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Blackcoat Rebellion - Die Trilogie

hier erhältlich:

Die Jugendbuchserie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Aimée Carter!Alle drei Teile in einem E-Book!

Blackcoat Rebellion - Das Los der Drei

Kitty Doe hat die Wahl: entweder ein Leben als III, in dem alle auf sie herabsehen und sie nur niedere Arbeiten verrichten darf, oder ein Leben als VII, in dem sie Mitglied der einflussreichen Hart-Familie wäre und von allen bewundert würde. Dafür muss sie aber in die Rolle von Lila Hart schlüpfen, der Nichte des Premierministers. Kitty zögert nicht lange, weil sie auf eine bessere Zukunft für sich und ihren Freund Benji hofft. Doch sie gerät mitten in ein gefährliches Intrigenspiel. Wer hat die echte Lila Hart auf dem Gewissen? Kitty kann eigentlich niemandem trauen und hat in der Hart-Familie nur noch ein Ziel: überleben.

Blackcoat Rebellion - Die Bürde der Sieben

Kitty führt als Lila Hart ein Leben in Reichtum und Luxus, aber sie weiß, dass sie nach wie vor in größter Gefahr ist. Als sie hinter das Geheimnis des Premierministers kommt und sich weigert, die kompromittierenden Beweise herausgeben, schlägt das System mit voller Brutalität zurück: Kittys große Liebe wird vor ihren Augen hingerichtet und sie selbst nach Anderswo verbannt, von wo noch niemand zurückgekehrt ist. Dort kämpft sie fortan ums nackte Überleben und ist entschlossener denn je, der Rebellion zum Sieg zu verhelfen.

Blackcoat Rebellion - Das Schicksal der Zehn

Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Kitty enthüllt der Welt, wer sie in Wirklichkeit ist und dass der sadistische Premierminister Daxton Hart sie nur als seine Nichte ausgegeben hat. Neben Knox, der die Blackcoat-Rebellion anführt, kämpft sie für Freiheit und Unabhängigkeit. Aber Hart ist ein gewiefter Gegner, der vor nichts mehr zurückschreckt, um an der Macht zu bleiben. Wenn Kitty nicht aufpasst, ist alles verloren. Und am Ende ist sie es, die über Leben und Tod entscheidet.


  • Erscheinungstag: 06.09.2021
  • Aus der Serie: Blackcoat
  • Seitenanzahl: 960
  • Altersempfehlung: 12
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802006

Leseprobe

Cover

Cover

Für Caitlin Strow,

weil sie jedes Wort gelesen hat

I

PECH GEHABT

Natürlich war es dumm, mein Leben für eine Orange aufs Spiel zu setzen, aber an einem Tag wie diesem waren mir die Konsequenzen egal. Mit etwas Glück würden die Shields mich zu Boden werfen und mir dann eine Kugel durchs Gehirn jagen.

Tot mit siebzehn Jahren. Es wäre eine Erleichterung.

Während ich über den überfüllten Markt hastete, fasste ich in meinen Nacken und versuchte, nicht zusammenzuzucken. Am Morgen war meine Haut noch blass und glatt gewesen, mit nur einer einzigen Sommersprosse unter meinem Haaransatz. Jetzt zur Mittagszeit, nach der Prüfung, war meine Haut von nicht abwaschbarer schwarzer Tinte entstellt, darunter drei Erhebungen, die ebenfalls nie wieder weggehen würden.

III. Wenigstens keine II, was aber kein großer Trost war.

»Kitty«, rief Benjy, mein Freund. Er strich sich das lange rote Haar hinter die Ohren, während er auf mich zuschlenderte, größer und muskulöser als die meisten anderen auf dem Marktplatz. Mehrere Frauen musterten ihn, und ich runzelte die Stirn.

Ich wusste nicht, ob Benjy sie nicht bemerkte oder ob er einfach immun gegen meine schlechte Laune war, aber so oder so gab er mir hastig einen Kuss und sah mich verschmitzt an. »Ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich.«

»Wirklich?« Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Er hatte die Orange in meiner Hand nicht gesehen und keine Ahnung, dass ich gerade ein Verbrechen beging. Eigentlich sollte er jetzt in der Schule sein und nicht hier bei mir, aber er hatte darauf bestanden. Ich hatte genau diese eine Chance gehabt, zu beweisen, dass ich der Gesellschaft nützlich sein konnte, und ich hatte sie vermasselt. Nun war ich bis an mein Lebensende dazu verdammt, weniger wert zu sein als alle anderen hier auf diesem Markt, und das alles nur wegen der Markierung in meinem Nacken. Ein Stück Obst zu stehlen, das nur für Vieren und Höhere gedacht war, würde mein Leben nicht einfacher machen, aber ich hatte noch einen letzten Moment gebraucht, in dem ich die Kontrolle über etwas hatte, auch wenn die Shields mich dafür verhaften würden. Auch wenn sie mich dafür letztendlich töten würden.

Benjy öffnete seine Hand, in der eine winzige lilafarbene Blüte lag, nicht größer als mein Daumennagel. »Das ist ein Veilchen«, sagte er. »Es ist mehrjährig.«

»Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.« Ich spähte umher, um herauszufinden, wo er es gefunden hatte. Drei Tische weiter, neben einem Stand mit Bildern der Familie Hart, quoll einer über von bunten Parfümflaschen. Winzige violette Blumen bedeckten die Tischplatte. Sie waren nur als Dekoration gedacht, nicht zum Verkauf. Anders als bei meiner Orange würde man ihn deswegen nicht umbringen oder verhaften und nach Anderswo schicken. Wahrscheinlich hatte der Verkäufer ihm sogar erlaubt, sich eine zu nehmen.

»Mehrjährig bedeutet, dass sie eingepflanzt Jahr für Jahr weiterwachsen.« Er legte die Blume auf meine Handfläche und strich zart mit seinen Lippen über meine. »Sie gibt nie auf, genau wie jemand, den ich kenne.«

Ich küsste ihn zurück und zwang mich, mich etwas zu entspannen. »Danke. Es ist wunderschön.« Ich roch an dem Veilchen, aber falls es nach etwas duftete, ging das in all den Gerüchen um uns herum unter.

Trotz des kühlen Herbsttages war es auf dem Markt drückend heiß. Die vielen aneinandergedrängten Leute verursachten einen Gestank nach brutzelndem Fleisch, frischem Obst und Hunderten anderer Dinge, die die Verkäufer an den Mann bringen wollten. Sonst fiel mir das kaum auf, doch heute drehte sich mir der Magen um.

»Wir müssen los.« Ich schloss die Finger zum Schutz um die Blume. Die Orange in der anderen Hand schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden, und bestimmt würde es nicht lange dauern, bis uns jemand bemerkte. Benjy ragte aus der Menge heraus.

Er blickte auf die Orange, sagte aber nichts, als er mir zum Ausgang folgte und dabei seine Hand auf meinen Rücken legte. Bei seiner Berührung verspannte ich mich, weil ich damit rechnete, dass er mein Haar zur Seite streichen und meine Tätowierung entdecken würde. Bisher hatte er mich noch nicht danach gefragt, aber er würde nicht ewig so rücksichtsvoll sein.

Natürlich hatte ich die Plakate gesehen und die Reden gehört. Das hatten alle. Wir alle hatten unseren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft, und es lag an uns, zu entscheiden, wie dieser aussehen sollte. Fleißig lernen, gute Noten schreiben, so viel lernen wie möglich und beweisen, dass wir etwas Besonderes waren. Und mit siebzehn, wenn wir die Prüfung bestanden hatten, würden wir mit einem guten Job belohnt werden, mit einer schönen Wohnung und mit der Genugtuung, zum Gemeinwohl beizutragen – mit allem, was ein Leben sinnvoll machte.

Und das war es, was ich immer gewollt hatte: mich selbst zu beweisen, zu beweisen, dass ich mehr war als ein Extra. Zu beweisen, dass ich es verdient hatte, zu existieren, obwohl ich als zweites Kind geboren worden war. Zu beweisen, dass die Regierung keinen Fehler gemacht hatte, als sie mich nicht nach Anderswo geschickt hatte.

Jetzt hatte ich meine Chance gehabt und noch nicht einmal eine durchschnittliche IV erreicht. Anstatt das sinnvolle Leben zu führen, das man mir von Anfang an versprochen hatte, hatte ich es gerade einmal zu einer III geschafft. Nichts an mir war besonders – ich war nur ein weiterer Extra, der eigentlich nie hätte geboren werden dürfen.

Ich war Abfall.

Sosehr ich die Regierung für meine III auch hassen wollte, niemand außer mir konnte etwas dafür. Und das war das Schlimmste. Jeder bekam dieselbe Chance, und ich hatte meine in den Sand gesetzt. Jetzt musste ich mit der Scham leben, den permanenten Beweis meines Unvermögens als Tätowierung für jeden sichtbar in meinem Nacken zu tragen, und ich wusste nicht, ob ich damit leben konnte.

Benjy und ich hatten schon fast den Ausgang erreicht, als ein dürrer Mann in grauer Shields-Uniform vor mich trat und mit ausgestrecktem Arm nach meiner Beute verlangte.

»Die habe ich auf dem Boden gefunden«, log ich, als ich ihm die Orange überreichte. »Ich wollte sie dem Händler gerade zurückgeben.«

»Aber natürlich«, sagte der Shield. Er ließ seinen Finger kreisen, als Zeichen, dass ich mich umdrehen sollte.

Benjy ließ seine Hand sinken, und die weiß glühende Panik, die in mir aufstieg, drängte mich dazu, wegzurennen. Doch wenn ich abhauen würde, würde er dafür vielleicht Benjy die Schuld geben, und im Moment wollte ich nur noch, dass meine dumme Entscheidung nicht auch noch ihn in Schwierigkeiten brachte. Benjy wurde erst in einem Monat siebzehn, und bis dahin würde man ihn nicht für seine Taten verantwortlich machen. Hatte man mich bis zu diesem Morgen auch nicht.

Schließlich drehte ich mich um und strich mir mein schmutziges blondes Haar aus dem Nacken. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich die Markierung oder den sie umgebenden entzündeten roten Fleck nicht verbergen können. Die Stelle schmerzte noch immer von der Nadel, mit der man meinen Rang in meine Haut geätzt hatte.

Benjy versteifte sich, als er meine III sah. Und ich starrte mit vor Scham brennendem Gesicht geradeaus. Ich hatte ihn enttäuscht. Ich hatte uns beide enttäuscht. Und nun würde sich alles ändern.

Der Mann drückte seine Fingerspitzen auf die Markierung und tastete über die drei darunter liegenden Erhebungen, die bewiesen, dass nicht an ihr herummanipuliert worden war. Zufrieden ließ er die Hand sinken. »Sagt sie die Wahrheit?«, fragte er, und Benjy nickte, ohne zu zögern.

»Ja, Sir. Wir waren gerade auf dem Weg zum Stand.« Benjy drehte sich um, um ihm einen Blick auf seinen noch nicht gekennzeichneten Nacken zu ermöglichen. »Wir wollen uns nur ein bisschen umsehen.«

Der Shield grunzte, warf die Orange in die Luft und fing sie wieder auf.

Ich blickte finster. Würde er mich gehen lassen oder auf die Knie zwingen, um mich zu erschießen? Weniger als einen Meter von uns entfernt war noch immer das getrocknete Blut eines anderen Diebes auf dem Boden zu sehen. Ich schaute weg. Vielleicht würde er mich stattdessen auch nach Anderswo schicken, was ich aber bezweifelte. Der Mistkerl sah ziemlich schießwütig aus.

»Ich verstehe.« Er beugte sich vor, und als ich seinen sauren Atem roch, rümpfte ich die Nase. »Wusstest du, dass deine Augen dieselbe Farbe haben wie die von Lila Hart?«

Ich biss die Zähne zusammen. Lila Hart, die Nichte des Premierministers, war so beliebt, dass kaum eine Woche verging, ohne dass mich jemand darauf aufmerksam machte, wie sehr sich unsere ungewöhnlich blauen Augen ähnelten.

»Nein«, stieß ich hervor. »Das habe ich noch nie in meinem Leben gehört.«

Der Shield richtete sich auf. »Wie ist dein Name?«

»Kitty Doe.«

»Doe?« Er musterte uns beide. »Ihr seid Extras?«

»Ja«, antwortete ich und versuchte, nicht zu bissig zu klingen. Denn niemand mit einem Fünkchen Verstand sprach so mit einem Shield, aber nach allem, was an diesem Morgen geschehen war, gelang es mir einfach nicht, ihm den Hintern zu küssen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Benjy die Stirn runzelte, und ich konnte seine stumme Frage fast hören. Was tust du da bloß?

Ganz idiotisch mein Leben riskieren, das tue ich.

Der Shield strich über seine Pistole. »Rühr dich nicht vom Fleck. Eine Bewegung und ich töte dich, kapiert?«

Ich nickte stumm. Doch kaum hatte er sich abgewandt, stieß Benjy mich mit dem Ellbogen an, und unsere Blicke trafen sich.

Ohne zu zögern, rasten wir los.

Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge und jagten durch die Tore hinaus auf die feuchte Straße. Dort sprinteten wir zwischen den alten Gebäuden hindurch und gingen in Gassen in Deckung, und als wir an einem verblassten Wandbild von Premierminister Hart vorbeikamen, der wohlwollend auf uns herablächelte, hätte ich am liebsten darauf gespuckt.

Nachdem wir durch ein Labyrinth aus Seitenstraßen gerannt waren, erreichten wir die Grenze der Heights, dem östlichsten Vorort des District of Columbia. Und dem ärmsten. Ich hielt nach Zweien Ausschau, die diese Gegend beherrschten, nach jemandem, der bereit wäre, uns für einen frischen Laib Brot zu verpfeifen, aber tagsüber arbeiteten alle an den Docks oder in den Fabriken, und so lag die Straße verlassen vor uns.

Am Ende eines jeden Arbeitstages strömten Erwachsene und Kinder in die Straßen und bettelten um Essen. Sonst musste ich mich hier auf dem Gehweg immer mit den Ellbogen zwischen Männern und Frauen hindurchdrängen, die höchstens zwanzig Jahre älter waren als ich, aber deren Haar bereits grau und deren Haut ledrig war – das Ergebnis jahrzehntelanger schwerer Arbeit und des ständigen Überlebenskampfes. Mein Leben würde nicht viel besser verlaufen. Als Vier hätte ich davon ausgehen können, sechzig zu werden. Jetzt, als eine Drei, konnte ich mich glücklich schätzen, die Vierzig zu erreichen. Wenn ich nicht aufpassen würde, würde auch ich auf der Straße landen, um nach mehr zu betteln, als ich nach Ansicht der Regierung wert war.

Als wir um eine Ecke rasten, entdeckte ich in ein paar Metern Entfernung einen Kanaleingang und seufzte erleichtert auf. Wir waren in Sicherheit.

Ich schlüpfte durch die Öffnung an der Kante des Gehwegs, und eine Minute später kletterte Benjy einen nahe gelegenen Schacht zu mir herunter. Der Kanal war dunkel und roch nach Rost und Fäulnis, doch dies war der einzige Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten konnten. Selbst auf den leeren Straßen wären wir nicht sicher gewesen. Shields lauerten einfach überall darauf, sich in dem Moment auf einen zu stürzen, in dem man etwas gegen die Harts oder die Minister der Union sagte. Laut Nina, der Hausmutter unseres Gruppenheims, bekamen sie für jede Verhaftung einen Bonus, und auch sie mussten ihre Familien ernähren. Was nicht hieß, dass ich sie deswegen weniger hasste.

An diesem Morgen, bevor ich gegangen war, hatte sie noch gesagt, dass wir alle unsere Rollen zu spielen hätten. Durch Zufall waren einige eben besser als andere. Nicht alle konnten eine Sechs oder eine Sieben sein, und das Beste, auf das wir hoffen konnten, war ein Essen in unseren Bäuchen und eine eigene Unterkunft. Ein Dach über dem Kopf stellte die Regierung zumindest sicher. Doch jetzt, als Drei, könnte ich von Glück reden, wenn es nicht undicht war.

In den Reden, die wir von der ersten Klasse an zu sehen bekamen, versprach uns Premierminister Daxton Hart, dass wir als privilegierte amerikanische Bürger ein Leben lang versorgt wären, solange wir der Gesellschaft, die uns brauchte, etwas zurückgaben. Wenn wir hart arbeiten und unser Bestes geben würden, würden wir auch bekommen, was uns zustand. Wir waren unseres Schicksals eigener Schmied.

Bis heute hatte ich ihm geglaubt.

»Was hast du da eben gemacht?«, fragte Benjy. »Du hättest getötet werden können.«

»Darum ging es auch irgendwie«, murmelte ich. »Immer noch besser, als für den Rest meines Lebens eine Drei zu sein.«

Seufzend streckte Benjy die Hand nach mir aus, aber ich wich zur Seite. Seine Enttäuschung konnte ich nicht auch noch ertragen.

Er ließ die Schultern sinken. »Ich verstehe das nicht … achtundsechzig Prozent sind nach der Prüfung eine Vier.«

»Ja, nun, dann schätze ich mal, dass ich dümmer bin als achtundsechzig Prozent der Bevölkerung.« Ich trat in eine Pfütze mit gammligem Regenwasser und spritzte ein paar Ratten voll, die protestierend quiekten.

»Eigentlich vierundachtzig Prozent, wenn man die Fünfen und die darüber mitrechnet«, sagte Benjy und fügte dann hastig hinzu: »Aber das bist du nicht. Ich meine, du bist klug. Und das weißt du. Du hast eben einen Shield überlistet.«

»Das war nicht klug, sondern leichtsinnig. Ich habe ihm meinen richtigen Namen verraten.«

»Weil du keine andere Wahl hattest. Wäre er dahintergekommen, dass du lügst, hätte er dich mit Sicherheit getötet«, sagte Benjy. Er blieb stehen, nahm mein Kinn in seine Hand und sah mich an. »Es ist mir egal, was die Prüfung behauptet. Du bist einer der klügsten Menschen, die ich kenne, verstanden?«

»Aber nicht in dem Sinne, der zählt.«

Nicht so wie Benjy. Er las alles, was er in die Finger bekam, und zwang mich, jeden Abend mit ihm Nachrichten zu schauen. Als wir neun Jahre alt gewesen waren, hatte er die gesamte Hausbibliothek bereits zweimal durchgelesen. Ich konnte, Sekunden nachdem er sie mir vorgelesen hatte, ganze Artikel wiedergeben, doch selbst lesen konnte ich sie nicht.

»Nina hat sich geirrt«, fügte ich hinzu. »Man bekommt keine zusätzliche Zeit, wenn einem die Fragen vorgelesen werden. Die Aufgaben waren einfach, aber der Vorleser war langsam, und deswegen bin ich nicht fertig geworden. Und sie haben mir Punkte abgezogen, weil ich nicht lesen kann.«

Benjy öffnete und schloss den Mund. »Du hättest es mir sagen sollen, bevor wir das Prüfungszentrum verlassen haben«, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Du hättest sowieso nichts tun können.« Ich hatte einen Kloß im Hals und musste schwer schlucken. Alles Lernen, die Vorbereitung, die Hoffnung – alles war umsonst gewesen. »Ich bin eine Drei. Ich bin eine dumme, wertlose …«

»Du bist nicht wertlos.« Benjy trat näher, so nah, dass ich die Hitze spüren konnte, die von seinem Körper ausging. Er legte die Arme um mich, und ich presste mein Gesicht an seine Brust, weigerte mich aber, zu weinen. »Du bist stark. Du bist brillant. Du bist perfekt, genau so wie du bist, und egal was passiert, ich werde immer bei dir sein, okay?«

»Ohne mich wärst du besser dran, und das weißt du auch«, murmelte ich in seinen Pullover.

Er entzog sich mir so weit, dass er mich mit seinen blauen Augen ansehen konnte. Nach einem langen Moment beugte er sich vor, um mich wieder zu küssen, dieses Mal länger. »Ohne dich bin ich niemals besser dran«, sagte er. »Wir stecken da gemeinsam drin. Ich liebe dich, und das wird sich nie ändern, verstanden? Ich gehöre zu dir, egal welchen Rang du hast. Du könntest eine Eins sein, und ich würde nach Anderswo gehen, nur um mit dir zusammen zu sein.«

Ich versuchte zu lachen, aber es kam nur ein erstickter Schluchzer dabei heraus. Rang Eins wurde nur denen gegeben, die nicht arbeiten oder sonst etwas zum Gemeinwohl beitragen konnten, und sobald sie einmal nach Anderswo geschickt worden waren, sah man sie nicht wieder. »Wenn ich eine Eins wäre, hätten wir uns wahrscheinlich nie kennengelernt.«

»Egal.« Er fuhr mit den Fingern durch mein Haar. »Ich würde trotzdem wissen, dass etwas fehlt. Ich würde wissen, dass mein Leben keinen Sinn hat, auch wenn ich nie ganz begreifen würde, wieso. Selbst wenn wir uns nie getroffen hätten, selbst wenn du nie existiert hättest, würde ich dich ohne jeden Grund für den Rest meines Lebens lieben.«

Ich küsste ihn mit all der Frustration und Wut, die sich in mir aufgestaut hatte. Die Kanalisation war nicht gerade der romantischste Ort, aber mit Benjy bei mir war es mir egal. Er verstand mich. Er verstand mich immer, und in diesem Moment brauchte ich ihn mehr, als ich sagen konnte. Die Regierung glaubte vielleicht nicht, dass ich etwas wert war, aber Benjy war ich etwas wert, und das allein war es, was zählte.

