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Blackcoat Rebellion - Die Bürde der Sieben

hier erhältlich:

Der zweite Teil von Aimée Carters Jugendbuchserie »Blackcoat Rebellion«: Fesselnde Intrigen in einer futuristischen Regierung und eine geheime Rebellion bieten allergrößten Nervenkitzel!

Kitty führt als Lila Hart ein Leben in Reichtum und Luxus, aber sie weiß, dass sie nach wie vor in größter Gefahr ist. Als sie hinter das Geheimnis des Premierministers kommt und sich weigert, die kompromittierenden Beweise herausgeben, schlägt das System mit voller Brutalität zurück: Kittys große Liebe wird vor ihren Augen hingerichtet und sie selbst nach Anderswo verbannt, von wo noch niemand zurückgekehrt ist. Dort kämpft sie fortan ums nackte Überleben und ist entschlossener denn je, der Rebellion zum Sieg zu verhelfen.

»Carter hat mit Kitty eine bezaubernde Heldin erschaffen, mit der man sich gut identifizieren kann. Ein Pageturner voll überraschender Wenden und Entwicklungen.«
Booklist

»Das Tempo ist hoch, die Spannung geht ins Mark, die Heldin ist eine tolle Identifikationsfigur, und die Bösen sind glatt und furchteinflößend.«
School Library Journal

»Die Action und überraschenden Entwicklungen freuen den Leser und lassen ihn zum nächsten Teil greifen.«
Library Journal


  • Erscheinungstag: 25.06.2020
  • Aus der Serie: Blackcoat
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850274

Leseprobe

Für Carli Segal und Veronica O’Neil

I
VERGÄNGLICH

Irgendwo in der Nähe wartete Benjy auf mich.

Ich konnte seinen Blick spüren, als ich die Runde durch den großen Ballsaal von Somerset machte und jedes neue Gesicht mit einem Lächeln begrüßte, was mir jedoch von Mal zu Mal schwerer fiel. Die Gäste schwirrten um mich herum und buhlten um meine Gunst, obwohl wir alle wussten, dass sie nur wegen meines Namens und meines Gesichts hier waren. Ich war Lila Hart, Nichte des Premierministers der Vereinigten Staaten und eine der wenigen Siebenen im ganzen Land – was mir in einem Raum voller Sechsen mehr Macht verlieh als ihnen allen zusammen.

Allerdings interessierten mich weder Macht noch Ruhm. Viel lieber wäre ich mit Benjy allein in meiner Suite gewesen, um einen dieser seltenen gestohlenen Momente allein mit ihm zu genießen. Stattdessen saß ich hier fest und musste meinen Geburtstag mit meinen sogenannten engsten Freunden feiern, am Arm eines Verlobten, den ich nicht besonders mochte, geschweige denn liebte.

Zudem war heute gar nicht mein Geburtstag. Und das waren auch nicht meine Freunde.

Und Knox Creed war definitiv nicht mein Verlobter.

Mein Name war nicht Lila Hart, sondern Kitty Doe, doch der Premierminister höchstpersönlich hatte mich an meinem echten siebzehnten Geburtstag im September entführt und gegen meinen Willen chirurgisch in seine verzogene, rebellische und angeblich tote Nichte verwandelt. Er hatte mir die Wahl gelassen: vorgeben, Lila zu sein, oder mit einer Kugel in meinem Kopf enden. Ich war keine Idiotin, und obwohl ich alles, was mir wichtig war, und jeden, den ich liebte, aufgeben musste, entschied ich mich für das Leben – und den Kampf. Drei Monate später stand ich nun hier mit Knox und wusste von umfassenden politischen Verschwörungen und Geheimnissen, von denen ich besser nie erfahren hätte. Mein Verlobter hielt mich am Arm und schob mich durch die Schar der Gäste, von denen mich jeder Einzelne sofort umgebracht hätte, wenn er gewusst hätte, wer ich wirklich war.

Ich blickte ihn böse an und versuchte, möglichst unauffällig meinen Arm aus seinem Griff zu befreien, aber er ließ nicht locker. Es war mir egal, wie groß er war und wie gut er aussah mit seinen dunklen Haaren und den noch dunkleren Augen und auch dass die meisten Mädchen alles dafür gegeben hätten, an meiner Stelle zu sein. Sie mussten sich schließlich weder ununterbrochen von ihm erklären lassen, wie man ein Mädchen imitierte, das man nicht leiden konnte, noch mussten sie vor dem ganzen Land vorgeben, ihn zu lieben. In Wahrheit stritten wir uns ständig.

Davon abgesehen war ich mit meinem richtigen Freund sehr glücklich, besten Dank – ein Freund, der seit über einer Stunde mit unendlicher Geduld darauf wartete, dass ich mich endlich aus dem Staub machte. Und wenn ich das nicht bald tat, würde der Abend für keinen von uns sonderlich angenehm enden.

»Wir hatten eine Abmachung«, flüsterte ich so an Knox gelehnt, dass nur er mich hören konnte. »Ich tue ein paar Stunden lang nett und gehe um neun. Jetzt ist es fast elf.«

»Manchmal ändern sich Pläne eben.« Er umfasste meinen Ellbogen fester. Obwohl er mit mir sprach, sah er sich dabei suchend im Ballsaal um. »Entspann dich und versuch, dich zu amüsieren.«

Wenn ich mich in den letzten Monaten überhaupt einmal amüsiert hatte, dann mit Benjy, und das auch selten genug.

»Lila wäre niemals so lange geblieben. Je länger ich hierbleibe, desto verdächtiger wirkt es.«

»Ich weiß«, sagte er leise, dabei beugte er sich so vor, dass seine Lippen mein Ohr streiften. Die Wärme seines Atems machte mir wieder deutlich, wie kalt es in dem Festsaal war. Ich begann in meinem lila Seidenkleid zu zittern. »Aber manchmal musste sogar Lila Dinge tun, die ihr nicht passten. Achtung.«

Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie ein kräftiger Mann auf uns zusteuerte. Minister Bradley, einer der zwölf Minister der Union, die für den Premierminister arbeiteten. Ich erkannte nicht viele von ihnen auf den ersten Blick, doch Minister Bradleys Schnurrbart hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Außerdem lief mir jedes Mal ein unangenehmer Schauer über den Rücken, wenn er in der Nähe war.

»Lila, meine Liebe, du siehst hinreißend aus.« Er lehnte sich vor, um seine trockenen Lippen an meine Wange zu pressen, und ich erschauderte innerlich. »Nach allem, was du durchgemacht hast, habe ich das … nicht erwartet.« Er machte eine vage Geste, wobei sein Blick auf meiner Brust ruhte.

Diesmal bemühte ich mich nicht, zu lächeln. »Minister Bradley. Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen. Ich dachte, Ihre Frau ist krank.«

Er lachte leise, den Blick weiterhin fest auf mein Dekolleté gerichtet. »Ja, ja, aber ich würde es mir niemals entgehen lassen, Ihr schönes Gesicht zu sehen.«

»In diesem Fall sollten Sie vielleicht besser Ihren Blick ein wenig heben«, sagte ich, und Minister Bradley wurde puterrot.

»Es tut mir leid, Minister«, mischte Knox sich hastig ein und hakte mich fest unter. »Lila hat heute Abend etwas zu viel getrunken. Wenn es dir nichts ausmacht, Liebling, ich müsste kurz mit dir sprechen.« Er zog mich weg, und ich umklammerte mein Glas Champagner etwas fester.

