahrt, die zum Damm führte. Ich hatte Glück, es war Ebbe. Im Vorbeirennen sah ich den strahlend blauen Wagen, mit dem die Fremden gekommen waren.

Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter, doch niemand folgte mir, und mit einem kleinen Aufschrei der Erleichterung rannte ich weiter, den gepflasterten Weg entlang, rannte, bis meine Brust schmerzte, schnappte gierig nach der salzigen Seeluft. Und auf einmal fing ich an zu lachen: das Lachen eines Diebes, der weiß, dass er entwischt ist. Schließlich wagte ich es, mich umzudrehen. Noch einmal zum Haus zurückzusehen. Eine Silhouette erschien in der Vordertür – ein Mann, groß und ruhig und zu spät, um mich zu kriegen. Der Wind wehte mir die Haare ins Gesicht, kühlte meine erhitzten Wangen, und der Regen hatte endlich aufgehört. Als ich den Blick senkte, sah ich, dass ich noch immer einen schimmernden roten Apfel in der Hand hielt.

TEIL 1

»Und mit all dem Sonnenschein, all den frischen Blättern, die sich an den Bäumen so schnell entrollten, wie Dinge es im Zeitraffer in Filmen tun, überkam mich jenes bekannte Gefühl, dass das Leben mit dem Sommer vollkommen neu begann.«

F. Scott Fitzgerald, DER GROSSE GATSBY

Kapitel 1

Juni 1929

Der Morgen von Alice’ Hochzeit zieht hell und klar herauf.

Es ist, selbstverständlich, der perfekte Sommermorgen: voll von Vogelgezwitscher und pastellblauem Himmel und dem Wispern einer leichten Brise vom Meer. Alles andere wäre vollkommen inakzeptabel für Alice’ großen Tag.

Als ich erwache, ist sie schon auf, ihr Bett leer und ungemacht. Kein Zeichen von Alice – bis auf den Abdruck ihres Kopfes auf dem Kissen. Ich ziehe mir Shorts und eins von Pas abgetragenen Hemden an, schlüpfe in meine alten Turnschuhe und mache mich auf den Weg zur Küche. Es ist noch früh, doch schon auf der Treppe kommt mir ein köstlicher Duft entgegen.

»Lou! Lou!« Ein Trio aus wilden kleinen Jungs in Latzhosen begrüßt mich, barfuß und voller Butterbrotkrümel. Die Drillinge sind drei Jahre alt, und bis zur Geburt von Anthea (meist nur »das Baby« genannt) waren sie die jüngsten Mitglieder meiner chaotischen Familie. Ich bin die Zweitälteste, nach Alice mit ihren neunzehn Jahren. Nach mir kommt Freya, fünfzehn, Tom, elf, dann die Drillinge und schließlich Anthea. Acht Kinder, alles in allem. Pa sagt, es wären wohl noch mehr geworden, wäre der Krieg nicht dazwischengekommen, und man müsste Gott eben auch für die kleinen Gnaden im Leben danken. Ich bin ziemlich sicher, dass er das nicht ernst meint, aber manchmal scheint er überrascht zu sein von der Vielzahl der Kinder, die durch unser kleines Bauernhaus toben. Als wären wir eher das Ergebnis eines absurden Zaubertricks als sein eigen Fleisch und Blut.

In der Küche sind die Drillinge, Joe, Max und Davy, dabei, ihr Frühstück an dem langen Tisch zu beenden, während Midge herumwuselt und im Alleingang das Hochzeitsmahl für unser Dorf zubereitet, auf der Hüfte das Baby, das fröhlich vor sich hin singt. Midge hat Mehl auf der Nase und einen Ausdruck wilder Entschlossenheit in den Augen, während sie einhändig mit riesigen goldenen Butterklumpen und einer Sammlung alter Teedosen kämpft, die Zucker und Gewürze enthalten. Ich kenne sie zu gut, um sie zu fragen, ob sie Hilfe braucht.

»Wo ist Alice?«, frage ich stattdessen durch all den Lärm, schnappe mir eine Scheibe Brot und bestreiche sie mit Midges berühmter Ingwermarmelade.

»Vor einer Stunde aus dem Haus gehüpft, auf der Jagd nach Blumen«, sagt Midge mit ihrer leisen, rauen Stimme. Midge ist meine Mutter. Eigentlich heißt sie Mary, aber alle nennen sie Midge, auch Pa und wir Kinder. Sie ist kaum größer als einen Meter fünfzig und hat dennoch eine enorme und beruhigende Präsenz. Wenn ich neben ihr stehe, fühle ich mich ungelenk und riesenhaft.

Jetzt rührt sie mit einem angelaufenen alten Silbermesser in einer großen Schüssel.

Midge benutzt das Messer immer zum Backen, und als unsere Tante Irene es einmal sah, verzog sich ihr Gesicht zu einer Maske des Entsetzens. »Midge!«, rief sie. »Man rührt doch nicht mit einem Messer! Wer mit dem Messer umrührt, rührt Ärger an!«

»Na dann«, sagte Midge damals nur unbeeindruckt. »Dann habe ich schon so lange Ärger angerührt, dass es jetzt auch keinen Unterschied mehr macht, was?« Und damit rührte sie weiter.

Ich weiß nicht, ob es an dem Silbermesser liegt, aber niemand kann kochen wie Midge. Pa sagt, er habe ihr damals bei einem Stück ihres Sternguckerauflaufs den Heiratsantrag gemacht, und das klingt wirklich romantisch. Wenn man nicht weiß, dass Sternguckerauflauf mit Sardinen gemacht wird, deren Köpfe durch den Teig ragen und einen mit klagenden Blicken anstarren. Ich glaube, ich hätte ungern eine klagende Sardine als Zeugin für meine Verlobung, aber ich habe keine Erfahrung mit Romantik. Abgesehen von romantischen Szenen in Büchern natürlich. Man kann eine Menge aus Büchern lernen … Aber natürlich stößt man auf den Sträßchen von Penlyn nicht jeden Tag mit einem der umwerfend gut aussehenden Helden aus den Büchern zusammen, also wer weiß, vielleicht ist Sardinenauflauf zusammen mit dem richtigen Mann reine Poesie.

Midge jedenfalls scheint das zu denken, sie lacht jedes Mal zufrieden, wenn Pa die Geschichte erzählt.

Ich schneide mir noch eine Scheibe Brot ab und beiße in die frische Kruste.

Ein Aufschrei der Drillinge macht mich darauf aufmerksam, dass sie selbst jetzt brotlos sind, und so seufze ich und schmiere mehr Brote für die drei. Wobei sie die Brote mehr als eine Art Beförderungssystem für die darauf befindliche Marmelade betrachten. Als sie sich mit klebrigen Gesichtern ihrem zweiten Frühstück widmen, wird es einen Moment lang still in der Küche, und in diesem relativ friedlichen Moment wandern meine Gedanken zum Haus der Cardews – wie so oft in letzter Zeit.

Das Haus hat mich in seinen Bann gezogen, solange ich denken kann. Die Insel, auf der es erbaut wurde, ist durch eine kleine gepflasterte Straße mit dem Festland verbunden. Bei Flut verschwindet die Straße, und sie taucht wieder auf, sobald die Ebbe kommt. Die Gezeiten verbergen sie völlig, als wäre sie niemals da gewesen, und lassen sie dann wieder erscheinen, erstaunlich solide. Es hat etwas Magisches, finde ich, dieses Auf- und Abtauchen der Straße. Jedes Mal, wenn sie wieder sichtbar wird, ist es wie eine Überraschung. Diese Magie hat zur Folge, dass das Haus für die Hälfte der Zeit vom Festland abgeschnitten ist: eine eigene Welt, abseits des bunten, lauten Lebens unseres kleinen Fischerdorfs.