Irgendwann löste ich mich von ihm und räusperte mich. Der Kloß war weg. »Du jedenfalls wirst kein Problem mit der Prüfung haben«, versprach ich ihm. »Du wirst früher fertig sein und trotzdem eine VI bekommen.«

»Wenn du keine VI bekommen hast, dann habe ich erst recht keine Chance«, sagte Benjy.

Ich schnaubte. »Von wegen. Eines Tages werden wir alle vor dir katzbuckeln und dich Minister nennen.«

Wenn jemand aus unserem Gruppenheim eine VI erhalten würde, den höchsten Rang für einen Bürger, dann Benjy. Die Prüfung war nicht auf meine Art von Intelligenz zugeschnitten, aber ganz und gar auf seine.

Er schlang einen Arm um meine Taille und schob mich weiter durch die Kanalisation, widersprach aber nicht. Sogar er wusste, wie klug er war. »Wurde dir eine Aufgabe zugeteilt?«

»Kläranlagenwartung.«

»Das ist nicht so schlecht. Wir sind sowieso die ganze Zeit hier unten«, sagte er und schob seine Hand unter den Saum meiner Bluse.

Ich schob sie weg. »In Denver.«

Benjy sagte nichts. Denver war so weit weg, dass keiner von uns wusste, wo es lag. Wahrscheinlich irgendwo im Westen, denn östlich von D. C. gab es nur den Ozean, aber ich hatte auch noch nie eine Karte von etwas Größerem als der Stadt gesehen. Das einzig Positive war, dass Denver unmöglich so überfüllt sein konnte wie diese Stadt.

»Ich werde mit Tabs reden«, sagte ich.

Benjy blieb wie angewurzelt stehen. »Nein. Warte, bis ich meine Prüfung hinter mir habe. Nina lässt dich sicher weiter im Gruppenheim wohnen, und dann kann ich dir helfen.«

»Nina würde meinetwegen keinen Auftragsbetrug begehen, und das würde ich auch gar nicht zulassen«, sagte ich. »Wenn herauskommt, dass du mich versteckst, schicken sie mich nach Anderswo und richten dich öffentlich hin. Also nein.«

»Dann kann Nina mir die Erlaubnis geben, zu heiraten«, sagte er.

Mein Mund klappte auf. »Bist du verrückt?«

»Nein. Ich liebe dich und werde nicht zulassen, dass man uns trennt. Wenn das bedeutet, früher zu heiraten, als ich vorhatte, dann ist es eben so.« Er hielt inne. »Willst du mich denn nicht heiraten?«

»Natürlich will ich dich heiraten, aber du hast noch nicht einmal die Prüfung gemacht. Und was, wenn die Ehe mit einer Drei deinen Rang beeinflusst? Das kann ich dir nicht antun, Benjy. Du hast etwas Besseres verdient.«

»Was habe ich denn verdient, Kitty? Dich zu verlieren? Die Konsequenzen sind mir egal.«

Wenigstens redete er sich nicht ein, dass es keine geben würde. »Du würdest es nie zulassen, dass ich für dich so viel riskiere, und ich kann das auch nicht zulassen.« Ich musste mich anstrengen, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich habe meine Entscheidung getroffen.«

»Kitty.« Er hob den Arm, um mich am Sprechen zu hindern, und als ich an ihm vorbeigehen wollte, legte er ihn wieder um meine Taille und zog mich näher zu sich heran. »Ich lasse nicht zu, dass du dir das selbst antust.«

Ich versuchte, ihn wegzustoßen, aber sein Griff wurde nur fester. »Ich bin es, die für ihren Lebensunterhalt Scheiße schippen muss, nicht du. Du hast hier kein Mitspracherecht.«

»Wir könnten weglaufen«, sagte er. »Wir könnten irgendwohin gehen, wo es warm ist. Wir hätten unsere eigene Hütte und würden unser Essen selbst anbauen …«

»Keiner von uns kennt sich mit Landwirtschaft aus. Außerdem, wenn es so einen Ort gäbe, hätten die Harts ihn schon längst für sich beansprucht.«

»Das kannst du nicht wissen. Es gibt Hoffnung, Kitty. Es gibt immer Hoffnung. Bitte«, sagte er leise. »Tu’s für mich.«

So wie er mich ansah, stumm darum bettelte, dass ich Ja sagte, hätte ich fast meine Meinung geändert, aber das konnte ich ihm einfach nicht antun. Weglaufen hieße, dass er seine Prüfung verpassen würde, und keine Note bedeutete so viel wie eine I.

Ich hatte zwar versagt, aber er hatte noch immer gute Chancen, und ich konnte nicht zulassen, dass er sein Leben für mich wegwarf.

»Es tut mir leid«, sagte ich.

Er verzog das Gesicht, drehte sich um und ließ seinen Arm wieder sinken. Kälte sickerte da ein, wo er mich kurz zuvor noch berührt hatte, und mir wurde das Herz schwer. Ich hätte alles dafür getan, ihn glücklich zu machen, aber wegen meiner dummen III verletzte ich ihn, egal was ich tat. Doch zumindest war so ich es, die alles riskierte, und nicht er.

Alles in mir schrie mich an, mit ihm wegzulaufen und D. C. so weit wie möglich hinter uns zu lassen, aber als wir die Leiter des Schachts hinaufkletterten, der auf eine Straße führte, die einen halben Block vom Gruppenheim entfernt lag, wusste ich zwei Dinge sicher: Benjy würde den ganzen Nachmittag lang versuchen, mich zu überreden, nicht mit Tabs mitzugehen, und ich würde es trotzdem tun.

Nina wartete mit einem Teigspatel in der Hand in der Küche unseres Gruppenheims auf uns. So früh am Tag waren alle anderen noch in der Schule – alle außer mir, da ich jetzt siebzehn war, und außer Benjy, der den heutigen Tag um nichts auf der Welt verpasst hätte. Nina für uns allein zu haben, war ein seltenes Vergnügen, doch ich wollte gerade eigentlich nichts anderes tun, als in mein Bett zu klettern und mich zu verstecken.

»Wie ist es gelaufen?«, zwitscherte sie, aber ihr Lächeln erstarb, als sie Benjy sah. Sie sah mich fragend an, und ich starrte zu Boden und fühlte mich jetzt sogar noch schlechter als in dem Moment, als ich meine Ergebnisse erhalten hatte. Nina war die einzige Mutter, die ich je gekannt hatte, und obwohl sie ihre Aufmerksamkeit auf vierzig von uns verteilen musste, schien sie immer Zeit für mich zu haben. Das Letzte, was ich wollte, war, sie zu enttäuschen.

»Sie haben mir keine zusätzliche Zeit gegeben«, sagte ich schließlich.

Ohne ein weiteres Wort reichte sie Benjy den Teigspatel und nahm mich in den Arm. Alles, was ich tun konnte, war, mein Gesicht in ihr Haar zu drücken und ein Schluchzen zu unterdrücken, das zu entkommen versuchte, seit die Nadel meine Haut berührt hatte.

»Ist schon gut«, murmelte sie. »Es ist zwar nicht das, was du dir erhofft hast, aber du hast noch dein ganzes Leben vor dir, und es kommen gute Dinge auf dich zu.«

Sie strich mit den Fingern über meinen Nacken, um meinen Rang zu erfahren, und ich zuckte zusammen. Seufzend hielt Nina mich ein wenig fester, aber ich wusste, was sie dachte: Zumindest keine II. Wenigstens war ich eine Arbeit wert, bei der ich nicht mein Leben riskierte und die mir genug Essen bescherte, um nicht zu verhungern.

Doch war ich dumm genug gewesen, mir mehr zu erhoffen, als für den Rest meines Lebens in der Kanalisation zu schuften, und die Schmerzen in meiner Brust waren nun der Preis, den ich dafür zahlen musste.

Bis heute hatte ich das Rangsystem nie infrage gestellt. Es war dazu da, uns das zu geben, was wir verdienten, damit wir das Beste aus unseren angeborenen Fähigkeiten machen konnten. Die klügsten Mitglieder der Gesellschaft halfen den Menschen auf eine Weise, wie es die Zweien und Dreien nicht konnten, deswegen verdienten sie auch mehr. Das war nur fair, und ohne die Prüfung würde vielleicht niemals das Talent eines Menschen bemerkt werden, der in einer benachteiligten Familie aufgewachsen war. Auf diese Weise würde niemand durch das Raster fallen. Niemand, der eine VI verdiente, musste die trostlose Existenz einer II führen, und wenn jemand mit seinem Rang nicht zufrieden war, konnte er nur sich selbst die Schuld dafür geben.

Benjy hatte allerdings recht. Ich war nicht dumm. Ich konnte komplizierte mathematische Aufgaben im Kopf lösen, Geschichten und Gedichte rezitieren und interpretieren – was ich allerdings nicht konnte, war, einen Sinn in Buchstaben zu erkennen. Wenn die Prüferin sich die Mühe gemacht hätte, mit mir zu reden, hätte sie das erkannt. Vielleicht hatte ich keine VI verdient, aber die wollte ich sowieso nicht. Alles, was ich wollte, war, zu beweisen, dass ich nicht nutzlos war.

Ein langer Moment verstrich, bevor Benjy das Schweigen brach. »Sie schicken sie nach Denver.«

Nina ließ mich los. »Aber dafür musst du ja durchs halbe Land reisen«, meinte sie fassungslos.

Mit anderen Worten: Ich würde Benjy nie wieder sehen, wenn ich in den Zug stieg. Das verstärkte meine Entschlossenheit nur noch.

»Tabs kommt heute Nachmittag vorbei.« Ich räusperte mich. »Ich werde mit ihr reden.«

Ein Muskel in Benjys Kiefer zuckte. »Ich kann das nicht«, sagte er und starrte auf eine Stelle auf dem Boden. »Wenn du deine Meinung noch änderst, weißt du ja, wo du mich findest.«

Er legte den Teigspatel auf die Küchentheke und ging. Das sanfte Klicken der Küchentür ließ mich zusammenzucken. Ich starrte sie an, als könnte ich ihn so zwingen, zurückzukommen, aber die Tür blieb geschlossen.

»Er wird sich schon wieder beruhigen«, sagte Nina und fing wieder an, in ihrer Schüssel zu rühren. »Mach dir keine Sorgen.«

»Ich hoffe, er tut es nicht«, murmelte ich. »Es wäre besser für ihn.«

»Hör auf«, sagte sie. »Du musst dich darauf konzentrieren, was du jetzt machst, und nicht darauf, wie Benjy sich fühlt.«

»Ich werde mit Tabs mitgehen«, sagte ich und hockte mich auf den Rand der abgenutzten Arbeitsplatte. »Es ist kein schlechtes Leben, und ihr scheint es zu gefallen.«

»Tabs ist Tabs. Zu ihr mag dieses Leben passen, aber du bist für so was nicht gemacht. Und lass dich nicht von ihr täuschen – es ist ein schweres Leben. Es mag seine Vorteile haben, aber was man dafür aufgeben muss … das ist es nicht wert. Nicht für dich.«

»Was weißt du denn schon davon?«, fragte ich und versuchte, einen Apfel aus der Obstschale zu stibitzen.

Sie schlug meine Hand weg. »Ich weiß zumindest ganz sicher, dass du besser nach Denver gehen solltest, als mit fremden Männern zu schlafen.«

Mein Magen krampfte sich unangenehm zusammen. »Tabs sagt, dass sie es nicht so oft tun muss. Hauptsächlich geht sie auf Partys und in Clubs und so.«

»Ja? Hat Tabs auch erwähnt, dass sie einen Anteil von deinem Gehalt bekommt, wenn sie dich anwirbt?«

Ich blinzelte. »Das hat sie mir nicht gesagt.«

»Natürlich nicht, Liebes. Und natürlich wird sie so tun, als wäre es ein gutes Leben. Denn das ist nun mal ihr Leben, und sie steckt schon zu tief drin, um es aufzugeben.« Nina berührte meine Wange mit ihren mit Mehl bedeckten Fingern. »Niemand ist mit seinem Schmerz gern allein, Kitty. Vielleicht sagt sie die Wahrheit und es ist meistens gar nicht so schlimm. Aber ab und zu wird es das sein, und diese Männer werden dich nie wie einen Menschen behandeln, nicht so, wie Benjy es tut. Nicht so, wie ich es tue. Du verdienst etwas Besseres als das.«

»Ich verdiene gar nichts«, sagte ich. »Ich bin eine Drei.«

»Du bist mehr als die Tätowierung auf deinem Hals, und das weißt du verdammt gut«, sagte Nina. »Es mag sich wie ein Todesurteil anfühlen, aber du wirst schon noch sehen, dass du, egal mit welchem Rang, ein gutes Leben führen kannst.«

»Du hast leicht reden«, murmelte ich. »Du bist eine Vier.«

»Und sieh mich an.« Sie zeigte um sich. »Das Abendessen für vierzig Kinder zu kochen, die nie genug bekommen. Was für ein großartiges Leben ich doch führe.«

»Ach, bitte. Das gefällt dir doch. Du liebst uns alle.«

»Das stimmt.« Ihre Stimme wurde leiser. »Aber weil ich euch liebe, tut es mir jedes Mal weh, wenn jemand verletzt wird oder enttäuscht ist. Ich verstehe, dass du sauer bist, Kitty. Aber es ist dein Leben und nicht das der Regierung. Du kannst etwas aus dir machen, egal was man dir sagt.«

Ich starrte auf meine Hände und zupfte an einem eingerissenen Nagel. Ich wollte ihr glauben. Wirklich. Doch wie sollte das gehen angesichts dieser Katastrophe? »Benjy wird mich hassen, wenn ich das tue, oder?«

»Ich glaube nicht, dass dieser Junge dich hassen könnte, selbst wenn du ihn töten würdest«, sagte sie. »Wenn du dich allerdings selbst umbringst, dann wahrscheinlich schon.«

Ich runzelte die Stirn. Sie hatte recht. Natürlich hatte sie recht, und das verstärkte das unbehagliche Gefühl in meiner Magengrube nur noch. »Ich habe heute etwas Dummes getan.«

»Dümmer als normalerweise?«, fragte sie mit leicht amüsierter Stimme. Wenigstens fand einer von uns das lustig.

»Ich habe versucht, auf dem Markt eine Orange zu stehlen«, sagte ich. »Ein Shield hat uns erwischt und wir sind weggerannt. Ich habe ihm meinen Namen gesagt, also weiß er, dass ich eine Extra bin.«

Alle Extras – die zweiten Kinder von Vieren und drunter, die eigentlich nur ein Kind haben durften – trugen den Nachnamen Doe. So wie Benjy. Und Tabs. Sogar wie Nina. Und weil die meisten Extras nach Anderswo geschickt wurden, wenn ihre Eltern die Strafe nicht bezahlen konnten, gab es in D. C. nur wenige Gruppenhäuser. Ninas war das einzige im Umkreis von fünf Meilen des Marktes.

»Ich bezweifle, dass er wegen einer Orange den ganzen Weg hierher auf sich nehmen wird.« Sie klopfte mit dem Spatel gegen die Seite der Schale. Das war es, was ich an Nina am meisten mochte: Sie hatte schon alles gehört und war nie überrascht von unseren Geständnissen. »Weißt du, es war einmal so, dass jeder auf einen Markt gehen und kaufen konnte, was er wollte.«

Ich schnaubte. »Märchen beginnen mit ›Es war einmal‹, Nina.«

»Es war auch wie im Märchen, was es aber nicht weniger real machte«, sagte sie und senkte die Schüssel, um mich besser ansehen zu können. »Es ist erschreckend, wie sehr sich die Dinge in einundsiebzig Jahren verändern können.«

»Ja, und in weiteren einundsiebzig Jahren wird man Zweien und Dreien gar keine Jobs mehr geben«, sagte ich. »Sie werden uns durch den Hinterausgang bringen und erschießen.«

»Menschen, die niedere Arbeiten verrichten, werden immer gebraucht werden.« Sie ging an mir vorbei zur Spüle und drückte mir dabei einen Kuss auf die Wange. »Die Harts werden nicht ewig an der Macht sein. Auch sie sind aus Fleisch und Blut, genau wie wir. Die Dinge werden sich ändern.«

»Nicht solange ich lebe.« Mir lief ein Schauer über den Rücken. So über die Harts zu reden, war Hochverrat. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, aber vierzig andere Kinder waren auf Nina angewiesen.

»Die Welt existiert nicht, weil du ihr die Erlaubnis dazu gegeben hast«, entgegnete sie. »Die ganze Zeit geschehen Dinge, von denen du und ich und jeder andere Bürger, der den Medien vertraut, nie etwas erfahren. Dinge, von denen die Harts nicht wollen, dass wir sie wissen.«

»Was zum Beispiel? Wenn etwas Wichtiges passieren würde, würden alle darüber reden.«

»Aber nicht die, die gern noch eine Woche länger leben wollen. Nimm doch nur mal den Tod von Yvonne und Jameson Hart zum Beispiel.«

»Die sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

»Sind sie?«, fragte Nina und zog eine Augenbraue hoch. »Oder ist es nur das, was die Medien behaupten?«

Ich musterte sie. Die Beerdigung der Ehefrau und des ältesten Sohnes des Ministerpräsidenten vor einem Jahr war eine Pflichtveranstaltung gewesen. Zu sehen, wie sich die Harts unter schwarzen Regenschirmen versammelten und dabei zusahen, wie die Särge in die Erde gesenkt wurden, hatte in mir zum ersten und letzten Mal Mitleid mit ihnen ausgelöst. »Willst du damit sagen, dass es kein Autounfall war?«

»Ich sage nur, wenn es so wäre, würden wir es nie erfahren. Aber die Welt da draußen ist groß, und sie weiß, dass echtes Wissen und Freiheit nicht dasselbe sind wie die Illusion davon. Irgendwann wird das hier vorbei sein, und es gibt Leute, die alles dafür tun, dass das besser früher als später passiert.« Sie legte mir die Hände auf die Schultern und sah mir direkt in die Augen. »Hör gut zu, denn ich werde dir das nur einmal sagen. Du hast die Wahl. Du kannst wählen, ob du das schlechte Blatt annehmen willst, das die Harts dir ausgeteilt haben, oder ob du dich zusammenreißt und etwas dagegen unternimmst.«

»Was denn? Rumschreien und protestieren und mich töten lassen? Wäre, verdammt noch mal, ganz bestimmt besser als das hier.«

»Wenn du dich weigerst, die Aufgabe anzunehmen, die die Regierung dir zugeteilt hat, und stattdessen ein Leben im Untergrund führen willst, warum versuchst du dann nicht auch, etwas an den Umständen zu ändern?«

»Ich könnte ja doch nichts tun, damit es besser wird. Meinen Rang habe ich bekommen, und der wird nicht mehr verschwinden.«

»Der bedeutet nur etwas, weil die Harts es so entschieden und wir mitgemacht haben«, sagte sie. »Du bist mehr als die Nummer auf deinem Nacken, Kitty. Vergiss das nie.«

Nie vergessen, dass ich mich mit all dem niemals hätte beschäftigen müssen, wenn ich hundert Jahre früher geboren worden wäre? »Werde ich nicht.«

»Braves Mädchen.« Sie tätschelte mir die Wange. »Ich vertraue darauf, dass du den anderen Kids nichts davon sagst. Nicht einmal Benjy. Auf diese Weise ist es sicherer für ihn, und ich weiß, dass du ihn nicht in Schwierigkeiten bringen willst. Aber du bist jetzt erwachsen, und es war an der Zeit, dass du erfährst, was wirklich vor sich geht. Wenn du etwas Sinnvolles mit deinem Leben anfangen willst, musst du es nur sagen, und ich werde dich mit Leuten in Kontakt bringen, die dir dabei helfen können.«

Ich zögerte. »Wer …«

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ mich zusammenfahren. Nina wischte sich leise fluchend die Hände an ihrer Schürze ab, und die Spannung, die eben noch in der Luft gelegen hatte, löste sich auf. »Wag es ja nicht, irgendetwas anzufassen«, sagte sie und rannte in den Flur.

Kaum war sie um die Ecke gebogen, tauchte ich schon meinen Finger in die Schüssel und steckte mir einen Klumpen Teig in den Mund. Er zerschmolz geradezu auf meiner Zunge, was mich zufrieden aufseufzen und die Schwere unseres Gesprächs einen Moment lang vergessen ließ. Bei meiner letzten Mahlzeit in dem einzigen Zuhause, das ich je gekannt hatte, würde es meine Lieblingskekse geben. Das war eine nette Überraschung. Und alles, was ich heute noch wollte, waren nette Überraschungen und keine mehr, die mich umbringen konnten. Sobald Benjy seine VI hatte und in Sicherheit war, würde ich vielleicht noch einmal mit Nina sprechen. Doch im Moment konnte ich an nichts anderes denken als daran, wie ich den nächsten Monat überstehen sollte.