Wir wussten beide, dass ich keinen einzigen Schluck getrunken hatte. Ich konnte es mir nicht leisten, zu trinken, solange ich jedes Fünkchen Verstand brauchte, um diese Nacht lebend zu überstehen.

Knox bahnte sich einen Weg zwischen den Ministern, ihren Familien und einigen der prominentesten Sechsen in Washington, D. C., hindurch, bis wir einen mit Essen und zu Pfauenrädern drapierten Stoffservietten beladenen Tisch erreichten.

Die Umstehenden wandten sich uns sofort zu und machten Anstalten, sich uns zu nähern. Doch Knox warf ihnen einen giftigen Blick zu, und sie verzogen sich wieder.

»Du weißt, wie wichtig der heutige Abend ist«, sagte er leise zu mir, als wir allein waren. Er nahm einen kleinen Teller vom Tisch und reichte ihn mir. »Glaubst du im Ernst, Minister Bradley zu beleidigen war eine gute Idee?«

»Er hat mir die ganze Zeit in den Ausschnitt geglotzt«, entgegnete ich. »Warum sollte ich mir das lächelnd gefallen lassen, wenn Lila ganz bestimmt niemals …«

»Mir ist gerade völlig egal, was Lila getan hätte. Ich erwarte von dir, keine Szene mit einem der mächtigsten Minister der Union zu provozieren. Wir können wirklich keine weiteren Feinde gebrauchen.«

»Jeder hier ist mein Feind.« Ich drehte mich um und begann, meinen Teller mit mundgerechten Desserthäppchen zu beladen.

»Ich nicht.«

Meine Hand verharrte über einem Stück rosa Kuchen. Ich vertraute Knox mehr als den meisten hier, aber manchmal war ich mir nicht sicher, ob ich ihm als Mensch wichtig war oder ob er mich einfach nur brauchte. »Wenn ich dich nicht für einen Feind halten soll, dann hör auf, mich wie eine Gefangene zu behandeln.«

Knox seufzte. »Das wäre nicht nötig, wenn du dich nicht so aufführen würdest, als hättest du keine Ahnung, wie man sich in der Öffentlichkeit benimmt. Du bist schon seit Monaten hier. Langsam solltest du die Regeln kennen.«

»Wie denn, wenn du sie ständig änderst?« Am nächsten Tisch entdeckte ich kleine, in luftigen Blätterteig gehüllte Fleischpasteten, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte seit Oktober kein rotes Fleisch mehr gegessen. Mittlerweile hatte ich mich fast daran gewöhnt, aber es gab Tage, an denen ich meinen rechten Arm für einen Cheeseburger gegeben hätte. Heute war so ein Tag.

Da das Fleisch in Blätterteig gehüllt war, würde es sicher niemandem auffallen, entschied ich und blendete aus, was auch immer Knox mir in diesem Moment ins Ohr flüsterte, während ich mich auf den Tisch zu bewegte und wie beiläufig ein Stück davon auf meinen Teller legte. Ein kleiner Bissen. Das war alles, was ich wollte.

Die Pastete war nur noch wenige Zentimeter von meinem Mund entfernt, als Knox mich am Handgelenk packte. »Lila, Liebling, da ist rotes Fleisch drin.«

»Bist du sicher?«, fragte ich unschuldig und versuchte, meine Hand wegzuziehen, aber sein Griff war zu fest.

»Sehr sicher.«

Ich schmiss das Teigstück auf seinen Teller. Damit hatte sich nun auch der letzte Rest meiner Geduld erschöpft. »Wenn du mich entschuldigst, ich muss mal pinkeln.« Und Benjy aufspüren, bevor er noch die Geduld verlor.

»Du musst dir die Nase pudern«, korrigierte Knox mich leise.

»Minister Bradley starrt mich an, als wäre ich eine Art Zuchtstute«, sagte ich. »Ich muss pinkeln

Unvermittelt wirbelte Knox mich herum und schob mich in ein kleines Vorzimmer in der Nähe. Die Fingerspitzen in meinen Arm gekrallt sagte er kein Wort, bis wir darin waren. »Ist dir eigentlich klar, wer heute alles anwesend ist?«

Ich blickte über seine Schulter. Seit wir es verlassen hatten, schien sich das Buffet zur beliebtesten Ecke des ganzen Raumes entwickelt zu haben. Minister, ihre Familien und die aufdringlichsten Emporkömmlinge des District of Columbia warteten dort darauf, dass wir zurückkamen. Ein jeder von ihnen hatte eine VI auf seinem Nacken tätowiert – das Zeichen für den höchsten Rang, den man erreichen konnte, wenn man an seinem siebzehnten Geburtstag die Eignungsprüfung ablegte. Diese Tätowierung bestimmte über das gesamte Leben, über Beruf, Wohnort, Anzahl der Kinder und Lebensdauer. Die VI garantierte ihnen allen endlose Privilegien und katapultierte sie an die Spitze der Nahrungskette. Mir hingegen hatte die unter der VII versteckte III ein Ticket ohne Rückfahrschein in die Kanalreinigung beschert. Und das für die nächsten vierzig Jahre, vorausgesetzt, ich hätte das so lange überlebt. »Ja. Alle Arschkriecher von Washington.«

»Es reicht.« Knox ließ endlich seine sorgfältig errichtete Fassade fallen. Er schloss die Tür. »Entweder du benimmst dich, oder du musst Daxton erklären, warum plötzlich das ganze Land weiß, wer du in Wahrheit bist. Diese Leute da draußen sind nämlich keine Idioten, auch wenn du das offenbar denkst, und wenn du weiter so redest, während alle Welt dich hören kann, werden sie es kapieren. Deine Entscheidung.«

»Das werden sie nur, wenn ich weiterhin so tue, als hätte ich da draußen Spaß und würde mich für irgendwas von dem interessieren, was sie mir erzählen.« Ich vergrub meine falschen Fingernägel in meinen Handflächen. »Lila wäre niemals so lange geblieben.«

Knox verzog das Gesicht. Ohne die Tür aus den Augen zu lassen, kam er einen Schritt auf mich zu und sagte dann mit gesenkter Stimme: »Ich weiß, Kitty. Und es tut mir leid, wirklich. Aber wenn wir jetzt gehen, wird sich irgendjemand auf die Suche nach uns machen, und das ist das Letzte, was wir heute Abend gebrauchen können, in Ordnung?«

»Dann hättest du mir das von Anfang an sagen müssen, statt hier so ein lächerliches Theater aufzuführen«, murrte ich. »Ich bin nämlich nicht total bescheuert, weißt du. Wenn du mir solche Sachen einfach vorher sagen würdest …«

»Ich sage dir so viel ich kann.«

»Du behandelst mich wie ein Objekt, Knox, wie ein Requisit.« Ich schüttelte den Kopf, hin- und hergerissen zwischen Wut und Erschöpfung. Ich wollte einfach nur nach oben gehen und mit Benjy allein sein. Mit dem einzigen Menschen auf der Welt, dem die Person hinter Lilas Gesicht wichtig war.