Als ich vor ein paar Monaten nach Hause kam, erschrocken und zugleich beschwingt von meiner gelungenen Flucht, hatte die Neuigkeit das Dorf schon erreicht: Der Besitzer des Cardew-Hauses, Robert Cardew, wollte den Sommer dort verbringen und war gekommen, um sich anzusehen, was alles repariert und erneuert werden musste.

Und natürlich haben selbst wir in der hintersten Ecke von Cornwall von Robert Cardew gehört. Gerüchte über sein ausschweifendes Leben und seine schicken Freunde strichen durch die gewundenen Gassen von Penlyn wie streunende Katzen. Aber selbst wenn das Cardew-Haus nicht hier bei unserem Dorf gewesen wäre, wären Alice und ich fasziniert gewesen vom extravaganten Leben dieses Mannes und den schönen jungen Menschen, die sich um ihn scharten.

Wir verschlingen seit jeher die Klatschseiten der Zeitung, und oft wird uns fast schwindelig beim Gedanken an jene glitzernde Welt, die so anders ist als unsere. Es scheint unfassbar, dass ein Junge von dreiundzwanzig Jahren – kaum älter als wir – so viel besitzt, dass sein Leben sich so von unserem unterscheidet.

Als Lord Cardew vor ein paar Jahren starb, konnten die Leute im Dorf es kaum erwarten, den neuen jungen Herrn der Insel zu sehen, doch er tauchte nie auf, nichts deutete darauf hin, dass er sich überhaupt an das alte Haus erinnerte, das leer und ungeliebt auf seinem Hügel thronte. Bis jetzt.

Nachdenklich lecke ich die Marmelade von meinen Fingern.

Wir haben natürlich Fotos gesehen. Von seinen feinen Kleidern und den unglaublichen Partys. Und wir wissen, dass Robert seine Verlobte mitbringen wird, die wunderschöne amerikanische Millionenerbin Laurie Miller, zusammen mit einer ganzen Menagerie weiterer exotischer Kreaturen.

Wenn die Zeitungen recht haben, ist das Paar seit sechs Monaten verlobt. Sie haben die Klatschseiten wochenlang gefüllt, waren auf jeder Party, bei jedem wichtigen Empfang, und sie sahen immer großartig aus dabei. Alice und ich haben ihre Romanze von Anfang an mitgelebt, sie waren für uns wie Ausschneidepuppen, Figuren in einer Geschichte, und jede Woche hatten wir der Fortsetzung entgegengefiebert.

Aber bald – ich erinnere mich daran mit einem angenehmen Schaudern – wird der Mittelpunkt all des wundervollen Klatsches bei uns in Penlyn sein. Es ist schwer, sich einen weniger passenden Ort für solche Paradiesvögel wie Robert Cardew und sein Gefolge vorzustellen, wir sind hier Welten entfernt vom wilden Großstadtleben mit den Partys und den Nachtclubs, in denen sie sonst verkehren.

Aber sie kommen! Die Handwerker und Dekorateure sind in den letzten Wochen ins Cardew-Haus eingefallen wie ein Bienenschwarm. Unglücklicherweise kommen sie alle aus London, sodass niemand im Dorf weiß, was da drinnen vor sich geht. Es hat eine Menge Unmut ausgelöst unter den Handwerkern des Dorfes, und die Gassen sind voll von ärgerlichem Gemurmel darüber, wie unpassend die »jungen Leute« sich benehmen. Handwerker von außen mitzubringen, statt denen im Ort Aufträge zu erteilen!

Wir sind alle schrecklich neugierig, und im Dorf gärt es unter der Oberfläche wie in einer alten Ingwerbierflasche, die jeden Moment explodieren kann; jeder drängt darauf zu erfahren, wie das Haus jetzt von innen aussieht und wann die neuen Bewohner ankommen.

Natürlich war ich nicht mehr dort seit jenem verregneten Nachmittag.

Einmal habe ich es versucht, doch der Garten wimmelte schon von Menschen, und ich hatte Glück, ungesehen davonzukommen.

Meine Gedanken werden von den Drillingen unterbrochen, die sich durch die Küche jagen, und dem Baby, das jetzt nicht mehr singt, sondern schreit. Chaos scheint unvermeidbar.

Dies ist der Augenblick, in dem Alice die Bühne betritt. Ein Heiligenschein aus blauen Kornblumen krönt ihr goldenes Haar, und sie trägt Arme voll von duftendem Geißblatt und zarten rosafarbenen Rosen.

»Na los, hilf mir, Lou!«, knurrt sie und zerstört das Bild der hereinschwebenden Heiligen, indem sie mir die Blumen wenig feierlich in den Arm drückt und mir in der gleichen Sekunde mein Butterbrot wegschnappt.

Behutsam lege ich die Zweige mit den großen, makellosen Blüten auf den Tisch. »Woher hast du die Rosen?«

»Aus Mrs. Penriths Garten«, nuschelt Alice, den Mund voll Brot und Butter, und ein freches Grübchen erscheint auf ihrer linken Wange. Ich hebe die Augenbrauen.

»Alice Trevelyan.« Midge hört auf zu rühren und wedelt mit dem Messer bedrohlich in Alice’ Richtung. »Sag mir, dass du nicht in Susan Penriths Garten warst, um Blumen zu stehlen! Du weißt, wie sehr sie ihre Blumen liebt.«

»Ich habe sie nicht gestohlen!«, sagt Alice und schafft es, völlig entsetzt zu klingen, obwohl es ehrlich gesagt zu ihr passen würde, genau das zu tun. »Ich habe Mrs. Penrith gefragt, nett und höflich, und Mrs. Penrith hat mir die Blumen geschenkt.« Sie steckt den Rest meines Butterbrots in den Mund und kaut sorgfältig. »Immerhin ist es mein Hochzeitstag«, sagt sie schließlich, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist der, von dem Midge sagt, er könne Butter zum Schmelzen bringen.

Nein, es ist wirklich keine Überraschung, dass Mrs. Penrith ihre preisgekrönten Rosen verschenkt hat. Es fällt schwer, meiner Schwester einen Wunsch abzuschlagen, wenn sie beschlossen hat, charmant zu sein. Einer der Gründe dafür ist, dass Alice schön ist, schlicht und einfach schön.

Manchmal sagen die Leute, wir würden uns ähnlich sehen, aber das sagen sie nur, weil sie nett zu mir sein wollen. Alice’ Haar ist glatt und goldblond, meines lockig und matschbraun mit einem kleinen Schuss Rot, aber nicht rot genug, um interessant zu sein.

Alice’ Augen sind blau wie die Kornblumen ihres Brautkranzes, meine von einem regenverhangenen Grau. Alice’ Haut bleibt hell und zart wie ein Pfirsich, egal, wie lange sie draußen herumrennt, während meine sich auf unfeine Art bräunt und Sommersprossen auf meiner Nase sprießen, egal, wie oft ich Zitronensaft benutze. Wir sind gleich groß und haben eine ähnliche Figur, Alice und ich, aber jeder sieht, dass ich der Schatten meiner Schwester bin – ein verzerrtes, weniger glanzvolles Spiegelbild der perfekten Schönheit.