»Kann ich Ihnen helfen, meine Herren?« Ninas Stimme schwebte durch den Flur und in die Küche, und an ihrem Tonfall erkannte ich, dass sie die Besucher nicht kannte.

»Nina Doe?«, fragte eine gebieterische Stimme.

Leise schlich ich durch die Küche, und als ich um die Ecke spähte, blieb mir ein Keuchen im Hals stecken.

Ein Beamter in Schwarz und Silber stand in der Tür. Und neben ihm, mit einem finsteren Gesichtsausdruck, der Shield vom Markt.

II

DIE AUKTION

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Nina munter.

Ich presste den Rücken gegen die Wand und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Natürlich könnte ich durch die Hintertür abhauen, doch es bestand die Möglichkeit, dass sie Verstärkung mitgebracht hatten. Außerdem war der Zaun zu hoch, um ohne Benjys Hilfe darüber zu klettern, also hätte ich sowieso vorne herumgehen müssen.

Ich saß in der Falle.

»Ma’am, ich bin Colonel Jeremiah Sampson, und ich suche Kitty Doe«, sagte der Beamte.

Ich zwang mich, tief durchzuatmen. Panik würde mir nicht helfen. Es musste doch einen Ort geben, an dem ich mich verstecken konnte.

Mein Blick fiel auf den Schrank unter dem Waschbecken, und ich stürzte darauf zu. Es würde eng werden, doch die Chancen standen nicht schlecht, dass sie dort nicht nach mir suchen würden. Also schlüpfte ich hinein und schloss die Tür, nur Sekunden bevor ich Schritte in der Küche hörte.

»Tut mir leid, aber sie ist nicht hier«, sagte Nina. »Darf ich fragen, worum es geht?«

»Regierungsgeschäfte«, entgegnete der Shield. Er musste nicht konkreter werden. Nina und ich wussten beide, was das bedeutete: Es gab eine Kugel mit meinem Namen darauf. Aber warum war der Beamte in der seltsamen Uniform hier? Sicherlich war der Shield vom Markt selbst in der Lage, abzudrücken.

Die Schritte kamen näher, und ich hielt die Luft an und versuchte, so still zu halten wie nur möglich. Mein Rücken drückte gegen ein Rohr und ich musste mich zusammenrollen, um nicht die Spüle über mir zu berühren. Der chemische Geruch von Reinigungsmitteln drang mir brennend in die Nase, mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb, als wollte es noch so oft wie nur möglich schlagen, bevor es endgültig damit aufhörte.

Die Schritte hielten vor der Spüle inne, und ich zuckte zusammen, als jemand den Wasserhahn aufdrehte.

»Wenn sie nach Hause kommt, richte ich ihr gern aus, dass Sie hier waren.« Ninas Stimme klang durch das Wasserrauschen verzerrt, aber nicht weit entfernt. Offenbar stand sie vor dem Waschbecken und verstellte damit den Blick auf den Schrank. Wusste sie, wo ich mich versteckte?

»Stört es Sie, wenn wir uns umsehen?«, fragte Sampson.

Nina drehte das Wasser ab. »Seit wann fragt ihr Leute um Erlaubnis?«

Ich hörte weitere Schritte, diesmal von der anderen Seite der Küche. »Nina? Was ist hier los?«

Benjy. Mein Körper wurde taub, und ich tastete um mich auf der Suche nach irgendeiner Art von Waffe. Wenn sie ihn anfassten, wenn sie ihn auch nur schief ansahen …

»Diese Männer möchten wissen, wo Kitty ist«, sagte Nina schroff.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Benjy, und seine Schritte wurden lauter, als er sich dem Waschbecken näherte. Ich hörte, wie jemand einen leichten Schlag auf die Hand bekam. Er musste versucht haben, an die Kekse zu kommen. »Wir wurden getrennt.«

»Dreh dich um«, sagte der Shield, und einen schrecklichen Moment lang befürchtete ich, er würde Benjy verhaften. Doch das konnte er gar nicht – Benjy war noch minderjährig.

»Noch genauso unversehrt wie vor einer Stunde«, sagte Benjy. Sein Nacken. Der Shield überprüfte seinen Rang. »Sie wäre nicht so dumm, hierher zurückzukommen. Ich würde Ihnen also empfehlen, am Bahnhof nach ihr zu suchen. Oder vielleicht in den Clubs«, fügte er hinzu. »Darüber denkt sie nämlich auch nach.«

Entsetzt schnappte ich nach Luft. Hasste er die Idee wirklich so sehr, dass er sogar bereit war, mein Leben zu riskieren?

»Sehr gut«, sagte Sampson. »Danke für Ihre Kooperation. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, schauen wir uns um, bevor wir gehen.«

»Aber sicher«, sagte Nina. Die Schritte der Männer entfernten sich aus der Küche und den Flur hinunter, und über mir hörte ich Nina murmeln: »Das ist der höflichste Mistkerl, den ich je getroffen habe. Ist sie hinten?«

Benjy musste den Kopf geschüttelt haben, denn sie seufzte. »Dann können wir nur hoffen, dass sie hier rauskommt, ohne erwischt zu werden.«

Ich verriet ihnen meine Anwesenheit nicht, solange die Männer suchten, denn vielleicht ging etwas vor sich, was ich nicht sehen konnte. Gelegentlich hörte ich ihre Stimmen gedämpft in einem anderen Raum, und wenn es so klang, als kämen sie zurück, erstarrte ich jedes Mal. Doch die Küche durchsuchten sie nicht.

»Miese, hochnäsige Nervensägen«, sagte Nina, nachdem sich die Haustür geöffnet und geschlossen hatte, und ich wusste, dass die Luft rein war. »Versprich mir, dass du, wenn du gekennzeichnet wurdest, nicht zu einem dieser Sechsen wirst, die sich für was Besseres halten.«

»Du meinst, es gibt auch noch andere?«, sagte ich laut und stieß die Schranktür auf.

Benjy stolperte rückwärts, und Nina ließ ihren Spatel auf den Boden fallen.

»Du warst die ganze Zeit da drin?«, fragte Benjy, und ich nickte. »Wie hast du da reingepasst?«

»Ich bin sehr gelenkig«, erklärte ich. »Ich muss hier weg, bevor sie zurückkommen. Tabs meinte, sie würde hier sein, wenn die anderen nach Hause kommen.«

Ich gab Nina einen Kuss auf die Wange und machte mich auf den Weg in einen der beiden großen Räume, in denen die Etagenbetten standen, in denen wir vierzig schliefen. Benjy stürmte hinter mir her, aber ich starrte entschlossen geradeaus.

»Kitty … Kitty. Du hattest das schon vor heute geplant?« Er packte mich am Ellbogen, und ich drehte mich zu ihm um.

»Ja,«, sagte ich hitzig und riss mich von ihm los. »Denn im Gegensatz zu dir haben wir nicht alle ein Superhirn, auf das wir zurückgreifen können.« Ich eilte zu meinem Bett, wo mein halb leerer Seesack auf mich wartete. Ich hatte vorgehabt, damit in irgendeinen besseren Teil der Stadt zu verschwinden. Nicht nach Denver oder gar in den Club, in dem Tabs lebte. Aber ich hatte mich dennoch auch für den schlimmsten Fall gewappnet, auch wenn ich eigentlich geplant hatte, ihr zu sagen, dass ich doch nicht mit ihr mitgehen würde, wenn sie kommen würde, um mich abzuholen. Doch es war ganz anders gekommen als geplant.

»Gut«, rief er und verschwand im Zimmer der Jungs. Eine halbe Minute später tauchte er mit seinem Rucksack wieder in der Tür auf. »Ich komme mit dir.«

Ich warf mein Hemd in den Seesack. »Was willst du dann im Club machen, Benjy?«

»Wir gehen nicht in den Club«, sagte er. »Wir laufen weg.«

»Nein, tun wir nicht. Ich kann nicht zulassen, dass du dir das selbst antust.«

»Ich habe es dir doch schon einmal gesagt. Wenn du nur eine III bekommen hast, dann habe ich erst recht keine Chance.« Er griff nach einem Sweatshirt, das ich mir von ihm geliehen hatte, und stopfte es in seinen Rucksack. »Du bist genauso klug wie ich. Das weißt du genau.«

»Nein, bin ich nicht.« Mein Gesicht brannte, doch ich versuchte, nicht zu weinen. Ich hatte seit Jahren nicht mehr geweint, nicht seit Tabs in den Untergrund gegangen war und wir sechs Monate lang kein Wort von ihr gehört hatten. Als sie dann endlich in unser Leben zurückgekehrt war, hatte ich mich bereits damit abgefunden, dass sie irgendwo tot in einem Graben lag. »Wie auch immer. Du kannst zumindest lesen.«

Bis heute war ich immer ganz gut zurechtgekommen. Benjy hatte jahrelang versucht, mir das Lesen beizubringen, und obwohl ich das Alphabet beherrschte, ergaben Wörter für mich einfach keinen Sinn. Wir waren sieben Jahre alt gewesen, als unser Lehrer mich verspottet hatte, weil ich meinen eigenen Namen nicht schreiben konnte. Benjy hatte Mitleid mit mir gehabt und war seitdem immer für mich da gewesen. Er hatte sogar zwei unterschiedliche Handschriften: seine eigene und die, die er bei meinen Hausaufgaben verwendete, wenn er die Antworten aufschrieb, die ich ihm gab. Aber das hier war nichts, wovor Benjy mich beschützen konnte, egal wie sehr er es auch wollte.

»Komm her«, sagte er, und ich warf mich in seine ausgestreckten Arme. Er fuhr mit den Fingern durch mein Haar und stand schweigend da, während ich mich weigerte, zu weinen. Denn das würde nichts bringen, und Benjy sollte auf keinen Fall wissen, wie erschüttert ich wirklich war. Solange ich vorgab, stark genug für das hier zu sein, konnte ich ihn davon abhalten, eine Dummheit zu begehen.

»Du kannst nicht mit mir gehen. Ich komme schon klar«, sagte ich, meine Stimme gedämpft von seinem Hemd. Ich wünschte, meinen eigenen Worten glauben zu können.

»Ich will lieber dich und keine Markierung haben, als eine Sechs zu sein und dich zu verlieren«, sagte er. »Es ist mir egal, wenn sie uns jagen. Ich lasse nicht zu, dass du mich verlässt.«

Ich atmete zittrig ein. »Bitte tu mir das nicht an. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du dein Leben ruinierst. Du wirst mich nicht verlieren, versprochen. Ich komme dich jeden Tag besuchen, und wenn du siebzehn bist, kannst du die Prüfung machen, und alles wird gut.«

»Du bist meine Freundin«, sagte er grob. »Ich will nicht, dass diese Schweine dich anfassen.«

»Ich finde die Vorstellung auch nicht gerade toll.« Ich strich ihm über den Rücken. »Aber ich kann nicht zulassen, dass Nina die Kids in Gefahr bringt, indem sie mich versteckt, und ich gehe auch nicht nach Denver.«

»Kannst du nicht versuchen, hier eine Aufgabe zugeteilt zu bekommen?«, fragte Benjy.

»Darum habe ich sie gleich nach der Prüfung schon gebeten. Sie sagten … sie sagten, dass Extras aus D. C. mit wenigen Punkten immer in andere Städte geschickt werden. Die Heights sind schon zu überfüllt, und wir haben keine Familie, die uns hier halten würde.«

»Doch, die hast du«, sagte er. »Du hast mich.«

Ich musste schwer schlucken. »Das interessiert sie nicht. Sie meinten, ich hätte Glück, weil ich als Kind nicht nach Anderswo geschickt worden bin, und dass ich nehmen soll, was ich kriegen kann. Ich gehe da nicht hin, Benjy. Ich weiß, du denkst, dass das besser wäre, aber das wäre es nicht. Nicht ohne dich, okay? Und Tabs ist meine einzige Chance.«

Er schob seine Hand unter mein Hemd und malte ein unsichtbares Muster um meinen Bauchnabel. »Es muss einen anderen Weg geben.«

»Wenn dir etwas einfällt, bin ich ganz Ohr.«

Er küsste mich, seine Lippen waren warm, und er schob mich sanft nach hinten Richtung Bett. »Vielleicht, bevor du gehst …«

Ich setzte mich auf die Kante meines Bettes, drückte ihm aber meine Hand gegen die Brust, um ihn auf Abstand zu halten. »Es tut mir leid«, sagte ich leise. »Tabs hat gesagt, sie würden sich besser um mich kümmern, wenn wir noch nicht …« Ich verstummte.

»Ich sollte dein Erster sein.« Benjy setzte sich neben mich und nahm meine Hand.

»Und das wirst du auch.«

»Nein, werde ich nicht. Nicht, wenn du mit Tabs gehst.«

Ich schüttelte den Kopf. »Die anderen zählen nicht. Sie werden nie zählen. Es gibt nur dich, und es wird immer nur dich geben, okay? Du wirst der Erste sein, den ich liebe, und der Einzige, der zählt.«

Er legte seine Stirn an meine und schloss die Augen. »Wenn dir etwas zustößt …«

»Dafür ist der Club ja da«, sagte ich. »Um mich zu beschützen.«

»Bei Tabs haben sie keine besonders gute Arbeit geleistet.«

»Tabs macht nebenbei noch Extrasachen«, log ich. »Und ich komme schon klar. Nur ein Monat, dann ist es vorbei, und dann gibt es für den Rest unseres Lebens nur noch dich und mich, okay? Vielleicht will mich ja auch niemand.«

Benjy sah mich vielsagend an, seine Augen rot umrandet. »Wer dich nicht will, muss verrückt sein.«

Ich küsste ihn noch einmal, diesmal ganz sanft. »Vergiss das jetzt einfach und denk daran, wie es sein wird, eine VI zu bekommen, ja?«

»Ich kann nicht.« Ihm versagte die Stimme. »Es ist mir gegenüber nicht fair, Kitty, und es ist dir gegenüber nicht fair. Ich liebe dich, und daran wird sich nie etwas ändern, aber ich kann hier nicht rumsitzen und nichts tun, während sie … während sie …« Er schüttelte den Kopf, und die Adern an seinem Hals schwollen an. »Das kann ich nicht.«

»Dann tu es nicht.« Meine Brust schnürte sich zusammen. »Wenn es so leichter ist …«

»Nichts wird es leichter machen. Du hast keine Ahnung, worauf du dich da einlässt.«

»Ich weiß«, flüsterte ich. »Aber ich muss es tun. Und wenn es vorbei ist, haben wir genug gespart, um hier zu verschwinden. Hinzugehen, wohin wir wollen. Du wirst aus den besten Aufgaben frei wählen können, und wir müssen uns nie wieder Sorgen machen. Bis dahin …« Mein Mund wurde trocken und ich festigte den Griff um seine Hand. »Bis dahin sollten wir uns trennen.«

Benjy versteifte sich, aber er sagte kein Wort. Das musste er auch nicht.

»Du hast recht«, murmelte ich. »Du verdienst etwas Besseres als das. Etwas Besseres, als mich als Freundin zu haben. Etwas Besseres, als dass ich dein Leben ruiniere. Also treffen wir uns nicht mehr. Nicht, bis es vorbei ist. Wenn du eine VI bist und mich noch willst …«

»Ich werde dich immer wollen«, sagte er, und er sah mich an, das Gesicht rot und seine Augen voller Tränen. »Ich werde dich immer wollen, egal welchen Rang ich bekomme, egal welchen Rang du hast, und egal, was du tun musst, um zu überleben.«

Ich zog seine Hand an meine Lippen und küsste seine Knöchel. »Wenn du eine VI bist, kannst du dich für mich entscheiden. Aber du verdienst es, diese Wahl treffen zu können. Also … lasse ich sie dir.«

»Indem du mit mir Schluss machst.«

Das war keine Frage, aber ich nickte trotzdem. »Bis du deinen Rang bekommen hast. Und dann kannst du dir aussuchen, welche Art von Leben du führen willst. Wenigstens einer von uns sollte das tun dürfen.«

Er ließ die Schultern sinken und lehnte sich zu mir. »Kitty …«

Ein scharfes Klopfen an der Vordertür ließ uns zusammenfahren. Sie waren zurück.

Benjy und ich wechselten einen Blick. Ohne ein Wort zu verlieren, stand er auf, um einen Stuhl unter den Türknauf zu schieben, während ich meinen Seesack packte und ein Etagenbett hinaufkletterte, um das nächstbeste Fenster zu erreichen. Mit etwas Glück hatten sie nicht das ganze Haus umstellt. Wenn doch …

»Tabs!« Ninas Stimme drang durch die dünnen Wände. Ich entspannte mich, sprang vom Bett herunter und landete mit einem Plumps auf dem Boden.

»Sie ist da.« Ich versuchte, um Benjy herum nach dem Türknauf zu greifen. »Ich muss gehen.«

Er rührte sich nicht. Ich versuchte es noch einmal, und er rührte sich immer noch nicht. »Bitte, Benjy … das ist die einzige Möglichkeit«, sagte ich. »Es geht doch nur um einen Monat, und danach wird alles besser.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, murmelte er, die Arme fest vor der Brust verschränkt.

»Kann ich nicht, aber es ist auf jeden Fall besser, als nach Denver zu gehen und dich für immer zu verlieren. Bitte.«

Ich legte meine Hand auf seine und flehte ihn schweigend an, mich vorbeizulassen. Ich wollte das nicht. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich nun eine Vier, und alles wäre in Ordnung. Aber ich hatte eine einzige Prüfung nicht bestanden – die einzige Prüfung, die zählte –, und jetzt musste ich mich den Konsequenzen stellen. Und Benjy auch, weil er mich liebte.

Zuerst reagierte er nicht. Nach ein paar Sekunden jedoch gab er nach und nahm mich in den Arm. »Komm morgen zu mir«, sagte er. »Warte vor der Schule auf mich, dann gehen wir zum Strand. Wir können schwimmen gehen und den Sonnenuntergang betrachten und vergessen, was passiert ist. Versprich es mir.«

Ich nickte. Wenn ich nicht käme, würde er sowieso versuchen, mich ausfindig zu machen, und Tabs mit ihrem losen Mundwerk wäre wahrscheinlich mehr als bereit, ihm genau zu sagen, wo ich war. »Das werde ich. Ich liebe dich.«

Endlich trat er zur Seite. Ich gab ihm einen intensiven Kuss, streichelte seinen zusammengepressten Kiefer und verschwand, bevor er sich verabschieden konnte.

Die Nachtluft auf meiner nackten Haut fühlte sich kühl an, als ich Tabs durch eine Gasse voller überquellender Mülleimer und anzüglich grinsender Männer folgte. Jetzt, da ich gekennzeichnet war, durfte ich nach Einbruch der Dunkelheit das Haus verlassen, und es herrschte eine angespannte Atmosphäre, die mich verunsicherte.

Shields patrouillierten auf den Straßen und musterten jeden, der vorbeikam. Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet, das Gesicht hinter meinen Haaren verborgen, während Tabs auf ihren Stöckelschuhen balancierend vor mir herging, die ihre nackten Beine länger wirken ließen, die bis zu dem kurzen Rock reichten, in den sie sich gezwängt hatte. Ich war ähnlich gekleidet, aber da ich fünfzehn Zentimeter kleiner war als sie, reichte mir mein Rock bis zur Mitte meiner Schenkel. Sie trug roten Lippenstift und Kajal, der ihre Augen betonte, aber ich hatte mich geweigert, mich von ihr schminken zu lassen. Ihr lockiges dunkles Haar war so lang, dass es fast ihren Rock berührte. Ich hatte mich gekämmt, mehr aber auch nicht.

»Ist das nachts immer so?«, fragte ich leise, als wir an einem weiteren Shield vorbeikamen, der seine Hand auf dem Pistolenhalfter ruhen ließ. »So viele Shields und alles?«

»Manchmal«, sagte sie achselzuckend. »Die Leute trinken zu viel und werden dann aggressiv. An den Wochenenden ist es richtig schlimm.«

»Heute ist Dienstag.«

»Was auch immer.« Sie sah mich an. »Du und Benjy, ihr habt es nicht getan, als eine Art versauter Abschied, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe mit ihm Schluss gemacht.«

»Gut. Es ist leichter, wenn einem kein wütender Freund im Weg steht.« Sie blieb vor einer Tür stehen und klopfte viermal. In diesem Moment musste sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn sie zog mich in ihre Arme. »Es wird alles gut, Kitty. Beim ersten Mal ist es beängstigend, aber eigentlich ist wirklich nichts dabei. Du hast doch keine Angst, dass er dir nicht verzeiht, oder? Denn das wird er. Es ist schließlich Benjy.«

Bevor ich antworten konnte, ging die Tür auf, und vor mir stand ein Mann mit spitzem Kinn. Sein Blick fiel auf Tabs Kurven, die sie so großzügig zur Schau stellte, und als er sich dann auf mich konzentrierte, musste ich mich zusammenreißen, ihn nicht böse anzufunkeln.