»Du bist für mich kein Requisit.« Knox’ Stimme war sanfter geworden. »Ich versuche nur, uns beide zu beschützen. Was wir tun, so gefährlich es auch ist … es ist das Richtige. Das weißt du. Setz das alles doch nicht aufs Spiel, nur weil du schlechte Laune hast.«

Ein schmerzhafter Kloß bildete sich in meiner Kehle, und ich musste schwer schlucken. Diese Diskussion hatten wir schon den ganzen letzten Monat geführt, seit ich mich bereit erklärt hatte, weiterhin als Lila aufzutreten. Anfangs hatte ich keine Wahl gehabt: Premierminister Daxton Hart hatte mich in einem Gentlemen’s Club ersteigert und betäubt. Als ich zwei Wochen später aufwachte, war mein Körper chirurgisch vollkommen verändert worden – maskiert hatte er es genannt. Von diesem Moment an war ich eine exakte Kopie seiner Nichte Lila Hart, die er hatte ermorden lassen, weil sie eine Rebellion gegen ihn angeführt hatte. Und ich sollte ihren Platz einnehmen und diese Rebellion beenden.

Tatsächlich aber lebte Lila dank Knox noch und versteckte sich in einem Bunker. Und was mich betraf – wie sich herausgestellt hatte, konnte ich es nicht zulassen, dass die Regierung einfach Menschen abschlachtete, die ich liebte.

Was der einzige Grund war, warum ich mich auf Bitten von Knox vor drei Wochen dazu bereit erklärt hatte, zu bleiben. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir gerade zermürbende vierundzwanzig Stunden hinter uns. Augusta Hart, Daxtons Mutter und die wahre Regentin des Landes, hatte versucht, nicht nur mich und Lila, sondern auch Benjy zu töten. Doch bevor es dazu hatte kommen können, hatte ich ihr sechs Kugeln verpasst. Jetzt, da Lila schwer verletzt war, musste ich mich weiterhin als sie ausgeben. So lange, bis es irgendjemandem gelang, den Premierminister auszuschalten.

Doch das war leichter gesagt als getan. Ich hatte es schon einmal erfolglos versucht – was dazu geführt hatte, dass Daxton zum Höhepunkt des Kampfes im Koma gelegen hatte. Als er aufgewacht war, hatte er einen Gedächtnisverlust vorgetäuscht und so getan, als wüsste er nicht mehr, dass ich nicht Lila war. Doch wir beide wussten, dass er die Wahrheit kannte. Für diese Leute war ich ein Niemand. Aufgewachsen in einem Gruppenheim voller Extras, Kindern von Eltern, die eigentlich nur ein einziges Kind hätten bekommen dürfen, hatte meine Vergangenheit rein gar nichts mit dem Leben von Siebenen gemein. Es war zwar nicht besonders luxuriös gewesen, aber zumindest hatte ich nicht um einen Cheeseburger betteln müssen. Und ich hatte genau gewusst, wer ich war. Je länger ich mich als Lila ausgab, desto weniger kannte ich mich selbst.

»Könntest du bitte noch eine Stunde durchhalten?«, fragte Knox, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

»Noch eine Stunde«, murmelte ich, darum bemüht, nicht zu frustriert zu klingen. Knox hatte schließlich recht. Ich hatte der ganzen Sache zugestimmt, wohl wissend, was mich erwarten würde, und freundlich zu den Ministern zu sein gehörte nun einmal dazu. »Aber nach dem Treffen darf Benjy über Nacht bei mir bleiben.«

Er hob eine Augenbraue. »Du kennst das Risiko.«

»Ich werde so tun, als wäre ich in deiner Suite. Du kannst jedem sagen, dass wir den besten Sex deines Lebens hatten.«

»Wohl eher den schlechtesten.«

Ich trat ihm ans Schienbein. »Du bist heute Abend wirklich ein Idiot.«

Fluchend rieb er sich das Bein. »Und du und dein Freund werdet sterben, wenn du nicht …«

Jemand rüttelte am Türknauf, woraufhin Knox mich gegen die Wand drückte, die Finger in meinem strohblonden Haar vergrub und mich so leidenschaftlich küsste, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte. Ich versuchte es auch gar nicht, denn es war besser, ab und zu gezwungen zu sein, ihn zu küssen, als dabei erwischt zu werden, wie wir über meine wahre Identität sprachen – oder schlimmer noch, über die von uns geplante Rebellion.

Als die Tür aufging, löste ich mich von Knox und tat mein Bestes, verlegen zu wirken. »Entschuldigung, aber wir sind gerade ziemlich beschäftigt …«

Ich verstummte abrupt. Selbst nach zwei Monaten, in denen ich ihn fast täglich gesehen hatte, beschleunigte sich beim Anblick von Premierminister Daxton Hart mein Herzschlag noch immer jedes Mal. Aber nicht auf eine gute Weise.

Er hob überrascht die buschigen Augenbrauen, die schon langsam grau wurden, was gut zu seinem dunklen Haar mit den grauen Schläfen passte. »Tut mir leid. Ich wollte nicht stören«, sagte er mit sanfter Stimme. »Lila, Liebling, deine Gäste warten ungeduldig auf deine Rückkehr.«

Ich wich seinem Blick nicht aus, und einige Sekunden lang starrten wir uns an, ohne zu blinzeln. Knox hatte keine Ahnung, dass der Premierminister genau wusste, wer ich war. Und auch sein eigenes Geheimnis bewahrte Daxton meisterhaft. Lediglich an Augustas Beerdigung hatte er sich kurz in die Karten schauen lassen, um mir Angst einzujagen. Was allerdings nicht funktioniert hatte. Das hier war gerade unser ganz persönliches Kräftemessen, und ich würde auf keinen Fall als Erste blinzeln.

»Wir sind in einer Minute da, Sir«, sagte Knox. Einen Moment lang tat er mir fast leid. Er war der Einzige in diesem Raum, der nicht wusste, was wirklich los war. Ich hätte ihm gleich nach der Beerdigung sagen müssen, dass Daxton sich an alles erinnern konnte. Doch auch wenn ich ihm mehr vertraute als den anderen, so vertraute ich ihm eben doch nicht ganz. Also hatte ich mich stattdessen darauf konzentriert, mehr Leute für die Sache der Blackcoats zu gewinnen. Und so war immer mehr Zeit ins Land gegangen, ohne dass er Bescheid wusste. Mir war klar, dass sich das katastrophal auf unsere Beziehung auswirken könnte – auf eine Art, von der wir uns nie wieder erholen würden. Trotzdem behielt ich egoistisch diesen Trumpf in der Hinterhand, um ihn auszuspielen, falls ich ihn einmal brauchte. Oder ihn auch nicht auszuspielen.

Eines jedoch wusste Knox: Er kannte das Geheimnis, das sich mir auf der Beerdigung offenbart hatte, als ich an Daxtons Nacken unter der tätowierten VII die echte V ertastet hatte. Er wusste, dass Daxton, genau wie ich, maskiert worden war. Der einzige Unterschied zwischen uns war, dass ihm sein Drahtzieher nicht mehr im Nacken saß. Und jetzt, da Augusta tot war, konnte niemand mehr den Mann, der sich als Premierminister Daxton Hart ausgab, davon abhalten, zu tun, was immer er wollte – zum Beispiel jeden zu töten, der sich ihm in den Weg stellte. Und da genau das jeder tat, der mir wichtig war, nahm ich die Sache ziemlich persönlich.