Und jetzt, heute, wird Alice, meine Alice, heiraten! Der Gedanke lässt mich schaudern.

Alice hingegen scheint unbeeindruckt. Ich sehe ihr zu, wie sie passende Blumen zusammensucht und mit Schnur umwickelt, ihre Bewegungen ruhig und sicher, und hundert kleine Dinge fallen mir ein, die sich in unseren Leben ändern werden: keine Alice mehr im Haus. Niemand mehr, mit dem ich mich bei der Hausarbeit unterhalten kann, keine ältere Schwester im Bett neben meinem, mit der ich wispernd Geheimnisse austauschen kann. Der Gedanke ist merkwürdig und beunruhigend. Alice summt vor sich hin, und dann sieht sie auf und lacht. »Hör auf, Trübsal zu blasen, Lou!«, sagt sie. »Es ist eine Hochzeit, keine Beerdigung.« Sie legt einen Arm um mich und drückt mich sanft. Und natürlich hat sie recht. Außerdem zieht sie nur ein paar Minuten weit weg, in das winzige Cottage, das Jack in der Dorfmitte für sie beide gefunden hat. Dennoch, für mich fühlt es sich an, als wäre es auf dem Mond. Es ist nicht die räumliche Entfernung, die mir nicht in den Kopf will, es ist die Tatsache, dass Alice uns – mich – zurücklassen wird, um jemand anderer zu werden. Eine erwachsene Person. Eine Ehefrau.

Und wenn Alice geht – ich will gar nicht daran denken –, wenn sie eine andere wird, dann muss wohl auch ich eine andere werden. Ich lege meinen Finger auf eines der Blütenblätter. Ein Tropfen Morgentau liegt noch darauf, zitternd wie eine Träne, die jeden Moment hinabrollt. Das, denke ich, wäre ein hübscher Satz für eine Geschichte. Ich seufze tief und schwelge einen Moment lang in der wundervollen Melancholie des Ganzen.

Alice lacht wissend. »Lou schreibt wieder ein Melodrama.« Sie rollt mit den Augen, und ich muss ebenfalls lachen. Erwischt.

»Ich habe nur über die Hochzeit in Lady Amelias Rache nachgedacht.« Ich zucke mit den Schultern. »Im Roman, du weißt schon. Darüber, wie der Tod seine Schatten vorauswirft und …«

Alice hält sich die Ohren zu. »Erzähl es mir nicht«, ruft sie. Und dann lässt sie die Arme hängen und starrt mich mit großen Augen an. »Es ist Rudolpho, nicht wahr?« Ihre Stimme ist voller Dramatik. »Du kannst ihn nicht umbringen, Lou, du kannst nicht.«

Ich setze ein Pokerface auf und tue so, als würde ich meine Lippen verschließen und den Schlüssel fortwerfen. Lady Amelias Rache ist eine Geschichte, an der ich seit Monaten arbeite, und Alice kann nicht genug davon bekommen. Normalerweise gefällt mir das, aber ich habe vor Kurzem eins meiner Notizbücher verloren, jetzt geht es mit dem Schreiben etwas langsamer voran, und Alice’ Fragen über den Fortgang der Geschichte werden täglich drängender. Sie ist sehr interessiert am Schicksal meiner tragischen Heldin, und ich muss zugeben, dass mir ihr Interesse schmeichelt. Obwohl ich annehme, dass Alice nicht mehr viel Zeit für Fortsetzungsromane haben wird, wenn sie erst einmal verheiratet ist.

Wir werden von Midge unterbrochen, die wie immer völlig unbeeindruckt ist von meinem emotionalen Aufruhr. »Ihr beiden geht besser nach oben und macht euch fertig«, sagt sie. »Und nehmt die Jungs mit! Versucht, sie ein bisschen zu säubern, ja? Ich habe noch tausend Dinge zu erledigen, und euer Vater ist immer noch nicht vom Feld zurück.«

Die Drillinge sträuben sich, jammern und klagen, als wären sie hochallergisch gegen Seife und Waschlappen, doch Alice und ich kennen keine Gnade und bugsieren sie die Treppe hinauf.

Schließlich, nach einem ziemlich nassen Abenteuer im Bad, lassen wir sie mit der Warnung laufen, sich von allem Klebrigen fernzuhalten, und Alice und ich steigen die schmalen Stufen zu unserem Zimmer hoch.

Kapitel 2

Das Zimmer, das ich mit Alice teile – bis jetzt geteilt habe –, ist das oberste im Haus, direkt unter der Dachschräge. Die Decke reicht an beiden Seiten fast bis auf den Fußboden, sodass man eigentlich nur in der Mitte aufrecht stehen kann, zwischen unseren Betten. Auf meiner Seite des Raums gibt es ein kleines Fenster, und wenn ich auf dem Bett knie, meinen Kopf aus dem Fenster strecke und mich nach links wende, kann ich das Meer sehen: Blau liegt es am Fuß des Hügels, und davor, am Fuß der Klippen, glänzt ein goldener Streifen Sand. Winzige weiße Häuser verteilen sich auf dem Steilhang; es sieht aus, als würden sie jeden Moment hinunter ins Wasser purzeln.

Ich kann die Insel von hier aus nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da ist. Ich spüre es. Mit der Zeit hat sich mein Verlangen, wieder hinüberzulaufen und mich dort zu verstecken, nur vergrößert. Jetzt, wo Alice das Haus verlässt, schleichen Fragen über meine eigene Zukunft um mich herum, und mehr denn je wünsche ich mir einen Platz, an dem ich allein sein kann.

Alice lässt sich auf ihr Bett fallen und zerquetscht beinahe die zarten Blumen auf ihrem Kopf.

»Vorsicht!« Ich nehme ihr den Kranz aus blauen Kornblumen ab und lege ihn auf ihren Nachttisch. »Bring dein Haar nicht durcheinander! Das ist doch kein Benehmen für eine Braut!«

»Und wie, bitte, benehmen sich Bräute?« Alice reibt ihre Nase und starrt an die Decke, das helle Haar um sie herum ausgebreitet, gleich einem See aus Gold. Doch wie alle wahrhaft schönen Menschen macht sich Alice keinerlei Gedanken über ihr Aussehen.

»Ich weiß nicht«, sage ich, und beinahe gelingt es mir, die alte Eifersucht zu unterdrücken, die mich überkommt, wenn ich sehe, wie wenig Mühe es sie kostet, schön zu sein. »Bräute … sind blass und zittern und … haben Anfälle von Schwindel?«

Alice stützt sich auf die Ellbogen und grinst mich an. »Du hast zu viele Liebesromane gelesen. Ich liefere mich ja keinem dunklen, geheimnisvollen Unbekannten aus.«

Ich schnaube nur, aber natürlich hat sie recht, die Worte »dunkler, geheimnisvoller Unbekannter« sind weit davon entfernt, Jack Treglowen zu beschreiben. Er ist zwei Jahre älter als Alice, wir kennen ihn schon unser ganzes Leben – und er war von Anbeginn der Zeit in Alice verliebt. Vielleicht noch davor. Der gute Jack mit seinen roten Locken, seinen starken Armen und seinem offenen, ehrlichen Gesicht. Irgendwann war jedes Mädchen im Dorf verliebt in ihn – mich selbst eingeschlossen –, aber er hatte immer nur Augen für Alice. Obwohl sie es lange nicht zu bemerken schien. Sie nahm seine stille Bewunderung einfach hin, Jacks Liebe war ein Teil ihres Lebens, behaglich, alltäglich, unveränderlich.