»Hey, Tabs. Wer ist deine Freundin?«

»Frischfleisch.« Sie warf ihm ein fröhliches Lächeln zu. »Lässt du uns rein? Marion erwartet uns.«

Er blickte über unsere Schultern, zweifellos um nach Shields Ausschau zu halten, und trat dann zur Seite. Tabs ergriff meinen Ellbogen, als wir in einen schmalen Flur traten. Dann schlug die Tür hinter uns zu. »Willkommen im Red Star Inn«, sagte der Mann grinsend und enthüllte dabei eine Zahnlücke. Ich wandte meinen Blick ab, als Tabs mich an ihm vorbeizog.

Als eine Vier war Tabs eine ganz normale Aufgabe zugeteilt und die Möglichkeit zu einem ganz normalen Leben gegeben worden. Doch Tabs war alles andere als normal und hatte sich stattdessen für das hier entschieden.

Für diesen Job musste man sich nicht bewerben. Jeder, der mutig genug war, konnte sich einen Platz in einem der Clubs ergattern, die es überall in der Stadt gab, und obwohl es höchst illegal war, wusste jeder, dass die Sechsen, die an der Spitze der Gesellschaft standen, diese Orte aufsuchten. Deswegen waren es auch sichere Arbeitsplätze, egal wie viele Gesetze dagegen verabschiedet worden waren. Zumindest so lange, bis man zu alt für sie wurde. Was danach geschah, wusste ich nicht, aber das Einzige, was für mich zählte, war, in den Heights zu bleiben, bis Benjy siebzehn war.

Tabs stellte mich Marion vor, einer anmutigen Frau, die das hier auch irgendwann getan haben musste, aber erfolgreich genug gewesen war, um ihren eigenen Club zu eröffnen. Sie führte mich in eine enge Garderobe und forderte mich mit einer Geste ihrer Hand dazu auf, mich zu setzen.

»Eine III, hm?« Sie durchwühlte den Kleiderständer, der an einer Wand stand. »Bestimmt hast du dir eine VI gewünscht.«

»Für eine VI eigne ich mich nicht gerade«, murmelte ich. »Eine IV wäre aber schön gewesen.«

»Wir alle wollen etwas sein, was wir nicht sind, oder?« Sie zog etwas Lilafarbenes von der Stange und zeigte es mir. Ich rümpfte die Nase. Ein Bikini bestand aus mehr Stoff. Marion hängte es zurück. »Es hat keinen Sinn, dagegen anzukämpfen, wer du bist. Du musst dich damit abfinden. Wir alle haben unseren Platz in der Welt, und sich darüber zu beklagen, ist nur eine Fahrkarte direkt nach Anderswo. Hierherzukommen hingegen – das wird dein ganzes Leben verändern. Aha!«

Sie reichte mir ein ärmelloses weißes Kleid, das ich vor meinen Körper hielt. Der Saum reichte bis an meine Knie. Marion strahlte.

»Perfekt. Die Auktion geht gleich los. Hat Tabs dir erklärt, dass du am Gewinn beteiligt wirst und einen Raum über dem Club bekommst?«

»Ja. Und dass ich nur mit den Männern zusammen sein muss, die ich mir aussuche, oder?«

»Abgesehen von dem, der dich heute Abend ersteigert. Aber wenn du vorhast, Geld zu verdienen, wäre ich an deiner Stelle nicht so wählerisch.« Marion musterte mich. »Tabs sagte, du bist noch Jungfrau?«

Ich nickte und versuchte, dabei ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, doch meine Wangen wurden heiß. Entweder bemerkte sie es nicht, oder es war ihr egal.

»Gut. Das ist heutzutage ein kleines Vermögen wert. Mach dich fertig. Ich komme zurück, wenn es losgeht.«

Marion ging, und als wir allein waren, drückte Tabs meine Hand. »Sie irrt sich, weißt du. Du bist besser als eine Drei. Sie will bloß nicht, dass du es dir anders überlegst, das ist alles.«

»Ich habe nicht unbedingt eine Wahl«, sagte ich. »Aber sie hat trotzdem recht. Ich bin eine Drei, und nichts wird etwas daran ändern.« Alles, was ich tun konnte, war, das hier irgendwie zu überleben.

»Es spielt sowieso keine Rolle«, sagte Tabs. »Hier unten bist du keine Drei, sondern die wunderschöne und begehrenswerte Kitty. Jetzt hast du die Kontrolle über dein eigenes Leben.«

Ich würde niemals wunderschön oder begehrenswert sein, im Gegensatz zu Tabs, aber ich nickte trotzdem. »Tut es weh?«

»Nicht annähernd so sehr, wie Benjy für immer zu verlieren«, entgegnete sie. »Mach dir keine Sorgen, okay? Es wird alles gut. Ich hole dich morgen früh ab, und dann kannst du mir alles erzählen.«

Als Tabs mich auf die Wange küsste, konnte ich ihr nicht in die Augen sehen. Für sie ging es hier um Befreiung. Ich hingegen wollte mir nur einen Monat Zeit erkaufen, und ich hatte das Gefühl, sie anzulügen. Meine Befreiung war Benjy und nicht das hier.

»Bekommst du wirklich einen Teil meiner Einnahmen?«, fragte ich, und Tabs blieb in der Tür stehen.

»Wer hat das gesagt?«

»Nina.«

Sie seufzte dramatisch. »Ich tue das, damit du hier bei mir und Benjy bleiben kannst, nicht weil ich das Geld brauche. Ich verdiene jede Menge Geld, und das wirst du auch. Aber wenn du dich dadurch besser fühlst, gebe ich dir meinen Anteil.«

»Nein, das ist schon in Ordnung.« Ich starrte auf meine eingerissenen Fingernägel. »Ich wollte es nur wissen. Danke … dafür, dass du mir geholfen hast, meine ich.«

Sie strahlte mich an. »Jederzeit. Hab dich lieb«, sagte sie und rauschte aus dem Raum.

»Ich dich auch«, murmelte ich, bevor sie die Tür schloss.

Dann setzte ich mich auf den Hocker, starrte mein Gesicht im Spiegel an und versuchte, mir die Männer vorzustellen, die für mich bieten würden. Laut Tabs waren die meisten Männer, die solche Etablissements besuchten, nicht besonders attraktiv, aber das war es nicht, worüber ich mir Sorgen machte. Was würde Benjy morgen sagen, wenn ich ihn vor der Schule traf? Würde er mich überhaupt noch anfassen? Würde er mich noch auf dieselbe Art ansehen? Oder wäre ich anders – so verändert, dass er mich nicht mehr lieben könnte, zumindest so, wie er mich jetzt liebte?

Und war es das wirklich wert, wenn ich ihn dadurch verlieren könnte?

Ja, entschied ich. Benjy hatte etwas Besseres verdient. Er hatte etwas Besseres als mich verdient. Aber wenn er mich wie durch ein Wunder noch wollte, wenn das hier vorbei war, wäre ich bereit. Ich wollte ihn nicht verlassen, oder Tabs oder Nina, egal welchen Preis ich dafür zahlen musste.

In einem Monat würde Benjy entscheiden, was für ein Leben er führen wollte und ob ich dazugehören würde. Aber das hier – jetzt, in diesem Moment – war meine Chance, dafür zu sorgen, dass ich dann überhaupt noch hier war.

Das Warten war die reinste Folter. Es gab keine Uhren oder Fernseher im Zimmer, und als Marion kam, um mich abzuholen, hatte ich meine Nägel so abgekaut, dass sie bluteten. Sie warf einen Blick auf meine Hände und schleppte mich dann in ein Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs.

»Du musst unbedingt damit aufhören, bevor du dir die Hände ruinierst. Völlig unattraktiv«, sagte sie, als sie etwas kaltes Wasser über meine Fingerspitzen laufen ließ. Ich zischte bei dem Schmerz auf, aber sie ließ nicht los, bis meine Hände sauber waren. »So ist es gut. Und jetzt komm, sie warten.«

Marion nahm mich am Arm und führte mich durch den engen Korridor, bis wir zu einem Samtvorhang kamen. Dahinter hörte ich Stimmen und Gelächter, warmes Licht drang unter dem Spalt hindurch.

»Du musst nichts sagen«, sagte sie. »Ich kümmere mich um die Auktion, und wenn sie vorbei ist, begleite ich dich in den Raum. Es ist ganz einfach.«

Nichts daran war einfach. Ich wischte meine verschwitzten Handflächen an meinem Kleid ab. Alles, woran ich denken konnte, war Benjy. Vielleicht würde er mich dafür hassen. Vielleicht würde er mich nie wieder so ansehen wie früher. Doch zugleich verschaffte ich ihm die Chance auf eine echte Zukunft, und dafür würde es sich lohnen.

Als ich durch den Vorhang trat, wurde es ruhig im Raum und einhundert Augenpaare richteten sich auf mich. Marion stieß mich nach vorne auf die kleine Bühne. Ein blendendes Licht über uns wärmte meine Haut.

»Guten Abend, meine Lieben«, sagte sie, und die Leute im Publikum begannen zu klatschen und zu schreien. »Ihr habt alle so geduldig auf diesen ganz besonderen Moment gewartet, und wie versprochen wird einer von euch Glücklichen reich belohnt werden. Für diejenigen unter euch, die interessiert sind – und seid nicht schüchtern, wir wissen, dass ihr das seid –, das Gebot an diesem Abend beginnt bei tausend Goldstücken.«

Mir stockte der Abend. Eintausend Goldstücke waren mehr, als ich in zehn Jahren als eine Drei verdient hätte. Nichts an mir war so viel Geld wert. Vielleicht lag ich ja richtig – vielleicht würde niemand für mich bieten. Vielleicht war das Ganze ja eine Pleite, und ich musste zurück in die Gruppe gehen, oder in Tabs Wohnung, ich würde mich bei Benjy entschuldigen und …

»Eintausend Goldstücke«, erklang eine dröhnende Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes, und ich schloss die Augen und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an.

In den nächsten Minuten stiegen die Gebote stetig in absurde Höhen, bis am Ende nur noch zwei Männer mitboten: ein schnurrbärtiger Wal in der Nähe der Bühne und einer, der sich zu weit hinten befand, um ihn sehen zu können. Zu diesem Zeitpunkt war die Summe astronomisch hoch, und als sie dreißigtausend Goldstücke erreichte, trat der schnurrbärtige Bieter zurück und überließ mich dem Mann, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte.

Wilder Applaus brandete im Club auf. Marion nahm mich wieder am Arm. Sie zitterte vor Aufregung, als sie mich durch den Vorhang führte. »Nie zuvor ist Minister Bradley überboten worden«, sagte sie fassungslos. »Dreißigtausend – nie hätte ich … ist das zu fassen … und ausgerechnet für dich

Ausgerechnet für mich. Ich wollte ja beleidigt sein, doch sie hatte recht. »Wie viel davon gehört mir?«, fragte ich mit zitternder Stimme.

»Die Hälfte. Ich hatte noch nie ein Mädchen, das in seinem ersten Jahr so viel verdient hat, geschweige denn in seiner ersten Nacht.« Sie blieb im Flur stehen und sah mich an, die Nase nur einen Zentimeter von meiner entfernt. »Du wirst den Gewinner mit dem Respekt behandeln, den ihm bei so einer Summe gebührt, verstehst du mich? Du wirst ihm alles geben, was er will, und zwar mit einem Lächeln. Er hat besonders viel bezahlt, und du wirst ihm besonders viel dafür bieten.«

Ich nickte, mein Mund war trocken. Das ganze Ausmaß dessen, was gerade geschehen war, ging mir jetzt erst auf, und mein Magen zog sich unangenehm zusammen, während ich ihr nach oben folgte. Das hier geschah wirklich, und es gab kein Zurück mehr.

Marion führte mich in ein luxuriös eingerichtetes Schlafzimmer mit einem so breiten Himmelbett, dass kaum genug Platz war, um es zu umrunden. Genau wie in der Garderobe gab es keine Fenster, und die einzige Tür war die, die sie hinter mir schloss. Wieder einmal musste ich warten.

Ich setzte mich auf die Bettkante, zog die Knie ans Kinn und versuchte, so zu tun, als wäre ich woanders. Zu Hause bei Benjy, zusammengerollt unter einer Decke, während er mir vorlas. Oder eine Reihe vor ihm in der Schule, wo er mir Zeichnungen zuwarf, unsere Art, Briefchen zu schreiben. Oder sogar in dem stinkenden Abwasserkanal. Hauptsache, er war bei mir und ich nicht in diesem Raum, um darauf zu warten, dass ein Fremder mit mir tat, was immer er wollte.

Ich atmete tief durch und versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen. Es würde schon nicht so schlimm werden. Tabs machte das die ganze Zeit, und ihr ging es gut. Unzählige Mädchen taten das. Und zwar für verdammt viel weniger als fünfzehntausend Goldstücke. Bei so viel Geld brauchte ich nicht hierzubleiben. Schon morgen früh konnte ich meine Sachen packen, das Geld nehmen und abhauen. Ein Zimmer mieten, dortbleiben, bis Benjy seinen Rang erhielt. Nach siebzehn Jahren, in denen ich nie ein Mitspracherecht über mein eigenes Leben gehabt hatte, konnte ich endlich die Kontrolle übernehmen. Ich würde jetzt also ein Lächeln auf mein Gesicht zaubern und wenn nötig so tun, als hätte ich die beste Nacht meines Lebens.

Als die Tür sich öffnete, blieb mir die Luft weg.

Der Shield vom Markt stand im Flur, neben ihm zwei Männer, die auch wieder diese seltsame schwarz-silberne Uniform trugen. Den einen kannte ich nicht, doch den anderen hatte ich vorher schon im Gruppenheim gesehen. Sampson.

Statt etwas zu sagen, trat der Shield in den winzigen Raum, beugte sich nach unten und sah mir direkt in die Augen. Ich starrte zurück, ohne zu lächeln oder zu blinzeln oder irgendetwas anderes Niedliches von mir zu geben, wie Tabs es vielleicht getan hätte, um aus dieser Situation herauszukommen. Einige Sekunden vergingen, bevor er sich wieder aufrichtete und den Männern hinter ihm zunickte. »Sie ist es.«

Einer von ihnen murmelte ein paar Worte in seinen Ärmel, während der Shield vom Markt mich mit einer Geste aufforderte, zu bleiben, wo ich war. War er es, der mich ersteigert hatte? Wie konnte er sich das nur mit dem Gehalt eines Shields leisten?

Anstatt sich jedoch neben mich zu setzen, blieb er an der Tür stehen, mit dem Gesicht zu mir gewandt, aber ohne mich anzusehen. Der Drang, zu fragen, worauf er wartete, wurde immer mächtiger, doch ich brachte die Worte nicht heraus. Denn es war offensichtlich, was er tat: Er sorgte dafür, dass ich nicht weglief.

Diesmal gab es eine Uhr im Raum, und über vierzig Minuten vergingen, bevor ich ein Schlurfen im Flur hörte. Die Männer vor der Tür salutierten in strengem Einklang und traten dann zur Seite. Ein großer in einen schwarzen Mantel gehüllter Mann betrat den Raum.

Ich erstarrte.

»Hallo«, sagte er mit einer Stimme, die jeder im Land erkannt hätte. »Wie ist dein Name?«

Ich vergrub die Finger so fest in meinem Kleid, dass der Stoff zu reißen begann. »Kitty«, krächzte ich.

Amüsiert kniff er die dunklen Augen zusammen, nahm seinen Hut ab und enthüllte eine hohe Stirn, buschige Augenbrauen und dunkles, an den Schläfen bereits ergrautes Haar. Hätte ich zuvor irgendwelche Zweifel gehabt, wäre ich mir spätestens jetzt ganz sicher gewesen.

Premierminister Daxton Hart. Seine Position hatte eigentlich vorübergehend sein sollen, doch bei den alle vier Jahre stattfindenden Wahlen hatte dann immer nur noch ein Name auf dem Wahlzettel gestanden.

»Kitty«, sagte er, als ob er meinen Namen üben würde. »Ist das eine Abkürzung?«

»Ja«, antwortete ich. »Es ist die Abkürzung für ›Meine Mutter war verrückt und hatte eine Schwäche für Katzen‹.«

Stille breitete sich in dem Raum aus, der Shield starrte mich an, als könnte er nicht glauben, dass ich so mit dem Premierminister gesprochen hatte. Mein Mund wurde trocken, doch ich blieb stur und weigerte mich, zusammenzuzucken.

Ein paar Sekunden vergingen, und dann begann Daxton zu meiner großen Überraschung zu lachen.

»Ich mag dich. Du hast Mumm. Obwohl du Kitty Doe heißt und wir beide somit wissen, dass du deine Eltern nie kennengelernt hast.«

Meine Wangen wurden heiß. »Wenn Sie meinen Namen bereits kennen, warum haben Sie dann überhaupt danach gefragt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Aus Höflichkeit, meine Liebe. Obwohl ich zu behaupten wage, dass du nicht nach meinem Namen fragen wirst. Darf ich?« Er deutete auf meinen Hals, und obwohl ich bei dem Gedanken, berührt zu werden, eine Gänsehaut bekam, nickte ich. Denn das war das Geringste, was er heute Abend mit mir tun würde.

Er strich mit den Fingern über die Erhebungen und runzelte die Stirn. »Eine III«, sagte er ernst. »Und noch dazu eine frische. Du musst ziemlich unzufrieden damit sein.«

»Mein Leben wird sich nun darauf beschränken, entweder Abwasserkanäle zu reinigen oder mich zu prostituieren. Nicht gerade das, was ich im Sinn hatte.«

»Was hattest du denn im Sinn?«, fragte er.

»Das geht Sie nichts an.«

Die Wachen bewegten sich unruhig, aber Daxton seufzte. »Du hast recht. Wie schade. Ich mag dich wirklich.«

Er trommelte mit den Fingern gegen seinen Ellbogen, und wir starrten uns gegenseitig an. Ich weigerte mich, als Erste wegzusehen.

»Hör mal, Kitty.« Er beugte sich weiter zu mir vor. »Wie würde es dir gefallen, eine Sieben zu sein?«

Ich blinzelte, und für einen Moment war ich davon überzeugt, ihn falsch verstanden zu haben. Nur die Harts erhielten eine VII. Nicht einmal die zwölf Minister der Union wurden so hoch eingestuft.

»Ich bin eine Drei«, sagte ich, als ob die Sache damit geklärt wäre, und so war es ja auch. Niemand konnte seinen Rang ändern. Niemand. Jeder machte diese Prüfung, und danach wurde man entsprechend gekennzeichnet. Es gab keine Sonderbehandlung, keinen zweiten Versuch. Alle hatten die gleichen Chancen. Die einzigen Ausnahmen bildeten die Harts, die die Prüfung gar nicht erst machten. »Ich bin bereits gekennzeichnet.«

»Ja, das kann ich sehen.« Daxton richtete sich auf und strich seinen Mantel glatt. »Ich werde dir das hier nur einmal anbieten, und ich brauche eine sofortige Antwort. Wenn du Ja sagst, begleitest du mich, damit deine Markierung ersetzt werden kann.«

»Und wenn ich Nein sage?«

»Ich denke, wir beide wissen, was dann passiert.« Daxton blickte auf seine goldene Uhr. »Mein Angebot gilt für die nächsten dreißig Sekunden.«

Ich starrte ihn an, doch seine Augen waren fest auf die Uhr gerichtet. Er klopfte mit einem Finger auf das Ziffernblatt, während der Sekundenzeiger tickte, und bei jedem Tick schnürte sich meine Kehle ein wenig mehr zusammen.

Eine VII. Eine echte VII, vom Premierminister höchstpersönlich. Reichtum, Macht und Prestige, endlose Möglichkeiten und schöne Dinge, nie wieder Angst haben müssen, verhaftet und nach Anderswo geschickt zu werden …

Benjy.

Was würde aus ihm werden? Was würde er tun, wenn er herausfand, dass ich verschwunden war? Ich konnte ihn nicht verlassen. Eine VII war viel wert, aber nicht so viel, dafür einen der wenigen wirklich wichtigen Menschen in meinem Leben zu verlieren.

»Darf ich in D. C. bleiben?«, stieß ich hervor, und Daxton schenkte mir sein berühmtes wohlwollendes Lächeln.

»Warum denn nicht?«, sagte er. »Wir besitzen viele Häuser im ganzen Land, aber das in Somerset ist bei Weitem das luxuriöseste.«

Somerset befand sich am anderen Ende des District of Columbia, wo die Fünfen und Vieren wohnten. Ich müsste nicht in einem Club leben. Ich müsste nicht in der Kanalisation arbeiten. Ich müsste nicht einmal die Stadt verlassen. Ich könnte Benjy sehen, wann immer ich wollte, und wenn er erst einmal seine VI bekam …

Was würde er wohl sagen, wenn er die neue VII auf meinem Nacken sah? Eine VII garantierte mir unvorstellbare Reichtümer, Dinge, die die Parfüms und Früchte und Seidenstoffe auf den Märkten wie wertlosen Tand aussehen ließen und nicht wie die Schätze, die sie waren. Eine Markierung, die bedeutete, dass wir nicht gegen das Gesetz verstoßen müssten, um zusammen zu sein.