»Eine Minute.« Daxton hob zur Betonung seinen Zeigefinger. »Ich will auf keinen Fall, dass du deine Geburtstagsüberraschung verpasst, Lila.«

Ich erschauderte zwar bei dem Gedanken, was er sich für mich ausgedacht hatte, zwang mich aber trotzdem zu einem Lächeln. »Eine Minute.«

Kaum hatte er die Tür geschlossen, flüsterte ich Knox ins Ohr: »Wie sollen wir hier jemals raus und zu dem Treffen kommen? Er lässt mich niemals aus den Augen.«

»Überlass das mir«, flüsterte Knox zurück und zwinkerte mir zu. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und strich sich dann sein schwarzes Hemd und seine schwarze Hose glatt. Ich zupfte mein kurzes lila Kleid zurecht. Noch vor drei Monaten wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, dass ich so etwas wie Seide jemals auch nur berühren, geschweige denn ein für mich maßgeschneidertes Seidenkleid tragen würde. So schön das alles auch war – die Schuhe, das Essen und der Luxus, von dem ich als Drei nie zu träumen gewagt hatte –, es lohnte sich dennoch nicht, mein Leben dafür aufs Spiel zu setzen, indem ich so tat, als sei ich Lila. Und Benjys Leben zu riskieren, indem ich ihn in die Sache mit hineinzog, noch viel weniger.

Ich fluchte. Er wartete noch immer auf mich. »Ich bin mit Benjy verabredet …«

»Du kannst ihn nach dem Treffen sehen.« Knox strich mir eine Haarlocke hinters Ohr. »Wie schlimm der heutige Abend für dich auch sein mag, mach jetzt keine Dummheiten, Kitty. Das meine ich ernst. Es lohnt sich nicht, wegen eines kurzen Moments des Glücks in Anderswo zu landen. Das weißt du ganz genau.«

Ja, allerdings. »Benjy und ich. Die ganze Nacht in deiner Suite.«

»Die ganze Nacht, solange ich euch nicht hören muss.«

Grinsend öffnete Knox die Tür. Applaus brandete auf, als wir uns Arm in Arm wieder zu den Sechsen gesellten, und mehrere Leute, die ich alle nicht kannte, stürzten sich augenblicklich mit Getränken in der Hand auf uns. Also wappnete ich mich für eine weitere Runde sinnlosen Small Talk. Ich hatte längst aufgegeben, mich an Namen zu erinnern. Lila hätte das nicht gekümmert, und wozu sollte ich mir die Mühe machen, da sie alle sich sowieso nur wegen meiner VII für mich interessierten. Wenn die wüssten, was sich in Wahrheit unter dieser VII versteckte.

»Möchtest du noch etwas trinken?«, fragte Knox, obwohl mein Champagnerglas noch voll war. Ich schüttelte den Kopf.

»Aber du könntest mir eins von diesen Blätterteig-Dingern besorgen …«

Peng.

Ein Schuss ertönte, und sofort herrschte Leere in meinem Kopf. Ich sah nur noch Purpurrot und Weiß, ein scharfer Kontrast, der einfach nicht verschwand, sosehr ich auch versuchte, ihn zu vergessen.

Peng.

Der Anblick von Augustas schlaffem Körper und dem Blut, das sich um sie herum auf dem Teppich ausbreitete.

Peng.

Das kalte Eisen der Pistole in meiner Hand und wie ich immer wieder abdrückte in dem Wissen, dass Augusta Benjy sonst töten würde.

Peng.

»Lila … Lila

Knox’ Stimme durchdrang meine Erstarrung. Ich riss die Augen auf. Obwohl er nur wenige Zentimeter von mir entfernt war, schien er weit weg zu sein, sein Gesicht wirkte verschwommen. Ich spürte die anderen Menschen in meiner Nähe, aber das dumpfe Tosen in meinen Ohren machte es mir unmöglich, zu verstehen, was sie sagten.

»Das ist nur ein Feuerwerk«, sagte Knox, sein Atem warm an meiner Wange, während er meine Schultern umfasste. Kälte drang vom Marmorboden unter den dünnen Stoff meines Kleides, und es dauerte einen weiteren Moment, bis ich begriff, dass ich auf dem Boden kauerte. »Siehst du? Schau, da drüben.«

Ich drehte mich um, als es erneut knallte. Reflexartig duckte ich mich wieder, doch er ließ meine Schultern nicht los. Hell explodierende Farben erleuchteten den großen Ballsaal, und ich musste mehrmals blinzeln, bevor ich durch die raumhohen Fenster das Feuerwerk sah.

Ein Feuerwerk. Nur ein Feuerwerk. Keine Schüsse. Niemand befand sich in Gefahr, außer Knox, wenn er mich nicht endlich losließ.

»Mir geht’s gut«, murmelte ich und schob ihn weg. Er wich zurück, und da erst bemerkte ich all die Leute, die einen engen Kreis um uns herum gebildet hatten. Alle starrten mich ungeniert an, ignorierten sogar das Feuerwerk, um mir ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Toll. Ich war zusammengebrochen, und das ausgerechnet vor den höchsten und mächtigsten Menschen des Landes. »Ich …« Verzweifelt suchte ich nach einer Ausrede für mein Verhalten, doch da hörte ich eine vertraute Stimme.

»Lila!«

Benjy drückte sich zwischen Minister Bradley und seiner dämlich glotzenden Tochter hindurch, rutschte über den Boden und kniete sich neben mich. Kaum konnte ich seine Wärme spüren, begann sich der Knoten in meiner Brust zu lösen.

»Geht es dir gut? Du hast geschrien.« Seine blauen Augen waren rund und ängstlich, seine kurzen roten Haare zerzaust. Er streckte eine Hand aus, um mein Gesicht zu berühren, so wie Knox es getan hatte, verharrte dann aber. Zu viele Leute starrten uns an, und egal wie besorgt er auch war, er durfte mich nicht verraten. Er durfte uns nicht verraten.

»Mir geht’s gut, versprochen«, wiederholte ich. Meine Wangen brannten, und ich stand mit zitternden Knien auf. Geburtstagsparty hin oder her, ich musste hier raus. »Ich … ich habe nur vergessen, etwas zu essen, das ist alles.«

»Zurück«, sagte Knox und begann, die Leute wegzuschieben. »Gebt ihr etwas Luft zum Atmen. Benjy, bring sie in meine Suite. Ich komme gleich nach.«

Benjy legte einen Arm um mich, und ich warf Knox einen dankbaren Blick zu. Mir vollkommen darüber bewusst, dass alle uns anstarrten, ließ ich mich von Benjy zum Ausgang führen, während das Feuerwerk im Garten weiterging. Jeder einzelne Knall jagte mir einen weiteren Schauer über den Rücken.

Das war nicht normal. Ich hatte noch nie zuvor so reagiert, und es war Wochen her, dass ich Augusta getötet hatte. Außerdem hatte ich sie nicht etwa kaltblütig ermordet. Nach allem, was sie mir und Benjy angetan hatte – nach allem, was sie ihrer eigenen Familie angetan hatte, als sie versucht hatte, sowohl ihre Tochter als auch ihre Enkelin zu töten –, hatte sie es schließlich verdient. Doch das schien mein Gewissen nicht zu interessieren.

Ich konnte nicht einmal behaupten, dass der Zweck die Mittel heiligte. Augusta zu töten hatte mir keine Vorteile gebracht, sondern im Gegenteil sogar dafür gesorgt, dass Daxton nun freie Hand hatte, was bedeutete, dass wir uns alle nun in großer Gefahr befanden. Und das war in meinen Augen auch das Schlimmste an dem Ganzen. Zwar hatte ich Benjys Leben kurzfristig gerettet, indem ich abgedrückt hatte, aber auf lange Sicht hatte ich damit praktisch unser Todesurteil unterschrieben.