Bis sich eines Tages doch etwas veränderte.

Vor etwas über zwei Jahren, als Alice sechzehn war, fühlte ich, wie etwas zwischen den beiden anders wurde. Sie sprachen auf ganz neue Art miteinander, ihre Stimmen auf merkwürdige Weise weicher und doch voll von einer seltsamen, knisternden Ungeduld. Und eines Nachts kam Alice mit leuchtenden Augen nach Hause, für immer verwandelt. Jack hatte sie geküsst.

Ich wollte jedes Detail wissen.

Es war nicht Alices’ erster Kuss, wir waren beide schon geküsst worden (Alice häufiger – ich, damals fünfzehn, nur ein einziges Mal von einem Jungen namens Martin, dem Sohn des Fleischers, und es war überhaupt nicht so gewesen wie im Film, weil er stark nach Wurst gerochen und sich der ganze Kuss unbeholfen und irgendwie verschwitzt angefühlt hatte), aber dieses Mal war es etwas anders.

Dies war kein unerfahrener Junge gewesen, der sie mit ins Kino nahm, um im Dunkeln ein bisschen herumzumachen, dies war Jack, und wir sagten seinen Namen auf einmal in atemlosen Kursivbuchstaben.

Alice’ Augen leuchteten in jener Nacht wie ein Spiegelbild der Sterne, und sie berührte mit den Fingern immer wieder ihre Lippen, als könnte sie nicht glauben, dass sein Mund wirklich den ihren berührt hatte. Sie sagte, es wäre perfekt gewesen. Und auf einmal wusste meine Schwester, mit der ich bis dahin alle Geheimnisse geteilt hatte, etwas, das ich nicht wusste.

Egal, was ich sie fragte, egal, wie geduldig sie antwortete – das, was geschehen war, blieb für mich unbegreiflich, es war etwas Erwachsenes, weit Entferntes. Schließlich gab ich auf. Ich beobachtete, wie sie ihr Haar vor dem Spiegel bürstete, leise vor sich hin summend, und ich fühlte, wie sich ein Abgrund zwischen uns zu öffnen begann.

Wenig später bat Jack Alice, ihn zu heiraten, und niemand außer mir war überrascht. Es ging alles so schnell, es geschah so plötzlich, und es war so … endgültig. Nicht, dass ich nicht glücklich gewesen wäre für die beiden: Es war völlig unmöglich, sich in Alice’ strahlender Gegenwart zu befinden, ohne etwas von dem Glück abzubekommen, das von ihr ausging.

Aber ich hatte auch das Gefühl, etwas zu verlieren – als zöge mir jemand den Boden unter den Füßen weg. Ich war so lange ein Teil von »Alice-und-Lou« gewesen, dass ich nicht sicher war, was es bedeuten würde, »und-Lou« allein zu sein. Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich wirklich Alice’ Schatten war, nicht nur, was das Aussehen betraf: Wo immer Alice hinging, ich folgte. So war es stets gewesen.

Doch jetzt ließ sie mich zurück, und ich musste selbst weitergehen.

Ein Mädchen ohne Schatten ist eine Sache, aber ein Schatten ohne ein Mädchen?

Ich verbrachte mehr und mehr Zeit allein, schrieb, grübelte, und dann fand ich natürlich auch das Cardew-Haus, ein Haus voll von anderen Schatten, und ich spürte voller Erleichterung, dass dies der Platz war, an den ich gehörte. Es war gut, irgendwohin zu gehören, und ich klammerte mich an das Gefühl. Vor einem Jahr hatte ich die Schule beendet, und ich hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Neben meiner Arbeit auf der Farm hatte ich nichts zu tun, kein Ziel vor Augen.

Für Alice war es nie so gewesen. In meinem Alter war Alice schon mit Jack verlobt, und ihre Zukunft lag vor ihr wie eine fertige Straßenkarte, auf der jemand den Weg bereits eingezeichnet hatte.

Meine Zukunft war nichts als eine schreckliche Leere.

Am schlimmsten war, dass sich sonst niemand Sorgen darüber machte. Soweit ich sehen konnte, war ich die Einzige, die ein großes Fragezeichen über meiner Zukunft hängen sah, und obwohl sie es nie sagten, spürte ich das Gewicht der Erwartungen meiner Umgebung: Nicht nur Midge und Pa – das ganze Dorf rechnete damit, dass ich früher oder später einen der hübschen, ordentlichen Wege auf Alice’ Zukunftskarte einschlagen würde. Was gab es auch anderes zu tun? Es schien unmöglich, fortzugehen und einen eigenen Weg zu finden. Ich war die, die folgte, nicht die, die voranging. Und um ehrlich zu sein, wusste ich auch gar nicht, wohin ich hätte gehen sollen.

Das Cardew-Haus, so verlassen und vernachlässigt es war, erschien mir wie eine Antwort auf all meine Fragen. Es war nicht seine Pracht, die mich anzog, sondern das magische Gefühl, dass es auf etwas wartete … dass etwas Aufregendes passieren würde, schon bald. Das Gefühl, dass die Schatten auf irgendeine Weise zum Leben erwachen würden. Es war anders als alles, was ich kannte, und anders war genau, was ich suchte.

Ich schüttle den Kopf. Es ist dumm, an solch einem glücklichen Tag so viel zu grübeln. Midge hätte gelacht und gesagt, ich wäre mal wieder zu dramatisch – obwohl ich glaube, dass Freya dabei ist, mich als Dramaqueen der Familie abzulösen.

»Kommen Sie, Mrs. Treglowen«, sage ich und versuche dabei, wieder in die Gegenwart zu finden. »Kümmern wir uns um Ihr Aussehen.«

Alice setzt sich auf dem Bett auf und verzieht das Gesicht zu einer komischen Grimasse. »Mrs. Treglowen«, murmelt sie. »Klingt das nicht …«

»Seltsam?«, frage ich.

»Ich wollte sagen: erwachsen«, erwidert sie. »Aber seltsam auch, ja.« Sie hebt das Kinn, und ihre Stimme hallt durch den kleinen Raum: »Mrs. Treglowen.«

Sie sagt es noch einmal, kopfschüttelnd. »Ich kann nicht glauben, dass das hier wirklich geschieht!« Und dann erscheint das Grübchen an ihrem Kinn, und sie lacht und zieht mich mit ihr aufs Bett. Dort liegen wir, Seite an Seite, und kichern über die Absurdität der ganzen Sache. Mein Herz wird leichter. Vielleicht wird sich gar nicht so viel ändern. Es ist schwer, sich meine Schwester als erwachsene Frau vorzustellen, vielleicht wird sie immer das kichernde Goldmädchen bleiben, das neben mir liegt.

»Werdet ihr da oben irgendwann fertig?« Das ist Midge. »Wir müssen in einer Stunde in der Kirche sein!«

»Ja, Midge!«, rufen wir im Chor wie tausend Mal zuvor, und wieder habe ich das Gefühl, dass sich nichts ändern wird. Dann, plötzlich atemlos vor Aufregung, beginnen wir, Alice umzuziehen.

Ihr Hochzeitskleid ist ein Traum.