Und wenn das bedeutete, die Geliebte des Premierministers sein zu müssen? Na und? Er hatte wahrscheinlich Dutzende davon. Er würde meiner schnell überdrüssig werden, dann stand es mir frei, mit Benjy zu leben, und ich wäre immer noch eine Sieben.

Keine Drei, keine Vier, sondern eine Sieben. »Wo ist der Haken?«

Sein unteres Augenlid zuckte, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Deine Zeit ist fast abgelaufen.«

Was auch immer der Haken sein mochte, er war dreißigtausend Goldstücke und eine VII wert. Wie dumm, überhaupt zu zögern.

»Fünf.« Er begann, rückwärts zu zählen. »Vier, drei, zwei …«

»Ja.« Ich konnte das Wort nicht schnell genug aussprechen. Als ich mir Benjys Gesicht vorstellte, wenn er herausfand, dass wir zusammenbleiben konnten, musste ich mir auf die Innenseite der Wange beißen, um nicht zu grinsen.

Eine VII. Eine echte VII.

Daxton verzog die Lippen in einer seltsamen Mischung aus einem Grinsen und einem Lächeln. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie erfreut ich bin, das zu hören. Auf uns wartet ein Auto. Sollen wir?«

Er reichte mir die Hand, und seine Haut fühlte sich glatt und kühl an meiner feuchten Handfläche an. Als wir aus dem Raum traten, waren wir sofort von einem halben Dutzend Wachen umgeben, und alle beäugten mich. Ich zog den Kopf ein, um mich so klein wie möglich zu machen.

»Wo ist der Haken?«, fragte ich noch einmal.

»Warum um alles in der Welt nimmst du an, dass es einen Haken gibt?«, fragte Daxton zurück, doch ich antwortete nicht. Natürlich gab es einen Haken. Niemand bekam einen anderen Rang, niemals.

Ich musste mich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten, und die Wachen waren so dicht hinter uns, dass ich nicht stehen bleiben konnte, um durchzuatmen. Daxton führte mich über eine schmale Treppe hinunter und dann durch eine Reihe von feuchten Gängen, bis wir an einen Ausgang gelangten, der in die Gasse führte. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch. Wie konnte ich Benjy wissen lassen, dass ich in Sicherheit war? Daxton musste mir erlauben, ihm eine Nachricht zu schicken. Oder erwartete er, dass ich alle Verbindungen zu meinem alten Leben vollständig abbrach?

Nein. Ich würde Benjy nicht im Stich lassen, egal, was er mir dafür bot.

Zu meiner Linken öffnete sich eine Tür. Tabs streckte den Kopf heraus, und als sie den Premierminister neben mir sah, klappte ihr Mund auf. »Kitty?«

Erleichterung durchflutete mich. »Sag Benjy, dass es mir gut geht«, rief ich. »Wenn möglich noch heute Abend, und sag ihm …«

»Hier gibt es nichts zu sehen«, sagte eine Wache hinter uns. Er trat vor Tabs, um ihr die Sicht zu versperren, und Daxton marschierte an ihr vorbei.

»Lasst mich … Tabs! Sag es ihm!«, schrie ich, doch sie antwortete nicht.

»Komm schon.« Daxton schob mich in die Gasse. Ich zitterte. Die Temperatur war um mehrere Grad gesunken, und mein dünnes weißes Kleid bot nicht viel Schutz gegen die Kälte. Daxton zog seinen Mantel aus, der noch warm von seinem Körper war, und legte ihn mir über die Schultern.

»Danke.« Wie oft hatte er das schon getan? Wie viele Geliebte hatte er ersteigert und mit einer VII verführt? Der Gedanke, mit ihm zu schlafen, machte mich krank, aber es gab nichts, was ich nicht getan hätte, um meinen Rang zu ändern. Benjy würde es hassen, aber er musste mich einfach verstehen, denn auf diese Weise brachte ich ihn nicht in Gefahr. Auf diese Weise musste er mich nicht ein Leben lang verstecken. Auf diese Weise zwang ich ihn nicht dazu, sein Leben zu riskieren, nur um mit mir zusammen sein zu können.

Wir bogen in eine weitere Gasse ein, wo ein elegantes schwarzes Auto auf uns wartete. Es war so lang wie drei normal große Autos, und mir wäre beinahe der Kiefer nach unten geklappt. So einen großen Wagen hatte ich noch nie zuvor aus der Nähe gesehen. Nur Fünfen und Höhere durften überhaupt ein Auto besitzen, und dieses riesige musste speziell für die Harts gebaut worden sein.

Daxton bemerkte meinen Blick und lachte. Also riss ich mich zusammen und stellte mich so aufrecht hin wie möglich. Vielleicht hatte ich noch nie in einem Auto gesessen, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, mich auszulachen.

Eine Wache öffnete die Tür und forderte mich mit einer Geste dazu auf, zuerst einzusteigen. Ich war schon halb im Wagen, als ich es hörte.

Peng.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. »Was war das?«

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest«, erklärte Daxton, und ein weiteres Paar Hände drückte mich in den Sitz. Ich kämpfte darum, etwas zu sehen, doch Daxton glitt neben mich und blockierte meine Sicht. Dann schlug die Autotür zu. »Es ist eine lange Fahrt bis zu unserem Ziel, deswegen habe ich mir die Freiheit genommen, Vorkehrungen zu treffen, falls dir übel wird.« Er zwinkerte. »Ledersitze. Du verstehst schon.«

Ich verstand es nicht, da Somerset nicht weiter als zwanzig Meilen entfernt sein konnte, aber es war mir egal. Stattdessen reckte ich den Hals, damit ich um ihn herum in die Gasse sehen konnte.

In dem schummrigen Licht konnte ich zwei Männer aus dem Club ausmachen, die den Körper eines Mädchens hinter sich herzogen. Wir waren zu weit weg, als dass ich ihr Gesicht hätte sehen können, doch ihr langes dunkles Haar war unverwechselbar.

»Tabs«?, stieß ich entsetzt hervor. »Was …«

»Sch …«, murmelte Daxton und strich mein Haar zur Seite. Bevor ich ihn wegstoßen konnte, stach mir eine Nadel in den Hals, und alles um mich herum wurde schwarz.

III

CELIA

Piep. Piep. Piep.

Ich stöhnte. Es konnte doch noch nicht Morgen sein. Das Bedürfnis, zu schlafen, drückte mich nieder, mein Kopf pochte. Vielleicht ließ Nina mich heute zu Hause bleiben, statt mich in die Schule zu schicken.

Piep. Piep. Piep.

Ich versuchte, mich umzudrehen, aber etwas hielt mich fest. Mit größter Anstrengung öffnete ich die Augen. Als ich endlich klar sehen konnte, entdeckte ich einen kleinen Kristalllüster über mir, der Lichtpunkte in allen Farben des Regenbogens an die weißen Wände warf.

Das war nicht das Gruppenheim.

Und auf einmal fiel mir alles wieder ein, was in der Nacht zuvor passiert war. Die Auktion. Daxton. Die VII.

Tabs.

Ich versuchte, mich zu bewegen, konnte aber nicht einmal mit den Fingern wackeln. Dann, die Augen wegen der hellen Deckenleuchten zusammengekniffen, schaute ich mich in dem unbekannten Raum nach etwas um, das mir helfen konnte. Keine Fenster zu sehen. Eine Tür. Viel Platz. Wenn jemand hereinkäme, säße ich in der Falle.

Wieder erregte das Piepen meine Aufmerksamkeit. Es war kein Wecker, sondern ein Apparat neben meinem Bett, der mit einem grün flackernden Licht meinen Puls maß. In meinem Arm steckte ein Plastikschlauch, der mit einem Beutel mit einer klaren Flüssigkeit verbunden war.

Ein Krankenhauszimmer vielleicht? Wenn, dann war das das seltsamste Krankenhaus, das ich je gesehen hatte. Es sah viel eher wie ein Schlafzimmer aus. Zwar ein sehr großes Schlafzimmer mit einem Kamin in der Ecke, ganz in Weiß mit goldenen Zierleisten, aber immer noch ein Schlafzimmer.

»Ah, wie ich sehe, bist du endlich wach.«

Mein Herz begann zu hämmern, und die Frequenz des Piepens nahm zu. Aus dem Augenwinkel entdeckte ich Daxton, der auf einem weißen Sofa saß und ein Getränk in der Hand hielt. Ich knirschte mit den Zähnen. Was auch immer mir durch diesen Schlauch verabreicht wurde, trübte meinen Verstand und ließ meine Sicht verschwimmen, doch keine Dosis an Medikamenten ließ mich vergessen, was ich bei der Abfahrt vor dem Club gesehen hatte.

»Sie haben Tabs getötet.« Es fiel mir schwer, zu sprechen, meine Stimme klang tief und heiser, und ich versuchte, mich zu räuspern.

»Nein, habe ich nicht«, widersprach Daxton, bevor er um das Bett herumging, bis ich ihn ohne Anstrengung sehen konnte. »Das waren meine Wachen.«

Wieder versuchte ich, mich zu bewegen, aber ich steckte fest. Falls ich festgebunden war, konnte ich es nicht spüren, und ein eiskalter Schreck durchfuhr mich. War ich gelähmt?

Ich schluckte. Panik würde nicht helfen. »Warum?«

»Weil sie ihre Nase in Dinge gesteckt hat, die sie nichts angingen.« Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Oh, sieh mich nicht so an. Sie war ein Niemand.«

»Sie war meine Freundin.« Er hatte Glück, dass ich mich nicht bewegen konnte, sonst hätte ich die Hände um seine Kehle gelegt, Hochverrat hin oder her. »Und sie war eine Vier.«

»Sie war eine Prostituierte«, entgegnete Daxton, was aber vollkommener Schwachsinn war. Prostituierte, die auf den Straßen verzweifelt versuchten, etwas Geld für ihre Familie zu verdienen, wurden nach Anderswo geschickt, wenn man sie fasste. Aber in den Clubs, vor allem in denen, die von Regierungsbeamten und Ministern besucht wurden …

»Möchtest du deine neue Markierung sehen?«

Ich antwortete nicht. Das alles war meine Schuld. Tabs war getötet worden, weil sie mich mit Daxton gesehen hatte. Es gab keine andere Erklärung.

Daxton zog etwas aus der Tasche und hielt mir einen kleinen Bildschirm vor mein Gesicht, während er mit seiner anderen Hand etwas Kaltes zwischen das Kissen und meine Haut schob. Es musste eine Kamera sein, denn nun erschien die Rückseite meines Halses auf dem Bildschirm, und ich erkannte deutlich die neuen Buchstaben darauf.

Eine mit schwarzer Tinte tätowierte VII, die sich gegen meine blasse Haut abhob. Ich schaute weg. Das war Tabs’ Tod nicht wert gewesen.

Daxton seufzte. »Es ist eine Tragödie, was mit deiner Freundin passiert ist, und da es dich so schmerzt, tut es mir besonders leid, dass es notwendig gewesen ist. Aber sie kannte die Gefahren, die mit ihrem Beruf einhergingen, und sie hat sich trotzdem dafür entschieden. Du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich mich an die Gesetze halte.«

Ich schloss die Augen und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. So ungern ich es auch zugeben wollte, hatte Daxton dennoch recht. Tabs hatte das Risiko gekannt. Wir alle wussten, dass es eine Kugel in den Kopf bedeuten konnte, auch nur einen Zentimeter aus der Reihe zu tanzen, aber statt ihre absolut normale IV zu akzeptieren, hatte Tabs sich für die Prostitution entschieden. Ich hatte versucht, die Orange zu stehlen. Und Benjy hatte angeboten, mit mir wegzulaufen.

Wir alle wichen immer wieder den Kugeln aus, von dem Moment an, in dem wir siebzehn wurden. Manchmal holten sie uns ein, und es gab nichts, was ich dagegen tun könnte. Mir selbst leidzutun, würde Tabs nicht zurückbringen, und wenn sie gewusst hätte, was gerade geschah, dass ich eine VII bekommen hatte …

Sie hätte mir eins auf den Deckel gegeben, wenn ich das alles ihretwegen aufs Spiel gesetzt hätte, zumal ich sowieso nichts hätte ändern können. Ständig starben Leute oder wurden nach Anderswo geschickt. Wenn es einen persönlich traf, tat es höllisch weh, aber was unterschied Tabs von all den anderen, die aufgrund von Gesetzesverstößen bestraft wurden? Um die hatte ich nicht geweint. Ich hatte nie weiter über die Zeitungsartikel über die Hinrichtungen nachgedacht, die Benjy mir vorgelesen hatte. Die Leute waren an einem Tag noch da und am nächsten nicht mehr, und sie waren es, die dieses Risiko in Kauf genommen hatten.

Jetzt, da es um meine Freundin ging, war es etwas anderes, gleichzeitig aber auch nicht. Das Leben ging trotzdem weiter. Daxton regierte noch immer das Land, und ich war ein Niemand. Wenigstens war ich jetzt ein Niemand mit einer VII.

Tabs hätte diese Tür einfach nicht öffnen dürfen. Und ich hätte sie nicht ansprechen dürfen.

Mir fiel eine meiner Haarlocken auf dem Bildschirm auf. Anstatt eines schmutzigen Blonds hatte sie die Farbe von Weizen und passte farblich gut zum Kopfkissen.

»Was haben Sie mit meinen Haaren gemacht?«, wollte ich wissen. Das kleine Muttermal auf meinem Hals war auch verschwunden.

»Du wolltest eine Sieben sein«, erklärte Daxton, der die Kamera ausschaltete. »Dachtest du vielleicht, ich würde sie dir geben, nur weil du hübsch bist?«

Nein, natürlich nicht. Ein Schrei formte sich in meiner Kehle, aber als ich ihn ausstieß, klang es eher nach einem Wimmern und nicht wie das Brüllen, nach dem ich mich so sehnte. »Was haben Sie mit mir gemacht?«

»Gar nichts. Du hast unserer Vereinbarung zugestimmt, und jetzt, da alles erledigt ist, hast du zwei Möglichkeiten. Entweder du akzeptierst es oder leistest deiner Freundin Gesellschaft.«

»Wovon reden Sie?«

Er setzte sich zu mir aufs Bett. »Ich habe kürzlich auch jemanden verloren, der mir sehr nahegestanden hat.« Er verschränkte die Finger. »Meine geliebte Nichte, Lila, wurde letzte Woche während eines Skiurlaubs in den Bergen getötet.«

Das Piepen neben mir verlangsamte sich. »Wirklich? Darüber habe ich gar nichts in den Nachrichten gehört.«

»Die Medien wissen nichts davon. Niemand weiß etwas.«

Ich starrte ihn an. »Ich verstehe nicht.«

Er drehte sich auf dem Bett zu mir, bis er mich direkt ansehen konnte. »Weißt du, warum ich dich ausgewählt habe?«

»Mich wofür ausgewählt? Als Geliebte?«

»Meine Geliebte?« Daxton kicherte, aber es klang freudlos. »Wie kommst du bloß darauf?«

»Sie … Sie haben mich ersteigert«, sagte ich ratlos.

»Ja, ich habe dich ersteigert, aber nicht, um aus dir meine Geliebte zu machen.«

Meine Gedanken überschlugen sich. Aus welchem anderen Grund sollte er dreißigtausend Goldstücke für mich ausgeben? »Ich verstehe nicht.«

Er beugte sich nah genug zu mir, dass ich den Kaffee in seinem Atem riechen und die Poren auf seiner Nase zählen konnte. »Wir haben lange nach jemandem wie dir gesucht, Kitty. So lange, dass ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte. Als meine Leute mir sagten, dass sie jemanden mit deinem einzigartigen Aussehen gefunden hatten, musste ich es mit eigenen Augen sehen. Und da warst du. Perfekt in jeder entscheidenden Hinsicht.« Sein Lächeln war so kalt, dass ich am liebsten gezittert hätte. »Wusstest du, dass die Augenfarbe das Einzige ist, das wir nicht ändern können? Natürlich gab es Experimente, aber neunzig Prozent sind bei dem Versuch, die Farbe zu ändern, sofort erblindet. Und die anderen zehn Prozent werden innerhalb eines Jahres erblindet sein.«

Da ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach, schwieg ich. Daxton schien das egal zu sein.

»Sag schon.« Er legte eine Hand an meine Wange. »Hast du niemals darüber nachgedacht, wie viel besser ein Leben als eine Hart wäre?«

Bevor ich antworten konnte – oder ihm ins Gesicht spucken, noch hatte ich mich nicht entschieden –, schwang die Tür auf der anderen Seite des Raumes auf. Zwei Wachen traten ein, gefolgt von einer Frau, die ich nur von Fotos und aus dem Fernsehen kannte.

Celia Hart, Daxtons jüngere Schwester und Lilas Mutter.

Die Bilder wurden ihr nicht gerecht, denn wie ihre Tochter war Celia einfach atemberaubend. Ihr Gesicht, so perfekt, dass es operiert worden sein musste, war starr wie eine Maske, doch der Blick, mit dem sie mich anstarrte, brannte. »Was zum Teufel machst du da?«

Ich dachte, sie würde mich meinen, und öffnete den Mund, um zu antworten – dachte sie im Ernst, dass ich mich selbst mit Absicht irgendwie betäubt hatte? –, doch Daxton unterbrach mich. »Wonach sieht es denn aus?«

»Als wolltest du Gott spielen.« Sie gab ihren Wachen ein Handzeichen, und diese verschwanden durch die Tür. »Wer ist sie?«

»Ein Niemand. Eine Schlampe, die ich in einem Club in der Stadt entdeckt habe«, antwortete er, und ich zischte.

»Ich bin keine Schlampe. Sie sind es doch, der meine Jungfräulichkeit ersteigert hat.«

»Und doch besitzt du sie noch immer«, entgegnete er. »Hüte deine Zunge, Kitty, oder ich lasse auch sie betäuben.«

»Nur zu«, sagte ich, fühlte mich jedoch nicht halb so mutig, wie ich klang. »Ich habe das Recht, zu erfahren, was hier los ist.«

»Deine Rechte reichen so weit ich es zulasse.« Daxton öffnete eine Schublade auf dem Nachttisch und zog eine Spritze heraus. »Das könnte jetzt wehtun.«

Celia nahm sie ihm weg, bevor er die Kappe abschrauben konnte. »Wag es ja nicht.«

»Aber sie redet«, meinte er.

Celia drückte die Nadel der Spritze gegen seinen Hals. »Du auch. Wenn du mir nicht sofort sagst, was ich hören will, betäube ich deine Stimmbänder, und wer weiß, wie lange das anhalten wird?«

Daxton zischte spöttisch, aber ich konnte sehen, wie er die Hände zu Fäusten ballte. »Wir brauchen einen Ersatz, um den von ihr verursachten Schaden zu beheben. Mutter hält es für das Beste, wenn wir diese Gelegenheit nutzen.«

»Gelegenheit?«, stieß Celia hervor. »Meine Tochter ist tot.«

Daxton zuckte mit den Schultern. »Es ist natürlich bedauerlich, was mit Lila passiert ist …«

»Wag es ja nicht, so zu tun, als wärst nicht du dafür verantwortlich«, sagte Celia. »Du hast meine Tochter ermordet, und jetzt glaubst du, du könntest sie einfach so ersetzen?«

Sie ersetzen?

»Ich habe ihr kein Haar gekrümmt«, sagte Daxton geduldig. »Deine Verschwörungstheorien werden langsam langweilig, Celia. Es war eine verdammte Lawine.«

»Du lügst.« Ihre Stimme zitterte vor Wut. »Du hast das Ganze geplant. Das weiß ich.«

»Du hast gerade dein Kind verloren. Deine Trauer geht mit dir durch. Mit der Zeit wirst du einsehen, wie verrückt deine Anschuldigungen sind.«

Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Ich bin nicht verrückt. Zuerst mein Mann, jetzt meine Tochter …«

»Dein Mann war ein Verräter«, sagte Daxton. »Lila war siebzehn Jahre alt. Egal, was du von mir hältst, liebe Schwester, ich lasse doch keine Teenager exekutieren.«

»Nein, natürlich nicht«, fuhr sie ihn an. »Du wolltest nicht riskieren, dass sie zur Märtyrerin wird, oder? Denn wer weiß, was für eine Art von Revolution das nach sich gezogen hätte!?«

Ich räusperte mich, und beide Harts richteten ihren Blick auf mich. Klasse.

»So faszinierend das alles auch ist, was hat das bitte mit mir zu tun?«, fragte ich.