Daxton wartete an der Flügeltür auf uns. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich mit einem scheinbar besorgten Blick. »Es tut mir sehr leid, meine Liebe«, sagte er und streckte die Hand aus, um meine freie Hand zu ergreifen. Stattdessen wischte ich meine verschwitzte Hand an seiner ab. »Ich hätte es wissen müssen. Nach allem, was du durchgemacht hast …«

»Mir geht’s gut«, sagte ich zum dritten Mal. »Ich muss mich nur hinlegen.«

»Ich bin sicher, dass dein … Freund dir gern dabei behilflich ist.« Er betrachtete Benjy von oben bis unten, und glühende Wut jagte durch meinen Körper. Augusta war vielleicht die wahre Herrscherin hinter dem Thron gewesen, aber Daxton war noch immer die Schlange, die darauf saß.

Benjy räusperte sich. »Knox bat mich, ihr zu helfen«, sagte er. »Ich komme danach gleich wieder.«

»Lass dir Zeit, Junge«, sagte Daxton. Dann sah er mich an. »Das Wichtigste ist, dass es der lieben Lila gut geht.«

Seine schmierige Stimme verfolgte mich noch, als Benjy und ich weitergingen. Ich konnte spüren, wie sein Blick auf uns ruhte, und obwohl meine Knie noch immer zitterten, zwang ich mich, schneller in Richtung Aufzug zu gehen. Sobald sich die Tür hinter uns schloss, atmete ich hörbar aus, drehte mich zu Benjy um, umarmte ihn fest und vergrub mein Gesicht an seiner Brust.

»Es tut mir leid«, sagte ich, meine Stimme durch sein Hemd gedämpft. »Ich weiß nicht, was passiert ist.«

Schützend schlang er die Arme um mich, rieb beruhigend über meinen Rücken. Die Wärme seines Körpers tröstete mich. Ich wünschte mir, dieser Moment würde niemals enden. »Dir muss gar nichts leidtun. Dieses Feuerwerk hat mich auch erschreckt.«

»War ja klar, dass Daxton einen Weg findet, mich auf meiner eigenen Geburtstagsfeier zu terrorisieren«, brummte ich. »Was glaubst du, wie viel Zeit uns bleibt, bis Knox nach uns schaut?«

»Auf jeden Fall nicht genug«, antwortete er, und ich seufzte. Es war nie genug.

Im vierten Stock glitten die Türen auf, und Benjy und ich steuerten auf Knox’ Suite zu. Meine eigene befand sich am anderen Ende des Flurs, und ich wünschte mir nichts mehr, als mich mit Benjy für den Rest der Nacht dort verschanzen zu können. Aber an diesem Abend fand nicht nur diese Party statt, sondern auch ein weiteres Treffen der Blackcoats, das ich um nichts in der Welt verpassen wollte. Ich hatte sowieso schon zu viel versäumt – unmittelbar nach Augustas Tod hatten Knox und die Blackcoats die Gelegenheit ergriffen und mich in mehrere Städte im ganzen Land geschickt, um weitere Anhänger für unsere Sache zu gewinnen, während Daxton noch zu schwach gewesen war, um davon etwas mitzubekommen. Denver, New York, Seattle, Los Angeles – ich war über eine Woche lang unterwegs gewesen, und als ich zurückgekommen war, hatte sich bei den Blackcoats alles verändert. Lila und ihre Mutter – Daxtons Schwester Celia – waren untergetaucht und hatten Knox die Kontrolle überlassen. Selbst jetzt, Wochen später, kannte ich noch nicht alle Pläne, die sie während meiner Abwesenheit geschmiedet hatten. Aus diesem Grund durfte ich keinesfalls noch mehr verpassen.

Die Lichter in Knox’ Suite schalteten sich automatisch ein, als wir das Wohnzimmer betraten. Obwohl meine Knie inzwischen nicht mehr zitterten, ließ ich mich von Benjy zur Couch führen, um so viel Nähe wie nur irgend möglich auszukosten, bevor Knox auftauchte. Es war Tage her, dass ich Benjy, der als legitime Sechs Knox’ Assistent war, auch nur umarmt hatte. Aber da Knox uns ständig im Auge behielt und jedes Mal eine Braue hob, wenn ich es auch nur wagte, Benjy anzulächeln, war es praktisch unmöglich, überhaupt Zeit mit ihm zu verbringen. Und das war es, was ich in meinem neuen Leben am meisten vermisste.

»Tut mir leid, dass ich nicht früher zu dir kommen konnte«, sagte ich und zog meine Beine auf die Couch. Das dunkelblaue Leder fühlte sich kühl auf meiner Haut an, was mir nach Stunden in dem drückend heißen Festsaal gerade recht kam.

»Das muss es nicht. Du kannst ja nichts dafür.« Benjy setzte sich neben mich und legte den Arm um mich. Sofort kuschelte ich mich an ihn. »Ich hätte Minister Bradley fast eine runtergehauen, weil er dich so angesehen hat.«

Ich grinste. »Das hätte die ganze Geschichte um einiges interessanter gemacht.«

»Bis man mich nach Anderswo geschickt hätte«, entgegnete er. »Dann wäre das nicht mehr so lustig gewesen.«

Mein Lächeln erstarb. Ich berührte seine Wange und drehte seinen Kopf so, dass er mich direkt ansah. »Du weißt, dass ich das nicht zulassen würde, oder? Niemand wird dir etwas antun, nicht solange ich hier etwas zu sagen habe.«

»Ich bin es nicht, um den du dir Sorgen machen solltest.« Er beugte sich langsam vor, bis ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren konnte. »Versprich mir, dass du kein Risiko mehr eingehst, Kitty. Was genau war heute Abend los?«

»Ich konnte nicht anders«, erklärte ich. »Ich wusste nicht einmal, was passiert, bis es vorbei war.«

»Das meine ich nicht«, sagte er leise. »Ich habe gehört, was du zu Knox gesagt hast. Du tust das Richtige, okay? Ich weiß natürlich, dass es manchmal schwer ist …«

»Du hast ja keine Ahnung.« Meine Wangen wurden heiß, Frustration baute sich in mir auf und drohte auch noch den letzten Rest meiner Selbstbeherrschung zu sprengen. »Die ganze Zeit jemand anderes sein zu müssen … nie ich selbst sein zu dürfen, jede Sekunde beobachtet zu werden … Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, Benjy. Manchmal schaue ich in den Spiegel und habe vergessen, dass das gar nicht mein richtiges Gesicht ist. Und manchmal … manchmal fühle ich mich, als wäre Kitty Doe tot, und selbst wenn Knox mich morgen gehen lassen würde, werde ich sie nie zurückbekommen.«

Schweigen breitete sich aus, während Benjy angestrengt auf meine Unterlippe starrte. Lilas Unterlippe. »Sie ist nicht tot«, flüsterte er. »Ich sehe sie jedes Mal, wenn ich dich ansehe. Du lebst, und niemand, nicht einmal Lila Hart, kann daran etwas ändern. Mir ist es egal, wie du aussiehst. Dein wahres Ich wird nie verblassen.«

Er wusste ja nicht, wie sehr ich es brauchte, genau das zu hören – oder vielleicht wusste er es doch und sagte es genau deshalb. Ich beugte mich vor, mein ganzer Körper sehnte sich danach, ihm so nah wie möglich zu sein. Aber bevor ich ihn küssen konnte, schob er eine Hand in seine Anzugtasche.