Es besteht aus zarter blassgelber Georgette-Seide, hat lange Ärmel und einen Muschelsaum, der bis kurz unterhalb der Knie fällt (die Länge bzw. Kürze des Kleides ist das Ergebnis eines harten Kampfes, aber schließlich ist sie doch von Midge und Tante Cath gebilligt worden, nachdem wir sie mit Bildern und Schnitten aus unzähligen Zeitschriften überschüttet hatten. Die Bilder bewiesen, fanden wir, dass nichts Ungehöriges mehr dabei ist, ein wenig Wade zu zeigen, immerhin haben wir das Jahr 1929). Eine passende Spitzenschärpe umspielt locker die Hüfte, und ein Band aus fein gestickten elfenbeinfarbenen Blumen ziert den eckigen Ausschnitt.

Midge und Tante Cath haben monatelang an dem Kleid gearbeitet, und Alice und ich – beide besessen von Modemagazinen, aber völlig hoffnungslose Fälle, was Handarbeiten betrifft – haben ihnen haufenweise unnütze Ratschläge gegeben, die sie mit erstaunlicher Geduld ertragen haben. Es gab nur zwei kleinere und eine etwas größere Diskussion, in der drohend Scheren geschwungen wurden, aber am Ende ist alles ganz wunderbar geworden, und die Stelle, an der Alice gegen den Küchentisch getreten hat, fällt wirklich kaum auf, also habe ich den Prozess der Kleideranfertigung alles in allem als erfolgreich verbucht.

Mit zitternder Hand lege ich die Krone aus Kornblumen zurück auf Alice’ Kopf und nehme vorsichtig den langen Spitzenschleier von der Stuhllehne. Der Schleier gehörte einmal Midge und davor ihrer Mutter, und die elfenbeinfarbene Spitze fühlt sich in meinen Händen so leicht an wie Luft. Ich weiß, dass auch ich den Schleier eines Tages tragen soll, obwohl es mir schwerfällt, mir diesen Tag vorzustellen.

»Oh, Alice«, flüstere ich und muss auf einmal die Tränen hinunterschlucken. »Du siehst … absolut … schrecklich aus. Schrecklich schön.« Ich schlucke.

Alice lächelt huldvoll, wobei ihr Grübchen erscheint; sie drapiert den Schleier elegant über einem Arm, legt ihren Kopf schief wie ein neugieriger Vogel und betrachtet sich selbst im Spiegel. »Was denkst du, gefalle ich Jack so?« Auf einmal klingt sie nicht mehr so selbstsicher wie sonst.

Ich glaube, sie ist selbst ein wenig eingeschüchtert von der perfekten Braut, die ihr aus dem Spiegel entgegensieht.

»Er wird in Ohnmacht fallen, wenn du die Kirche betrittst«, sage ich aufrichtig. »Er wird sein Glück kaum fassen können.«

»Alice! Alice!« Ungeduldige Rufe hallen von unten herauf, und Alice umarmt mich kurz – vorsichtig, um Kleid, Schleier und Blumen nicht zu zerdrücken, und macht sich auf den Weg die Treppe hinunter, wie eine Königin, die von ihrem Thron hinabsteigt, um sich dem Volk zu zeigen.

Zeit für mich, eine würdige Brautjungfer zu werden.

Ich zittere vor Aufregung, als meine Finger den altrosafarbenen Chiffon streicheln, das erste Kleid, das nur für mich angefertigt wurde. Es ist schlicht, mit leichten Falten im Rock und einem V-Ausschnitt (keinem wirklich skandalös tiefen allerdings, leider). Midge hat mir einen langen, schmalen Schal aus demselben Chiffon genäht, den ich sorgfältig um meinen Hals lege, sodass die Enden elegant herabhängen. Ich stecke meine widerspenstigen Locken so gut wie möglich hoch und schlüpfe in die Schuhe, die wir rosa gefärbt haben, damit sie zum Kleid passen. Dann werfe ich einen Blick in den Spiegel. Und sehe nichts von Alice’ Glanz. Rein gar nichts.

Trotz all meiner Bemühungen wirke ich noch immer zerknittert und irgendwie unfertig. Ich versuche ein letztes Mal, mein Haar glatt zu streichen. Vergebens, die Locken rutschen wieder aus der Frisur und stehen ungehorsam vom Kopf ab.

»Lou.« Pas sanfte Stimme holt mich aus meinen Gedanken, und ich drehe mich um und gehe hinunter. Auf dem Treppenabsatz treffen wir uns. Wie gut Pa aussieht in seinem Anzug, mit der alten Taschenuhr seines Vaters an der glänzend polierten Kette! Wie anders als der Alltags-Pa, den wir kennen, in seiner gewöhnlichen Latzhose.

Er bedenkt mich seinerseits mit einem bewundernden Blick, die Mühe hat sich also doch gelohnt.

»Sehr schön«, sagt er, während ich mich langsam für ihn im Kreis drehe und versuche, dabei nicht über meine hohen Schuhe zu stolpern.

»Na ja, ich bin nicht gerade die Vorzeige-Brautjungfer«, murmle ich mit leisem Bedauern.

»Du siehst gut aus«, sagt Pa.

Die Leute behaupten, er sei kein Mann großer Worte. Sie könnten nicht mehr im Unrecht sein. Pa liebt Worte, auch wenn er nicht unaufhörlich redet, und ich bin es, die seine Liebe zur Sprache geerbt hat. Er liest alles, was er in die Finger bekommt, und bewahrt Worte für mich auf, von denen er weiß, dass ich sie lieben werde, Worte wie »blutrot« und »honigsüß«, die er in seiner leicht zittrigen Handschrift auf Zettel schreibt und irgendwo im Haus für mich hinterlässt. Die erste Kurzgeschichte, die ich für ihn geschrieben habe, liegt immer noch mit den anderen Schätzen in einer kleinen Kiste. Es geht um eine Katze, die singen lernt.

Pa schreibt auch, wie ich. Er schreibt Gedichte in kleine blaue Notizbücher, die er im Dutzend kauft, doch er zeigt sie niemandem – nicht einmal mir. Ich erinnere mich daran, wie er Gedichte für mich erfand, als ich drei oder vier Jahre alt war, lustige Gedichte über Zootiere oder über mich und meine Schwestern. Ich weiß noch, wie sehr wir zusammen darüber gelacht haben.

Ein paar Gedichte von ihm habe ich noch, solche, die er uns geschickt hat, als er damals an die Front musste: verblasste Worte auf brüchigem Papier. Aber als der Krieg zu Ende war, hatte es auch ein Ende mit den Gedichten. Pa kam zurück und war derselbe und doch ein anderer geworden: verblasst und brüchig wie seine Briefe – stiller und irgendwie weiter von uns entfernt.

»Midge wartet«, sagt er jetzt. »Wir wollen nicht zu spät kommen. Du gehst mit den anderen; Alice und ich kommen nach.« Ich drücke ihn kurz an mich und spüre, wie dünn er ist. Es ist erschreckend, dass jemand so Starkes sich so zerbrechlich anfühlen kann. Midge füttert ihn dauernd, damit er mehr Fleisch auf die Rippen bekommt, aber egal, wie viele großzügig mit Butter bestrichene Brötchen sie in ihn hineinstopft, Pa bleibt mager und knochig.

»Der Mann ist nichts als Ellbogen und Knie«, sagt Midge immer.

Jetzt steht sie draußen, wippt ungeduldig mit einem Fuß und versucht, die Drillinge davon abzuhalten, sich in ihren feinen Anzügen im Dreck zu balgen wie junge Hunde.