Celia betrachtete Daxton erstaunt. »Du hast es ihr nicht gesagt? Sie liegt hier so und weiß von nichts?«

Daxton zuckte mit den Schultern, und die Pieptöne des Herzmonitors neben meinem Bett nahmen wieder an Fahrt auf. »Was meinst du mit ›hier so liegen‹?«

»Ich kann es nicht glauben.« Celia schien fast zu explodieren. »Ich bin nicht so naiv, zu glauben, du würdest mich vorher fragen, aber sie hast du auch nicht gefragt?«

»Ja, gut.« Daxton schluckte, sein Adamsapfel hüpfte nervös. »Außergewöhnliche Zeiten, du weißt schon. Ich konnte nicht warten. Als du endlich aus der Abgeschiedenheit wieder aufgetaucht bist …« Er gestikulierte in meine Richtung. »Wenn es dir lieber ist, dass sie stirbt, kann ich das arrangieren.«

»Was?« Ich nahm jedes Gramm an Willenskraft zusammen, das ich besaß, und schaffte es endlich, den Kopf vom Kissen zu heben. »Hören Sie, wenn es Ihnen sowieso egal ist, dann würde ich lieber nicht sterben.«

»Du wirst sie nicht töten«, sagte Celia wütend. »Das ist dein Werk, und jetzt musst du mit den Konsequenzen leben.«

»Welche Konsequenzen?«, fragte ich. »Was hat er mit mir gemacht? Warum kann ich mich nicht bewegen?«

Sie riss den Kopf zur Seite, während Daxton in eine Zimmerecke schlenderte und sich auf eines der weißen Sofas fallen ließ. Celia begann, die Schubladen zu durchwühlen. »Du heißt Kitty?«

»Ja.« Ich beobachtete sie genau.

»Ist keine Abkürzung für irgendwas«, bemerkte Daxton, aber Celia sah ihn so giftig an, dass er verstummte.

»Wie alt bist du, Kitty?« Sie gab ihre Suche auf und beugte sich zu mir. Mit kühlen Fingern strich sie über meinen Nacken und sah dabei wohl die VII, denn sie presste die Lippen zusammen und richtete sich auf.

»Siebzehn.« Mir versagte die Stimme. »Ich hatte gestern Geburtstag.«

»Vor zwei Wochen«, sagte Daxton. »Genügend Zeit, damit die Schwellung nachlässt.«

Ich hatte zwei Wochen verpasst? »Wie bitte? Aber Sie haben gesagt, Lila wäre erst vor einer Woche gestorben.«

»Du hast das geplant?«, fuhr Celia ihn an.

Daxton zuckte mit den Schultern, dann hielt er unschuldig die Hände nach oben. »Ein unglücklicher Zufall, das versichere ich dir. Mutter kam auf die Idee. Ich folge nur den Anweisungen.«

»Natürlich steckt Mutter dahinter«, sagte sie. »Du bist zu schwach, um dir so etwas selbst auszudenken.«

»Würde mir bitte endlich jemand mal erklären, was los ist?«, rief ich.

»Daxton, gib mir deine Kamera.« Sie streckte die Hand aus. Widerwillig fischte er sie aus seiner Tasche und schleuderte sie durch den Raum, als wäre sie nichts wert. Celia fing sie auf und hantierte daran herum.

»Er hat mir meinen Nacken bereits gezeigt«, sagte ich. »Er hat mir eine VII versprochen, wenn ich mit ihm mitgehe.«

»Hat er das?«, sagte sie. »Nun, deine VII hast du auf jeden Fall bekommen.« Mit einer Hand hob sie die Kamera vor mein Gesicht, mit der anderen hielt sie den Bildschirm so, dass ich ihn sehen konnte.

Zuerst begriff ich nicht. Das waren meine Augen, die mich anstarrten, so klar und blau wie eh und je, aber ansonsten war nichts mehr wie früher. Meine Haut war blasser und ohne Sommersprossen. Mein Haar war, wie ich bereits zuvor bemerkt hatte, nicht mehr schmutzig blond, sondern hellblond. Meine Wangenknochen waren höher, meine Augenbrauen dünner, meine Nase kleiner und meine Lippen voller – sogar die Form meines Gesichts hatte sich von quadratisch zu oval verändert. Und irgendwie sah meine Stirn, die schon immer etwas zu klein gewesen war, jetzt perfekt aus.

Ich blickte einige Sekunden lang auf das Bild, bis ich es endlich verstand. Da war nicht nur irgendein wunderschönes Gesicht, wo eigentlich meines hätte sein sollen.

Ich starrte in die Kamera, und Lila Hart starrte zurück.

IV

KNOX

Ich bekam keine Luft. Der Raum drehte sich um mich, die Ränder meines Blickfeldes verschwammen, bis ich nur noch Lilas Gesicht sehen konnte, wo meins hätte sein sollen. Egal wie oft ich blinzelte, es veränderte sich nicht. Ich war sie. Sie war ich.

Daxton hatte mich in Lila Hart verwandelt.

»Was haben Sie mir angetan?« Ich weinte.

»Du wurdest maskiert. Ein simples Verfahren«, antwortete Daxton von der anderen Seite des Raumes. »Nur ein paar kleine Veränderungen.«

»Maskiert?« Ich erstickte fast an dem Wort. Was genau hatten sie getan? Lilas Gesicht entfernt und auf meines gelegt? »Ich sehe überhaupt nicht mehr aus wie ich.«

Celia schaltete die Kamera aus, die Augenbrauen vor Wut zusammengezogen. »Daran ist gar nichts simpel. Maskiert zu werden, ist selten und darf eigentlich nur mit der Erlaubnis der ganzen Familie durchgeführt werden.« Sie atmete einmal tief durch, als versuchte sie, ruhig zu bleiben. »Und das sind mehr als nur ein paar kleine Veränderungen. Normalerweise benutzen wir das Verfahren für Doppelgänger, aber in deinem Fall beabsichtigen meine liebe Mutter und mein lieber Bruder wohl, dass du das Leben meiner Tochter übernimmst, egal wie unschuldig Daxton jetzt gerade tut.«

Die beiden tauschten giftige Blicke, und ich bekam einen trockenen Mund. Lilas Leben übernehmen? »Sie meinen, ich bin … Sie erwarten, dass ich …«

»Es bedeutet, dass deine VII an ein paar Bedingungen geknüpft ist«, sagte Daxton. »Du kannst dich dagegen wehren und die Konsequenzen tragen, oder du akzeptierst es und damit all die Vorteile, die damit einhergehen, eine von uns zu sein. Es ist natürlich deine Entscheidung, aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was in deinem alten Leben wertvoll genug gewesen sein sollte, um daran festzuhalten. Du wärst eine Närrin, abzulehnen.«

Und eine tote Närrin noch dazu. Für Daxton war ich nicht mehr als ein Kollateralschaden. Das Einzige, was mich am Leben hielt, war mein Gesicht. Aber in einem Punkt irrte Daxton sich: Benjy war wertvoll genug, um an ihm festzuhalten.

Daxton strich über die Vorderseite seines faltenfreien Hemdes. »Es wird schon nicht so schlimm werden«, fügte er mit spöttischem Trost hinzu. »Du wirst von vorne bis hinten bedient werden und in deinem Leben nie wieder etwas anderes wollen. Du, meine Liebe, wirst das mächtigste Mädchen des Landes sein. Du wirst eine von uns sein. Was will man mehr?«

Ich schloss die Augen, während meine Gedanken sich überschlugen. Wenn ich ablehnte, war ich tot. Aber wenn ich Ja sagte, was dann? Dann wäre ich Lila Hart. Für den Rest meines Lebens würde ich das Gesicht einer anderen tragen, auf den Namen einer anderen hören, das Leben einer anderen führen.

Aber wenigstens wäre ich noch am Leben.

Ich atmete langsam und tief ein und zwang mich, ruhig zu bleiben. Ich war immer noch ich, oder nicht? Ich fühlte mich immer noch wie ich. Ich dachte immer noch wie ich. Das konnten sie mir nicht nehmen, egal, was sie mit meinem Körper angestellt hatten. Ich sah vielleicht aus wie Lila Hart, aber ich war immer noch Kitty Doe.

Warum nur fühlte es sich dann so an, als würde Kitty Doe irgendwo neben Tabs in einem Graben liegen?

»Außerdem«, sagte Daxton, »wäre es nicht für immer.«

Ich öffnete die Augen, das Einzige, was mir noch von mir geblieben war. »Was meinen Sie damit, es wäre nicht für immer?«

»Es wäre dumm von uns, zu erwarten, dass du dein ganzes Leben aufgibst, nicht wahr?«

Aber das war doch genau das, was sie von mir verlangten. »Können Sie das – rückgängig machen?«, fragte ich.

»Wir können dir dein altes Gesicht nicht zurückgeben, aber wenn du so lange vorgibst, Lila zu sein, wie wir dich brauchen, können wir dir danach ein neues geben«, sagte er. »Tu das, was wir von dir verlangen, und du kannst hinterher sogar deine VII behalten.«

Ich blickte nach Bestätigung suchend in Celias Richtung, doch sie wich meinem Blick aus.

Also log Daxton. Ich würde für den Rest meines Lebens Lila sein, und die einzige Wahl, die mir blieb, war, zu entscheiden, wie lange es dauerte. Ich könnte ihn darauf ansprechen oder aber mitspielen und so tun, als wäre ich tatsächlich so bescheuert, wie er vermutete. Nur bei der zweiten Option würde ich am Leben bleiben und weiter in seiner Gunst stehen.

»Und Sie werden mich nicht töten?«, fragte ich.

»Tu, was wir verlangen, dann muss niemand sterben«, sagte er. »Ich verspreche es.«

Mit genau dieser Stimmlage hatte er den Zweien und Dreien ein besseres Leben versprochen. Neue Möglichkeiten und Chancen für diejenigen, die den Reichen und Mächtigen dienten und hinter ihnen aufräumen mussten. Es war die Stimme, die er immer dann benutzte, wenn er schwor, dass wir nur hart arbeiten und unser Bestes geben müssten, um den Rang – das Leben zu bekommen, das wir verdient hatten.

Selbst wenn ich mitmachte, würden sie mich am Ende töten, aber zumindest hatte ich so noch ein paar Monate oder sogar Jahre Zeit, um einen Fluchtplan zu schmieden. Was sie mir angetan hatten, konnte ich nicht ändern, aber ich konnte Lilas Privilegien nutzen, um einen Ausweg zu finden. Und einen Weg zurück zu Benjy.

»Sind Sie … sind Sie damit einverstanden?«, fragte ich Celia.

»Scheint so, als hätte ich ungefähr die gleiche Wahl wie du«, antwortete sie frostig. »Aber wenn du mich fragst, ob ich dir helfen kann, dann lautet meine Antwort: Ja. Es mussten schon genug Leute für die Ziele meines lieben Bruders sterben. Es ist nicht nötig, die Zahl der Toten weiter zu erhöhen.«

Daxton legte eine Hand auf die Stelle, an der sein Herz gewesen wäre, hätte er eines besessen. »Das verletzt mich, Celia. Wirklich. Wenn du ein Problem damit hast, sprich mit Mutter, nicht mit mir. Ich folge nur ihren Anweisungen.«

»Natürlich tust du das«, sagte Celia. Sie legte die Kamera auf meinen Nachttisch und streckte die Hand nach mir aus. Für einen Moment dachte ich, sie würde mein Gesicht berühren wollen – Lilas Gesicht –, aber dann zog sie die Hand wieder zurück. »Sobald die Betäubung nachgelassen hat, werde ich dir alles beibringen, was du wissen musst. Knox muss es auch erfahren«, sagte sie an Daxton gewandt. »Und dein Sohn, falls du es ihm noch nicht gesagt hast.«

»Ich werde Greyson gar nichts sagen«, versetzte Daxton. »Und du auch nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte Celia. »Wir wollen ihm doch nicht erzählen, dass du seine Cousine so kurz nach dem Tod seiner Mutter und seines Bruders umgebracht hast, nicht wahr?«

Schwindel erfasste mich. Ich würde mit Greyson, Daxtons achtzehnjährigem Sohn, und allen anderen Mitgliedern der Familie Hart zu tun haben. Ich war mit ihren Gesichtern aufgewachsen, die ich im Fernsehen gesehen hatte, ich hatte ihre Stimmen in den Nachrichten gehört, und jetzt würde ich sie nicht nur kennenlernen – ich wäre eine von ihnen.

Ursprünglich war Jameson, Greysons älterer Bruder, dazu bestimmt gewesen, das Land zu erben. Doch jetzt, nach Daxtons Tod, würde Greysons Name alle vier Jahre als einziger auf dem Wahlzettel stehen. Ich wusste nicht, warum Daxton ihm nicht von mir erzählen wollte, und es war mir auch egal, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, je den Namen Knox gehört zu haben, wenn Benjy mir morgens die Zeitung vorgelesen hatte.

»Wer ist Knox?«

»Lennox Creed«, sagte Celia. »Er bevorzugt Knox.«

Das Piepen neben meinem Bett beschleunigte sich. Lennox Creed kannte man nicht nur, weil sein Vater einer der Minister der Union war, sondern vor allem wegen seiner Partys in exklusiven Nachtclubs, von denen Fünfen nicht einmal träumen konnten, Zutritt zu erhalten, geschweige denn Dreien.

Und er war Lilas Verlobter.

»Muss ich noch immer …«

»Ja«, unterbrach Daxton mich. »Ob es dir nun gefällt oder nicht, Liebling, von nun an bist du Lila, und zwar so lange, bis ich dir etwas anderes sage. Halte deinen Teil der Abmachung ein, und ich halte meinen ein. Klingt das fair?«

Da ich am Ende tot sein würde, egal was ich sagte – nein, klang es nicht.

»Scheint nicht so, als hätte ich eine Wahl«, sagte ich, und wiederholte damit mehr oder weniger das, was Celia zuvor gesagt hatte. Da Daxton mich weiterhin ansah, schluckte ich. »Ja, klingt fair.«

Celia rümpfte die Nase. »Wenn du mitmachst, dann kannst du es genauso gut auch richtig machen. Hast du die Tätowierung?«

»Die VII«?, fragte ich. »Klar.«

»Nicht diese.« Sie drehte sich zu Daxton. Ich schloss die Augen und ignorierte die beiden, die jetzt begannen, über jedes winzige Detail von Lilas Körper zu diskutieren, und mit der Zeit traten ihre Stimmen in den Hintergrund.

Eine Sieben auf Lebenszeit, nur wäre die nicht besonders lang. Über eine Kanalarbeiterin weniger würden die Harts sicher keine Träne vergießen. Wenn sie mich nicht mehr brauchten, wäre das mein Ende. Ich hatte nur eine einzige Chance: dafür zu sorgen, dass sie mich so lange brauchten, bis ich in der Lage war, zu fliehen.

Am Leben bleiben. In Sicherheit. Daxton das Gefühl geben, dass ich ihm gehörte, bis ich eines Tages einen Ausweg fand und zu Benjy zurückkehren konnte. Nur das zählte. Was auch immer ich in der Zwischenzeit für Daxton tun müsste, wäre es wert.

Aber warum war es so wichtig, dass sie Lila durch mich am Leben erhalten mussten? Das Volk liebte sie, ja, aber Tragödien geschahen nun einmal. Was hatte sie getan, dass sie so unentbehrlich war?

Und warum hatte Daxton sie dann getötet?

Ich hatte eigentlich nicht einschlafen wollen. Als ich aufwachte, war Daxton weg, und Sonnenlicht strömte durch ein Fenster hinter mir in den Raum, das ich vorher nicht bemerkt hatte. Ich konnte zwar nur blauen Himmel sehen, aber zumindest gab es einen Fluchtweg, falls ich ihn brauchte.

Ich drehte mich auf die Seite, um meine Augen vor dem hellen Sonnenlicht zu schützen, und bemerkte die weiße Couch auf der anderen Seite des Raumes. Mit einem Schlag erinnerte ich mich wieder daran, was passiert war. Ich berührte mein Gesicht – Lilas Gesicht – und tastete über die fremden Kanten und Kurven. Sogar ihre Haut war glatter, als meine je gewesen war.

Mein Nacken juckte, und als ich zu kratzen anfing, erstarrte ich.

Ich konnte mich bewegen.

Ich starrte auf meine Hände. Die Haut war so weiß, als wäre ich noch nie vor der Tür gewesen, die Nägel waren perfekt und glatt, und als ich meine Fingerspitzen zusammendrückte, begannen sie zu prickeln. Nun, da die Betäubung nachgelassen hatte, konnte ich alles spüren, was sie getan hatten, und sie hatten nicht nur mein Gesicht verändert. Also schob ich die Decke von meinem Körper und begann, die Haut zu untersuchen, die um mein dünnes Krankenhaushemd herum frei lag. Sie war viel blasser als meine eigene und ohne eine einzige Sommersprosse oder irgendein Muttermal. Meine Hüfte schmerzte etwas, und als ich das Hemd hochzog, entdeckte ich die zarte Tätowierung eines Schmetterlings.

Das war es also, wovon Celia vorhin gesprochen hatte. Die Medien hätten einen Heidenspaß gehabt, zu erfahren, dass ihre kostbare Lila ein Tattoo besaß.

»Siehst du da etwas, das dir gefällt?«, hörte ich eine unbekannte Stimme fragen, und hastig zog ich die Decke wieder über meinen Schoß. Lennox Creed lehnte im Türrahmen, mit verschränkten Armen und dunklem Haar, das so zerzaust war, als wäre er an einem windigen Tag gerade ins Haus gekommen.

Knox. Lilas Verlobter. Mein Verlobter.

Ich blickte finster. »Sie hat eine Tätowierung.«

»Die haben wir alle.« Knox rieb sich über den Nacken, und ein kleiner Schauer durchlief mich. Stand ich wirklich einen Rang über ihm? Zweien zu übertreffen, bedeutete nichts, aber wenn er wirklich eine Sechs war …

»Auf ihrer Hüfte«, sagte ich. »Ein Schmetterling.«

»Ah, das.« Er trat in den Raum und zog seine Jacke aus. Als er an mein Bett trat, konnte ich das kalte Leder riechen. »Sie hatte viele Geheimnisse.«

»Waren sie schlimm genug, dass der Premierminister sie nicht richtig sterben lassen konnte wie den Rest von uns?«

Knox lächelte grimmig. »Anscheinend.«

Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, starrte ich ihn an. Er starrte zurück. »Du bist Knox«, sagte ich.

»Und du bist nicht Lila.« Er machte es sich auf dem Rand der Matratze bequem. »Celia sagte, dein Name wäre Kitty. Stimmt das?«

»Ja.« Ich versuchte, verärgert zu klingen. Meine Stimme kam mir noch immer komisch vor – hatten sie irgendwie auch dafür gesorgt, dass ich wie Lila klang? Das musste wohl so sein. Wie sonst hätte ich die ganze Sache hier durchziehen sollen? »Was willst du?«

Statt einer Antwort streckte er mir die Hand hin, damit ich sie schütteln konnte. Ich sah ihn an, während ich sie ergriff. Er hatte etwas an sich, dem ich nicht traute. Bestimmt tauchte nicht jeden Tag ein fremdes Mädchen mit dem Gesicht seiner Verlobten auf, und dafür war er irgendwie zu nett, zu locker.

»Du hast einen festen Händedruck«, sagte er. »Du musst das in Ordnung bringen, bevor du dich in der Öffentlichkeit zeigst. Lila war immer sehr zart.«

»Ich werde daran arbeiten.« Ich zögerte. Knox hatte Lila offensichtlich sehr nahegestanden, und er konnte mir dabei helfen, diese Scharade durchzustehen. Es konnte zumindest nicht schaden, mit ihm zu reden. »Bist du deshalb hier? Um meinen Händedruck zu kritisieren?«

»Zum Teil«, sagte er trocken. »Celia und ich haben vereinbart, mit dir zu üben, damit du so nahtlos wie möglich Lilas Leben übernehmen kannst, also wirst du uns oft zu sehen bekommen. Bis dahin, dachte ich, sollte ich mich dir vorstellen, da wir in ein paar Monaten heiraten werden und alles.«

Mein Magen zog sich zusammen. Daxton hatte zwar erwähnt, dass ich ihn heiraten musste, doch insgeheim hatte ich gehofft, dass Knox sich weigern würde, jetzt, da es nicht mehr Lila war.