»Fast hätte ich es vergessen … ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich«, sagte er, und enttäuscht lehnte ich mich zurück.

»Heute ist nicht mein Geburtstag. Sondern Lilas.«

»Dann betrachte es als verspätetes Geburtstagsgeschenk. Oder verfrühtes. Wie du willst.«

Er zog eine weiße Stoffserviette aus der Tasche, eine von diesen zu Pfauenrädern gefalteten vom Buffet. Er hatte sie zu einem einfachen Quadrat gefaltet. Ich hob eine Augenbraue.

»Das ist … sehr schön«, sagte ich. »Danke?«

Er lachte ein tiefes, kehliges Lachen, das ich nie müde wurde zu hören. »Mach es auf.«

Ich entfaltete die Serviette, und meine Augen weiteten sich. Auf der Innenseite befand sich eine einfache Tuschezeichnung eines Hauses an einem See. Am Ufer des Sees saßen zwei Strichmännchen – eines mit langen Haaren und eines mit Benjys Sommersprossen. Sie schmiegten sich aneinander, während die Sonne auf sie herunterschien. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

»Im Moment kann ich nicht viel tun«, sagte Benjy, »aber ich verspreche dir, dass es eines Tages so sein wird. Dann haben wir unser Häuschen im Wald oder am Strand – wie du willst. Ich würde überall hingehen, solange du bei mir bist. Ich will mein Leben mit dir verbringen, Kitty, auch wenn das ganze Land versucht, uns davon abzuhalten. Du bist meine Zukunft. Das war schon immer so, und es wird immer so bleiben.«

Endlich kam er näher und küsste mich – ein süßer, sanfter Kuss, in dem jeder einzelne der tausend Tage lag, in denen ich ihn als mein Ein und Alles geliebt hatte, lange nachdem er bereits mein bester Freund gewesen war. Ich setzte mich auf seinen Schoß, ohne mich darum zu kümmern, dass jeden Moment jemand hereinkommen und uns überraschen konnte. Ich brauchte das hier. Und nach allem, was wir durchgemacht hatten, hatten wir beide das auch verdient.

Als er seinen Arm wieder um mich schlang und ich mit den Fingern durch sein Haar fuhr, fühlte ich mich sicher und beschützt. Er schmeckte nach Heimat. Nach all dem, was ich von meinem alten Leben vermisste, als wir die Abende aneinandergeschmiegt dagelegen und er mir vorgelesen hatte. Nie wieder würde es so werden, aber sobald wir frei waren, konnten wir uns neue Erinnerungen schaffen. Die ganze Zeit über hatte ich mir solche Sorgen über das Hier und Jetzt gemacht, über das Leben als Lila, dass ich gar nicht mehr darüber nachgedacht hatte, was die Zukunft möglicherweise für mich bereithielt. Es schien mir einfach zu viel verlangt, als würde ich das Universum herausfordern, wenn ich auch nur über ein gemeinsames Leben mit Benjy, weit weg von den Harts, nachdachte.

Benjy hingegen war schon immer ein Optimist gewesen. Er sah immer das Gute in der Welt, während ich mir nicht einmal sicher war, ob es überhaupt existierte. Und dieser Hoffnungsschimmer, diese Tinte auf weißem Stoff, war genau die Zukunft, die ich mir wünschte. In diesem Moment, als mein Kuss leidenschaftlicher wurde, wusste ich, dass ich alles dafür tun würde, was nötig war.

»Kitty«, flüsterte er und blickte ängstlich zur Tür. »Wir sollten nicht …«

»Ich habe es so satt, dass man mir sagt, was ich tun darf und was nicht«, murmelte ich. »Alles wird gut. Vertrau mir. Knox hat nichts dagegen, dass ich heute Nacht hierbleibe. Er will so tun, als würde ich in seinem Zimmer schlafen, damit wir die Nacht zusammen verbringen können.«

Benjy starrte mich an. »Du meinst …?«

Ich nickte. »Ich denke, es ist an der Zeit, du nicht?«

Obwohl wir seit Jahren zusammen waren, hatten wir in einem Gruppenheim mit achtunddreißig weiteren Kindern selten Gelegenheit gehabt, allein zu sein, und wir hatten auch nichts überstürzen wollen. Jetzt, mit siebzehn, steckte ich im Körper von Lila Hart, während Benjy als Assistent meines Verlobten arbeitete. Somit war das Ganze natürlich gefährlich, aber hinter verschlossenen Türen und mit Knox, der uns deckte … waren wir endlich frei, es zu tun. Und diese Chance würde ich nicht einfach vertun.

»Die Hochzeit findet in weniger als einem Monat statt«, erklärte ich. »Bis dahin haben wir vielleicht keine Möglichkeit mehr, allein zu sein, jedenfalls nicht so. Und ich will verdammt sein, wenn ich Knox heirate, ohne dir vorher zu zeigen, wie sehr ich dich liebe.«

Benjy blinzelte, er wirkte hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und Verwirrung. »Willst du es deshalb tun? Damit Knox nicht …«

»Wenn er glaubt, dass er mich jemals anfassen darf, Hochzeit hin oder her, wird er sein blaues Wunder erleben«, sagte ich. »Ich will das hier, Benjy. Mehr als alles andere. Wenn du nicht willst, können wir warten, aber …«

»Ich will es.« Er klang atemlos, er presste die Lippen zusammen und sah mir tief in die Augen. »Wie du gesagt hast, mehr als alles andere. Ich liebe dich. Ich möchte nur nicht, dass Knox der Grund dafür ist.«

»Ist er nicht und wird er auch nie sein.« Wieder drückte ich meine Lippen auf seine. »Du bist der einzige Grund, den ich brauche.«

»Ähem.«

Ich fuhr zusammen, mein Herz raste. Knox stand in der Tür, die Arme verschränkt und die Stirn gerunzelt. »Schon mal was von Anklopfen gehört?« Ich starrte ihn an.

»In Anbetracht der Tatsache, dass das hier meine Suite ist, nein.« Er schloss die Tür hinter sich. »Wenn ihr so weitermacht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man euch erwischt. Dann kann ich euch nicht länger beschützen.«

»Dann werde ich ihnen die Wahrheit sagen … dass ein Mädchen manchmal lieber geküsst als vollgesabbert wird.« Ich steckte Benjys Zeichnung in die Tasche meines Kleides. »Ist die Party schon vorbei?«

»Nein, aber ich konnte ja schlecht da unten bleiben, wenn es meiner Verlobten nicht gut geht. Apropos, wie fühlst du dich?«

»Besser.« Ich tat so, als wäre alles vollkommen in Ordnung. »Wann gehen wir?«

»Wir gehen gar nicht.« Knox beugte sich über seinen Schreibtisch, um den Bildschirm zu berühren. »Ich gehe jetzt.«

»Was? Aber …«

»Glaubst du wirklich, dass ich dich mitnehme, nach dem, was da unten gerade passiert ist?«, fragte Knox. »Du brauchst Ruhe.«

»Das war nicht meine Schuld.«

Er richtete sich auf. »Von deiner Ohnmacht mal abgesehen hattest du heute auch sonst einen schlechten Tag, und das Letzte, was du jetzt gebrauchen kannst, ist eine lange Nacht. Und das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, mir Sorgen um dich machen zu müssen.«

»Mir geht’s gut«, beharrte ich. »Knox, bitte. Wir stecken da zusammen drin. Das hast du selbst gesagt …«