Hübsch sieht sie aus in dem fliederfarbenen Kleid, das sie sich damals für die Hochzeit unserer Cousine Arla genäht hat.

Freya, neben ihr, träumt wie immer mit offenen Augen und scheint die Drillinge nicht einmal zu bemerken, was vielleicht auch daran liegt, dass sie ziemlich kurzsichtig ist. Midge hat sie in ein geblümtes Kleid gesteckt, das ein wenig zu eng ist, vermutlich ein Erbstück von Alice, und ihr blassblondes Haar zu Zöpfen geflochten, die auf ihrem Kopf festgesteckt sind. Tom scharrt mit den Füßen und versucht, seinen Hemdkragen mit einem Finger zu lockern, als würde er jeden Moment ersticken. Dabei lehnt er sich auf den Griff des klobigen alten Kinderwagens, in dem das Baby liegt und glücklicherweise schläft.

»Da ist sie ja!«, ruft Midge. Ihr Gesicht wird weicher. »Und hübsch wie ein Gemälde.«

Einen Moment bade ich in ihrer Bewunderung, aber sie denkt schon wieder praktisch. »Los jetzt, wir müssen die Blumen rüberbringen. Das Essen holen die Jungs später.«

Und zum zweiten Mal an diesem Tag habe ich die Arme voll duftender Blüten, als wir uns auf den Weg machen, den Pfad hinunter zum Dorf. In der Ferne läuten schon die Kirchenglocken und füllen die Luft mit ihrem freudigen Klang. Ich hebe das Gesicht zum Himmel und spüre die goldene Wärme der Sonne auf meiner Haut.

»Alice sieht aus wie etwas aus einem Roman.« Freyas Stimme dringt gedämpft zu mir durch die Blumen, die sie trägt.

»Alice sieht immer aus wie aus einem Roman«, erwidere ich.

Freya scheint einen Moment darüber nachzudenken. »Ja, aber heute sieht sie auch noch aus wie etwas anderes«, sagt sie schließlich. Ihr Blick gleitet wieder in eine geheimnisvolle Ferne, und ihre Lippen sind nachdenklich geschürzt, als sie die Worte ausspricht. »Sie sieht genau aus wie eine Braut.«

Vermutlich ist das nicht die klügste Bemerkung, die man über jemanden machen kann, der gerade heiratet, aber ich weiß, was Freya meint, und sie hat recht. Alice sieht sicher mehr aus wie eine Braut als irgendeine Braut je zuvor.

Tom, vor uns, schiebt den alten Kinderwagen mit energischen Stößen, doch dann entdeckt er ein paar seiner Freunde, die uns von der Kirche aus entgegenrennen, und winkt begeistert.

Dann sind wir im Dorf: keine Zeit mehr für Zweifel und Überlegungen. Schon werden wir von der Menge in die hübsche kleine Kirche gedrängt, deren Eingang mit Rosen geschmückt ist, und wir schütteln Hände, erwidern Umarmungen und verteilen die Blumen, die Alice am Morgen gepflückt hat. Obwohl unsere Nachbarn vor uns hier waren und die ganze Kirche schon fast überquillt vor lauter duftenden Blüten.

Und da! Da ist Jack, in einem dunkelgrauen Anzug, groß und gut aussehend wie immer. Er wirkt gar nicht nervös, er lächelt mich an, als er seine Arme um mich legt. Ich atme seinen guten, sauberen Geruch ein und gestatte mir, noch ein letztes Mal so zu tun, als sei ich unglücklich verliebt und mein Herz müsste brechen, weil ich zusehen muss, wie er meine Schwester heiratet.

Wenn man in einem verschlafenen kleinen Dorf lebt, muss man sich sein eigenes Drama ausdenken, und als ich vierzehn war, bildete ich mir – kurzzeitig, aber sehr effektiv und melodramatisch – ein, ich wäre unsterblich in Jack verliebt. Nachdem Alice und Jack ihre Verlobung bekannt gegeben hatten, entzündete ich die alte Flamme wieder und wanderte eine Weile trauernd durchs Haus. Ich hüllte mich in schwarze Schals, seufzte verlorene Seufzer und schrieb traurige Gedichte über zum Scheitern verdammte Liebe und einsame, jedoch wunderschöne Jungfern – aber über der Anstrengung, meinem Gesicht mit Alice’ Puder eine interessante Blässe zu verleihen, vergaß ich Jack. Und so gab ich das Unternehmen schließlich auf. Alice ignorierte die ganze Sache höflich.

»Bereit?«, frage ich Jack jetzt.

»Kann’s kaum erwarten, dass es losgeht«, antwortet er mit einem Zwinkern.

Und dann wird uns klar, dass er nicht mehr warten muss, denn draußen vor der Kirche nähert sich das unverwechselbare Röhren von Pas altem Automobil.

»Da sind sie«, sagt Jack, bläst seine Backen zu einer komischen Grimasse auf und atmet tief aus. Vielleicht ist er doch ein bisschen nervös. Ich versuche, ein beruhigendes Grinsen hinzubekommen. »Dann bis gleich«, sage ich und balanciere auf meinen ungewohnt hohen Absätzen zurück durch den Mittelgang. Die Reihen füllen sich, und ein leiser Teppich aus Gemurmel füllt die Kirche. Ich trete hinaus in den Sonnenschein.

Pa ist dabei, Alice aus dem Wagen zu helfen: einem kleinen grünen Zweisitzer mit einem Tuchverdeck und einem ausklappbaren Sitz für zwei (sehr schlanke) Fahrgäste. Der Wagen heißt Gerald und ist quasi nutzlos, aber Pa liebt ihn, trotz seiner Launen und der Tatsache, dass man ihn zum Fahren meist erst überreden muss. Heute sieht Gerald ziemlich fesch aus, dank Freya, die ihn liebevoll mit Bändern und Blumen geschmückt hat.

In der Kirche bearbeitet Mrs. Bastion enthusiastisch die asthmatische alte Orgel, die Töne kommen uns durch die offene Tür entgegengekeucht.

Und plötzlich begreife ich: Dies hier passiert wirklich. Ich glaube, Alice begreift es auch.

»Oh!« Der Buchstabe ist mehr ein atemloser Seufzer. Ich werfe meine Arme um sie, und wir achten beide nicht mehr auf unsere schönen Kleider, als wir uns fest aneinanderdrücken. Doch schließlich löse ich mich von ihr, tupfe meine Augen trocken und bringe ein Geräusch hervor, das sich irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen befindet. Alice tut dasselbe, streicht dann sorgfältig ihr Kleid glatt und ordnet den Schleier. Pa sieht zu, sein Gesicht gleichzeitig stolz und irgendwie verwirrt.

Ich hole meinen kleinen Rosenstrauß aus Gerald und stelle mich vor Alice.

»Los, geh schon!«, sagt sie, ihre Stimme noch immer ein wenig wackelig. »Worauf wartest du?«

»Oh, richtig!« Ich habe vergessen, dass ich dies hier beginnen muss, indem ich anmutig durchs Kirchenschiff nach vorn schwebe. Auf einmal bin ich sicher, dass ich keinen Schritt mehr tun kann, ich bin zu nervös, aber Alice gibt mir einen freundlichen Schubs. »Geh!«, wiederholt sie leise, jetzt mit einem mühsam unterdrückten Kichern. »Ehe Mrs. Bastion sich eine Zerrung holt!« Sie hat recht, die Musik erreicht in diesem Moment ein wildes Crescendo, und die Organistin ist bekannt dafür, dass sie es manchmal ein wenig übertreibt. (Mrs. Bastion behauptet, sie habe italienisches Blut und es sei ihr unmöglich, ohne große Leidenschaft zu leben. Eine bewundernswerte Frau.)