»Ich dachte nicht …« Ich räusperte mich. »Der Premierminister sagte, das wäre nur vorübergehend …«

»Nicht ganz so vorübergehend«, meinte er. »Die Hochzeit ist für Silvester geplant. Lila hatte noch nicht viel bei der Planung geholfen, somit liegt eine Menge Arbeit vor dir.«

»Und was ist, wenn ich dich nicht heiraten will?«, fragte ich. »Darf ich da vielleicht auch mitreden?«

Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem zugleich bösen und amüsierten Lächeln. »Da Lila mich auch nicht heiraten wollte, glaube ich das kaum.«

Toll. Zu allem Überfluss musste ich mir jetzt auch noch Gedanken darüber machen, wie ich das Benjy erklären sollte. »Ich habe einen Freund.«

»Ja, stimmt«, sagte er. »Mich.«

»Einen, den ich wirklich mag.«

»Du wirst irgendwann lernen, mich zu mögen. Das geht den meisten so.«

Ich verkniff mir eine Antwort und fuhr mir mit der Zunge über meine Zähne. Sie waren auch anders, gerader als zuvor, mit kleineren Schneidezähnen. Wieder berührte ich mein neues Gesicht, um mir die neuen Konturen einzuprägen, und streichelte dann instinktiv mit den Fingerspitzen über meinen Nacken, um mich zu versichern, dass meine neue Markierung noch da war. Nur …

Mir gefror das Blut. Da waren drei Erhebungen, keine sieben, wie es hätte sein sollen. Ich strich mein Haar zur Seite und drehte mich so, dass Knox es sehen konnte. »Was steht da?«, fragte ich eindringlich. »Welcher Rang?«

»Eine VII«, antwortete er offensichtlich verwirrt. Als ich mich dann wieder umdrehte, musste ich wohl so panisch ausgesehen haben, wie ich mich fühlte, weil er ohne zu fragen die Hand nach mir ausstreckte. Erschrocken wich ich zurück, die Finger in die Bettdecke gekrallt. Er hielt inne. »Ich tue dir nichts. Darf ich?«

Ich nickte stumm, und er fuhr mit den Fingern über meine Markierung. »Du warst vorher eine Drei?«, fragte er. »Mein Gott, das ist ja mies.«

Er konnte es spüren. Die Tätowierung kennzeichnete mich zwar als eine Sieben, genau wie Daxton es versprochen hatte, aber die Erhebungen unter meiner Haut existierten noch immer. Und wenn Knox das bemerkte, bemerkte es jeder. Mein Herz begann zu hämmern. »Sie sagten, ich würde eine Sieben sein und nicht …«

»Das ist ihre Rückversicherung«, erklärte Knox. »Auf diese Weise können sie dich kontrollieren und, wenn nötig, beweisen, dass du nicht Lila bist. Aber mach dir keine Sorgen. Dazu wird es nicht kommen, und niemand, der bei Verstand ist, wird deinen Rang überprüfen.«

Ich zwang mich, ruhig zu atmen. Es würde zu einem Problem werden, wenn ich erst einmal geflüchtet war, aber bis dahin hatte Knox recht. Niemand hatte Grund zu der Annahme, dass ich nicht Lila war, sondern eine Extra und eine Drei, die jetzt eigentlich in Denver sein sollte. Niemand außer Tabs, und die war bereits tot.

Nein, Tabs wusste nicht als Einzige Bescheid, doch Daxton hatte keine Ahnung, dass es Benjy gab. Ganz bestimmt nicht.

Aber was, wenn doch?

Ich schleuderte die Decke weg, schwang die Beine zur Seite und ignorierte den scharfen Schmerz, als meine Füße den Boden berührten. Etwas fühlte sich seltsam an, aber was auch immer sie mir noch angetan hatten, spielte jetzt keine Rolle. Ich musste einen Weg finden, Benjy zu warnen.

Ich schob mich vom Bett und wollte mich hinstellen – schwankte aber zu sehr, meine Beine zitterten bei der Anstrengung, mein Gewicht zu tragen. Scheiße.

»Halt, was machst du da?« Knox streckte den Arm aus, um mich festzuhalten, und als ich versuchte, einen Schritt zu gehen, verfing sich mein Fuß in dem dicken Teppich. Ja, etwas war definitiv nicht in Ordnung mit mir.

»Wonach sieht es denn aus?« Ich fiel unbeholfen zurück aufs Bett. Als ich meine Beine ausstreckte, um zu sehen, was mit ihnen los war, klappte mir der Kiefer runter. Sie waren mehrere Zentimeter länger. Und dünner.

Also hatten sie nicht nur mein Gesicht und meine Hände und meine Hüfte verändert. Ich war auch größer.

Knox setzte sich neben mich. »Sie haben gute Arbeit geleistet.« Er starrte auf meine Beine. »Wenn ich es nicht wüsste, würde mir nichts auffallen.«

»Schön für sie«, sagte ich matt. »Ich brauche etwas frische Luft.«

»Ausgezeichnete Idee. Ich könnte selbst welche gebrauchen.«

Mit zusammengebissenen Zähnen zwang ich mich dazu, erneut aufzustehen. Diesmal wusste ich, was mich erwartete.

»Bitte«, sagte Knox und hielt mir seinen Arm hin. Ich schob ihn weg und begann, über den Teppich zu schlurfen. Das musste ich schon allein schaffen. Als ich endlich die Tür erreicht hatte, keuchte ich schwer, meine Muskeln brannten, und eine Schweißperle lief mir über die Stirn. Knox hatte die Tür offen gelassen, und ich streckte den Kopf um die Ecke, nur um einen langen weißen Flur zu sehen, der etwa eine Meile lang zu sein schien. Mir wurde das Herz schwer.

»Du bist ein stures kleines Ding, nicht wahr?« Knox tauchte mit einem Rollstuhl neben mir auf. »Du solltest wirklich lernen, wann man besser um Hilfe bittet. Dafür muss man sich nicht schämen, weißt du.«

»Ich lasse nicht zu, dass du mich in diesem Ding herumschiebst«, sagte ich tonlos.

»Du hast zwei Möglichkeiten: Du kannst entweder den ganzen Tag in diesem winzigen Raum bleiben und Trübsal blasen oder aufsteigen.« Er hielt inne. »Nun, du könntest auch versuchen, einfach weiterzugehen, aber das würde ich dir nicht empfehlen. Und die Ärzte ganz sicher auch nicht.«

Was die Ärzte dachten, interessierte mich nicht sonderlich – genauso wenig wie die Tatsache, dass Knox das Schlafzimmer für winzig hielt –, aber meine Beine zitterten so heftig, dass meine Knie praktisch bereits einsackten. Ein Rollstuhl mochte peinlich sein, aber immer noch besser als einfach umzufallen.

»Versprichst du mir, mich hinzubringen, wohin auch immer ich will?«, fragte ich.

Knox legte eine Hand auf sein Herz. »Du hast das Wort deines liebevollen und hingebungsvollen Verlobten.«

Ich verdrehte die Augen und ließ mich in den Stuhl sinken. Die Schmerzen in meinen Beinen waren schlimmer als alles, was ich jemals zuvor erlebt hatte, ich konnte tatsächlich spüren, wo man die Knochen und das Gewebe verlängert hatte. Kein Wunder, dass sie mich so lange im Koma gehalten hatten.

»Wohin, Eure Hoheit?« Knox reichte mir eine Decke. Ich steckte sie um mich herum fest und war dankbar für die Wärme.

»Wie wäre es mit einer kleinen Führung?« Er würde mich niemals aus dem Gebäude bringen, aber so konnte ich zumindest den Grundriss kennenlernen.

Knox begann, mich zu schieben. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Der lange Flur war nur der Anfang. Knox schob mich noch einen weiteren entlang, dann einen weiteren und noch einen, und es fiel mir schwer, mir den Weg einzuprägen. Erst als ich anfing, mir die Flure als Abwasserkanäle vorzustellen, gelang es mir, den Überblick zu behalten. Ich kannte das Abwassersystem besser als die meisten städtischen Angestellten, weil es gefährlich war, sich dort unten zu verlaufen. Wobei es ganz bestimmt nicht halb so gefährlich war, wie sich an diesem Ort zu verlaufen.

»Wo befinden sich die Ausgänge?«, wollte ich wissen. Alle Türen waren in die Wände eingelassen, und keine einzige sah aus, als würde sie auf die Straße führen.

»Willst du uns schon so schnell wieder verlassen?«, fragte Knox.

»Es könnte ein Feuer geben«, meinte ich wenig kreativ, und ich konnte ihn praktisch grinsen hören, während er mich in einen Aufzug schob. Aufzüge gab es nur wenige in den Heights, und die meisten waren klapprig und blieben einmal pro Woche stecken, und ich hasste das Gefühl, in ihnen gefangen zu sein. Aber vorerst steckte ich vor allem in diesem Stuhl fest, und außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser Aufzug überhaupt jemals kaputt ging. Er war todschick mit seiner Decke aus weißem Stuck und seinen golden glänzenden Tasten. Spiegel umgaben uns von allen vier Seiten, und ich sah den düsteren Ausdruck auf meinem mir unbekannten Gesicht. Lila sah sogar hübsch aus, wenn sie unglücklich war.

Jetzt konnte ich auch zum ersten Mal einen richtigen Blick auf meinen neuen Körper werfen. Als der Aufzug nach oben fuhr, starrte ich mich an und versuchte, irgendeine Verbindung zu meinem wahren Aussehen herzustellen. Alles an mir, von meinen Haaren bis zu meinen Füßen, war in eine exakte Kopie von Lila verwandelt worden, und je genauer ich hinsah, desto klarer wurde mir, dass selbst ich keinen Unterschied erkennen konnte.

Als ich meine Brüste sah, riss ich die Augen auf und legte die Hände darauf. »Ihr habt mir Implantate eingesetzt?«

In den Spiegeln konnte ich sehen, wie Knox versuchte, nicht laut loszulachen. »Ich habe gar nichts gemacht, und ich bezweifle, dass es sich um Implantate handelt. So was ist seit Jahren nicht mehr gemacht worden. Wahrscheinlich sind sie so echt wie deine alten.«

Das fand ich nicht sehr beruhigend. »Was war mit meinen nicht in Ordnung?«

»Sie waren nicht Lilas.«

»Ja, aber so groß war der Unterschied nun auch wieder nicht, oder? Wer würde schon Lilas Brust so lange anstarren, um das bemerken zu können?«

Knox grinste. »Etwa die Hälfte der Bevölkerung.«

Mein Gesicht färbte sich knallrot, und ich suchte noch immer nach einer passenden Antwort, als die Türen aufgingen und sich Sonnenlicht im Aufzug ausbreitete.

Für einen Moment glaubte ich, zu halluzinieren. Vor mir erstreckte sich ein klarer blauer Himmel, der nichts mit dem versmogten Himmel des District of Columbia zu tun hatte, und weiße Gipfel zeichneten sich in der Ferne ab. Berge.

»Das ist der Ausgang«, sagte Knox und schob mich nach vorn, bis wir uns ganz dicht an der Dachkante befanden. Ein bitterkalter Wind peitschte um mich, aber ich war zu benommen, um mir Sorgen wegen der Kälte zu machen. Wir befanden uns auf einem Gelände, das aus dem Berg selbst herausgearbeitet zu sein schien. Als ich mich auf meine wackeligen Beine stellte, um mich umzusehen, konnte ich keine Städte oder Häuser oder sonst etwas sehen. Nur das Dach und die schneebedeckten Gipfel.

»Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass wir in der Stadt die Änderungen an dir vornehmen würden, oder?«, fragte eine Stimme hinter mir. Daxton.

In einem eleganten schwarzen Anzug, als käme er gerade von einer wichtigen Veranstaltung, schlenderte er auf uns zu. Hinter ihm ein Flugzeug mit dem Wappen der Familie Hart auf dem Heck, die Luft um ihn herum schien von der Hitze der Triebwerke zu flimmern.

»Wo sind wir?« Ich hätte mir gewünscht, meine Stimme hätte nicht genauso gezittert wie meine Knie. Hastig hielt ich mich an der Brüstung fest.

»An einem Ort, an dem niemand dich finden wird«, sagte Daxton und zog dabei lächelnd seine Lederhandschuhe aus. »Wir in unserer Familie nennen es die Festung, und ihre Lage ist geheim. Du verstehst schon.« Er zwinkerte mir zu. »Wir dachten, bis du dich eingelebt hast, ist hier der sicherste Ort für dich.«

Bis ich ihre Farce nicht mehr öffentlich verraten konnte, meinte er wohl. »Für wie lange?«

»Das, meine Liebe, liegt ganz bei dir.« Er nahm seinen Schal ab und machte einen Schritt auf mich zu. Ich zuckte zusammen, doch er legte ihn mir nur sanft um den Hals. »Ich möchte nicht, dass du dich erkältest.«

»Ich bringe sie wieder rein.« Knox berührte meinen Ellbogen, aber ich blieb, wo ich war, ohne das gefrorene Geländer loszulassen.

»Was muss ich tun, damit ich nicht Ihre Gefangene bin?«

»Aber meine Liebe.« Daxton sah mich mit vor Sorge weit aufgerissenen Augen an. »Du bist nicht meine Gefangene. Wenn du gehen willst, werden wir dich nicht daran hindern, aber natürlich würde es gewisse Konsequenzen nach sich ziehen.«

Wie zum Beispiel eine Kugel in meinem Kopf. »Ja, ich weiß.«

Knox räusperte sich. »Sir, ich glaube, sie meint, wie lange sie hierbleibt, bevor sie sich als Lila ausgeben kann.«

Daxton verzog die Lippen zu einem anzüglichen Grinsen. »Hast du dich also entschieden, doch nicht gegen uns zu kämpfen? Welch erfreuliche Nachrichten. Mutter wird begeistert sein, davon zu hören.«

Ich vergrub meine Nägel in dem Stahlgeländer. »Ich werde nicht gegen Sie kämpfen. Sagen Sie mir, was ich tun muss, um hier wegzukommen, und ich tue es.«

Daxton umfasste meine Wange, seine Hand wie Feuer im eisigen Wind. »Ich bin sehr froh, das zu hören, Liebling. Mir ist klar, wie schwierig das für dich sein muss, und wir alle sind hier, um dir zu helfen. Ich werde Knox und Celia bitten, morgen mit deinem Unterricht zu beginnen. Deine Fortschritte werden darüber bestimmen, wie lange er dauern wird. Ich hoffe, es werden nur ein paar Wochen sein, aber es wird so lange dauern, wie es sein muss.«

Es sei denn, ich versagte vollkommen. Ich bezweifelte nicht, dass sie mich ohne Probleme ersetzen konnten.

»Wenn wir sicher sein können, dass du die Prüfung bestehst, wirst du Mutter treffen«, fuhr er fort. »Sie wird das letzte Urteil sprechen.«

Ich umfasste das Geländer fester, um nicht zu schwanken. Nina bezeichnete Augusta Hart immer als die Bitch Queen, und das aus gutem Grund. Seit der Zeit vor meiner Geburt hatte es kein einziges Foto mehr von ihr gegeben, auf dem sie lächelte, und sie war berühmt für ihre Unnachgiebigkeit, sowohl dem Volk als auch ihrer eigenen Familie gegenüber. Es war allgemein bekannt, dass ihr Mann Edward nur das Aushängeschild gewesen war, während in Wahrheit sie das Land mit eiserner Faust regiert hatte. Und anscheinend galt das Gleiche auch für Daxton.

Knox half mir wieder in meinen Stuhl, und ich hatte alle Mühe, das Entsetzen zu verbergen, das in mir aufstieg. Vorzugeben, eine Sieben zu sein, war eine Sache, aber es war einfacher, einem Elefanten das Stepptanzen beizubringen, als Augustas Anerkennung zu erhalten. Jede Hoffnung, die Leute hier zu überlisten, war dahin, und das Einzige, das ich jetzt noch tun konnte, war, zu versuchen, lange genug am Leben zu bleiben, um dafür zu sorgen, dass sie Benjy nichts antaten.

V

AUGUSTA

Lila war Rechtshänderin.

Normalerweise wäre das kein Problem gewesen, denn obwohl ich kaum meinen eigenen Namen schreiben konnte, konnte ich zeichnen. Ich hatte mit Filz- und Buntstiften gemalt, seit ich groß genug war, sie aus den Vorratsschränken im Gruppenheim zu stibitzen, allerdings wie alles, was ich tat, immer mit der linken Hand.

Also musste ich nicht nur lernen, Lilas Handschrift nachzuahmen, sondern auch mit der rechten Hand zu essen. Zusätzlich gab es bei den Harts allein für das Speisezimmer schier endlose Regeln, die man befolgen musste. Gerade sitzen, ohne Zögern die richtige Gabel benutzen, den kleinen Finger strecken, wenn ich einen Schluck Wasser trank – alles, was Lila instinktiv getan hatte, musste ich von Grund auf lernen. Wir probten wie für eine Show, als ob Celia und Knox erwarteten, dass ständig Kameras auf mich gerichtet sein würden, und wahrscheinlich hatten sie sogar recht. Ich würde keine zweite Chance bekommen.

»Wenn du die Grundlagen draufhast, klappt das schon«, meinte Knox am ersten Tag meines Trainings. »Der Trick dabei ist, sie nicht davon überzeugen zu wollen, dass du Lila bist – sondern nichts zu tun, was Fragen aufwirft.«

Damit wollte Knox mir das Leben vermutlich leichter machen, aber ich wusste einfach nicht genug über Lila, um sie nachzuahmen. Alles, was ich tat, war anders – von der Art, wie ich ging, bis hin zur Art, wie ich sprach. Ich hatte einen Akzent und sie nicht. Ich hatte noch nie zuvor Absätze getragen und Lila offenbar nie etwas anderes. Was sie gern aß, hasste ich, was es einerseits leichter machte, ihr geringes Gewicht zu halten, andererseits war ich aber ständig versucht, mich in die Küche zu schleichen, um was Richtiges in den Magen zu bekommen.

Was ich aber nie tat, und zwar nicht nur, weil ich in der Festung sogar Schwierigkeiten hatte, das Badezimmer zu finden, geschweige denn die Küche, sondern weil ich nicht wusste, was sie mit mir machen würden, wenn sie mich dabei erwischten. Knox tat zumindest so, als wäre er auf meiner Seite, während Celia mir nicht einmal in die Augen sehen konnte. Was ich ihr zwar nicht übel nehmen konnte, mir aber ständig das Gefühl gab, eine Ausgestoßene zu sein. Allerdings musste ich ihr zugestehen, dass sie es zumindest nicht an mir ausließ. Zwar wurde sie von Tag für Tag immer distanzierter, war aber nie grausam zu mir. Sie saß hier genauso fest wie ich, und das Einzige, was wir tun konnten, war, nicht zu zeigen, wie sehr wir litten.

Das Problem, das nicht so schnell gelöst werden konnte, war die Tatsache, dass ich nicht lesen konnte. Lila hatte Bücher geliebt, laut Celia hatte sie in ihrem New Yorker Haus eine ganze Bibliothek für sich allein gehabt. Ständig hatte sie ein altmodisches Taschenbuch mit sich herumgetragen, um in ihrer knapp bemessenen Freizeit zu lesen, und viele ihrer Reden hatte sie von Bildschirmen abgelesen. Teleprompter nannte Celia sie. Knox bezeichnete sie als Spickzettel.

Das konnte man bei mir allerdings total vergessen. Ich musste lernen, eine Rede zu halten, die mir über einen Ohrhörer vorgelesen wurde, was, wie ich schnell herausfand, viel schwieriger war, als es klang. Ich versuchte es immer und immer wieder, doch es wurde nie einfacher. Schlimmer war aber noch, dass Lila genau wie Celia geklungen hatte, ihre Stimme war voll und viel erwachsener als meine gewesen. Irgendeine Art von Technologie war in meinen Kehlkopf implantiert worden, um ihre Stimme zu kopieren, aber das Problem war weniger der Klang ihrer Stimme, sondern die Art und Weise, wie sie sprach und Sätze bildete. Nach einer Woche hatte ich es immer noch nicht drauf. Wenn sie sprach, klang es so, als hätte sie die Antworten auf alle Fragen, und sie hatte etwas an sich, das sogar mich dazu gebracht hätte, ihr zuliebe von einer Klippe zu springen. Und das konnte ich nicht imitieren, sosehr ich es auch versuchte.

Zudem machte Celia den Fehler, mir das Lesen beibringen zu wollen, obwohl ich ihr erklärte, dass es sinnlos war. Denn es lag ja nicht daran, dass ich dumm war oder es nie versucht hätte. Die aneinandergereihten Buchstaben ergaben einfach keinen Sinn für mich. Ich wusste, was Worte bedeuteten, und weil Benjy mir jede Nacht vorgelesen hatte, kannte ich meine Lieblingsgeschichten auswendig. Aber während ich das Talent hatte, mir merken zu können, was ich gehört hatte, funktionierte beim Lesen einfach etwas in meinem Kopf nicht. Celia versuchte, ruhig zu bleiben, gab aber schließlich auf.

»Ich werde deine Reden für dich aufzeichnen«, sagte sie nach einer verheerenden Lektion mit einem von Lilas liebsten Kinderbüchern. »Dann kannst du sie stattdessen auswendig lernen.«

Das war mir nur recht, und von da an wurde es allmählich einfacher. Ob es mir passte oder nicht, nach und nach verwandelte ich mich in Lila Hart.

Es dauerte elf Tage, bis ich alles gelernt hatte, was nötig war, um nicht zu genaue Beobachter täuschen zu können. Wenn ich nicht gerade schlief oder Unterricht von Knox und Celia bekam, sah ich mir Aufnahmen von Lila an. Rede um Rede um Rede um Rede, öffentliche Auftritte, Familienaufnahmen aus ihrer Kindheit – alles, was es über Lila zu wissen gab, wusste ich nach diesen elf Tagen. Sie aß kein rotes Fleisch, sie bevorzugte Musik, die so alt war, dass sie von Menschen gesungen worden waren und nicht von digital erzeugten Stimmen, um ihre Augen entstanden nie Fältchen, wenn sie lächelte, und laut Knox hatte sie sich nur wenige Monate vor ihrem Tod den Schmetterling stechen lassen. Es war ein Akt der Rebellion gewesen, den sie bei einem formalen Abendessen mit ihrem Onkel, ihrer Großmutter und den Führern ausländischer Nationen, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, voller Absicht enthüllt hatte. Sogar Celia, die immer ausdruckslos auf ihre Hände starrte, während die Reden abgespielt wurden, musste bei der Erinnerung daran lächeln.