»Und das bedeutet, dass ich auf dich und deine Gesundheit Rücksicht nehmen muss. Du bist erschöpft. Du bist jähzorniger als je zuvor. Sieh dich doch an … du zitterst richtig. Du wärst eine Belastung, Kitty, und der heutige Abend ist zu wichtig für mich, um so ein Risiko einzugehen. Ich werde dich später informieren. Jetzt muss ich los.«

Ich starrte ihn an. »Du kannst mich nicht einfach so absägen …«

»Ich säge dich nicht ab«, sagte er ruhig, aber ich hörte so etwas wie Ungeduld aus seiner Stimme heraus. »Es geht nur um ein einziges Treffen.«

»Wegen meiner Auftritte habe ich bereits drei Treffen verpasst.«

»Es wird noch viele andere geben«, sagte Knox. »Und sieh es mal positiv … so hast du mehr Zeit mit Benjy.«

Das war natürlich verlockend, doch schließlich verbrachte ich nur aus dem Grund Zeit mit Leuten wie Minister Bradley, um etwas ausrichten zu können. Mit Benjy konnte ich auch später in der Nacht noch Zeit allein verbringen, jetzt wollte ich erst einmal zu den Blackcoats gehören, um das zu tun, weshalb ich überhaupt nur hier war: Die Stimme der Rebellion sein, die, wenn sie Erfolg hatte, dafür sorgte, dass Benjy und ich eines Tages wirklich in diesem Haus am See leben konnten. Dass wir nie wieder über unsere Schultern blicken müssten, aus Angst, jemand könnte begreifen, wer ich wirklich war. Dass ich wieder Kitty Doe wäre und nicht länger Lila Hart. Es würde bedeuten, mich selbst zu finden und wieder der Mensch zu sein, den Benjy in mir sah. Je mehr Treffen ich verpasste, desto mehr Gründe hatte Knox, meine Meinung zu ignorieren und mich wegzustoßen. Ich war hier, um zu kämpfen. Nicht um sein Requisit oder sein Sprachrohr zu sein. Aber genau so hatte er mich den ganzen Abend über behandelt, auch wenn er das Gegenteil behauptet hatte.

Frustriert sah ich Benjy an, der meine Hand beruhigend drückte.

»Es ist wahrscheinlich besser, wenn du dich heute Abend ausruhst«, sagte er. »Bestimmt gefällt dir das neue Buch, das ich gekauft habe. Ich werde dir daraus vorlesen, wenn du möchtest.«

»Genieß die Zeit mit deinem Freund, Kitty«, sagte Knox. »Ich werde bald zurück sein. Wenn jemand nach uns sieht, sag einfach, dass ich eine Dusche nehme.«

»Ja, eine richtig kalte«, murrte ich.

Darauf ging er nicht ein, sondern verschwand stattdessen in seinem Schrank, um den dahinter liegenden Geheimgang zu benutzen. Er hatte ihn mir in einer meiner ersten Nächte in Somerset gezeigt. Er war die einzige Möglichkeit, das Anwesen unbemerkt zu verlassen.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, stand ich auch schon auf. »Ich gehe ihm nach«, sagte ich und zerrte den Saum meines Kleides herunter. Nicht gerade das Outfit, das ich gewählt hätte, aber zum Umziehen blieb keine Zeit. »Du musst mich decken.«

Benjy erhob sich ebenfalls und streckte die Hand nach mir aus, als wollte er mich aufhalten. »Kitty, du hast doch gehört …«

Ich wich seiner Hand aus. »Wenn er nicht wäre, hätten wir das hier schon längst.« Ich deutete auf die Serviette, die aus meiner Tasche ragte. »Und dann müssten wir uns keine Gedanken mehr über die Harts oder die Hochzeit oder irgendein Feuerwerk machen. Wir wären glücklich und müssten nie wieder an diesen Albtraum denken. Knox hat mich gebeten, hierzubleiben. Nicht seinetwegen, nicht wegen Lila, nicht wegen Partys und des Schmucks oder der Privatflugzeuge, sondern deswegen.« Ich zeigte mit dem Finger zum Schrank. »Wenn ich nicht dabei bin, wozu dann das alles? Ich bin nicht sein Eigentum, und er kann nicht über mich bestimmen. Ich werde nicht zulassen, dass er mich einfach so stehen lässt.«

Benjy seufzte, widersprach aber nicht. »Dann komme ich mit.«

»Jemand muss hierbleiben, damit wir nicht auffliegen.«

Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber ich schnitt ihm das Wort ab. »Bitte, Benjy. Es ist sicherer, wenn ich allein gehe.«

Er knirschte mit den Zähnen, und sein Kiefermuskel zuckte. »Okay. Aber sei vorsichtig. Und hier, nimm das.«

Er zog seine Anzugjacke aus und legte sie mir über die Schultern. Ich schob meine Arme in die Ärmel, der Stoff war noch warm von seinem Körper. »Danke«, sagte ich jetzt etwas sanfter. »Sorg dafür, dass niemand bemerkt, dass wir weg sind, okay?«

»Mir wird schon was einfallen.« Benjy sah mich finster an.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.

»Ich liebe dich. Wenn ich zurück bin, gehöre ich für den Rest der Nacht nur dir. Okay?«

Er nickte, und um ihm keine weitere Chance zu geben, es mir noch auszureden, betrat ich den Schrank. Knox glaubte vielleicht, dass Lila ihm gehörte, aber ich war nicht sie. Ab heute Abend war ich wieder Kitty Doe, und ich würde nicht kampflos untergehen.

II
TREFFEN UM MITTERNACHT

Der Durchgang über dem vierten Stockwerk war so staubig und schmutzig wie eh und je. Da ich keine Taschenlampe hatte, wurde ich sofort von Dunkelheit umhüllt, und selbst nachdem sich meine Augen an das schwach eindringende Mondlicht gewöhnt hatten, konnte ich nicht weiter als ein paar Zentimeter sehen. Spinnweben verfingen sich in meinen Haaren und auf meinen Wangen, und einmal glaubte ich sogar, eine Spinne auf meinem Rücken zu spüren, zwang mich jedoch, ruhig zu bleiben. Ich hatte diesen Geheimgang schon ein Dutzend Mal benutzt. Ich würde das auch dieses Mal schaffen.

Endlich kam ich zu der Treppe, die nach unten führte, und von da an musste ich es nur noch schaffen, nicht zu stolpern. Die Absätze, die ich trug, machten das nicht unbedingt einfacher, und zweimal musste ich mich am Holzgeländer festhalten. Als ich endlich über die knarrenden Stufen in den Tunnel unter Somerset gelangte, hatte ich zwei Splitter in den Handflächen und ärgerte mich darüber, dass ich mir nicht die Zeit genommen hatte, Stiefel anzuziehen.

Im Tunnel war es vollkommen dunkel. Ich tastete mich mit einer Hand an der schmutzigen Wand entlang und lauschte angestrengt nach irgendeinem Zeichen von Knox. Wenn er noch im Tunnel gewesen wäre, hätte ich allerdings das Licht seiner Taschenlampe gesehen. Froh darüber, allein zu sein, ging ich etwas schneller. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, unbemerkt in den Bunker zu gelangen. Inzwischen kannten mich die Wachen zwar, aber da ich die Codes nicht wusste, musste ich Knox einholen, wenn ich Zugang erhalten wollte. Natürlich war es durchaus möglich, dass er mich auffordern würde, nach Hause zu gehen, aber nach seiner kleinen Rede in der Suite würde ich sowieso nicht mehr hinhören …

»Was zum Teufel machst du hier?«

Jemand umklammerte mein Handgelenk und zerrte mich von der Wand weg, und ich fluchte so laut, dass man es wahrscheinlich bis nach Somerset hören konnte. Ich riss den Arm weg und schlug in der Dunkelheit wild um mich. »Lass … mich … los

Licht durchflutete den Tunnel, und Knox stand vor mir und umfasste meine Hand noch immer schmerzhaft fest. »Erst wenn du meine Frage beantwortet hast.«

»Ich trete dich wieder!« Geblendet von dem grellen Licht schielte ich fast.