Jetzt. Ich hole tief Luft und trete durch die Kirchentür.

Kapitel 3

Die Trauung geht vorüber wie im Flug.

Mehrere Leute weinen, und Alice und Jack strahlen einander die ganze Zeit über an. Ich habe noch nie zwei Menschen gesehen, die so von innen heraus leuchten; es ist, als säße der Rest von uns in einem dunklen Kino, von dessen Leinwand zwei Schauspieler strahlen.

Und dann ist alles vorüber, und wir drängen aus der Kirche, werfen Konfetti über das glückliche Paar und machen uns auf den Weg zur Dorfwiese, um zu feiern. Der lange Klapptisch, der dort aufgestellt wurde, biegt sich bereits unter dem Gewicht des Festmahls, das Midge und die anderen Frauen des Dorfs zubereitet haben.

Als ich einen Berg Essen auf meinen Teller häufe, stoße ich mit Mrs. Bastion zusammen, die ein enges, groß geblümtes Kleid und eine Menge Rouge auf den Wangen trägt.

»Oh, Lou!«, ruft sie, und ihre Augen schwimmen in Tränen, während sie zu Jack und Alice hinübersieht. »Sehen sie nicht wundervoll aus zusammen?«

»Das tun sie«, murmle ich und beobachte, wie Jack die Hand meiner Schwester an seine Lippen zieht und etwas sagt, das sie zum Lachen bringt.

»Sie erinnern mich daran, wie es mit meinem zweiten Mann war«, seufzt Mrs. Bastion. »Das war der vor Mr. Bastion, Gott hab ihn selig.«

Ich bin unsicher, was ich dazu sagen soll. Allgemein ist man im Dorf der Meinung, dass Mr. Bastions Herzinfarkt eine Folge des etwas zu leidenschaftlichen Gebarens seiner Frau in gewissen häuslichen Situationen war (das italienische Blut hat ihn am Ende erledigt, wenn man dem Dorfklatsch glaubt).

Glücklicherweise unterbricht Mrs. Bastion mich, ehe ich zu genau über den unglücklichen Mr. Bastion und die Details seines Hinscheidens nachdenken kann.

»Und du wirst die Nächste sein, Louise!« Sie pikt ihren Ellbogen in meine Rippen und klimpert kokett mit den Wimpern. Ich versuche, nicht das Gesicht zu verziehen, obwohl nicht nur der Ellbogen, sondern auch die Idee zu heiraten – Alice zu folgen, wie stets –, eine leichte Panik in mir weckt und mir für einen Moment den Atem nimmt.

»Oh, ich weiß nicht …«, beginne ich, doch Mrs. Bastion ist gar nicht interessiert an meiner Meinung. »Natürlich wirst du die Nächste sein! Warte nur: Ein paar Monate, dann stehst du auch im Brautkleid in der Kirche! Mach dir darüber nur keine Sorgen.«

»Ich mache mir keine –«, fange ich an, aber Mrs. Bastion und ihr Blumenkleid sind schon davongesegelt, um jemand anderen mit ihrer Anwesenheit zu beglücken.

Ich sichere mir ein Glas Ingwerwein. Normalerweise trinke ich nicht, aber es ist klar, dass Mrs. Bastion nicht die Einzige ist, die mit mir über meine Heiratspläne reden will, und vielleicht weiß der Ingwerwein mehr darüber als ich. Außerdem heiratet meine große Schwester nicht jeden Tag, also gilt es, die Gelegenheit zu nutzen. Ich nehme einen tiefen Schluck und huste. Du meine Güte, das Zeug hat es in sich. Ich fühle, wie sich eine angenehme Wärme in meinem Körper ausbreitet, und die Anspannung lässt nach. Noch ein Schluck, und ich fühle mich stark genug, meine nicht vorhandenen Zukunftspläne zu verdrängen und mit den anderen zu feiern.

Und wie gefeiert wird! Das Essen dauert den ganzen Nachmittag, und dann beginnt die Musik. Ein paar Jungs aus dem Dorf finden sich zu einer ausgelassenen Band zusammen, und jemand rollt ein altes Piano hinaus in den Sonnenschein. Zugegeben, es ist ein wenig verstimmt, die Musik stets ein wenig neben der Melodie, aber die Töne verbreiten gute Laune, und ich streife meine Schuhe ab, um barfuß zu tanzen, beschwipst und mit geröteten Wangen. Alice und Jack tanzen neben mir. Ich liebe sie für ihre Schönheit, ich liebe alle Menschen, ich liebe die ganze Welt …

Und dann wird die Feier abrupt unterbrochen.

Plötzlich ist die Luft erfüllt von dröhnendem Lärm, von einem beunruhigenden Knattern und Knallen, das immer lauter wird. Ich drehe mich um.

Ein Konvoi aus vier schnittigen Automobilen kommt mit atemberaubender Geschwindigkeit auf uns zu. Das Klavier verstummt, und die Tänzer um mich herum bleiben reglos stehen, mit offenem Mund, und sehen den Wagen entgegen, die durchs Dorf rasen. Sie weichen gerade noch aus und fahren mit offenem Verdeck an uns vorüber; Männer und Frauen in glitzernder Abendgarderobe sitzen darin, jubelnd, winkend, übermütig. Hinten aus dem letzten Wagen hängt, man kann es nicht anders sagen, ein Mädchen heraus, das in einer Hand eine offene Champagnerflasche hält. Sie ist wunderschön, ihr Kleid ganz aus silbernen Fransen, ihr perfekt frisiertes kurzes Haar, das eng am Kopf anliegt, von einem juwelengeschmückten Band umschlossen. Unsere Blicke treffen sich, und ein schalkhaftes Lächeln erscheint auf ihren dunkelroten Lippen. »Prost, Darling!«, ruft sie und hebt die Flasche an ihre Lippen.

Damit sind die Wagen verschwunden, so schnell, wie sie kamen, der einzige Beweis für ihre Existenz eine Staubwolke und das sich entfernende Dröhnen der Motoren, als sie den Damm zur Insel hinunterfahren.

Ich fühle, wie mein Herz rascher schlägt.

Ich bin nicht die Einzige; das Auftauchen der Automobile wirkt, als hätte jemand Öl in die Flamme gegossen. Klatsch und wilde Spekulationen über die Fremden füllen die Nachtluft, und es ist, als hätten wir alle ein wenig von dem Glanz abbekommen. Die Feier wird immer wilder und übermütiger, während der Ingwerwein rascher fließt.

Jemand ruft – möglicherweise ich selbst –, dass wir diesen Cardews schon zeigen werden, wie man richtig feiert. Alles jubelt. Diese Nacht wird Penlyn so schnell nicht vergessen!

So dauert Alice’ und Jacks Hochzeitsfeier bis in die Morgenstunden, und die Sonne hat an den Rändern des Himmels schon einen neuen Sommertag entzündet, als ich mich endlich mit bloßen Füßen auf den Heimweg mache, die Schuhe mit den hohen Absätzen in der Hand. Von dem schmalen Küstenpfad, den ich entlangwandere, kann ich das Cardew-Haus sehen: Es ist jetzt hell erleuchtet. Schmetterlinge tanzen in meinem Bauch, und ich stehe eine Weile ganz vorn an den Klippen und versuche, Details zu erkennen. So lange habe ich mir vorgestellt, wie das Haus sein könnte, wenn es mit Leben gefüllt wäre. Ich muss wissen, was hinter diesen Wänden geschieht. Ist alles so, wie ich es mir erträumt habe?