Aber das waren nur Schnappschüsse. Nur flüchtige Eindrücke davon, wer sie gewesen war. Fakten. In gewisser Weise fühlte es sich an, als würde ich sie umso weniger kennen, je mehr ich über sie erfuhr.

Die Reden, die sie gehalten hatte, waren gefährlich gewesen, sie hatte Gründe aufgezählt, warum die Menschen gleichgestellt sein sollten, so wie es Anfang des 21. Jahrhunderts der Fall gewesen war – als niemand gekennzeichnet und bestimmten Berufen zugeordnet worden war, als Freiheit mehr bedeutete, als nachts auf ausgewiesenen Straßen spazieren zu können. Als das Leben eines Menschen nicht von einer einzigen Prüfung bestimmt worden war, als man werden konnte, was man wollte, und das Leben führen durfte, das man sich wünschte, als niemand einem vorschrieb, was man zu tun hatte. Als wir alle eine Wahl hatten. Eine echte Wahl.

Mein ganzes Leben lang hatte man mir erzählt, dass es die Ränge aus guten Gründen gab. Jeder hatte auf diese Weise seinen Platz, und eine Gesellschaft konnte nur funktionieren, wenn alle das System respektierten. Wir waren alle gleich, wenn wir die Prüfung machten, und wir wurden alle auf die gleiche Weise bewertet.

Doch in Lilas Reden ging es darum, dass Kinder, die in den Bezirken für Zweien und Dreien aufwuchsen, nicht die gleichen Möglichkeiten bekamen wie die anderen. Zuerst begriff ich das gar nicht – Lernen war Lernen, richtig? Wen interessierte es, wo sich die Schulen befanden oder wie sie ausgestattet waren?

Doch dann sprach sie über die Ausbildung, die die Kinder von Fünfen und Sechsen erhielten.

»Einige Kinder haben Tutoren, die ihnen bei der Prüfung helfen?«, fragte ich fassungslos. »Ist das nicht Betrug?«

Auch nur fünf Minuten mit meinen Lehrern sprechen zu können, war praktisch unmöglich gewesen, länger war schon gar nicht drin gewesen. Dafür konnten sie nichts – denn Dutzende von uns waren in ein einziges Klassenzimmer gepfercht gewesen. Die Lehrer konnten ja schon von Glück reden, wenn sie alle Schüler gleichzeitig zum Schweigen bringen konnten.

Celia drückte ein paar Tasten auf der Fernbedienung. »Ich würde es nicht Betrug nennen. Sagen wir mal, es geht mehr darum … auf die Prüfung hin zu unterrichten.«

»Die begehrtesten Tutoren sind diejenigen, die zuvor in den Prüfungszentren gearbeitet haben«, sagt Knox. »Wenn deine Familie genug Geld hat, stellen sie so jemanden an.«

»Ja, aber das können sich auch nur Sechsen leisten«, sagte ich. Er zuckte mit den Schultern.

Danach machte ich es mir zur Aufgabe, genau hinzuhören, was Lila sagte, und nicht nur wie sie es sagte. Wenn die Regierung gelogen hatte, was die sogenannten gleichen Chancen bei der Prüfung betraf, worüber hatte sie dann sonst noch gelogen?

Keine der Reden, die Lila gehalten hatte, wurde im Fernsehen übertragen. Stattdessen wurden sie auf mobilen Geräten aufgenommen, wie Daxton eines hatte, einige so wackelig, dass ich wegschauen musste, aber dabei ging es auch gar nicht darum, wie sie aussah. Sondern darum, wovon sie sprach, nämlich davon, Anderswo endgültig zu schließen und zu dem Regierungssystem zurückzukehren, das Amerika vor der Einsetzung der Minister der Union hatte, als Wahlen noch wirklich Wahlen waren und nicht einfach nur ein Weg für die Harts, zu legitimieren, dass sie das Land im Würgegriff hielten.

Das war politischer Verrat, und wäre sie nicht eine Hart gewesen, hätte man sie sofort erschossen. Sie stellte das System infrage, das ihrer Familie die Macht und eine VII im Nacken garantierte. Sie hatte eine Rebellion angeführt.

In der Schule hatten wir nichts über die Zeit vor den Rängen gelernt. Ab und zu wurde die Vergangenheit erwähnt, die Weltkriege und die längst verstorbenen Könige der Länder jenseits der Ozeane, doch in den Schulbüchern begann die Geschichte erst vor einundsiebzig Jahren, als der erste Bürger der Union gekennzeichnet worden war und Daxtons Großvater Premierminister wurde. Jahre vor meiner Geburt hatten noch Menschen gelebt, die sich an die Zeit davor erinnerten, doch heute wurde jeder über sechzig nach Anderswo geschickt, und man hörte nie wieder etwas von ihnen.

Vielleicht war es das, was Daxton im Sinn hatte, anstatt mich zu töten. Dann könnte ich aber genauso gut tot sein, denn niemand wusste, wo Anderswo lag. Angeblich an einem warmen Ort, wo die Menschen zunächst alt wurden, bevor sie starben, und wo sie den überfüllten Städten keinen Wohnraum wegnahmen, und wo sie auch die Kriminellen im Auge behalten konnten, die ebenfalls dorthin geschickt wurden, wegen kleinster Verbrechen aus der Gesellschaft verbannt. Es wäre also gar nicht so schlimm, abgesehen davon, dass ich Benjy dann nicht mehr hätte.

Da war etwas an der Art und Weise, wie Lila sprach – sie glaubte an ihre Botschaft. Es war nicht nötig, den Zweien und Dreien zu sagen, dass in ihrem Leben etwas Entscheidendes fehlte, aber nach den gut gekleideten Menschen in ihrem Publikum zu urteilen, gehörten die wenigsten geringeren Rängen als einer Fünf an. Sie sprach also nicht nur öffentlich über ihre verräterischen Ideen, sondern überzeugte auch die Klugen und Mächtigen von ihnen.

Kein Wunder, dass Daxton und Augusta sie hatten töten lassen.

Eines Nachmittags, als ich mir die letzte Aufnahme von ihr ansah – eine einzige mitreißende Forderung, das Rang- und Arbeitssystem zugunsten von Freiheit und Wahlmöglichkeiten abzuschaffen –, knarrte auf einmal die Türklinke. Knox, der neben mir saß, sprang auf, um den Bildschirm auszuschalten. Von der anderen Seite des Raumes stürzte Celia auf die Tür zu.

Ich erwartete, dass sie denjenigen, wer auch immer vor der Tür war, ordentlich zusammenstauchen wollte, doch stattdessen wich sie zurück, um die Tür weit zu öffnen. Daxton trat ein, und hinter ihm erschien eine Frau mit kinnlangem weißem Haar und einem so glatten Gesicht, als wäre es aus Marmor. Sie hielt ihre Schultern so perfekt gerade, dass meine Wirbelsäule bei ihrem Anblick schmerzte, und als Mitglied der einzigen Familie, die davon befreit war, mit sechzig nach Anderswo gehen zu müssen, war sie mit Abstand der älteste Mensch, den ich je gesehen hatte.

Augusta Hart.

»Guten Tag, Mutter«, sagte Celia. »Wir haben dich erst in zwei Stunden erwartet.« Ich konnte die Bitterkeit in ihrem Ton hören, aber Augusta schien nichts zu bemerken. Oder es war ihr egal.

»Ich habe unerwartet etwas freie Zeit«, verkündete Augusta mit einer Stimme so kalt wie ihr Gesichtsausdruck. Sie starrte mich an, als könnte sie direkt durch Lilas Antlitz die Person erkennen, die ich wirklich wahr. Ich hielt ihrem Blick stand, aber sie sagte nichts.

Daxton zögerte. »Mutter, das ist Kitty. Lilas Ersatz.«

»Stellvertreterin«, korrigierte Augusta ihn. »Was habt ihr ihr beigebracht?«

»Alles«, antwortete ich. »Wie Lila sprach, wie sie sich verhielt, wie sie ging und was sie aß …«

»Celia«, unterbrach Augusta mich, als hätte ich nichts gesagt. »Ich habe dir eine Frage gestellt.«

Mein Gesicht wurde heiß, ich starrte sie finster an, und in Celias Kiefer begann ein Muskel zu zucken. »Wir haben ihr genau das beigebracht, was du wolltest, Mutter. Die Grundlagen und genug, damit sie sich vollständig anpassen kann. Nicht mehr.« Sie schaltete den Fernseher ein, den Knox so hastig ausgeschaltet hatte. Auf irgendeine Weise war Lilas letzte Rede durch eine Aufnahme ersetzt worden, in der sie als Kind in einem Ballettröckchen und mit einer Krone auf dem Kopf herumlief, die wohl eher nicht aus Plastik war.

Augusta nickte kurz und sah mich weiter an, als wäre ich ein Möbelstück und kein lebender und atmender Mensch. »Wenn sie die heutige Prüfung besteht, wird sie in die Stadt zurückgebracht und sich dort ihren Pflichten widmen. Wenn nicht, bleibt ihr alle in der Festung, bis sie so weit ist.«

»Natürlich«, sagte Celia, und Augusta rümpfte die Nase.

»Wenn alles gut geht, werden wir morgen die Medien über ihre Rückkehr aus dem Urlaub informieren, sodass es zu keinen Spekulationen kommt«, fügte sie hinzu, gerade so als ob die Harts die Medien und die öffentliche Meinung nicht seit Jahrzehnten kontrollierten. »Ihr habt in Aspen Urlaub gemacht. Bereite sie auch darauf vor.«

Augusta wandte sich ab, um den Raum zu verlassen, und ich ballte die Fäuste. »Es war schön, dich kennenzulernen«, sagte ich, bevor ich mich zurückhalten konnte.

Sie blieb wie angewurzelt stehen. Sekunden vergingen, mein Herz pochte heftig, als ich darauf wartete, dass sie etwas sagte. Vielleicht war ich für sie nichts anderes als ein Bauer, eine namenlose Figur in diesem verdrehten Spiel, aber sie hatte kein Recht, mich zu ignorieren.

Schließlich ging Augusta zur Tür, die Daxton ihr aufhielt. »Sei nicht albern, Liebes«, sagte sie. »Du kennst mich doch schon dein ganzes Leben lang.«

Celia verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, mich auf das Abendessen vorzubereiten. Sie steckte mich in ein Kleid und schmerzhaft hohe High Heels, und während sie mein Haar frisierte, fragte sie mich alles ab, was ich in den letzten elf Tagen gelernt hatte. Doch egal wie sehr ich mich auch anstrengte, nichts machte ich ganz richtig.

»Nein, nein, nein«, fuhr sie mich an und zog an meinen Haaren. »Ihre Katze heißt Missy und nicht Misty, und ihre Lieblingsfarbe ist Chartreuse und nicht Grün.« Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus und wandte sich dann an Knox, der auf der Couch saß und uns beobachtete. »Sie schafft das nicht, und dann geht es uns an den Kragen.«

Knox stand auf und durchquerte den Raum. Er schob sie zur Seite und vollendete mit sanften Händen die komplizierte Frisur. Wie oft er das wohl für Lila getan hatte?

»Gib einfach dein Bestes«, sagte er ruhig zu mir, während Celia sich zischend auf das Sofa plumpsen ließ. »Wenn du noch nicht so weit bist, machen wir eben so lange weiter, bis du es draufhast. Niemand kann von dir erwarten, in weniger als zwei Wochen ein komplett anderer Mensch zu werden.«

Augusta offenbar schon, und ihre Meinung war die einzige, die zählte.

»Was wird sie von mir wissen wollen?«, fragte ich in meinem lockeren Akzent, anstatt über Lilas steife und richtige Aussprache zu stolpern. Wenn ich irgendetwas vermasselte, dann das.

»Das weiß ich nicht.« Er steckte einen kleinen Zopf fest. »Denk einfach an das, was wir dir beigebracht haben, dann klappt es schon.«

»Was auch immer du tust, erwähne bloß nicht die Reden«, sagte Celia, und Knox warf ihr einen scharfen Blick zu, den sie ausdruckslos erwiderte. »Sie muss wissen, dass sie nichts darüber sagen darf, weil Mutter uns sonst alle umbringt.«

Die Reden, die sie mir vorgespielt hatten, standen also nicht auf dem von Augustas genehmigten Lehrplan. Irgendwie überraschte mich das nicht. »Werde ich nicht.« Ich sah Knox im Spiegel an. »Keine Sorge.«

»Das ist nicht das Einzige, worüber wir uns Sorgen machen müssen«, murmelte er. Dann war er mit meiner Frisur fertig, und zu meiner Überraschung stand sie Lila ausgezeichnet. Oder mir.

Er reichte mir seine Hand, die ich aber ignorierte. Stattdessen warf ich einen letzten Blick auf mein neues Gesicht. Das musste für heute reichen. »Bringen wir es hinter uns.«

Knox und Celia gingen voraus zum Speisezimmer. Es war, als hätte ich alles vergessen, was sie mir beigebracht hatten. Ich fühlte mich ganz leer. Meine Hände zitterten, und ich konnte mich kaum an meinen eigenen Namen erinnern, geschweige denn an Lilas.

Ich atmete einmal tief durch, dann noch einmal, um meine Nerven zu beruhigen, was aber nicht funktionierte, denn mein Herz raste weiter und wurde nicht ruhiger. Ich war erledigt. Denn ich mochte vielleicht wie Lila aussehen, doch ich war nicht sie. Daran würde auch noch so viel Training nichts ändern.

Auf halbem Weg legte Knox eine Hand auf meine Schulter und schenkte mir ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Du kannst alles vortäuschen, solange du Lilas Haltung imitierst. Kinn hoch, und tu so, als ob dir das alles nichts ausmachen würde, auch wenn es nicht stimmt, dann bist du fein raus.«

»Klingt bei dir, als wäre es die einfachste Sache der Welt«, sagte ich.

»Für Lila war es das auch.« Knox bot mir seinen Arm an. Ich wollte schon ablehnen, aber mein Kleid war aus Seide, und ich hätte es mir nie verziehen, zu stolpern und so etwas Wunderschönes zu zerreißen. Also schob ich meinen Arm in seinen und richtete mich auf. Lila hätte man niemals schlurfen sehen.

»Wie haben wir uns kennengelernt?«, fragte ich in Lilas Tonfall, der in meinen Ohren unecht klang, aber da Celia nichts sagte, konnte es nicht so schlimm sein.

»Hast du jetzt dein Gedächtnis komplett verloren?« Er hob eine Augenbraue. »Oder hast du unter stärkeren Drogen gestanden, als ich dachte?«

Ich sah ihn böse an. »Ich rede nicht von mir. Ich rede von Lila. Wie habt ihr zwei euch kennengelernt?«

»Wir kannten uns seit unserer Kindheit, und wir haben uns mit siebzehn verlobt. Mein Vater ist der Minister für Ränge, deswegen steht meine Familie dem Rang der Sieben nahe. Es war praktisch seit ihrer Geburt so ausgemacht.«

»Du bist also keine Sieben?«, fragte ich. »Ich meine, ich weiß, dass nur die Harts den Rang einer Sieben haben, aber da du sie heiraten wirst …« Besser gesagt mich. Ich schauderte. »Ich dachte, sie hätten dir vielleicht auch eine VII gegeben.«

Knox öffnete den Kragen, damit ich seine Tätowierung sehen konnte. Eine schwarze VI zeichnete sich auf seiner Haut ab, und ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht zu grinsen. Ich hatte einen höheren Rang als Lennox Creed. »Niemand, der nicht als Hart geboren wurde, bekommt eine VII. Außer dir, natürlich.« Er grinste. »Du Glückspilz.«

»Ich Glückspilz.« Wenn Knox selbst nach der Heirat mit Lila – mit mir – keine VII bekam, bedeutete das etwa, dass Augusta auch eine VI war? Das klang fast zu gut, um wahr zu sein. »Du musst klüger sein, als du aussiehst.«

»Wie meinst du das?«, fragte er.

»Deine Prüfung«, sagte ich. »Du hast eine VI bekommen.«

»Oh, du meinst die Eignungsprüfung«, sagte Knox. »Die habe ich nicht gemacht. Der künftige Minister für Ränge darf schließlich keinesfalls nur eine IV oder eine V bekommen, oder?«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Du hast keine Prüfung abgelegt?«, rief ich fassungslos. »Aber … das ist nicht fair!«

Knox zog mich weiter, doch ich bohrte die Absätze in den Marmorboden. Celia packte mich an meinem anderen Ellbogen. »Alle Ministerposten werden vererbt«, sagte sie. »Alle Harts bekommen eine VII und alle Kinder von Ministern eine VI

Gemeinsam schoben sie mich den Flur hinunter, und schließlich gab ich nach, zu entgeistert, um mich zu wehren. »Also war das ganze Gerede von wegen alle haben die gleiche Chance nur ein Haufen Mist?«, fauchte ich.

»Ja«, entgegnete Celia. »Ich bin überrascht, dass überhaupt noch jemand daran glaubt.«

Alle glaubten noch immer daran. Wie sonst hätten wir unser erbärmliches Leben ertragen können? Den Kids, die noch keine Prüfung gemacht hatten, blieb zumindest die Hoffnung, doch noch etwas aus ihrem Leben machen zu können. Die gleiche Hoffnung, die ich an dem Tag verloren hatte, an dem ich als Drei gekennzeichnet worden war.

»Und wenn es da draußen jemanden gibt, der besser qualifiziert ist?«, fragte ich. »Was, wenn du in Wahrheit eine Zwei bist und plötzlich das ganze Land regierst?«

Knox lächelte grimmig. »Ich bin keine Zwei, und ich bin mein ganzes Leben lang für diesen Posten ausgebildet worden. Wenn mein Vater sechzig wird, ist niemand besser darauf vorbereitet als ich.«

»Es ist trotzdem unfair«, sagte ich, doch er zuckte mit den Schultern.

»Wie fast alles im Leben. So funktioniert die Welt nun mal. Wenn es dir nicht passt, dann unternimm etwas dagegen.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Es gab nichts, was ich tun konnte. Das war ja das Problem. Ich mochte jetzt vielleicht eine Sieben sein, aber das gab mir keine Macht und kein Privileg, über das Daxton nicht bestimmte. Sobald ich den Mund aufmachte, riskierte ich mehr als nur meinen neuen Rang, und egal wie wütend es mich machte, für mich gab es jetzt nur eine einzige Aufgabe, die ich zu erledigen hatte: die Welt davon zu überzeugen, dass ich Lila war.

Und zwar mit einem Lächeln. Lila war vielleicht für eine Weile in der Lage gewesen, sich gegen ihre Familie zu stellen, aber ich war nicht Lila, mal ganz davon abgesehen, was ihr am Ende widerfahren war. Das durfte mir auf keinen Fall passieren.

Das Esszimmer war in das warme goldene Licht des Kristalllüsters getaucht. Auf dem Tisch lag eine scharlachrote Decke, und die Möbel waren aus dunklem Holz gefertigt, was dem Raum zugleich eine luxuriöse und heimelige Note verlieh. Was auch immer ich erwartet hatte, so etwas jedenfalls nicht. Eher einen kalten, hellen Raum, in dem man mich mit Fragen nach Lilas Leben löchern würde. Nicht so etwas Bequemes.

Daxton saß an dem Ende des Tisches, das der Tür am nächsten war, und ihm gegenüber saß Augusta, die mich über ihr Weinglas hinweg beäugte. Meine Füße wollten sich nicht bewegen, doch Knox schob mich um den Tisch herum, wo wir beide Platz nahmen. Ich saß zwei Stühle von Augusta entfernt und sah weg, um ihrem brennenden Blick zu entgehen.

»Guten Abend, Mutter«, sagte Celia. »Daxton.«

Nachdem auch Knox beide begrüßt hatte, sahen sie mich erwartungsvoll an. Schwer schluckend wünschte ich, ich hätte den Lektionen über das Protokoll mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Leute waren angeblich meine Verwandten, mein Onkel, meine Großmutter, meine Mutter und dazu mein Verlobter, somit war eine Verbeugung nicht angebracht. Aber eine höfliche Begrüßung schon.

»Guten Abend.« Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln. Das schien zu genügen, denn sie alle entfalteten ihre Servietten, um sie sich auf den Schoß zu legen. Früher, als ich noch Kitty war und nicht diese seltsame Verschmelzung von mir und Lila, hatte es keinen Grund gegeben, eine Serviette auf diese Weise zu benutzen. Nichts, was ich besessen hatte, war wertvoll genug gewesen, dass man es vor so etwas wie Brühe oder Wasser hätte schützen müssen. Doch jetzt, in Seide gekleidet und mit Rotwein im Glas, wäre ich sogar über ein Lätzchen froh gewesen.

»Wir haben dich vermisst, Lila«, sagte Augusta mit steifer Stimme, und ich verspannte mich. Unter dem Tisch drückte Knox meine Hand. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen, und wusste nicht, ob er mich beruhigen wollte oder ob das lediglich eine normale Geste zwischen ihm und Lila war. »Wie war dein Urlaub?«

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