»Das ist immer noch keine Antwort.«

Ich blickte finster. »Was glaubst du wohl? Ich komme mit.«

»Nein, das wirst du nicht.«

»Doch, werde ich.«

Er kniff die Augen zusammen, und für einen langen Moment standen wir uns gegenüber und warteten beide darauf, dass der andere nachgab. Was aber keiner von uns tat.

»Begreifst du eigentlich, wie heikel diese Situation ist?«, fragte Knox. »Wenn du mit deinem Willen, dich zu widersetzen, das Falsche zu der falschen Person sagst, dann …«

»Wenn du aufhören würdest, mich wie einen ungehorsamen Hund zu behandeln, sondern wie einen Menschen, der genauso ein Teil dieser Sache ist wie du, würde ich aufhören, an meiner unsichtbaren Leine zu zerren«, rief ich. »Ich habe jedes Recht, dabei zu sein, und das weißt du genau. Wenn du mich weiterhin so behandelst, als wäre ich nur eine Last …«

»Das würde ich nicht, wenn du aufhören würdest, eine zu sein

»… dann werde ich verschwinden«, beendete ich meinen Satz, ohne auf ihn einzugehen. »Wenn ich nicht mit den Blackcoats zusammenarbeite, gibt es für mich auch keinen Grund mehr, hierzubleiben.«

»Ach nein?« Knox hob eine Augenbraue. »Und wo willst du hin?«

»Egal. Ich bin geblieben, weil du mich darum gebeten hast und weil es das Richtige ist. Aber dem hier – mich auszuschließen und zu behandeln, als wäre ich ohne dich vollkommen unfähig – habe ich nicht zugestimmt. Wenn du mich nicht zu diesem Treffen mitkommen lässt, dann bin ich weg. Da kannst du noch so viele Shields hinter mir herschicken. Du kannst das ganze Land nach mir durchkämmen lassen und wirst mich doch nie finden.«

Er runzelte die Stirn, und ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. »Ich bat dich, zu bleiben, weil ich dachte, du würdest mit uns zusammenarbeiten und uns helfen. Aber je mehr Zeit ich damit verschwende, hinter dir herzulaufen und dein Chaos zu beseitigen, desto weniger Zeit bleibt mir, mich auf die Rebellion zu konzentrieren. Begreifst du das?«

»Je mehr du mich wie ein Kind behandelst, desto mehr werde ich mich wie eines benehmen«, entgegnete ich ruhig, ohne mir die Wut, die in mir kochte, anmerken zu lassen. Ich wollte ihm keinen weiteren Grund geben, mich zurückzuschicken. »Begreifst du das?«

Er kniff die Augen zusammen. »Gut. Wenn du anfängst, dich zu benehmen, werde ich anfangen, dir zu vertrauen.«

»Gut. Und jetzt lass mich los.«

Knox löste den Griff, und ich rieb mein Handgelenk und hoffte, keine blauen Flecken zu bekommen. Die wären auf Lilas porzellanweißer Haut wohl kaum zu übersehen.

»Los, sonst kommen wir zu spät.« Er ging durch den Tunnel voran, und der Strahl der Taschenlampe schwang bei seinen eiligen Schritten hin und her. »Celia und Lila werden heute Abend wohl auch dabei sein, weshalb du aufpassen musst, was du sagst, in Ordnung?«

»Was ich worüber sage?« Ich konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne zu stolpern.

»Sie wissen noch nicht, dass Daxton ein Hochstapler ist«, sagte er. »Niemand weiß das.«

Ich blinzelte. »Warte … Du meinst, du hast das keinem bei den Blackcoats gesagt?«

»Natürlich nicht. Einer von ihnen würde diese Information unweigerlich an Celia weitergeben, die dann sofort nach Somerset stürmen und unseren gesamten Plan in Gefahr bringen würde.«

Ich runzelte die Stirn. Celia, Lilas Mutter und Daxtons Schwester, war einer der Gründe, warum das alles hier überhaupt passierte. Nachdem Daxton ihren Mann brutal hingerichtet hatte, hatte sie die Blackcoats ins Leben gerufen, eine Untergrundarmee, die es darauf abgesehen hatte, den Harts die Macht zu entreißen und das Rangsystem für immer zugunsten einer Demokratie abzuschaffen, als welche Amerika einst gegründet worden war. Um die Massen zu überzeugen und mehr Unterstützung von den höheren Rängen zu bekommen, hatte sie ihre einzige Tochter Lila verpflichtet. Lila hatte sich widerwillig gefügt, doch als sie von einem bevorstehenden Mordanschlag auf ihr Leben erfuhren, hatten sie und Knox einen Plan ausgetüftelt: ihren Tod vorzutäuschen und sie in den Untergrund zu schicken, wo Daxton sie nie finden würde. Niemand außer ihnen hatte davon gewusst, nicht einmal Celia.

Womit sie jedoch nicht gerechnet hatten, war, dass Daxton ein anderes Mädchen maskieren und Lilas Platz einnehmen lassen würde – mich. Kaum hatten sie das herausgefunden, begannen sie auch schon, mich über die wahren Schrecken des Landes zu unterrichten. Seitdem war ich in die Pläne der Blackcoats eingeweiht, und deswegen würde ich auch um nichts in der Welt auf diese Chance verzichten, etwas zu bewirken, nur weil Knox es so wollte.

In Wahrheit hatte Knox Celia über fast alles im Unklaren gelassen. Selbst sie hatte nicht gewusst, dass ihre Tochter noch lebte, bis sie aus Rache Greyson, Daxtons Sohn, entführt hatte. Sie hatte ihm zwar nie wirklich etwas antun wollen, was die Harts aber nicht wissen konnten, und sie glaubten, Celia – und mich – bei seiner Befreiung getötet zu haben. Wir hatten jedoch überlebt – zum Glück für uns beide.

Während ich zugestimmt hatte, Lilas Platz noch länger einzunehmen, war Celia gezwungen gewesen, in den Untergrund zu gehen. Und Knox hatte recht: Wenn sie herausfinden würde, dass Daxton gar nicht wirklich Daxton war und statt seiner sie – oder Greyson – das Land hätte regieren sollen, hätte sie ohne Zögern – und ohne einen richtigen Plan – die Blackcoats auf Somerset losgelassen.

»Wir müssen es Sampson und den anderen irgendwann sagen«, meinte ich. »Wenn sie es wissen, können sie vielleicht eine Strategie …«

»Das würde nichts ändern«, entgegnete Knox, als wir die Stahltür erreichten, die auf eine einsame Gasse führte. »Sie könnten versuchen, ihn auffliegen zu lassen, aber Daxton hat die Medien unter seiner Kontrolle. Jeder, der mit dieser Nachricht an die Presse ginge, würde noch vor Sonnenuntergang als Verräter hingerichtet werden. Und dieses Opfer sollte niemand umsonst bringen müssen.«

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