Bis auf die Lichter und die Wagen in der Auffahrt kann ich von hier aus kein Lebenszeichen entdecken. »Ich weiß, dass ihr da seid«, flüstere ich. Doch das stille Haus bleibt mir fern; es ist mir nicht fremd, aber auch nicht länger ein geheimer Freund. Einen Moment noch stehe ich so da, die Arme um mich geschlungen, frierend, sehe hinüber und lausche angestrengt.

Dann überfällt mich ein Gähnen, das die ganze Welt zu verschlingen droht, und ich merke, wie wackelig ich auf den Beinen bin. Nein, die schönen jungen Leute dort drüben müssen warten – ich brauche mein Bett. Ich taumle den Rest des Pfads nach Hause, und meinem umnebelten Gehirn scheint der Weg dreimal so lang wie sonst. Als ich endlich die Farm erreiche, ist alles dort still und dunkel, und ich kann mich gerade noch die Treppe hinauf und in mein Bett schleppen, ehe ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf falle.

Als ich mehrere Stunden später aufwache – ich habe keine Ahnung, wie lang ich genau geschlafen habe –, bin ich sicher, dass mein Kopf jeden Moment platzt. Mein Mund ist trocken, und das helle Nachmittagslicht, das durchs Fenster fällt, lässt mich fauchen wie einen ärgerlichen Vampir. Es klopft an der Tür, und Midge steckt den Kopf ins Zimmer. Ich nehme meine Umgebung nur verschwommen wahr, aber das Grinsen auf Midges Gesicht ist nicht zu übersehen. Es ist der gleiche Ausdruck, den die Drillinge zu sehen bekommen, wenn sie gerade glauben, sie wären mit irgendeiner Dummheit unbemerkt davongekommen.

»Oje!«, sagt Midge, in ihrer Stimme schwingt ein unterdrücktes Lachen mit. »Ich dachte, du könntest … das hier brauchen?« Sie reicht mir ein großes Glas voll Wasser.

Ich setze mich vorsichtig auf. Der Raum schwankt erst ein wenig, steht dann aber netterweise still. Dankbar nehme ich das Wasserglas und trinke. Ich fühle mich wie ein ausgetrockneter Schwamm.

»Was ist passiert?«, höre ich mich heiser flüstern.

»Tja«, beginnt Midge und setzt sich auf meine Bettkante. »Ich würde sagen, eine ziemliche Menge von Caths Ingwerwein ist passiert.«

Ich stöhne nur und halte meinen Kopf. »Wahrscheinlich hast du recht. Tut mir leid.«

Midge sieht mich eine Weile an. »Ich sollte wahrscheinlich schimpfen«, meint sie. »Aber du bist beinahe achtzehn. Und wenn ich dich so ansehe, nehme ich ohnehin an, dass du so schnell keinen Ingwerwein mehr anrührst.«

Mein Magen dreht sich um bei der Erwähnung des teuflischen Gebräus. Ich wimmere und vergrabe das Gesicht in meinen Kissen.

»Als ich nach Hause gegangen bin, hast du gesungen«, fährt Midge fröhlich fort, und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie das hier mehr genießt, als es eine verantwortungsbewusste Mutter tun sollte.

»Nein!«, stöhne ich, obwohl ich mich langsam erinnere. Jemand hat Klavier gespielt, und ich bin auf einen Stuhl geklettert und … »Ooooh!«, wimmere ich.

Midge fängt an zu summen. »Building a nest for Mary …« Ein Lied, das ich offenbar nachts mit einer Menge Enthusiasmus zum Besten gegeben habe. Es handelt von einem jungen Mann, der für seine Geliebte ein kleines Haus samt Kinderstube bauen will, und ich ziehe Alice seit Wochen damit auf. An einer Stelle habe ich gestern zur Begeisterung der Menge »Mary« durch »Alice« ersetzt.

Ich lasse mich aufs Bett zurückfallen und wimmere, als ich merke, dass plötzliche Bewegungen im Moment keine gute Idee sind.

»Was – was war in dem Ingwerwein?«, frage ich schwach.

»Geheimrezept deiner Tante Cath«, antwortet Midge und streichelt meinen Arm, plötzlich mitleidig. »Hat schon ganz andere Leute umgehauen. Absolut tödlich.«

»Danke für die rechtzeitige Warnung«, knurre ich. In meinem Kopf scheint jemand erbarmungslos auf eine riesige Trommel zu schlagen. »Ich glaube, ich sterbe«, flüstere ich und lehne mich an Midge.

»Ach, das glaube ich eigentlich nicht«, sagt sie, nicht besonders mitleidig. »Wasch dich lieber und komm runter, was essen. Das hilft.«

Damit steht sie auf und geht, lässt mich allein mit meiner Ingwerwein-Seekrankheit.

Ich zwinge mich, auf die Beine zu kommen, und aus dem Spiegel blinzelt mich ein wahrhaft bedauernswertes Individuum an: Mein Haar steht in alle Richtungen vom Kopf ab, mein Kleid ist zerknittert, meine Strumpfhose in Fetzen gerissen und Lippenstift überall um meinen Mund herum verschmiert. Dann, während ich das Schreckgespenst betrachte, das mir aus dem Spiegel entgegensieht, fällt es mir wieder ein: Die Cardews sind da. Endlich.

Ich sehe das schöne Mädchen noch vor mir, das sich so weit aus dem Wagen gelehnt hat, und frage mich, ob sie jemals an einem Morgen nach einer Party so schlimm ausgesehen hat wie ich jetzt. Bestimmt nicht.

Ich brauche länger als gewöhnlich, doch schließlich gehe ich gewaschen und angezogen und beinahe vorzeigbar nach unten in die Küche. Midge macht mir eine dampfende Tasse Tee und bestreicht einen Toast mit Butter, den ich zu meiner eigenen Überraschung tatsächlich esse und bei mir behalte. Es hilft. Vielleicht gibt es noch Hoffnung für mich auf dieser Welt.

Dann kommt Freya hereingeschwebt, ein Buch in den Händen und in einer Art Queen-Elizabeth-Kostüm mit steifem Papierkragen um den Hals.

»Du siehst schrecklich aus«, stellt sie fest und inspiziert mein Gesicht von Nahem. »Ganz … grün.«

»Ja, danke für die Information, aber du musst nicht so schreien, Freya«, flüstere ich und lege meine Stirn auf die angenehm kühle Tischplatte.

»Erinnerst du dich daran, wie du gefallen bist, als du versucht hast, allen zu zeigen, wie man Charleston auf dem Tisch tanzt?«, fragt Freya interessiert. Ich stöhne noch einmal. Das erklärt den blauen Fleck an meinem Bein.

»Ich glaube, ich brauche frische Luft«, sage ich und presse eine Hand gegen meine Stirn.

»Das ist eine hervorragende Idee.« Midge nickt. »Ein bisschen frische Luft wird dir guttun. Geh und lass dich am Strand durchpusten. Es macht Freya sicher nichts aus, heute Vormittag deinen Teil der Hausarbeit mitzuerledigen.«

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